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16. November 2011Hans Hartje
Neue Zürcher Zeitung

Kritische Aneignung

Sie haben eine Weinkellerei in Pomerol gebaut und arbeiten derzeit am neuen Stadtarchiv von Bordeaux. Das sind dem Architekturmuseum Arc-en-rêve zwei gute Gründe, sich mit den Baukünstlern Paul Robbrecht und Hilde Daem aus Gent zu befassen und einen Blick auf ihr vielfältiges Schaffen zu werfen.

Sie haben eine Weinkellerei in Pomerol gebaut und arbeiten derzeit am neuen Stadtarchiv von Bordeaux. Das sind dem Architekturmuseum Arc-en-rêve zwei gute Gründe, sich mit den Baukünstlern Paul Robbrecht und Hilde Daem aus Gent zu befassen und einen Blick auf ihr vielfältiges Schaffen zu werfen.

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01. April 2003Hans Hartje
Neue Zürcher Zeitung

Licht und Farbe

Zeitgenössische mexikanische Architektur in einer Pariser Ausstellung

Zeitgenössische mexikanische Architektur in einer Pariser Ausstellung

Aus Anlass des 100. Geburtstags von Luis Barragán (1902-1988) hat der Architekturkritiker und Chefredaktor der Zeitschrift «Arquine», Miquel Adrià, im Auftrag des mexikanischen Kulturinstituts in Paris eine Ausstellung zur zeitgenössischen mexikanischen Architektur zusammengestellt, die noch bis zum 27. April im Pariser Espace EDF Electra zu sehen ist. Licht und Farbe sind der gemeinsame Nenner der gezeigten Bauten, deren Architekten drei Generationen angehören: Es handelt sich um die in den zwanziger und dreissiger Jahren geborenen Schüler Barragáns (Teodoro González de Leon, Ricardo Legorreta, Abraham Zabludovsky), die der «Blütezeit» (unter anderem Francisco Serrano, TEN Arquitectos und José de Yturbe) sowie die seit den fünfziger Jahren geborenen «Jungen»: Alberto Kalach oder Javier Sanchez. Neben Diapanoramen von Bauten der genannten Architekten sind in der Ausstellung Originalmodelle aus dem Wettbewerb für die «Maison de la France» in Mexiko zu sehen sowie Videos über die von Juan O'Gorman nach dem Vorbild Le Corbusiers entworfenen Ateliers von Diego Rivera und Frida Kahlo, das gigantische Kollektivprojekt des «Campus» von Mexiko und das Werk von Barragán.


[ Bis zum 27. April im Espace EDF Electra 6 an der Rue Récamier (täglich ausser montags 12 bis 19 Uhr). Katalog: Les bâtisseurs de lumière. Architectures mexicaines contemporaines. Editions Norma, Paris 2003. 160 S., Euro 35.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2003.04.01

30. Dezember 2002Hans Hartje
Neue Zürcher Zeitung

Im Gewächshaus leben

Die Architekten Lacaton & Vassal in Bordeaux

Die Architekten Lacaton & Vassal in Bordeaux

Wer in Frankreich als Architekt seine Agentur nicht in Paris hat, muss oft lange warten, bis die Öffentlichkeit auf ihn aufmerksam wird. Dem versucht seit Jahren das Architekturzentrum «Arc en rêve» in Bordeaux entgegenzuwirken. Besonders motiviert ist man dort, wenn die Ehrung lokalen Koryphäen zuteil wird. Zurzeit kommt mit Anne Lacaton (*1955) und Jean Philippe Vassal (*1954) ein Architektenteam aus Bordeaux in den Genuss einer Ausstellung. Ihnen ist kürzlich der Durchbruch gelungen mit dem bewusst ärmlich gehaltenen Umbau des Pariser Palais de Tokio zum Site de création contemporaine und der Innenausstattung des Museumscafés im Wiener Architekturzentrum. Diese beiden Realisierungen gewähren Einblick in ein Verfahren, dem in erster Linie daran gelegen ist, dass Aufwand und Resultat in einem finanziell und ökologisch vernünftigen Verhältnis zueinander stehen. Dazu kommt, dass beide Örtlichkeiten atmosphärisch «stimmen». Wesentlich eigenwilliger und damit interessanter jedoch sind die drei Einfamilienhäuser, die Lacaton & Vassal in die Stadtlandschaft von Bordeaux gezaubert haben.

Gemeinsam ist all diesen Bauten der Bezug zur Gewächshausarchitektur. So kommen im Haus Latapie Versatzstücke aus dem industriellen Saatbetrieb zum Einsatz. In Coutras hingegen verwandelten Lacaton & Vassal zwei originale Gewächshäuser in ein lichtdurchflutetes, perfekt klimatisiertes und dennoch die nötige Intimität wahrendes Einfamilienhaus. Ganz anders wiederum - und dennoch am Gewächshaus orientiert - präsentiert sich das in einem Pinienwäldchen bei Lège-Cap-Ferret an der Atlantikküste gelegene Ferienhaus. Hier stellten die prachtvolle Lage und das natürliche Umfeld die grössten Herausforderungen dar. Die Lösung hiess Pfahlbau (Le Corbusiers Pilotis-Bauten, Rem Koolhaas' Villa dall'Ava, aber auch das Baumhaus lassen grüssen). Das eingeschossige Gebäude steht auf soliden, in den sandigen Boden gerammten Stahlträgern, wobei nur die Tragkonstruktion und eine Treppe den Boden berühren. Sowohl vom Land wie vom Meer her gesehen, bleibt das Haus fast unsichtbar. Beim Bau mussten nur zwei nachweislich kranke Bäume gefällt werden, denn die Pinien wachsen durch das Gebäude hindurch.

Gleichzeitig mit dem Beginn der Ausstellung konnten Lacaton & Vassal im Wettbewerb für den Neubau der zukünftigen Fakultät für Betriebswirtschaft in Bordeaux einen Erfolg verbuchen. In der Ausstellung vermitteln grossformatig projizierte Bilder der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität von Grenoble eine Idee davon, wie der Neubau werden könnte: eine leichte Gewächshauskonstruktion, die ein Arbeiten im Grünen erlaubt: Was will man mehr?


[Bis zum 19. Januar im Centre d'architecture - arc en rêve. Anstelle eines Katalogs ist in der Ausstellung die Lacaton & Vassal gewidmete Nummer 21 der Zeitschrift «2G - Revista internacional de Arquitectura» erhältlich (Editorial Gustavo Gili, Barcelona 2002; Text englisch und spanisch).]

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2002.12.30

04. März 2002Hans Hartje
Neue Zürcher Zeitung

Poetische Architekturbilder

Fünfzig Jahre nach der ersten Ausstellung mit dem Titel «Eine Stadt - zwei Architekturen» in der Galerie Domus in Mailand widmet zurzeit das französische...

Fünfzig Jahre nach der ersten Ausstellung mit dem Titel «Eine Stadt - zwei Architekturen» in der Galerie Domus in Mailand widmet zurzeit das französische...

Fünfzig Jahre nach der ersten Ausstellung mit dem Titel «Eine Stadt - zwei Architekturen» in der Galerie Domus in Mailand widmet zurzeit das französische «Patrimoine photographique» dem 1910 in Ungarn geborenen Architekturphotographen Lucien Hervé im Hôtel de Sully in Paris eine umfassende Retrospektive. Die Schau macht ein für alle Mal klar, dass Hervé mit seinen poetischen Schwarzweissbildern zu den grossen Meistern der klassischen französischen Photographie zählt zusammen mit Boubat, Brassaï, Cartier-Bresson, Doisneau und Ronis. Sein besonderer Blick auf die gebaute Umwelt ist dabei untrennbar mit dem Namen Le Corbusier verbunden, der ihm nach einer Reportage über die Unité d'habitation in Marseille attestierte, «die Seele eines Architekten» zu haben. Was Hervé mit Augen und Seele sah, verewigte er mit seiner Rolleiflex: neben Chandigarh oder Ronchamp auch Bauten von Alvar Aalto, Oscar Niemeyer und Jean Prouvé. Allen Bildern gemeinsam ist ein untrügliches Gespür für das jeweils besondere Verhältnis von Masse, Licht und Atmosphäre.


[Bis 17. März im Hôtel de Sully, Paris. Begleitpublikationen: Lucien Hervé. Amis inconnus. Edition Filigranes, Trézélan 2002. 48 S., 30 Abb., Euro 16.50. Olivier Beer: Lucien Hervé. L'homme construit. Edition Seuil, Paris 2001. 264 S., 180 Abb., Euro 59.-.]

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2002.03.04

23. Oktober 2001Hans Hartje
Neue Zürcher Zeitung

Bauen für den Weinbau

Boom der zeitgenössischen Kellerei-Architektur

Boom der zeitgenössischen Kellerei-Architektur

Seit Michael Graves Anfang der achtziger Jahre das antikisch angehauchte Weingut «Clos Pegase» bei Calistoga in Kaliforniens Napa Valley realisierte, ist das Bauen für den Weinbau zum architektonischen Thema geworden. Heute finden sich von Australien bis Spanien bedeutende, von grossen Architekten entworfene Kellereibauten.

Guter Wein wird meist besser, wenn man ihm Zeit zum Reifen lässt. Wie zur Illustration dieser Binsenweisheit stehen in vielen Weinbaugebieten Burgen und Schlösser, die mit Bild und Namen oft das Etikett der edlen Tropfen zieren. Vor einigen Jahren nun sind zuerst in Kalifornien, dann in Europa und jüngst auch in Australien Winzer auf die Idee gekommen, dem drohenden Zirkelschluss (alte Gemäuer = guter Wein) vorzubeugen und es im Weinberg mit zeitgenössischer Architektur zu versuchen. Das Ergebnis ist so vielfältig, wie es die jüngste Architekturgeschichte erwarten lassen musste, und zwischen der diskreten Funktionalität der «Dominus Winery» von Herzog & de Meuron und der prahlerischen Monumentalität des Château Pichon-Longueville von Dillon & de Gastines finden sich die unterschiedlichsten Lösungen.

Einen Anfang machte die Ausschreibung eines internationalen Architekturwettbewerbs für den Bau von «Clos Pegase» bei Calistoga in Kalifornien. Gutsherr Jan I. Shrem, nebenbei Manager und Mäzen, gab Anfang der achtziger Jahre dem von Michael Graves eingereichten Projekt den Zuschlag, dessen neoklassizistischer Entwurf dem Wunsch nach Selbstdarstellung des Bauherrn entsprach, ohne die in der Kellerei ausgestellten Kunstwerke in den Schatten zu stellen. Im Jahr 1987 hat dann Ricardo Bofill in Château Lafite-Rothschild sozusagen das europäische Pendant zum kalifornischen Prototyp geschaffen. Gutsherr Eric de Rothschild hatte die Zeichen der Zeit erkannt, und der katalanische Architekt erfüllte die Erwartungen: Mit dem schartenartig in den Weinberg gefrästen Zugang zum Weinkeller ist es Bofill gelungen, ein für ihn charakteristisches Prozedere radikal umzukehren: Nach aussen kaum sichtbar, überzeugt die Anlage unterirdisch. Die kreisförmig um die von nackten Betonsäulen eingerahmte Fasswaschanlage herum gelagerten Weinfässer bilden eine ebenso vernünftige wie ästhetisch ansprechende Lösung.

In der Folge häuften sich die Interventionen von Architekten in Weingütern beidseits des Atlantiks, wobei der 1988 im Pariser Centre Pompidou gezeigten Schau «Châteaux Bordeaux» eine Art Katalysatorrolle zukam: In ihrem Vorfeld wurde der Wettbewerb für Château Pichon-Longueville ausgeschrieben, und an der von dem französisch-panamaischen Architektenduo Jean de Gastines und Patrick Dillon gezeichneten Anlage scheiden sich auch heute noch die Geister. Das Neorenaissance-Schloss aus dem Jahre 1851 (Architekt: Charles Burguet) ist von zwei modernen Kellereigebäuden flankiert, die sich über ein streng quadratisch gehaltenes Bassin hinweg gegenseitig den Spiegel bauherrlicher Eitelkeit vorhalten. Kernstück der Anlage ist wie bei Lafite-Rothschild eine zentrale Rotunde, nur dass diese in der traditionellen Kellerei-Architektur nach wie vor ungewöhnliche Form hier den Cuvier betrifft, mit seinen rund um schräg gestellte Säulen angeordneten Edelstahltanks.

Besitzer Jean-Marie Cazes räumt ganz unbefangen ein, dass hier Weinkultur mit Pomp im Disney-Zuschnitt einhergeht. Der Effekt auf den Besucher ist jedenfalls unbestreitbar, zumal die «Route des Châteaux» mitten durch das Weingut führt. Die Stunde der Wahrheit schlägt ohnehin erst bei der traditionellen Weinprobe nach der Besichtigung, und da wird niemand behaupten, dass die moderne Architektur der Qualität des «Deuxième cru classé» Abbruch tut. Zu nennen wären im französischen Médoc ausserdem noch Château d'Arsac, Château Léoville Poyferré, Château Branaire und die Domaines Henry Martin. Das streng geometrische Natursteindekor von Arsac steht in hartem Kontrast zur halbrunden Fassade der Lagerhalle aus Edelstahl. Als optisches Bindemittel funktioniert das leitmotivisch gebrauchte Kobaltblau der nicht tragenden Gebäudeteile des Gärkellers: Hier spielt Architekt Patrick Hernandez auf ästhetisch überraschend harmonische Art mit der Farbe eines alten Hausmittels gegen den Pilzbefall von Natursteinmauern. Für die Umgestaltung von Léoville-Poyferré zeichnet der Theaterarchitekt Olivier Brochet verantwortlich, der die historische Anlage mit hochtechnischen Interieurs ausgestattet hat. Ähnliches gilt für Branaire (Agentur Mazières), wo nur das neoklassische Säulenportal des abseits vom Schloss gelegenen Cuviers darauf hinweist, dass auch hier ein neues Herz in alten Mauern schlägt. Ganz anders gelagert indes sind die Dinge in den Domaines Henry Martin: Das mitten ins verschlafene Dorf gesetzte Kellereigebäude (Architekt: Alain Triard) mit seinen Alu- und Sichtbetonfassaden und dem wellenförmig geschwungenen Dach ist unübersehbar.

In der Zwischenzeit haben die Amerikaner nicht geruht. Neben «Clos Pegase» sind hier zum einen Robert Mondavi Winery, Sterling Vineyards und Robert Sinskey Vineyards zu nennen, deren Neubauten, ausgehend von lokalen Traditionen, moderat zeitgenössischer orientiert sind. Daneben gibt es resolut zukunftsorientierte Architekturen wie Artesa, Opus one und Dominus. Der Besitzer von Sterling Vineyards, Peter Newton, hat sein Weingut selbst in der Art eines exklusiven Freizeitparks konzipiert, dessen Stil gleichzeitig an ein Kykladendorf und an den non Le Corbusiers Ronchamp gemahnt. Ganz anders und doch verwandt in der Intention kommen Robert Sinskey Vineyards einher. Hier hat der Kirchenbauer Oscar Leidenfrost alle Register seiner Kunst gezogen. Die modern-monumentale Architektur des Weinguts Artesa am südlichen Ende des Napa Valley könnte ebenso gut eine Möbelfabrik oder ein Kunstmuseum beherbergen. Kein Wunder, denn es ist in erster Linie als transatlantisches Schaufenster eines ursprünglich spanischen Hoflieferanten konzipiert worden (Architekten: D. Triay und E. R. Bouligny). Ähnlich muss es in Opus One zugegangen sein, einem transatlantischen Joint Venture, an dem Mondavi und Rothschild zu gleichen Teilen beteiligt sind. Nicht weniger als fünf Architekten haben hier unter der Leitung von Scott Johnson zusammengearbeitet, und das Ergebnis ist aufsehenerregend, ohne indes einen eindeutig positiven Eindruck zu hinterlassen - Heterogenität und Beliebigkeit liegen halt immer nah beieinander.

Mit der Dominus Winery im Napa Valley schliesslich haben die Basler Architekten und diesjährigen Pritzker-Preis-Träger Herzog & de Meuron den Geniestreich einer zugleich radikal innovativen und extrem funktionellen Architektur verwirklicht (NZZ 7. 5. 99). Weniger bekannt ist, dass der Besitzer dieses Weingutes niemand Geringerer ist als Christian Moueix, dem im französischen Pomerol der absolute Spitzenwein Pétrus gehört. Die Latte liegt hoch - sehr hoch. Wer will sich mit Herzog & de Meuron messen? Im nordspanischen Weinanbaugebiet Rioja sind zurzeit Weinkeller nach Entwürfen von Stars der Branche wie Frank O. Gehry (Bodegas Marqués de Riscal), Rafael Moneo (Bodegas Chivite) und Santiago Calatrava (Bodega Ysios) im Entstehen. Als Tendenz dürfte gelten, dass moderne Architektur im Weinberg verstärkt in den Dienst des Marketings boomender Weinbaugebiete wie Australien, Südafrika, Argentinien und Chile gestellt werden wird. Was indes niemanden in Europa daran hindern soll, es Jean-Jacques Lesgourgues gleichzutun, der im traditionsreichen Anbaugebiet Graves bei Bordeaux quasi aus der Retorte einen vielversprechenden Cru (Château Haut-Selve) hervorgezaubert hat, der seit 1998 in einem von Sylvain Dubuisson gestalteten hypermodernen Weinkeller reift.


[Literatur: Châteaux Bordeaux. Hrsg. Jean Dethier. Edition du Centre Georges Pompidou, Paris 1988. - Dirk Meyhöfer und Olaf Gollnek: Die Architektur des Weines (Deutsch, Französisch, Englisch). AV-Edition, Ludwigsburg 1999. 235 S., Fr. 158.-.]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2001.10.23

31. Juli 2000Hans Hartje
Neue Zürcher Zeitung

Städte im Grünen

Rechtzeitig zum Auftakt der Sommersaison hat sich das Pariser Institut français d'architecture (Ifa) einem Aspekt des heutigen Städtebaus angenommen, der...

Rechtzeitig zum Auftakt der Sommersaison hat sich das Pariser Institut français d'architecture (Ifa) einem Aspekt des heutigen Städtebaus angenommen, der...

Rechtzeitig zum Auftakt der Sommersaison hat sich das Pariser Institut français d'architecture (Ifa) einem Aspekt des heutigen Städtebaus angenommen, der oft noch allzu marginal behandelt wird: Die Rede ist von Grünanlagen. Raum ist Geld, lautet das eherne Gesetz, und je höher und kompakter die Gebäude, desto grösser der Profit. Lösungen im Sinne von mehr Lebensqualität können hier nur aus radikalem Perspektivenwechsel resultieren. Das wird in zwei Ausstellungen anhand der Projekte von Edouard François und von Patrick Bouchains Gruppe L'Atelier beispielhaft deutlich. L'Atelier hat sich hierzu der Zwischenräume am Stadtrand angenommen, also des traditionell ungenutzten Geländes zwischen Gleisanlagen, Autobahnkreuzen und Hochspannungsmasten. Auf diesen planmässig aufgeforsteten Fragmenten unbestellbaren Brachlands wachsen nun zumal in der Pariser Peripherie langsam Stadtwaldgebiete zusammen. - Einen ganz anderen Weg hat Edouard François beschritten, dessen erstes, Aufsehen erregendes Wohngebäude («L'Immeuble qui pousse») soeben in Montpellier bezogen worden ist. Unter dem Stichwort «Öko-Architektur» (auch von «Land Arch» ist die Rede) soll nun auch bei den Bewohnern eines neu erbauten Hochhauses an der Pariser Porte d'Asnières ein Wohngefühl wie inmitten der Natur aufkommen. Wo in der Ebene kein Platz für Grünanlagen ist, lautet François' Credo, muss man eben in die Vertikale gehen (als Referenz führt er den «senkrechten Park» von Adriaan Geuze in Manhattan an). Sein Konzept nennt der Architekt «pflanzliche Ummantelung». Erst die Zukunft wird allerdings zeigen, ob damit mehr erreicht wird als mit herkömmlichem Efeubewuchs oder mit Balkongeranien.

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2000.07.31

19. Juli 2000Hans Hartje
Neue Zürcher Zeitung

Londoner Szene

Ein frecher, mit «Lost & Found» betitelter Ausstellungsmix zeigt gegenwärtig im Centre d'architecture - Arc en rêve in Bordeaux Positionen aus der boomenden...

Ein frecher, mit «Lost & Found» betitelter Ausstellungsmix zeigt gegenwärtig im Centre d'architecture - Arc en rêve in Bordeaux Positionen aus der boomenden...

Ein frecher, mit «Lost & Found» betitelter Ausstellungsmix zeigt gegenwärtig im Centre d'architecture - Arc en rêve in Bordeaux Positionen aus der boomenden jungen Londoner Design- und Architekturszene. Dabei hinterlassen die «Fundsachen» der «kritischen britischen Designer» einen stärkeren Eindruck als die Projekte der mit der Inszenierung der Schau betrauten Architekten, unter denen vorab das Yokohama-Fähren-Terminal der Agentur Foreign Office Architects auffällt. Was hingegen die Arbeiten sowohl des Teams «Fashion Architecture Taste» (FAT) als auch der Frauenagentur «muf» (Juliet Bidgwood, Liza Flor und Katherine Clarke) auszeichnet, ist eine ebenso interdisziplinäre wie humorvolle Art, Konzepte und Objekte (scheinbar) ohne Rücksicht auf Ordnungsprinzipien und Massstäbe zusammenzuwürfeln. Löst FAT im Rahmen seiner «Pop Architecture» bevorzugt Gebrauchsgegenstände aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang heraus, um sie in ortsfremder Umgebung zu zitieren (etwa ein Gartenhaus in einer zur Agentur umfunktionierten Kirche), so beschäftigt sich «muf» vor allem mit der Aufheiterung der häufig uniformen Innenstädte (z. B. der Londoner Southwark Street). Die Ausstellung in Bordeaux besticht aber auch durch die Qualität der Exponate von Designteams wie AntiRom, Boudicca, Inflate, North, The Designers Republic, Tomato oder Vexed Generation, an denen Zusammenhänge zwischen Zeitgeist (Umweltschutz, Nostalgie, «anything goes») und Formenvielfalt augenfällig werden. Der Bogen reicht hier von der Mode bis zur Typographie, wobei der didaktische Witz darin besteht, dem Neuentwurf das - zitierte, plagiierte, verfremdete - «Original» zur Seite zu stellen.


[ Die Ausstellung im Arc en rêve dauert bis zum 30. September. Katalog: Lost & Found. Objets trouvés, design britannique critique. Hrsg. The British Council. Birkhäuser-Verlag, Basel 2000. 128 S., fFr. 240.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2000.07.19

20. März 2000Hans Hartje
Neue Zürcher Zeitung

Der Mensch als Massstab

Um zu ermessen, worum es bei der Ausschreibung zur «behutsamen Modernisierung» des Cognacq-Jay-Krankenhauses in Paris ging, bedarf es eines historischen...

Um zu ermessen, worum es bei der Ausschreibung zur «behutsamen Modernisierung» des Cognacq-Jay-Krankenhauses in Paris ging, bedarf es eines historischen...

Um zu ermessen, worum es bei der Ausschreibung zur «behutsamen Modernisierung» des Cognacq-Jay-Krankenhauses in Paris ging, bedarf es eines historischen Rückblicks. Die Institution geht auf eine Geburtsklinik zurück, die vor exakt 100 Jahren von den beiden Gründern des Kaufhauses La Samaritaine gegründet wurde. Seit 1978 indes leben in den Gebäuden nur noch Todkranke, zu denen sich seit 1997 Aids- und Krebspatienten gesellen. Dieser Patientenstruktur und den daraus sich ergebenden Pflegeerfordernissen hatten die fünf Teilnehmer an dem 1999 ausgeschriebenen Architekturwettbewerb Rechnung zu tragen: Architecture Studio, Chemetov und Huidobro, Jean Nouvel, Dominique Perrault sowie der Preisträger Toyo Ito, der hier seinen ersten europäischen Wettbewerbserfolg verzeichnen konnte. Die Ergebnisse sind noch bis zum 14. Mai im Pariser Institut Français d'Architecture (IFA) zu sehen. Allen Projekten gemein ist eine augenfällige Zurückhaltung in der architektonischen Federführung, und allen dienen ganz ausdrücklich der Mensch und das Recht des Sterbenden auf eine menschenfreundliche Architektur als Massstab. Allein schon diese Lektion lohnt einen Besuch.


[ Concours pour l'hôpital Cognacq-Jay. Hrsg. Frédéric Nantois. Editions IFA, Paris 2000. 28 S., fFr. 25.- (in der Ausstellung). ]

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2000.03.20

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Presseschau 12

16. November 2011Hans Hartje
Neue Zürcher Zeitung

Kritische Aneignung

Sie haben eine Weinkellerei in Pomerol gebaut und arbeiten derzeit am neuen Stadtarchiv von Bordeaux. Das sind dem Architekturmuseum Arc-en-rêve zwei gute Gründe, sich mit den Baukünstlern Paul Robbrecht und Hilde Daem aus Gent zu befassen und einen Blick auf ihr vielfältiges Schaffen zu werfen.

Sie haben eine Weinkellerei in Pomerol gebaut und arbeiten derzeit am neuen Stadtarchiv von Bordeaux. Das sind dem Architekturmuseum Arc-en-rêve zwei gute Gründe, sich mit den Baukünstlern Paul Robbrecht und Hilde Daem aus Gent zu befassen und einen Blick auf ihr vielfältiges Schaffen zu werfen.

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01. April 2003Hans Hartje
Neue Zürcher Zeitung

Licht und Farbe

Zeitgenössische mexikanische Architektur in einer Pariser Ausstellung

Zeitgenössische mexikanische Architektur in einer Pariser Ausstellung

Aus Anlass des 100. Geburtstags von Luis Barragán (1902-1988) hat der Architekturkritiker und Chefredaktor der Zeitschrift «Arquine», Miquel Adrià, im Auftrag des mexikanischen Kulturinstituts in Paris eine Ausstellung zur zeitgenössischen mexikanischen Architektur zusammengestellt, die noch bis zum 27. April im Pariser Espace EDF Electra zu sehen ist. Licht und Farbe sind der gemeinsame Nenner der gezeigten Bauten, deren Architekten drei Generationen angehören: Es handelt sich um die in den zwanziger und dreissiger Jahren geborenen Schüler Barragáns (Teodoro González de Leon, Ricardo Legorreta, Abraham Zabludovsky), die der «Blütezeit» (unter anderem Francisco Serrano, TEN Arquitectos und José de Yturbe) sowie die seit den fünfziger Jahren geborenen «Jungen»: Alberto Kalach oder Javier Sanchez. Neben Diapanoramen von Bauten der genannten Architekten sind in der Ausstellung Originalmodelle aus dem Wettbewerb für die «Maison de la France» in Mexiko zu sehen sowie Videos über die von Juan O'Gorman nach dem Vorbild Le Corbusiers entworfenen Ateliers von Diego Rivera und Frida Kahlo, das gigantische Kollektivprojekt des «Campus» von Mexiko und das Werk von Barragán.


[ Bis zum 27. April im Espace EDF Electra 6 an der Rue Récamier (täglich ausser montags 12 bis 19 Uhr). Katalog: Les bâtisseurs de lumière. Architectures mexicaines contemporaines. Editions Norma, Paris 2003. 160 S., Euro 35.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2003.04.01

30. Dezember 2002Hans Hartje
Neue Zürcher Zeitung

Im Gewächshaus leben

Die Architekten Lacaton & Vassal in Bordeaux

Die Architekten Lacaton & Vassal in Bordeaux

Wer in Frankreich als Architekt seine Agentur nicht in Paris hat, muss oft lange warten, bis die Öffentlichkeit auf ihn aufmerksam wird. Dem versucht seit Jahren das Architekturzentrum «Arc en rêve» in Bordeaux entgegenzuwirken. Besonders motiviert ist man dort, wenn die Ehrung lokalen Koryphäen zuteil wird. Zurzeit kommt mit Anne Lacaton (*1955) und Jean Philippe Vassal (*1954) ein Architektenteam aus Bordeaux in den Genuss einer Ausstellung. Ihnen ist kürzlich der Durchbruch gelungen mit dem bewusst ärmlich gehaltenen Umbau des Pariser Palais de Tokio zum Site de création contemporaine und der Innenausstattung des Museumscafés im Wiener Architekturzentrum. Diese beiden Realisierungen gewähren Einblick in ein Verfahren, dem in erster Linie daran gelegen ist, dass Aufwand und Resultat in einem finanziell und ökologisch vernünftigen Verhältnis zueinander stehen. Dazu kommt, dass beide Örtlichkeiten atmosphärisch «stimmen». Wesentlich eigenwilliger und damit interessanter jedoch sind die drei Einfamilienhäuser, die Lacaton & Vassal in die Stadtlandschaft von Bordeaux gezaubert haben.

Gemeinsam ist all diesen Bauten der Bezug zur Gewächshausarchitektur. So kommen im Haus Latapie Versatzstücke aus dem industriellen Saatbetrieb zum Einsatz. In Coutras hingegen verwandelten Lacaton & Vassal zwei originale Gewächshäuser in ein lichtdurchflutetes, perfekt klimatisiertes und dennoch die nötige Intimität wahrendes Einfamilienhaus. Ganz anders wiederum - und dennoch am Gewächshaus orientiert - präsentiert sich das in einem Pinienwäldchen bei Lège-Cap-Ferret an der Atlantikküste gelegene Ferienhaus. Hier stellten die prachtvolle Lage und das natürliche Umfeld die grössten Herausforderungen dar. Die Lösung hiess Pfahlbau (Le Corbusiers Pilotis-Bauten, Rem Koolhaas' Villa dall'Ava, aber auch das Baumhaus lassen grüssen). Das eingeschossige Gebäude steht auf soliden, in den sandigen Boden gerammten Stahlträgern, wobei nur die Tragkonstruktion und eine Treppe den Boden berühren. Sowohl vom Land wie vom Meer her gesehen, bleibt das Haus fast unsichtbar. Beim Bau mussten nur zwei nachweislich kranke Bäume gefällt werden, denn die Pinien wachsen durch das Gebäude hindurch.

Gleichzeitig mit dem Beginn der Ausstellung konnten Lacaton & Vassal im Wettbewerb für den Neubau der zukünftigen Fakultät für Betriebswirtschaft in Bordeaux einen Erfolg verbuchen. In der Ausstellung vermitteln grossformatig projizierte Bilder der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität von Grenoble eine Idee davon, wie der Neubau werden könnte: eine leichte Gewächshauskonstruktion, die ein Arbeiten im Grünen erlaubt: Was will man mehr?


[Bis zum 19. Januar im Centre d'architecture - arc en rêve. Anstelle eines Katalogs ist in der Ausstellung die Lacaton & Vassal gewidmete Nummer 21 der Zeitschrift «2G - Revista internacional de Arquitectura» erhältlich (Editorial Gustavo Gili, Barcelona 2002; Text englisch und spanisch).]

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2002.12.30

04. März 2002Hans Hartje
Neue Zürcher Zeitung

Poetische Architekturbilder

Fünfzig Jahre nach der ersten Ausstellung mit dem Titel «Eine Stadt - zwei Architekturen» in der Galerie Domus in Mailand widmet zurzeit das französische...

Fünfzig Jahre nach der ersten Ausstellung mit dem Titel «Eine Stadt - zwei Architekturen» in der Galerie Domus in Mailand widmet zurzeit das französische...

Fünfzig Jahre nach der ersten Ausstellung mit dem Titel «Eine Stadt - zwei Architekturen» in der Galerie Domus in Mailand widmet zurzeit das französische «Patrimoine photographique» dem 1910 in Ungarn geborenen Architekturphotographen Lucien Hervé im Hôtel de Sully in Paris eine umfassende Retrospektive. Die Schau macht ein für alle Mal klar, dass Hervé mit seinen poetischen Schwarzweissbildern zu den grossen Meistern der klassischen französischen Photographie zählt zusammen mit Boubat, Brassaï, Cartier-Bresson, Doisneau und Ronis. Sein besonderer Blick auf die gebaute Umwelt ist dabei untrennbar mit dem Namen Le Corbusier verbunden, der ihm nach einer Reportage über die Unité d'habitation in Marseille attestierte, «die Seele eines Architekten» zu haben. Was Hervé mit Augen und Seele sah, verewigte er mit seiner Rolleiflex: neben Chandigarh oder Ronchamp auch Bauten von Alvar Aalto, Oscar Niemeyer und Jean Prouvé. Allen Bildern gemeinsam ist ein untrügliches Gespür für das jeweils besondere Verhältnis von Masse, Licht und Atmosphäre.


[Bis 17. März im Hôtel de Sully, Paris. Begleitpublikationen: Lucien Hervé. Amis inconnus. Edition Filigranes, Trézélan 2002. 48 S., 30 Abb., Euro 16.50. Olivier Beer: Lucien Hervé. L'homme construit. Edition Seuil, Paris 2001. 264 S., 180 Abb., Euro 59.-.]

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2002.03.04

23. Oktober 2001Hans Hartje
Neue Zürcher Zeitung

Bauen für den Weinbau

Boom der zeitgenössischen Kellerei-Architektur

Boom der zeitgenössischen Kellerei-Architektur

Seit Michael Graves Anfang der achtziger Jahre das antikisch angehauchte Weingut «Clos Pegase» bei Calistoga in Kaliforniens Napa Valley realisierte, ist das Bauen für den Weinbau zum architektonischen Thema geworden. Heute finden sich von Australien bis Spanien bedeutende, von grossen Architekten entworfene Kellereibauten.

Guter Wein wird meist besser, wenn man ihm Zeit zum Reifen lässt. Wie zur Illustration dieser Binsenweisheit stehen in vielen Weinbaugebieten Burgen und Schlösser, die mit Bild und Namen oft das Etikett der edlen Tropfen zieren. Vor einigen Jahren nun sind zuerst in Kalifornien, dann in Europa und jüngst auch in Australien Winzer auf die Idee gekommen, dem drohenden Zirkelschluss (alte Gemäuer = guter Wein) vorzubeugen und es im Weinberg mit zeitgenössischer Architektur zu versuchen. Das Ergebnis ist so vielfältig, wie es die jüngste Architekturgeschichte erwarten lassen musste, und zwischen der diskreten Funktionalität der «Dominus Winery» von Herzog & de Meuron und der prahlerischen Monumentalität des Château Pichon-Longueville von Dillon & de Gastines finden sich die unterschiedlichsten Lösungen.

Einen Anfang machte die Ausschreibung eines internationalen Architekturwettbewerbs für den Bau von «Clos Pegase» bei Calistoga in Kalifornien. Gutsherr Jan I. Shrem, nebenbei Manager und Mäzen, gab Anfang der achtziger Jahre dem von Michael Graves eingereichten Projekt den Zuschlag, dessen neoklassizistischer Entwurf dem Wunsch nach Selbstdarstellung des Bauherrn entsprach, ohne die in der Kellerei ausgestellten Kunstwerke in den Schatten zu stellen. Im Jahr 1987 hat dann Ricardo Bofill in Château Lafite-Rothschild sozusagen das europäische Pendant zum kalifornischen Prototyp geschaffen. Gutsherr Eric de Rothschild hatte die Zeichen der Zeit erkannt, und der katalanische Architekt erfüllte die Erwartungen: Mit dem schartenartig in den Weinberg gefrästen Zugang zum Weinkeller ist es Bofill gelungen, ein für ihn charakteristisches Prozedere radikal umzukehren: Nach aussen kaum sichtbar, überzeugt die Anlage unterirdisch. Die kreisförmig um die von nackten Betonsäulen eingerahmte Fasswaschanlage herum gelagerten Weinfässer bilden eine ebenso vernünftige wie ästhetisch ansprechende Lösung.

In der Folge häuften sich die Interventionen von Architekten in Weingütern beidseits des Atlantiks, wobei der 1988 im Pariser Centre Pompidou gezeigten Schau «Châteaux Bordeaux» eine Art Katalysatorrolle zukam: In ihrem Vorfeld wurde der Wettbewerb für Château Pichon-Longueville ausgeschrieben, und an der von dem französisch-panamaischen Architektenduo Jean de Gastines und Patrick Dillon gezeichneten Anlage scheiden sich auch heute noch die Geister. Das Neorenaissance-Schloss aus dem Jahre 1851 (Architekt: Charles Burguet) ist von zwei modernen Kellereigebäuden flankiert, die sich über ein streng quadratisch gehaltenes Bassin hinweg gegenseitig den Spiegel bauherrlicher Eitelkeit vorhalten. Kernstück der Anlage ist wie bei Lafite-Rothschild eine zentrale Rotunde, nur dass diese in der traditionellen Kellerei-Architektur nach wie vor ungewöhnliche Form hier den Cuvier betrifft, mit seinen rund um schräg gestellte Säulen angeordneten Edelstahltanks.

Besitzer Jean-Marie Cazes räumt ganz unbefangen ein, dass hier Weinkultur mit Pomp im Disney-Zuschnitt einhergeht. Der Effekt auf den Besucher ist jedenfalls unbestreitbar, zumal die «Route des Châteaux» mitten durch das Weingut führt. Die Stunde der Wahrheit schlägt ohnehin erst bei der traditionellen Weinprobe nach der Besichtigung, und da wird niemand behaupten, dass die moderne Architektur der Qualität des «Deuxième cru classé» Abbruch tut. Zu nennen wären im französischen Médoc ausserdem noch Château d'Arsac, Château Léoville Poyferré, Château Branaire und die Domaines Henry Martin. Das streng geometrische Natursteindekor von Arsac steht in hartem Kontrast zur halbrunden Fassade der Lagerhalle aus Edelstahl. Als optisches Bindemittel funktioniert das leitmotivisch gebrauchte Kobaltblau der nicht tragenden Gebäudeteile des Gärkellers: Hier spielt Architekt Patrick Hernandez auf ästhetisch überraschend harmonische Art mit der Farbe eines alten Hausmittels gegen den Pilzbefall von Natursteinmauern. Für die Umgestaltung von Léoville-Poyferré zeichnet der Theaterarchitekt Olivier Brochet verantwortlich, der die historische Anlage mit hochtechnischen Interieurs ausgestattet hat. Ähnliches gilt für Branaire (Agentur Mazières), wo nur das neoklassische Säulenportal des abseits vom Schloss gelegenen Cuviers darauf hinweist, dass auch hier ein neues Herz in alten Mauern schlägt. Ganz anders gelagert indes sind die Dinge in den Domaines Henry Martin: Das mitten ins verschlafene Dorf gesetzte Kellereigebäude (Architekt: Alain Triard) mit seinen Alu- und Sichtbetonfassaden und dem wellenförmig geschwungenen Dach ist unübersehbar.

In der Zwischenzeit haben die Amerikaner nicht geruht. Neben «Clos Pegase» sind hier zum einen Robert Mondavi Winery, Sterling Vineyards und Robert Sinskey Vineyards zu nennen, deren Neubauten, ausgehend von lokalen Traditionen, moderat zeitgenössischer orientiert sind. Daneben gibt es resolut zukunftsorientierte Architekturen wie Artesa, Opus one und Dominus. Der Besitzer von Sterling Vineyards, Peter Newton, hat sein Weingut selbst in der Art eines exklusiven Freizeitparks konzipiert, dessen Stil gleichzeitig an ein Kykladendorf und an den non Le Corbusiers Ronchamp gemahnt. Ganz anders und doch verwandt in der Intention kommen Robert Sinskey Vineyards einher. Hier hat der Kirchenbauer Oscar Leidenfrost alle Register seiner Kunst gezogen. Die modern-monumentale Architektur des Weinguts Artesa am südlichen Ende des Napa Valley könnte ebenso gut eine Möbelfabrik oder ein Kunstmuseum beherbergen. Kein Wunder, denn es ist in erster Linie als transatlantisches Schaufenster eines ursprünglich spanischen Hoflieferanten konzipiert worden (Architekten: D. Triay und E. R. Bouligny). Ähnlich muss es in Opus One zugegangen sein, einem transatlantischen Joint Venture, an dem Mondavi und Rothschild zu gleichen Teilen beteiligt sind. Nicht weniger als fünf Architekten haben hier unter der Leitung von Scott Johnson zusammengearbeitet, und das Ergebnis ist aufsehenerregend, ohne indes einen eindeutig positiven Eindruck zu hinterlassen - Heterogenität und Beliebigkeit liegen halt immer nah beieinander.

Mit der Dominus Winery im Napa Valley schliesslich haben die Basler Architekten und diesjährigen Pritzker-Preis-Träger Herzog & de Meuron den Geniestreich einer zugleich radikal innovativen und extrem funktionellen Architektur verwirklicht (NZZ 7. 5. 99). Weniger bekannt ist, dass der Besitzer dieses Weingutes niemand Geringerer ist als Christian Moueix, dem im französischen Pomerol der absolute Spitzenwein Pétrus gehört. Die Latte liegt hoch - sehr hoch. Wer will sich mit Herzog & de Meuron messen? Im nordspanischen Weinanbaugebiet Rioja sind zurzeit Weinkeller nach Entwürfen von Stars der Branche wie Frank O. Gehry (Bodegas Marqués de Riscal), Rafael Moneo (Bodegas Chivite) und Santiago Calatrava (Bodega Ysios) im Entstehen. Als Tendenz dürfte gelten, dass moderne Architektur im Weinberg verstärkt in den Dienst des Marketings boomender Weinbaugebiete wie Australien, Südafrika, Argentinien und Chile gestellt werden wird. Was indes niemanden in Europa daran hindern soll, es Jean-Jacques Lesgourgues gleichzutun, der im traditionsreichen Anbaugebiet Graves bei Bordeaux quasi aus der Retorte einen vielversprechenden Cru (Château Haut-Selve) hervorgezaubert hat, der seit 1998 in einem von Sylvain Dubuisson gestalteten hypermodernen Weinkeller reift.


[Literatur: Châteaux Bordeaux. Hrsg. Jean Dethier. Edition du Centre Georges Pompidou, Paris 1988. - Dirk Meyhöfer und Olaf Gollnek: Die Architektur des Weines (Deutsch, Französisch, Englisch). AV-Edition, Ludwigsburg 1999. 235 S., Fr. 158.-.]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2001.10.23

31. Juli 2000Hans Hartje
Neue Zürcher Zeitung

Städte im Grünen

Rechtzeitig zum Auftakt der Sommersaison hat sich das Pariser Institut français d'architecture (Ifa) einem Aspekt des heutigen Städtebaus angenommen, der...

Rechtzeitig zum Auftakt der Sommersaison hat sich das Pariser Institut français d'architecture (Ifa) einem Aspekt des heutigen Städtebaus angenommen, der...

Rechtzeitig zum Auftakt der Sommersaison hat sich das Pariser Institut français d'architecture (Ifa) einem Aspekt des heutigen Städtebaus angenommen, der oft noch allzu marginal behandelt wird: Die Rede ist von Grünanlagen. Raum ist Geld, lautet das eherne Gesetz, und je höher und kompakter die Gebäude, desto grösser der Profit. Lösungen im Sinne von mehr Lebensqualität können hier nur aus radikalem Perspektivenwechsel resultieren. Das wird in zwei Ausstellungen anhand der Projekte von Edouard François und von Patrick Bouchains Gruppe L'Atelier beispielhaft deutlich. L'Atelier hat sich hierzu der Zwischenräume am Stadtrand angenommen, also des traditionell ungenutzten Geländes zwischen Gleisanlagen, Autobahnkreuzen und Hochspannungsmasten. Auf diesen planmässig aufgeforsteten Fragmenten unbestellbaren Brachlands wachsen nun zumal in der Pariser Peripherie langsam Stadtwaldgebiete zusammen. - Einen ganz anderen Weg hat Edouard François beschritten, dessen erstes, Aufsehen erregendes Wohngebäude («L'Immeuble qui pousse») soeben in Montpellier bezogen worden ist. Unter dem Stichwort «Öko-Architektur» (auch von «Land Arch» ist die Rede) soll nun auch bei den Bewohnern eines neu erbauten Hochhauses an der Pariser Porte d'Asnières ein Wohngefühl wie inmitten der Natur aufkommen. Wo in der Ebene kein Platz für Grünanlagen ist, lautet François' Credo, muss man eben in die Vertikale gehen (als Referenz führt er den «senkrechten Park» von Adriaan Geuze in Manhattan an). Sein Konzept nennt der Architekt «pflanzliche Ummantelung». Erst die Zukunft wird allerdings zeigen, ob damit mehr erreicht wird als mit herkömmlichem Efeubewuchs oder mit Balkongeranien.

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2000.07.31

19. Juli 2000Hans Hartje
Neue Zürcher Zeitung

Londoner Szene

Ein frecher, mit «Lost & Found» betitelter Ausstellungsmix zeigt gegenwärtig im Centre d'architecture - Arc en rêve in Bordeaux Positionen aus der boomenden...

Ein frecher, mit «Lost & Found» betitelter Ausstellungsmix zeigt gegenwärtig im Centre d'architecture - Arc en rêve in Bordeaux Positionen aus der boomenden...

Ein frecher, mit «Lost & Found» betitelter Ausstellungsmix zeigt gegenwärtig im Centre d'architecture - Arc en rêve in Bordeaux Positionen aus der boomenden jungen Londoner Design- und Architekturszene. Dabei hinterlassen die «Fundsachen» der «kritischen britischen Designer» einen stärkeren Eindruck als die Projekte der mit der Inszenierung der Schau betrauten Architekten, unter denen vorab das Yokohama-Fähren-Terminal der Agentur Foreign Office Architects auffällt. Was hingegen die Arbeiten sowohl des Teams «Fashion Architecture Taste» (FAT) als auch der Frauenagentur «muf» (Juliet Bidgwood, Liza Flor und Katherine Clarke) auszeichnet, ist eine ebenso interdisziplinäre wie humorvolle Art, Konzepte und Objekte (scheinbar) ohne Rücksicht auf Ordnungsprinzipien und Massstäbe zusammenzuwürfeln. Löst FAT im Rahmen seiner «Pop Architecture» bevorzugt Gebrauchsgegenstände aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang heraus, um sie in ortsfremder Umgebung zu zitieren (etwa ein Gartenhaus in einer zur Agentur umfunktionierten Kirche), so beschäftigt sich «muf» vor allem mit der Aufheiterung der häufig uniformen Innenstädte (z. B. der Londoner Southwark Street). Die Ausstellung in Bordeaux besticht aber auch durch die Qualität der Exponate von Designteams wie AntiRom, Boudicca, Inflate, North, The Designers Republic, Tomato oder Vexed Generation, an denen Zusammenhänge zwischen Zeitgeist (Umweltschutz, Nostalgie, «anything goes») und Formenvielfalt augenfällig werden. Der Bogen reicht hier von der Mode bis zur Typographie, wobei der didaktische Witz darin besteht, dem Neuentwurf das - zitierte, plagiierte, verfremdete - «Original» zur Seite zu stellen.


[ Die Ausstellung im Arc en rêve dauert bis zum 30. September. Katalog: Lost & Found. Objets trouvés, design britannique critique. Hrsg. The British Council. Birkhäuser-Verlag, Basel 2000. 128 S., fFr. 240.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2000.07.19

20. März 2000Hans Hartje
Neue Zürcher Zeitung

Der Mensch als Massstab

Um zu ermessen, worum es bei der Ausschreibung zur «behutsamen Modernisierung» des Cognacq-Jay-Krankenhauses in Paris ging, bedarf es eines historischen...

Um zu ermessen, worum es bei der Ausschreibung zur «behutsamen Modernisierung» des Cognacq-Jay-Krankenhauses in Paris ging, bedarf es eines historischen...

Um zu ermessen, worum es bei der Ausschreibung zur «behutsamen Modernisierung» des Cognacq-Jay-Krankenhauses in Paris ging, bedarf es eines historischen Rückblicks. Die Institution geht auf eine Geburtsklinik zurück, die vor exakt 100 Jahren von den beiden Gründern des Kaufhauses La Samaritaine gegründet wurde. Seit 1978 indes leben in den Gebäuden nur noch Todkranke, zu denen sich seit 1997 Aids- und Krebspatienten gesellen. Dieser Patientenstruktur und den daraus sich ergebenden Pflegeerfordernissen hatten die fünf Teilnehmer an dem 1999 ausgeschriebenen Architekturwettbewerb Rechnung zu tragen: Architecture Studio, Chemetov und Huidobro, Jean Nouvel, Dominique Perrault sowie der Preisträger Toyo Ito, der hier seinen ersten europäischen Wettbewerbserfolg verzeichnen konnte. Die Ergebnisse sind noch bis zum 14. Mai im Pariser Institut Français d'Architecture (IFA) zu sehen. Allen Projekten gemein ist eine augenfällige Zurückhaltung in der architektonischen Federführung, und allen dienen ganz ausdrücklich der Mensch und das Recht des Sterbenden auf eine menschenfreundliche Architektur als Massstab. Allein schon diese Lektion lohnt einen Besuch.


[ Concours pour l'hôpital Cognacq-Jay. Hrsg. Frédéric Nantois. Editions IFA, Paris 2000. 28 S., fFr. 25.- (in der Ausstellung). ]

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2000.03.20

09. Februar 2000Hans Hartje
Neue Zürcher Zeitung

Modernes Bauen in Marokko

Eine bedeutende Dokumentationslücke im Bereich der modernen aussereuropäischen Architektur schliesst seit jüngstem die schlicht «Zevaco» betitelte Monographie...

Eine bedeutende Dokumentationslücke im Bereich der modernen aussereuropäischen Architektur schliesst seit jüngstem die schlicht «Zevaco» betitelte Monographie...

Eine bedeutende Dokumentationslücke im Bereich der modernen aussereuropäischen Architektur schliesst seit jüngstem die schlicht «Zevaco» betitelte Monographie von Michel Ragon und Henri Tastemain. Die Bauten des 1916 als Sohn korsischer Eltern in Casablanca geborenen Architekten Jean-François Zevaco sind in der Tat aus dem Bild der marokkanischen Städte kaum mehr wegzudenken. Diese urbanistischen Merkzeichen kombinieren auf immer wieder überraschende, manchmal befremdende, in der Regel jedoch überzeugende Art Einflüsse der klassischen Moderne (Le Corbusier, Frank Lloyd Wright) mit dem Farb- und Formenvokabular Nordafrikas.

Manch ein Marokkoreisender hat sich wohl schon die Augen gerieben, wenn er in Agadir (Hauptpost, Feuerwehrhaus), Cabo Negro (Klubhotel Yasmina), Casablanca (Bürogebäude Omnium nord-africain), Ouarzazate (Lehrerseminar), Rabat (Markt) oder Sidi-Harazem (Thermalbad) unversehens auf avantgardistisch anmutende Gebäude stiess. Dass diese repräsentativen Architekturen aus Zevacos perfekt assimilierter Feder jedoch nur eine Facette seines schier unbegrenzten Einfallsreichtums darstellen, das wird im vorliegenden Bildband vor allem anhand von ausführlich dokumentierten Privathäusern deutlich. Unter diesen ragt selbstverständlich die Villa Zevaco hervor, mit der der Meister die eigenen Wohn- und Repräsentationswünsche in einem Vorort von Casablanca Wirklichkeit werden liess. Kaum weniger interessant sind aber auch die für den reichen Mäzen Abderrahim Zniber konzipierten Luxusvillen in Casablanca, Marrakesch und Rabat, deren immer wiederkehrendes typologisches Merkmal die nur scheinbar wahllos verstreut um einen vieleckigen Pool herum angeordneten Wohn- und Schlafbungalows sind.

Formal kennzeichnend ist bei allen Bauten von Zevaco der Gebrauch grossflächiger Raumteiler aus Sichtbeton, die - in bizarren Winkeln zueinander versetzt angeordnet - gerade genug Licht durchlassen, damit auf Fensteröffnungen verzichtet werden konnte. Sie veranschaulichen, wie gezielt Zevaco auf die Licht- und Klimaverhältnisse in Nordafrika antwortete.


[ Michel Ragon und Henri Tastemain: Zevaco. Edition Cercle d'Art, Paris 1999. 240 S., zahlr. Abb., fFr. 590.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2000.02.09

22. Dezember 1999Hans Hartje
Neue Zürcher Zeitung

Ökonomische Architektur

Im Pariser Institut français d'architecture (IFA) sind gegenwärtig zwei Ausstellungen zu sehen, die auf den ersten Blick nichts, bei genauerem Hinsehen...

Im Pariser Institut français d'architecture (IFA) sind gegenwärtig zwei Ausstellungen zu sehen, die auf den ersten Blick nichts, bei genauerem Hinsehen...

Im Pariser Institut français d'architecture (IFA) sind gegenwärtig zwei Ausstellungen zu sehen, die auf den ersten Blick nichts, bei genauerem Hinsehen indes einen ganz wesentlichen Aspekt gemein haben: den der grösstmöglichen Ökonomie der bautechnischen Mittel in finanziell mageren Zeiten. Jean Prouvé hat sich in der Nachkriegszeit mit Stahlskelettfertigbauten einen Namen gemacht, in denen eine grosse Zahl von lothringischen Kriegsopfern ein erstes Dach über den Kopf fand. Ein Exemplar dieser Wohneinheit ist im Innenhof des IFA zu besichtigen, neben einer zeitgenössischen Variante aus Pappkarton, die der japanische Architekt Shigeru Ban in Kobe nach dem schweren Erdbeben vom Zeichenbrett in die zerstörte Stadtlandschaft gezaubert hat. Prouvé, dessen ganzes weiteres Wirken auf die Entwicklung serienreifer Fertigteile für den Fassadenbau gerichtet war, steht nun unwillkürlich Pate für eine Flut von Universitätsneubauten, die im Rahmen des Plans U2000 in ganz Frankreich aus dem Boden gestampft worden und die das Sujet der zweiten Ausstellung sind. War Prouvé noch weitgehend auf Stahl und Glas angewiesen, so verfügen die heutigen Architekten über eine reiche Palette an Formen, Farben und Materialien, von denen sie sich mit offensichtlicher Experimentierfreude zu immer neuen Kombinationen anregen lassen. Der städtebauliche Schaden, den monotone Wohnblöcke, Einkaufszentren oder Lagerhallen an der Peripherie von Frankreichs Städten angerichtet haben, ist auf die Art wenigstens stellenweise «wiedergutgemacht» worden. Den Studenten, die oft in Schulen gross geworden sind, für die von Prouvé nur der Aspekt «Sparen am Bau» übernommen wurde, kann es recht sein.

Hans Hartje


[ Bis 9. Januar. Jean Prouvé: Il faut des maisons usinées. Edition Messène, Paris 1999. 30 S., fFr. 50.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 1999.12.22



verknüpfte Akteure
Shigeru Ban Architects

12. Oktober 1999Hans Hartje
Neue Zürcher Zeitung

Der Reiz des Unvollendeten

Unter dem provokanten Titel «Um nicht zu sterben, werde ich mein eigenes Haus niemals vollenden. Warum also die Häuser anderer Leute vollenden?» ist gegenwärtig...

Unter dem provokanten Titel «Um nicht zu sterben, werde ich mein eigenes Haus niemals vollenden. Warum also die Häuser anderer Leute vollenden?» ist gegenwärtig...

Unter dem provokanten Titel «Um nicht zu sterben, werde ich mein eigenes Haus niemals vollenden. Warum also die Häuser anderer Leute vollenden?» ist gegenwärtig im Espace van Gogh in Arles eine Ausstellung zu sehen, in der 15 Projekte und Realisationen des Architekten und Künstlers François Seigneur gezeigt werden. Der für Architektur eher untypische Ausstellungsort erklärt sich durch die Tatsache, dass der 1942 geborene, aber erst seit 1992 hauptamtlich als Baukünstler tätige Allrounder Seigneur seit 1996 seine Agentur in Arles betreibt. Die Ausstellung selbst besticht durch die Anschaulichkeit, mit der bisher nicht realisierte Projekte wie die «Rehabilitation» der Keksfabrik Lu in Nantes oder das Zentrum für moderne Kunst in Meymac plastisch vor dem Auge des Betrachters erstehen. Die zur Realisierung gelangten Entwürfe dagegen scheinen vergessen machen zu wollen, dass hier überhaupt ein Architekt am Werk war. Davon zeugen beispielsweise der Bilderbrunnen im französischen Pavillon der Weltausstellung in Sevilla aus dem Jahr 1992 oder die diskret in die Landschaft eingepasste Einfahrt des Somporttunnels in den westlichen Pyrenäen. Seigneur selbst vergleicht seine Vorgehensweise am liebsten mit der eines Komponisten, der seine aus Versatzstücken der Vergangenheit zusammengesetzte Musik auf der Zeitachse in die Zukunft projiziert.


[ Bis 27. Oktober. - Begleitpublikation: François Seigneur. 15 Projets. Hrsg. Patrice Goulet und Francis Rousseau. Edition IFA, Paris 1999. 100 S., fFr. 50.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 1999.10.12

10. August 1999Hans Hartje
Neue Zürcher Zeitung

Die Villa als Gesamtkunstwerk

Die Villa Noailles in Hyères, ein surrealistisch angehauchtes Meisterwerk des Architekten Robert Mallet-Stevens, zeigt gegenwärtig eine repräsentative Auswahl von Arbeiten der Mitglieder der Union des Artistes Modernes aus den dreissiger Jahren. Als Spiegel einer grossbürgerlichen Kultur vereinen die Exponate die Eleganz des Art déco mit dem Zukunftsglauben der Moderne.

Die Villa Noailles in Hyères, ein surrealistisch angehauchtes Meisterwerk des Architekten Robert Mallet-Stevens, zeigt gegenwärtig eine repräsentative Auswahl von Arbeiten der Mitglieder der Union des Artistes Modernes aus den dreissiger Jahren. Als Spiegel einer grossbürgerlichen Kultur vereinen die Exponate die Eleganz des Art déco mit dem Zukunftsglauben der Moderne.

Nur selten dürften bei einer Retrospektive die Exponate so gut zum Ort passen wie bei der gegenwärtigen Ausstellung in der Villa Noailles, die Robert Mallet-Stevens in den Jahren 1924-33 für die Mäzene Charles und Marie-Laure de Noailles hoch über Hyères an der französischen Riviera errichtete. In jenen Jahren, genauer von 1929 bis 1939, war Mallet-Stevens auch der erste Präsident der von Charlotte Perriand, René Herbst, Francis Jourdain, Jacques Le Chevallier, Jean Fouquet, Gérard Sandoz, Jean Puiforçat und Hélène Henry ins Leben gerufenen Union des Artistes Modernes (UAM). Die Gruppe, zu der in den folgenden Jahren auch noch bildende Künstler wie Fernand Léger und Sonia Delaunay, Architekten wie Le Corbusier, Ingenieure wie Jean Prouvé und Photographinnen wie Florence Henri stiessen, hatte die Herausbildung einer «radikal sozialen Kunst» auf ihre Fahnen geschrieben. Diese «Synthèse des arts» setzte auf die Zusammenarbeit der verschiedensten Künstler vom Juwelier bis zum Stadtplaner, mit dem Ziel, die neuesten Erkenntnisse von Wissenschaft und Technik in allen Bereichen der Ästhetik nutzbar zu machen. Von der Fruchtbarkeit dieses spezifischen Konzepts der Moderne zeugt neben den Ausstellungsgegenständen auch die Villa.

Am Ende einer Serpentinenstrasse sieht sich der Besucher der Villa Noailles plötzlich wie auf einem Schiffsbug, von dem aus der Blick über die Altstadt von Hyères und die Küstenebene bis zur Ile de Porquerolles geht. Der Vergleich mit einem Schiff ist gewollt: Wenn auch die ursprüngliche Bausubstanz auf die Ruinen eines Zisterzienserklosters aus dem 15. Jahrhundert zurückgeht, so hat Mallet-Stevens doch in erster Linie der topographischen Situation des sich parallel zur Küstenlinie erstreckenden Hügelkamms Rechnung getragen: Kreuzfahrt als Lebensform. Vorbei an einem spitz zulaufenden Mosaikgarten des Landschaftsarchitekten Guévrékian gelangt man in ein grünes Vestibül, in dem man sich in einer Art von Klostergarten wähnt. Im Inneren der Villa gelangt man - vorbei an dem durch Glasbausteine in der Decke diffus erhellten rosa Salon, dessen Möbel von René Herbst gefertigt wurden - in die kühlen Ausstellungsräume im Untergeschoss, deren Fenster dank der Hanglage den Blick auf den Horizont freigeben.

Hier sind Architekturmodelle von Paul Nelson (das Ärztehaus, die chirurgische Abteilung des Krankenhauses von Ismailia) zusammen mit Photographien von Man Ray ausgestellt. An der Wand hängen Plakate von Florence Henri, Planskizzen von Eileen Gray sowie Perspektivzeichnungen von Vladimir Bodiansky und Pierre Chareau. Von Chareaus pragmatischem Erfindungsreichtum zeugt überdies ein raumfüllendes Modell seines zwischen 1927 und 1931 in Paris realisierten Glashauses. Nebenan treten farbige Entwürfe von Robert Delaunay für den Eisenbahnpavillon der Pariser Weltausstellung 1937 in einen Dialog mit kubistisch inspirierten Gouachen von Le Corbusier, die wiederum den Kontakt suchen zum Prototyp eines Liegestuhls, den der Meister zusammen mit Pierre Jeanneret und Charlotte Perriand entworfen hat.

Man kann sich gut vorstellen, wie Man Ray hier 1929 das Meisterwerk des cinematographischen Surrealismus, «Les mystères du château du dé», gedreht oder Luis Buñuel 1930 das Drehbuch für «L'Age d'or» verfasst hat, obwohl die Einrichtung der Villa nicht in ihrem ursprünglichen Zustand erhalten ist. Die Villa - über dreissig Jahre kaum benutzt - verfiel allmählich, bevor Charles de Noailles sie 1973 der Stadt Hyères verkaufte. Erst 1987 wurde die Bausubstanz unter Denkmalschutz gestellt. Inzwischen sind die Instandsetzungsarbeiten so weit fortgeschritten, dass sichtbar und spürbar ist, wie das geplante internationale «Centre d'Art et d'Architecture» aussehen wird, das hier im Jahre 2001 eröffnet werden soll.

Neue Zürcher Zeitung, Di., 1999.08.10

19. Juni 1999Hans Hartje
Neue Zürcher Zeitung

Casablanca - Mythos und gebaute Realität

Pünktlich zum Marokko-Jahr ist jüngst das Buch «Casablanca, mythes et figures d'une aventure urbaine» von Monique Eleb, einer Psychologin und Soziologin,...

Pünktlich zum Marokko-Jahr ist jüngst das Buch «Casablanca, mythes et figures d'une aventure urbaine» von Monique Eleb, einer Psychologin und Soziologin,...

Pünktlich zum Marokko-Jahr ist jüngst das Buch «Casablanca, mythes et figures d'une aventure urbaine» von Monique Eleb, einer Psychologin und Soziologin, und Jean-Louis Cohen, dem umtriebigen Direktor des Institut français d'architecture, erschienen. Man kann sich kaum eine bessere Einführung in die komplexe Materie dieses Buches vorstellen als die Ausstellung, die zurzeit - ebenfalls im Rahmen des Marokko-Jahres - im Pariser Espace Elektra, einem Kulturzentrum des staatlichen französischen Energiekonzerns EdF an der Rue Récamier 6, zu sehen ist. Dort erfährt der Besucher auf drei Etagen und in zehn Kapiteln das Wesentliche zur Vorgeschichte und vor allem zum städtebaulichen Werden der heute grössten Stadt Marokkos und des bedeutendsten Seehafens Afrikas.

Um die Jahrhundertwende zählte die Stadt am Atlantik rund 30 000 Einwohner: heute sind es - je nach Einzugsgebiet - zwischen 3,5 und 6,5 Millionen. Dazwischen stand Marokko von 1907 bis 1956 unter französischem Protektorat, wovon noch immer zahlreiche Gebäude der damaligen Kolonialverwaltung zeugen. Deren Bauweise war stilbildend für das gleichwohl noch immer unverwechselbar nordafrikanisch erscheinende Stadtbild Casablancas. Wie diese einzigartige Synthese zustande gekommen ist, das haben Eleb und Cohen untersucht. Dabei sind die beiden von ihnen herausgearbeiteten, deutlich voneinander unterscheidbaren Phasen in der städtebaulichen Entwicklung nicht zuletzt deshalb interessant für den europäischen Betrachter, weil sie auf ganz spezifische Weise Tendenzen widerspiegeln, die die moderne Architektur entscheidend mitbestimmt und geprägt haben.

Nun überlagerte sich diese Entwicklung allerdings im Falle Casablancas mit ganz bestimmten kolonial-, wirtschafts- und sozialpolitischen Rahmenbedingungen. Das Resultat waren städtebauliche Einheiten, wie man sie wohl nur selten auf so engem Raum und in so gut erhaltenem Zustand zu sehen bekommt. Da sind zunächst einmal die Villenviertel südlich des Stadtkerns, wo bereits zu Beginn unseres Jahrhunderts aus Frankreich stammende oder dort ausgebildete Architekten grosszügige, den lokalen Gegebenheiten (Topographie, Klima usw.) angepasste Privathäuser errichteten. Anschliessend waren in Casablanca der international noch immer kaum bekannte Marius Boyer, aber auch Marcel Desmet, Charles Abella, Louis Fleurant und sogar Auguste Perret tätig. Mit ihren Bauten, die oft in Zusammenarbeit mit Bauunternehmern italienischer oder spanischer Herkunft realisiert wurden, haben sie das in den zwanziger Jahren allmählich grossstädtische Züge annehmende Stadtbild im Zentrum geprägt. In diese Zeit fallen jedoch auch die ersten Schritte zur «Ghettoisierung» der Medina. So dokumentieren historische Aufnahmen, wie die streng geometrische Place de France zeitweise durch eine hohe Holzbarrikade gegen das anarchische Gassengewirr des arabischen Stadtteils abgeschottet war.

Die Entwicklung zur räumlichen Trennung der als heterogen empfundenen Bevölkerungsgruppen wurde in der ersten Phase begünstigt durch radikale Eingriffe in die bestehende Bebauungsstruktur. Hier lassen Ausstellung, Katalog und Monographie gleichermassen deutlich werden, wie die Kolonialverwaltung unter General Hubert Lyautey und den federführenden Planern Henri Prost oder Michel Ecochard die Stadt hemmungslos für ihre Experimente brauchte. Die zweite Phase war dann von starken Spannungen sozialer und politischer Art geprägt. Vor allem der durch den Hafenausbau - 1916 entstanden die Docks von Perret - bewirkte wirtschaftliche Aufschwung zog die mittellose Landbevölkerung magnetisch an. Diese Zuwanderung förderte den Bedarf an billigem Wohnraum in grossem Mass. Wenn auch zahlreiche Dokumente belegen, mit wieviel Sorgfalt und Rücksicht auf die traditionelle Formensprache die neuen Siedlungen geplant wurden (als Architekten verantwortlich zeichneten u. a. Gaston Jaubert, Léonard Morandi und Jean- François Zévaco), so führte diese Art sozialen Wohnungsbaus in den betroffenen Quartieren doch zu einem Anwachsen der Unzufriedenheit.

Ein vorläufig letzter bedeutender Eingriff in die städtebauliche Struktur der Innenstadt von Casablanca setzte Mitte der achtziger Jahre ein, als Hassan II. das damals grösste afrikanische Meerwasserschwimmbad (mit einer Beckenlänge von 300 Metern) am Strand zuschütten liess, um auf der so gewonnenen Esplanade nach den Plänen des Pariser Architekten Michel Pinseau die 1993 geweihte Hassan-Moschee errichten zu lassen: ein gigantisches Monument und nebenbei ein lukrativer Bauauftrag an ein Konsortium unter Führung des französischen Baulöwen Bouygues. Den grössten Teil der Zeche (die Rede ist von rund 400 Millionen Franken) zahlten dann im Rahmen einer landesweiten Subskription die marokkanischen Gläubigen. (Bis 18. Juli)


[ Katalog: Casablanca. Portrait de ville. fFr. 130.- (in der Ausstellung fFr. 100.-). - Monique Eleb und Jean-Louis Cohen: Casablanca, mythes et figures d'une aventure urbaine. Editions Hazan, Paris 1999. 480 S., fFr. 350.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 1999.06.19

21. Mai 1999Hans Hartje
Neue Zürcher Zeitung

Ein Blick in die Zukunft

Elf Jahre nach der Ausstellung «Deconstructivist Architecture» im MoMA in New York hat ausgerechnet Orléans den Faden da wiederaufgenommen, wo Philip Johnson...

Elf Jahre nach der Ausstellung «Deconstructivist Architecture» im MoMA in New York hat ausgerechnet Orléans den Faden da wiederaufgenommen, wo Philip Johnson...

Elf Jahre nach der Ausstellung «Deconstructivist Architecture» im MoMA in New York hat ausgerechnet Orléans den Faden da wiederaufgenommen, wo Philip Johnson und Mark Wigley ihn fallengelassen hatten - im nur scheinbar referenzfreien Raum der postmodernen Architektur. Die Ausstellung «ArchiLab 99», die zurzeit in Orléans in einem umfunktionierten Nachschublager der französischen Armee zu sehen ist, fällt aus dem für Frankreich typischen Rahmen: Die Exponate gehen überwiegend auf eine Sammlung zurück, die die verantwortlichen Kommissare Marie-Ange Brayer und Frédéric Migayrou über Jahre hinweg mit sicherem Gespür für den Fonds régional d'art contemporain (FRAC) der Region Centre zusammengetragen haben. Zudem ist kaum einer der beteiligten Architekten älter als 40 Jahre. Allen gemeinsam ist eine architektonische Vorgehensweise, die mit jeder herkömmlichen Begrifflichkeit kurzen Prozess zu machen scheint. Die mit viel Sorgfalt präsentierten Projekte von 30 Architekturbüros reichen von der «Induction City» der Japanerin Makoto Sei Watanabe über das Sportstadion Chemnitz der Kölner Königs Architekten, die «Virtual NY Stock Exchange» des New Yorker Büros Asymptote und das neue Restaurant des Centre Pompidou von Jakob & MacFarlane (Paris) bis zu den Bauten aus Presspappe und Segeltuch, die der japanische Architekt Shigeru Ban als schnelle und pragmatische Antwort auf das schwere Erdbeben von Kobe konzipiert hat. Auf das Ergebnis der verschiedenen Ausschreibungen, die die Stadt Orléans im Rahmen der Ausstellung veranstaltet, kann man ebenso gespannt sein wie auf die bereits angekündigte 2. Auflage von «ArchiLab» im nächsten Jahr.


[Bis 30. Mai. Site des Substances militaires, boulevard de Rocheplatte, Orléans. Katalog: 286 S., fFr. 300.-.]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 1999.05.21

28. April 1999Hans Hartje
Neue Zürcher Zeitung

Vom Schalentier zum Wirbeltier

Beton als Bausubstanz ist in den Grossstädten ein so selbstverständlicher Anblick, dass die Idee einer Architekturausstellung zu diesem Thema zuerst allzu...

Beton als Bausubstanz ist in den Grossstädten ein so selbstverständlicher Anblick, dass die Idee einer Architekturausstellung zu diesem Thema zuerst allzu...

Beton als Bausubstanz ist in den Grossstädten ein so selbstverständlicher Anblick, dass die Idee einer Architekturausstellung zu diesem Thema zuerst allzu diffus erscheint. Bezogen auf die Pariser Stadtlandschaft allerdings erweist sich die Beschäftigung mit diesem modernen Baumaterial als durchaus erhellend. Das werden sich auch die Verantwortlichen des Pavillon de l'Arsenal gesagt haben, als sie sich zum Abschluss ihrer Ausstellungsreihe zur Pariser Ziegelstein-, Holz-, Eisen- und Glasarchitektur des Betons angenommen haben.

Dem flüchtigen Betrachter der Ausstellung ergeht es dabei zunächst nicht anders als dem zerstreuten Flaneur in der Stadt: Er nimmt auf Anhieb gar nicht wahr, wie wenig dieser allgegenwärtige Baustoff sich von selbst versteht. Bei näherem Hinschauen jedoch - und bei der Lektüre des enzyklopädisch angelegten Katalogs - fällt es ihm gleichsam wie Schalholz von den Augen: Die Erfindung des Betons hat «das gesamte Baugewerbe revolutioniert» (Pier-Luigi Nervi). Mit ihm erst hat sich die menschliche Bauform, um mit Raymond Fischer zu sprechen, aus dem Stadium des Schalentiers mit aussenliegendem Skelett zum innengestützten Wirbeltier weiterentwickelt.

Wie nebenbei erfährt man in der Folge dieses grundlegenden Aha-Erlebnisses den Unterschied zwischen Zement und Beton, versteht den Zusammenhang zwischen Druck- und Zugfestigkeit (Stichwort Stahl- und Spannbeton), nimmt mit Staunen zur Kenntnis, dass Architekten und Ingenieure es bis heute auf über 2500 Spielarten dieses so elementaren wie polymorphen Baustoffs gebracht haben: ein Allerweltsmaterial im wahrsten Sinne des Wortes. Dass die Ausstellung in Paris stattfindet, hat auch historische Gründe. Der Beton ist 1818 in Frankreich erfunden worden (von Louis Vicat). Franzosen (Lebrun, Lambot, Monier - daher der auch im Deutschen so genannte Monierbeton) haben die grundlegenden Techniken seiner Verarbeitung erfunden, und François Coignet hat 1867 in Paris das erste Hochhaus aus Beton errichtet. Seine erste Hochkonjunktur erlebte der Beton sodann dank dem Bauunternehmer François Hennebique, der zwischen 1892 und 1902 über 7200 Betonbauten errichtete. In der Folge lassen sich für Paris drei grosse Phasen unterscheiden: die zwanziger Jahre, in denen Beton gleichbedeutend steht für Modernität (Perret, Le Corbusier, Lurçat und Mallet-Stevens); die «Trente Glorieuses» (1945- 1975) des (nicht nur französischen) Wirtschaftswunders, in denen schnell und billig viel und hoch gebaut wurde, mit dem Resultat des miserablen Rufs, in dem Beton heute noch steht; die achtziger Jahre schliesslich, in denen in der französischen Hauptstadt nicht zuletzt dank der «Grands Travaux» von Präsident Mitterrand so spektakuläre Bauten wie die «Grande Arche», das Foyer des Louvre unter der Glaspyramide von Pei oder das «Stade Charlety» von Henri und Bruno Gaudin entstehen. (Bis 31. Mai)

[Katalog: Le Béton à Paris. Hrsg. Bernard Marrey und Franck Hammoutène. Ed. Pavillon de l'Arsenal/Picard, Paris 1999. 224 S., fFr. 280.-.]

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 1999.04.28

23. März 1999Hans Hartje
Neue Zürcher Zeitung

Zukunftsorientierte Architektur in der Aquitaine

Der Träger des französischen Staatspreises für Architektur 1998, der 56jährige Jacques Hondelatte, lässt sich gegenwärtig mit einer Retrospektive im Architekturzentrum...

Der Träger des französischen Staatspreises für Architektur 1998, der 56jährige Jacques Hondelatte, lässt sich gegenwärtig mit einer Retrospektive im Architekturzentrum...

Der Träger des französischen Staatspreises für Architektur 1998, der 56jährige Jacques Hondelatte, lässt sich gegenwärtig mit einer Retrospektive im Architekturzentrum Arc en rêve von Bordeaux feiern. Hondelatte ist hier zu Hause, und die Mehrzahl der von ihm realisierten Gebäude stehen in der Region Aquitaine: extravagante Landhäuser wie die Maison Fargues bei Dax (1969–71) oder die Maisons Artiguebielle (1973) und Sécherre (1989) im Weinbaugebiet Médoc, aber auch Stadthäuser wie die Maison Cotlenko (1988–91) im Herzen von Bordeaux. In der Weinmetropole hat Hondelatte ausserdem Anfang der neunziger Jahre das Internat des Lycée Gustave- Eiffel in einer Art Leitplankenästhetik vertikal ins Strassenbild eingepasst. Auf ein ebenso unkonventionelles Gebäude wird man sich im Jahre 2000 gefasst machen müssen, wenn das Wein- Kulturzentrum eröffnet wird. Die betont geometrischen Flächen und Linien des Projekts heben sich gewollt futuristisch von der umgebenden Fassadenlandschaft ab. In dieser Hinsicht ähnelt die architektonische Vorgehensweise Hondelattes der seiner Zeitgenossen Bernard Tschumi, Peter Cook (Archigram) oder Massimiliano Fuksas, auf die er sich im Gespräch auch selbst gern beruft.

Architektur ist für Hondelatte bedingungsloser Dienst an der Funktion. Ausgehend von diesem Ansatz modelliert er am Computer seine Bauten. Hondelattes Entwürfe zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich dem flüchtigen Blick entziehen. Die Grundrisse, Schnitte und Ansichten erschliessen sich – ähnlich wie durchkomponierte Texte oder Musikstücke – erst allmählich dem Betrachter. Als durchaus überzeugende Beispiele für diese Art kompromissloser Konzeption, auf deren kybernetischer Natur als unabdingbarem Spezifikum heutiger Architektur Hondelatte mit allem Nachdruck besteht, bietet die Ausstellung Dokumentationen mehrerer Ausschreibungen, deren fehlende Realisierung nur allzu oft die mangelnde Risikofreudigkeit der Bauherren unterstreicht.

Als sein wichtigstes Projekt erachtet Hondelatte die Konzeption des weltlängsten Autobahnviadukts, das im Süden des Massif central bei Millau ein 3 Kilometer breites Tal in 300 Metern Höhe überspannen soll. Wer das auf farbigen Bildschirmausdrucken simulierte Ergebnis an herkömmlichen, weniger technologischen denn «ästhetischen» Massstäben misst, wird seine Skepsis kaum verbergen können. Denn die Fahrspuren kommen höchst unkonventionell in einem Hohlprofil aus Stahl übereinander zu liegen. Ähnlich reserviert zeigten sich die Jurymitglieder, die 1991 Hondelattes Projekt einer flugzeugträgerartigen Parkplatzbrücke am Fuss des von Touristen- und Treibsandströmen bedrohten Mont Saint-Michel in letzter Instanz verworfen haben. Dabei dürfte hier letztlich wohl jede Lösung auf Widerstand stossen. Bleibt die Frage, ob es den idealen Kompromiss in Sachen Stadtplanung bzw. Landschaftsgestaltung überhaupt gibt. Nicht zuletzt wegen seines entschlossenen Widerstands gegen vorschnelle Kompromisse hat Hondelatte den Nationalpreis verdient. Davon zeugt auch die Ausstellung in Bordeaux, die anschliessend noch in London, Berlin, Houston und Mexiko zu sehen sein soll.

[Bis 2. Mai]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 1999.03.23

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