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03. Mai 2024Robert Uhde
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Wohnungsbau in Hasselt

Im belgischen Hasselt hat das Atelier Kempe Thill im Innenhof einer ehemaligen Kaserne einen ungewöhnlichen Wohnungsbau mit neun flexibel einteilbaren Ebenen realisiert. Die lichte Architektur mit ihrer rundum verglasten Fassade sorgt in den Wohnungen für viel Tageslicht und steht im gelungenen Kontrast zu den Backsteinfassaden des sanierten bzw. ergänzten Bestands.

Im belgischen Hasselt hat das Atelier Kempe Thill im Innenhof einer ehemaligen Kaserne einen ungewöhnlichen Wohnungsbau mit neun flexibel einteilbaren Ebenen realisiert. Die lichte Architektur mit ihrer rundum verglasten Fassade sorgt in den Wohnungen für viel Tageslicht und steht im gelungenen Kontrast zu den Backsteinfassaden des sanierten bzw. ergänzten Bestands.

Wer mit dem Zug von Aachen oder Brüssel nach Hasselt kommt, dessen Blick trifft direkt am Bahnhof als Allererstes auf die futuristische Architektur des monumentalen Gerichtsgebäudes, das 2013 nach Plänen von Jürgen Mayer H. hier fertiggestellt wurde. Mit der 2022 umgenutzten Herkenrode-Kaserne hat die gerade mal 70 000 Einwohner:innen zählende Hauptstadt der Provinz Limburg mittlerweile ein architektonisches Juwel ganz anderer Art zu bieten. Denn nach der Schließung und temporären Zwischennutzung des innerstädtischen Blocks als Bürostandort hatte die Kommune 2015 beschlossen, den teilweise noch aus dem 17. Jahrhundert stammenden Komplex zu verkaufen, um das ehemals militärisch genutzte Areal behutsam nachzuverdichten und in ein vielfältig nutzbares Innenstadtquartier umzuwandeln.

Mittlerweile ist das Projekt weitgehend fertiggestellt. Eine typologische Besonderheit ist dabei das im Zentrum der Anlage auf dem ehemaligen Exerzierplatz neu entstandene Wohngebäude. Der 2022 nach Plänen von André Kempe und Oliver Thill fertiggestellte Neubau stellt auf neun Ebenen mit einer Bruttogeschossfläche von insgesamt 7 500 m² fünfzig individuell gestaltete Wohnungen mit einer Größe von 28 bis 210 m² zur Verfügung und überrascht dabei durch seine rundum durchgehende Glasfassade und die dahinterliegenden offenen Wintergärten.

Ausgangspunkt für die Planung war ein 2015 ausgeschriebener Einladungswettbewerb, aus dem aufgrund des großen Projektumfangs ein gemeinsamer Entwurf vom Atelier Kempe Thill (Rotterdam) sowie von Abscis Architecten (Gent), dem UAU Collectiv (Hasselt) und LAND landschapsarchitecten (Antwerpen) als Sieger hervorgegangen war. In enger Zusammenarbeit mit den örtlichen Immobilienentwicklern Kolmont und Vestio hatten die vier Büros vorgeschlagen, die zentral innerhalb des mittelalterlichen Stadtringes gelegene Blockbebauung mit ihren monumentalen Kasernengebäuden aus dem späten 19. Jahrhundert und dem markanten Torhaus grundlegend zu sanieren und durch Balkone und Durchgänge stärker zum Blockinneren hin zu orientieren. Parallel dazu wurde das aus der Renaissance (1544) stammende Refugium der Schwestern der Abtei Herkenrode behutsam in das neue Konzept eingebettet.

Ein Teil der nördlichen Blockrandbebauung aus dem 20. Jahrhundert ist demgegenüber aufgrund von Bauschäden abgerissen und durch zeitgenössische Wohnbauten mit hellen Klinkerfassaden ersetzt worden (Planung: Abscis Architecten und UAU-Collectiv). »Die Bestandsgebäude der ehemaligen Kaserne und das Torhaus stehen andererseits als Veranstaltungsgebäude für die Universität Hasselt zur Verfügung, sodass in der Summe ein vielfältiger Funktionsmix entstanden ist«, so André Kempe und Oliver Thill, die beide aus Ostdeutschland stammen und seit 2000 ein eigenes Büro mit Hauptsitz in Rotterdam führen.

Im Rahmen der Planung haben sich die beteiligten Büros ganz bewusst am Konzept der mittelalterlichen Stadt orientiert, ergänzt durch neue räumliche, soziale und ökologische Qualitäten: »Ganz wichtig war in diesem Zusammenhang der städtebauliche Impuls des Projekts«, wie Oliver Thill erklärt. »Denn im Rahmen der Umsetzung ist der bislang geschlossene Baublock durch drei neue Durchgänge geöffnet und über eine halböffentliche Durchwegung an das städtische Gefüge der Stadt Hasselt angebunden worden.« Durch die neu geschaffene Tiefgarage ist es gleichzeitig gelungen, das Gelände komplett autofrei zu halten. Der nach Plänen von LAND gestaltete und in Teilen begrünte Innenhof bietet stattdessen eine sichere Spielumgebung für Kinder und dient gleichzeitig als ruhige Oase für die Bewohnerinnen und Bewohner. Radfahrende haben über einen Fahrrad- und Lastenaufzug einen eigenen Zugang zur Tiefgarage. Eine neu geschaffene unterirdische Verbindung zu einer weiteren Tiefgarage und zu einem außerhalb des Altstadtkerns gelegenen Parkplatz sorgt darüber hinaus dafür, dass das Zentrum von zusätzlichen Verkehrsbewegungen entlastet wird.

Luftiger Wohnungsbau im Kern der Anlage

Die augenfälligste Veränderung vor Ort betrifft den im Zentrum des Blocks auf einer Fläche von 22 x 35 m neu platzierten Wohnungsbau von André Kempe und Oliver Thill, der den Innenhof nach Westen einfasst: »Zu Beginn unserer Planung hatten wir noch überlegt, die mittelalterliche Struktur des Bestandes aufzugreifen«, blickt Oliver Thill zurück. »In enger Abstimmung mit dem Bauherrn haben wir uns dann aber für eine bewusst leichte Architektur mit durchgehenden Glasfassaden entschieden, um so ein deutliches Gegengewicht zu der vorhandenen Backsteinarchitektur zu schaffen und um das vorhandene Licht im Innenhof optimal zu nutzen.« Und trotz des überraschenden Kontrasts und trotz des großen Volumens des Baukörpers ist es gelungen, den Neubau weitgehend zurückhaltend zu gestalten und die Gesamtsituation nicht zu dominieren.

Betont wird der leichte, beinahe schwebende Eindruck des insgesamt rund 9,6 Mio. Euro teuren Neubaus durch die horizontale Gebäudestruktur mit ihren offenen Gebäudeecken und den um rund 0,6 m auskragenden Geschossdecken. Eine Besonderheit sind außerdem die auf der Ost- und Westseite jeweils 2,7 m, auf der Nord- und Südseite jeweils 1,7 m tiefen, je nach Wohnungsgröße unterschiedlich langen Wintergärten. Die mit Meranti-Holzböden angenehm warm gestalteten Wintergärten nehmen rund ein Drittel der jeweiligen Wohnfläche ein und erlauben mit ihren bis zu 5,70 m hohen, oben und unten in Aluminiumprofilen fixierten Ganzglas-Schiebeelementen eine beinahe ganzjährige Nutzung. Zusätzlich fungieren die Wintergärten auch als energetischer Puffer, indem sie die zurückliegenden Wohnungen im Sommer vor der hochstehenden Sonne schützen und im Winter andererseits den Heizwärmebedarf reduzieren. Ein ausreichender Schutz gegen die hohen Windlasten insbesondere in den oberen Ebenen wird dabei durch eine obere Aushebesicherung in den Elementen sichergestellt.

Privatsphäre auch im EG

Ab der fünften Etage und im Staffelgeschoss ermöglichen die geschosshohen Glasfassaden einen ungestörten Panoramablick über die Dachlandschaft von Hasselt. »Die unteren beiden Etagen haben wir demgegenüber als Maisonette-Einheiten ohne von außen sichtbare Geschossdecke ausgebildet, um so die Anordnung von Schlafzimmern im Erdgeschoss zu vermeiden«, erklärt Oliver Thill. »Um auch für die Wohnräume im Erdgeschoss ausreichend Privatsphäre und Komfort zu gewährleisten, haben wir es außerdem um 0,5 m angehoben und die Wohnräume mit vorspringenden, doppelt so hohen Wintergärten ausgebildet.«

Der Zugang zum Gebäude erfolgt über ein luftiges doppelgeschossiges Foyer auf der Westseite, das mit seiner materialbetonten Gestaltung mit Sichtbeton, dem polierten Betonestrich und einer frei stehenden Stirnwand aus Eichenholz den urbanen Charakter des Gebäudes unterstreicht. Von hier erschließen zwei Aufzüge und eine Innentreppe im tragenden Stahlbetonkern die verschiedenen Ebenen: »Zusätzlich zu diesem Kern waren aus bautechnischer Sicht keine tragenden Wände notwendig«, erklärt Oliver Thill. »Stattdessen haben wir lediglich acht notwendige Stützen in den Grundriss integriert, teilweise kombiniert mit den Schächten für Kabel und Rohre. Im Verbund mit einem Innenausbau in Leichtbauweise haben wir eine maximale Kompaktheit und Wirtschaftlichkeit erreicht und gleichzeitig die Grundlage für eine sehr flexible Grundrissentwicklung geschaffen, sodass wir die Wohnungen ganz individuell an die Bedürfnisse der künftigen Bewohner anpassen konnten.«

Mit dem Projekt in Hasselt knüpfen André Kempe und Oliver Thill ganz bewusst an vorherige Entwürfe im Bereich Wohnungsbauprojekte an. Ganz offensichtliche Bezugspunkte bietet dabei das bereits 2009 fertiggestellte Apartmenthaus »HipHouse« im niederländischen Zwolle. Auch dort war es den Architekten gelungen, mit einer raumhohen, hälftig als Schiebetüren ausgeführten Verglasung luftige Wohnungen mit offenem Loft-Charakter zu schaffen: »Aufbauend auf dieser Erfahrung haben wir auch hier in Hasselt versucht, durch eine strategische Verschmelzung städtischer und vorstädtischer Qualitäten ein bezahlbares Idealmodell für städtisches Wohnen zu schaffen«, erklärt Oliver Thill. »Mit seinen großen Wintergärten, dem fließenden Innen-außen-Verhältnis, den loftartigen Grundrissen und der sehr hochwertigen Materialisierung betrachten wir das Projekt dabei als echte Alternative zum vorherrschenden flämischen Wohnmodell in Einfamilienhäusern.«

db, Fr., 2024.05.03



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db 2024|05 Umhüllt

02. Oktober 2020Robert Uhde
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Dreieckiges Tor zur Stadt

Mit ihrem neuen Bahnhof hat die niederländische Kleinstadt Assen ein charaktervoll gestaltetes neues Entrée mit optimierter Anbindung erhalten. Der Entwurf der beiden Architekturbüros Powerhouse Company und De Zwarte Hond überzeugt v. a. durch seine luftig-elegante Dachkonstruktion aus Holz, die scheinbar über der verglasten Bahnhofshalle schwebt.

Mit ihrem neuen Bahnhof hat die niederländische Kleinstadt Assen ein charaktervoll gestaltetes neues Entrée mit optimierter Anbindung erhalten. Der Entwurf der beiden Architekturbüros Powerhouse Company und De Zwarte Hond überzeugt v. a. durch seine luftig-elegante Dachkonstruktion aus Holz, die scheinbar über der verglasten Bahnhofshalle schwebt.

Mit rund 9.000 Reisenden am Tag ist der Bahnhof der 70.000 Einwohner zählenden Kleinstadt Assen der meistfrequentierte Verkehrsknotenpunkt in der Provinz Drenthe im äußersten Nordosten der Niederlande. Seit 1989 wurde der zwischen Zwolle und Groningen gelegene Durchgangsbahnhof durch einen wenig einladenden Glaskörper mit einem banal gestalteten Dach in blauer Farbigkeit geprägt. Im Rahmen der groß angelegten städtebaulichen Masterplanung »FlorijnAs« ist das gesamte Areal mittlerweile aber erneuert worden. Neben einer grundlegend umgestalteten Verkehrsführung hat die Stadt dabei auch ein neues Bahnhofsgebäude erhalten.

Aus dem Architekturwettbewerb mit fünf eingeladenen Büros war 2014 das Team von Powerhouse Company aus Rotterdam und De Zwarte Hond aus Groningen als Sieger hervorgegangen. Ihr gemeinsamer, in enger Kooperation mit der Gemeinde Assen sowie mit der Niederländischen Bahn entwickelter Entwurf schafft ein offen und freundlich gestaltetes Tor zur westlich angrenzenden Innenstadt und ermöglicht durch eine neue Fußgängerunterführung in Kombination mit einem zuvor bereits eröffneten Fahrradtunnel gleichzeitig eine optimierte Anbindung der östlich der Bahnlinie gelegenen Stadtteile.

Architektonische Ikone für die Stadt Assen

Charakteristischer Blickfang des Neubaus ist das dreiecksförmig gestaltete, über den Bahnsteigen und den Gleisen weit auskragende Holzdach. Die nach Südwesten in Richtung Stadt deutlich aufsteigende und über den Gleisen aufgrund der hier verlaufenden Oberleitungen teilweise geschwungen ausgebildete Konstruktion bietet eine luftig-elegante Überdachung für die durchgehend verglaste Bahnhofshalle. Zudem schafft sie ein markantes, aus allen Blickrichtungen attraktives architektonisches Zeichen, das mit seiner Materialität deutlich sichtbar die Ambitionen der Stadt im Hinblick auf Nachhaltigkeit zeigt. »Unterbrochen wird die Struktur lediglich durch einige transparente Elemente aus Polycarbonat in der Mitte des Dachs, durch die ausreichend Tageslicht in die Bahnhofshalle und auf die Bahnsteige fällt und dort je nach Wetter ein bewegtes Spiel von Licht und Schatten erzeugt«, erklärt Projektarchitekt Dik Houben vom Büro Powerhouse Company.

Die unter dem riesigen Schirm gelegene Bahnhofshalle fungiert als wettergeschützter Aufenthaltsraum und integriert gleichzeitig die Zugänge zu den ­beiden Gleisen, verschiedene Läden sowie Information, Ticketschalter, Fahrkartenautomaten und Toiletten. Ein Teil der Funktionen wurde als eigenständige Pavillons mit abgerundeten Gebäudekanten und mit rot-braunen Klinkerfassaden frei unter das Dach geschoben. Die angenehm-warme Farbigkeit der Steine ermöglicht dabei einen fließenden Übergang zu dem für die Bodengestaltung verwendeten Roten Porphyr und zu dem roten Pflasterstein, der die Ankommenden vom Vorplatz bis in die Innenstadt leitet. Sehr wichtig war bei der Gestaltung der Pavillons außerdem die Berücksichtigung einer maximalen Flexibilität: »Ganz bewusst haben wir die freistehenden Stützen des Dachs unabhängig von der Struktur der Einbauten konstruiert, sodass sich die Aufteilung der Flächen bei Bedarf jederzeit ohne größere Eingriffe ändern lässt«, so Dik Houben.

Komplettiert wird das Raumprogramm durch eine unterhalb der Erde platzierte, nach Norden hin von einem Gründach überdeckte und direkt an die neue Unterführung angegliederte Fahrradgarage mit insgesamt 2.600 Stellplätzen: »Den durch die Umgestaltung weitgehend verkehrsberuhigten Bahnhofsvorplatz konnten wir somit frei halten und entsprechend attraktiv und einladend mit einer neuen Pflasterung und Sitzbänken gestalten.« Ein wichtiger Bestandteil ist dabei die 7 m hohe, durch den Architekten Maurice Nio ­gemeinsam mit dem Künstler Q.S. Serafijn geschaffene hölzerne Hundeskulptur »Mannes«.

Komplexe Dachkonstruktion aus Brettschichtholz-Bindern

Besondere Anforderungen bei der Planung und Umsetzung des Projekts stellte das dreiecksförmige, mit Kantenlängen von 78, 88 und 90 m ausgeführte und insgesamt rund 3.080 m² große Dach aus Fichtenholz. Nach Südwesten steigt die Konstruktion bis auf eine maximal zulässige Höhe von 10 m auf, in Richtung Osten ist das Dach demgegenüber leicht nach unten geneigt, sodass anfallendes Regenwasser hier in einen Sickerteich abfließen kann. Im zentralen Bereich ist das Dach durch die aufliegenden Elemente aus Polycarbonat witterungsdicht abgedichtet, in den Randbereichen haben die Planer einen 8 m breiten, mit Bitumen ausgebildeten Sedum-Grünstreifen integriert, um eine Witterungsbelastung des Holzes zu verhindern und das Überlaufen von Regenwasser zu minimieren.

Das Bahnhofsdach in Assen ist das erste in den Niederlanden, das primär aus Holz besteht. Um die am Abend eindrucksvoll beleuchtete Konstruktion fachgerecht umsetzen zu können, wurde für die Ausführungsplanung und Tragwerksplanung des Dachs das Ingenieurbüro Miebach aus Lohmar bei Köln hinzugezogen. In enger Kooperation von Architekten und Tragwerksplanern und in einem durchgehend BIM-gestützten Prozess wurde das großflächige Flächentragwerk berechnet und ausgearbeitet, bestehend aus insgesamt 324 unsymmetrisch geformten, im Grundriss jeweils 5,0 x 4,85 x 4,30 m großen Dreiecken, die aus 5 m langen, 1,20 m hohen und 22 cm dicken Brettschichtholz-Bindern gebildet werden.

Der Werkstoff Holz erweist sich immer öfter als wirtschaftliche Alternative zu Stahl oder Beton: »Das Verhältnis von Eigengewicht zu Tragfähigkeit und das gut einschätzbare Brandverhalten machen den Baustoff dabei v. a. für Dachtragwerke mit großen Spannweiten sehr attraktiv«, so Lukas Osterloff vom Ingenieurbüro Miebach. Ein wichtiges Argument ist außerdem die hohe Nachhaltigkeit des Baustoffs: »Insgesamt kamen bei dem Projekt 620 m³ Holz zum Einsatz, sodass in der Summe der Kohlenstoff von 620 Tonnen CO2 dauerhaft gebunden wird.«

Parametrische Berechnung der Knotenpunkte

Eine große Herausforderung bei der Planung bedeutete die Lastabtragung der Dachkonstruktion und die Berechnung sämtlicher Stäbe (Brettschichtholz-Binder) sowie der zwischen den einzelnen Dreiecken entstandenen Knotenpunkte: »Aufgrund der unsymmetrischen Form des Dachs und der abweichenden Spannweite über den Gleisen mussten wir die 471 Stäbe und die 190 Knotenpunkte alle individuell berechnen«, erklärt Lukas Osterloff. »Ohne den Einsatz parametrischer Softwarelösungen wäre es letztlich kaum möglich gewesen, die Verbindungen der Stäbe über Schlitzbleche und Stabdübel abgestuft entsprechend der lokalen Belastung durch Eigengewicht, Schnee, Wind und Regenwasser zu konstruieren.«

Ebenfalls individuell angepasst werden mussten die unterschiedlich langen, nach oben biegesteif an das Dach angeschlossenen und unten gelenkig gelagerten Stützen, die in ihrer Materialität aber leider von der übrigen Konstruktion abweichen: »Um einen homogenen Gesamteindruck zu erhalten, hatten wir ursprünglich Holzstützen mit einem Stahlfuß vorgesehen«, berichtet Dik Houben. »Aus Kostengründen und weil die Stützen sonst zu massiv geworden wären, haben wir dann aber abweichend hell beschichtete und nach oben sternförmig auskragende Rundstahlstützen mit einem Durchmesser von jeweils 60 cm gewählt.«

Um das große Flächentragwerk umsetzen zu können, wurden die verschiedenen Bauteile nach Fertigung per CNC-Fräse als Einzelstäbe zur Baustelle geliefert und dort in unterschiedlich großen Elementen vormontiert und eingehoben. Die größten Elemente wurden dabei für die Überbrückung der Gleise eingebaut und beidseitig der Gleise mithilfe von zwei Kränen in ­Millimeterarbeit zusammengeführt. »Trotz des hohen Gewichts der beiden Teile hat das alles aber reibungsfrei funktioniert, sodass wir das Dach in einer Bauzeit von neun Monaten fristgerecht bei laufendem Bahnbetrieb umsetzen konnten.«

db, Fr., 2020.10.02



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db 2020|10 Bauen mit Holz

03. März 2020Robert Uhde
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Kulinarik mitten im Grünen

Das Kopenhagener Sterne-Restaurant Noma hat einen neuen Standort in einem alten Lagergebäude am Rande der Alternativ-Kommune Christiania bezogen. Das nach Plänen von BIG umgesetzte Projekt ergänzt den Bestand durch ein offenes Geflecht aus Einzelvolumen, die fließend in den Außenraum übergehen und durch ihr zurückhaltend skandinavisches Interieur überzeugen.

Das Kopenhagener Sterne-Restaurant Noma hat einen neuen Standort in einem alten Lagergebäude am Rande der Alternativ-Kommune Christiania bezogen. Das nach Plänen von BIG umgesetzte Projekt ergänzt den Bestand durch ein offenes Geflecht aus Einzelvolumen, die fließend in den Außenraum übergehen und durch ihr zurückhaltend skandinavisches Interieur überzeugen.

Seit seiner Eröffnung 2003 hat sich das von Spitzenkoch René Redzepi geführte Kopenhagener Restaurant Noma zu einem regelrechten Mekka für Feinschmecker entwickelt. Vier Mal wurde das lange Zeit in einem ehemaligen Hafenlager aus dem 16. Jahrhundert ansässige und momentan mit zwei Michelin-Sternen bedachte Haus sogar als bestes Restaurant der Welt ausgezeichnet. Für kulinarische Begeisterung sorgen v. a. die puristische Neuinterpretation der nordischen Küche, die Beschränkung auf regionale und saisonale Produkte sowie die entspannt-legere Art der Bewirtung.

Trotz oder gerade wegen seines großen Erfolgs wurde das Restaurant Anfang 2017 geschlossen, um dann, nach längerer Pause, an einem anderen Standort wieder zu eröffnen. Als neue Adresse für das Noma 2.0 hatten sich die Betreiber ein ehemals durch die Königlich Dänische Marine genutztes, aber seit Längerem leer stehendes Minenlager aus dem Jahr 1917 ausgesucht; innenstadtnahen Ort inmitten von ganz viel Grün, gelegen auf einer schmalen Landzunge zwischen zwei Seen und direkt angedockt an die legendäre Kopenhagener Hippie-Kommune Christiania, die sich hier seit den frühen 70er Jahren auf einem 34 ha großen ehemaligen Kasernengelände angesiedelt hat.

Verbindung von Alt und Neu

Mit der architektonischen Planung zur Umnutzung und Erweiterung des schmalen, rund 80 m langen und rückseitig nach Westen in einen Wall eingebetteten Altbaus wurde im Sommer 2015 die vor Ort ansässige Bjarke Ingels Group beauftragt. Ganz zu Beginn war dabei zunächst eine Aufstockung des Bestands vorgesehen: »Aufgrund des bestehenden Denkmalschutzes konnten wir diese Idee aber nicht umsetzen«, blickt Projektarchitekt Frederik Lyng auf den langwierigen Planungsprozess zurück. »Stattdessen haben wir das Gebäude lediglich behutsam saniert und hier auf einer Fläche von 700 m² die Backend-Bereiche Lager, Anlieferung, Labor sowie Mitarbeiter- und Spülküche angesiedelt.« Die klare Strukturierung mit rückseitig perlenschnurartig aneinander gereihten Räumen und fassadenseitig durchgehender Erschließung sorgt dabei für einen optimierten Workflow des 80-köpfigen Noma-Teams.

Die für den Restaurantbetrieb zusätzlich nötigen Anbauten durften andererseits die Höhe des Bestands von 5,50 m nicht überschreiten und außerdem nur dort ergänzt werden, wo die historische Bausubstanz ohnehin beschädigt war. Ausgehend von den strengen Auflagen der Stadt und in enger Kooperation mit den Noma-Betreibern entstand schließlich die Idee, den Riegel an ­seinem südöstlichen Kopfende an verschiedenen Stellen durch sieben eigenständig ausgebildete, über gläserne Fugen aber fließend miteinander verbundene Baukörper zu ergänzen. Die großflächig verglasten und zusätzlich durch Oberlichter geöffneten Volumen schaffen eine luftige Erweiterung des Bestands um rund 500 m² und führen dabei ganz bewusst die additive Bauweise der Häuser in Christiania fort. Im Zusammenspiel ist ein vielschichtiges, bewusst dorfähnliches Geflecht von kleineren und größeren Volumen mit kontrastreich gestalteten Fassaden und Dächern aus Holz, Klinker, Glas und Messing entstanden, das in sämtlichen Bereichen fließend in den grünen Außenraum übergeht.

Hochwertig gestalteter Innenraum

Ähnlich vielschichtig präsentiert sich die Innenraumgestaltung des für insgesamt etwa 40 Gäste konzipierten Restaurants. Analog zu der ungewöhnlichen Baukörperanordnung und in enger Kooperation mit dem zusätzlich hinzugezogenen Studio David Thulstrup entstand eine offene Grundrissanordnung mit den bewusst voneinander getrennten Funktionen Empfang, Küche, Lounge, Grillen, Speisesaal und privater Gesellschaftsraum, die alle ein besonderes Raumerlebnis mit individuell angepasster Materialsprache bieten: »Anders als in herkömmlichen Restaurants haben wir die verschiedenen Funktionen hier ganz bewusst getrennt und dann wieder neu miteinander verbunden, um den Gästen ein besonderes Erlebnis mit wechselnden Raumeindrücken zu bieten«, erklärt Frederik Lyng das Konzept.

In sämtlichen Räumen findet sich eine einfache und materialbetont-ehrliche Innenraumgestaltung mit skandinavisch warmer Ausstrahlung und mit Sinn für überraschende Akzente und Kontraste. So wirkt z. B. die luftige Lounge wie ein gemütliches Wohnzimmer, umgesetzt mit hellen Feldbrandklinkern als Material für Wand und Boden sowie mit einer plastisch abgetreppten ­Decke aus hellen Eichenholzbrettern. Der direkt angrenzende, weitgehend geschlossene Empfangsbereich wurde mit dunklen Feldbrandklinkern und mit schweren Eichenholz-Einbauten gestaltet. Ein schönes Detail ist hier der Kamin, der linkerhand mit dunklen Klinkern und im Übergang zur Lounge abweichend mit hellen Klinkern gestaltet wurde.

Der große Speisesaal erhält demgegenüber durch seine freiliegenden Deckenbalken, die helle Holzdecke sowie durch den wertigen Eichenholzdielenboden einen angenehm entspannten Charakter mit räumlicher Weite. Betont der Eindruck durch Flächen aus vorpatiniertem Messing im vorgelagerten Service-Bereich sowie durch Innenwände aus übereinandergestapelten Holzbrettern mit einer Länge von jeweils 60 cm, die auf den ersten Blick die Anmutung von fein säuberlich aufgeschichteten Holzscheiten ausstrahlen sollen. Der kleinere Gesellschaftsraum lebt wiederum von seinem intimen-sakralen Raumeindruck und den kontrastvoll umgesetzten Außenfassaden aus gebranntem Holz, der Grill schließlich wurde als begehbare Blockhütte gestaltet.

Die Küche im Zentrum

Im Zentrum sämtlicher Aktivitäten steht ganz bewusst die offene, mit hellen Holzmöbeln sowie mit strapazierfähigen und leicht zu reinigenden Terrazzo-Böden aus Flusskieseln umgesetzte Küche: »Von dieser zentralen Position aus haben die Köche einen perfekten Überblick über jeden Winkel des Restaurants und können so alle Abläufe bestens koordinieren«, erklärt Frederik Lyng. »Ebenso können die Gäste hautnah miterleben, was sonst eher hinter den Kulissen passiert. Hinzu kommt, dass es durch die Grundrissanordnung auch möglich ist, dass die Abluftanlage der Küche gleichzeitig die Belüftung sämtlicher Räume übernimmt.«

In allen Restaurant-Bereichen sorgen die großen, teilweise öffenbaren Fensterfronten und Oberlichter im Verbund mit den gläsernen Fugen für einen fließenden Übergang von Innen und Außen und für freie Ausblicke auf den Garten und die angrenzende Wasserfläche. Die Gäste haben so durchgehend das Gefühl, regelrecht im Freien zu dinieren und dabei in sämtlichen Bereichen einen direkten Bezug zur Landschaft, zum Wetter und zu den Jahreszeiten erleben zu können. Komplettiert wird die Innenraumgestaltung durch eine speziell für das Noma 2.0 vom Studio David Thulstrup entwickelte Möblierung. Darunter finden sich auch Tische und Tafeln aus dunklem Eichenholz sowie helle Eichenholz-Stühle mit handgewebten Sitzflächen, die zeitgemäßes dänisches Design mit 60er-Jahre Retro-Look verbinden.

Ein wichtiger Baustein des neuen Noma-Konzepts sind die drei weiter nördlich in Richtung der Straße dem Altbau vorgelagerten, dabei jeweils auf vorhandenen Betonfundamenten errichteten Gewächshäuser. Die drei Bauten stehen dem Restaurant als interaktive Testküche, zum Anbau von Kräutern sowie als betriebseigene Bäckerei zur Verfügung. Direkt neben den drei ­Gewächshäusern erwartet die Besucher dann noch die freie Aussicht über den See und auf die Silhouette des ebenfalls von BIG geplanten Heizkraftwerks Amager Bakke, auf dessen steil abfallendem Dach die Kopenhagener seit einem Jahr Skifahren können. Was für ein schöner architektonischer Nachschlag! Und ein Grund mehr wohl, warum die Tische im Noma für rund ein Jahr im Voraus restlos ausgebucht sind.

db, Di., 2020.03.03



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db 2020|03 Essen und Trinken

16. September 2019Robert Uhde
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»The Street Inside«

In der dänischen Kleinstadt Viborg hat das Kopenhagener Architekturbüro EFFEKT eine leer stehende Industriehalle in ein lebendiges Zentrum für Straßensport und Jugendkultur verwandelt. Die anspruchsvolle Gestaltung des Umbaus steht dabei auch für die Ernsthaftigkeit, mit der soziale Arbeit bei unseren Nachbarn im Norden betrieben wird.

In der dänischen Kleinstadt Viborg hat das Kopenhagener Architekturbüro EFFEKT eine leer stehende Industriehalle in ein lebendiges Zentrum für Straßensport und Jugendkultur verwandelt. Die anspruchsvolle Gestaltung des Umbaus steht dabei auch für die Ernsthaftigkeit, mit der soziale Arbeit bei unseren Nachbarn im Norden betrieben wird.

Jahrelang wurden im jütländischen Viborg Rotoren für Windkraftanlagen der Firma Vestas produziert. Nach der Verlagerung der Produktion blieb davon lediglich eine verlassene Halle aus Stahlbeton, die anschließend ein paar Jahre leer stand, übrig. Doch statt den unweit vom Bahnhof in einem öden Gewerbegebiet gelegenen Bau aus den 70er Jahren einfach weiter verfallen zu lassen, entschied sich die Gemeinde 2016 nach längerer Überlegung zum Ankauf der Halle. Sie sollte nach dem Vorbild der drei Städte Kopenhagen, Esbjerg und Aalborg und in enger Kooperation mit dem dort bereits aktiven gemeinnützigen Verein GAME zu einem weiteren Straßensport- und Jugendkultur-Zentrum umgewandelt werden.

»Streetmekka«

Das mit rund 60 Mitarbeitern besetzte Team von GAME ist in sämtlichen Brennpunktvierteln Dänemarks tätig und bietet außerdem im Libanon sowie in mehreren afrikanischen Staaten Straßensport-Projekte in Verbindung mit Jugendkulturarbeit an.

Mit ihren »Streetmekka« genannten Zentren hat die Non-Profit-Organisation dieses Engagement noch weiter ausgebaut: »Ganz bewusst bieten wir damit ein niederschwelliges und integratives Indoor-Angebot für Jugendliche, die sich von klassischen Vereinssport­arten wie Fußball oder Handball nicht angesprochen fühlen und die eher informelle Angebote zur Freizeitgestaltung suchen«, berichtet GAME-Manager Thomas Gissel. Die gute Nachricht dabei: Im traditionell stark sozial ausgerichteten Dänemark lassen sich solche Ideen dann auch verwirklichen! Denn das innovative, gemeinsam mit einem großen Netzwerk an Pädagogen, Streetworkern und Psychologen umgesetzte Angebot des Vereins wird nicht nur durch die jeweiligen Kommunen, sondern auf Basis des Programms Lokale- & Anlægsfonden auch durch den dänischen Staat sowie durch weitere Sponsoren großzügig unterstützt und gefördert.

Herausfordernde Dimensionen

In Viborg war GAME bereits seit mehreren Jahren im Brennpunktviertel Ellekonebakken tätig: Schnell entwickelte sich deshalb die Idee, die Arbeit des Vereins vor Ort durch die Eröffnung eines Streetmekka-Zentrums in der leer stehenden Vestas-Halle zu erweitern. Nach längeren Gesprächen gelang es, neben den Verantwortlichen der Stadt Viborg auch weitere lokale Auftraggeber von dem Projekt zu überzeugen. 2017 konnte daraufhin ein begrenzter Wettbewerb ausgeschrieben werden, bei dem schließlich der gemeinsam eingereichte Vorschlag der Kopenhagener Architekten EFFEKT und des Landschaftsplanungsbüros BOGL ausgewählt wurde.

Das Büro EFFEKT hatte 2016 bereits die Umnutzung eines ehemaligen Lokschuppens zum Streetmekka in Esbjerg geplant: »Dabei hatten wir es allerdings mit mehreren kleineren Hallen zu tun, die wir jeweils für unterschiedliche Funktionen nutzen konnten«, berichtet Projektarchitekt Ulrik Mathiasson. Hier in Viborg standen die Architekten demgegenüber vor der Herausforderung, einen einzigen großen Innenraum zu bespielen, der zwar im Innern mit seinen beeindruckenden Proportionen und dem mächtigen Stahlbetontragwerk fast schon an eine Kathedrale erinnert, von außen aber als völlig belanglose Kiste in Plattenbau-Ästhetik daherkam. Ausgehend von diesem Befund und in enger Absprache mit dem Bauherrn sowie den Verantwortlichen bei GAME entwickelten die Planer schließlich die Idee, den rohen Charakter der Halle beizubehalten, die typologisch bedingte Abschottung der Halle aber bewusst aufzubrechen. Mit wenigen Eingriffen sollte so eine deutlich extrovertierte Architektur entstehen, die bereits auf den ersten Blick aus ihrer Umgebung hervorsticht.

Überleitende Bereiche

Zur Umsetzung dieser Wirkung wurden zunächst die zuvor geschlossenen Außenwände an den beiden Stirnseiten des rechteckigen Gebäudes abgebrochen und jeweils durch eine gebäudehohe Glasfassade ersetzt. An der Ostseite leicht eingerückt angeordnet, wird dort die neue Hülle zur einladenden und durch einen Pfeil aus Leuchtstoffröhren zusätzlich markierten Eingangsfront. Parallel dazu wurden auch die Fassaden nach Norden und Süden teilweise geöffnet, um hier sowohl neue Flächen zu gewinnen und eine optimierte Nutzung der bestehenden Anschlüsse und Versorgungsleitungen zu erreichen als auch eine bessere Trennung der verschiedenen Funktionen zu ermöglichen.

Um trotz der verschiedenen Eingriffe eine homogene Außenansicht zu erhalten und dadurch auch einen wohltuenden Kontrast zum eher tristen Umfeld zu schaffen, wurde die in Stahlbauweise erweiterte Halle abschließend durch eine luftig wirkende Membran aus 5 cm dicken transluzenten Polycarbonat-Platten umhüllt. Das lichtdurchlässige Material sorgt im Verbund mit den zuvor bereits bestehenden, neu gestalteten Oberlichtern für ausreichend Tageslicht im Innenraum und lässt die Architektur je nach Tageszeit und Lichtverhältnissen als urbane, beinahe entmaterialisierte Lichtinstallation erscheinen, die bereits von außen die verschwommenen Umrisse von Nutzern und Tragstruktur der Halle erahnen lässt. Die unterschiedlich großen, an mehreren Stellen in die Hülle integrierten Rücksprünge schaffen zudem Raum für witterungsgeschützte Nischen. Dies betont zusammen mit größeren, leicht zurückliegend eingelassenen Fenstern, verschiebbaren Torelementen, Spielfeldböden aus Asphalt und den sowohl von Nutzern als auch etablierten Künstlern gestalteten Graffitis den programmatisch gewünschten fließenden Übergang zwischen innen und außen: »Der Raum fungiert so gewissermaßen als Street Inside«, bringt Ulrik Mathiasson das Konzept auf den Punkt.

Freigehaltene Fläche

Ähnlich offen und luftig präsentiert sich auch der insgesamt 3 170 m² große Innenraum der Halle mit seinem vorhandenen Betonboden sowie den neu eingefügten Box-in-Box-Einbauten aus recyceltem und unbehandeltem Holz. Im Bestand des eingeschossigen Verwaltungsriegels an der Südseite wurden ein Bürotrakt, ein separater Mitarbeitereingang sowie eine Holz- und eine Metallwerkstatt integriert, das darauf aufgestockte neue Geschoss beherbergt ein Künstleratelier, Toiletten sowie mehrere Workshop-Räume, darunter ein Musikstudio für DJ-Aufnahmen, ein Animationsstudio und eine bestens ausgestattete FabLab-Werkstatt. Die neu hinzugewonnenen Flächen in Richtung Norden haben die Planer demgegenüber genutzt, um einen fließend nach außen geöffneten, dabei teilweise überdachten und rund um die Uhr zugänglichen Bereich für Skateboard-Aktivitäten zu schaffen.

Durch die hinzugewonnene Fläche in den Randbereichen war die der Halle selbst weitgehend freigeblieben, sodass die Planer hier große zusammenhängende Plätze für Street-Basketball im östlichen Bereich sowie abwechslungsreich gestaltete Hindernisse für Parkour- und Trial-Akteure im westlichen Teil unterbringen konnten. Komplettiert wird der Raumeindruck durch neu eingefügte Tribünenelemente aus Holz sowie einen mittig in die Halle eingestellten zweigeschossigen Box-in-Box-Einbau, der neben einem großen Tanzsaal in der oberen Ebene auch einen lässigen Aufenthaltsbereich bereithält. Die Möbel hierfür wurden teilweise durch die Nutzer selbst angefertigt. Zur Temperierung des Gebäudes auf 16 (Halle) bzw. 21°C (Büros und ­Studios) im Winter wurde eine konventionelle Heizungsanlage eingebaut.

Eingesparte Mittel

Im Zusammenspiel der verschiedenen Elemente und unter bestmöglicher Weiternutzung des Bestands sowie der vor Ort gewonnenen und teilweise recycelten Materialien haben die Planer einen überaus robusten, dabei flexibel nutzbaren Raum geschaffen, an dem sich die Jugendlichen zwanglos treffen können und unterschiedliche Talente erfahren und ausleben können. Interessant dabei: »Trotz der hohen Funktionalität und der außergewöhnlich großen Nachfrage liegen die Kosten mit rund 2 Mio. Euro lediglich bei einem Drittel von herkömmlich errichteten Sporthallen«, wie Ulrik Mathiasson anmerkt.

Um das Projekt noch enger an die Stadt anzubinden, planen die Verantwortlichen gegenwärtig einen neuen Fußgänger- und Radweg in Richtung Zentrum und Bahnhof. Mittelfristig ist außerdem vorgesehen, auch die Nachbarge­bäude sukzessive einer neuen Nutzung zuzuführen und so einen jungen, extrovertierten neuen Stadtteil zu entwickeln. Eine schöne Perspektive, die sich so oder ähnlich auch in zahlreichen anderen Kommunen umsetzen ließe: Leerstehende Industriehallen, die sehnlichst auf eine neue Nutzung warten und deren Erhalt eine Menge Grauer Energie einsparen würde, gibt es schließlich nicht nur in Dänemark. Ähnlich sah das übrigens auch die Jury des renommierten Mies van der Rohe Awards, die das Gebäude 2019 nominierte. Für Mathiasson ist das »ein schöner Erfolg, der uns dazu motiviert, unsere Ideen weiter zu verfolgen!«

db, Mo., 2019.09.16



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db 2019|09 Im Norden

08. Oktober 2018Robert Uhde
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Schillerndes Trio

In der Hamburger HafenCity ist das Projekt »Intelligent Quarters« vor Kurzem fertiggestellt worden. Das Ensemble von Störmer Murphy and Partners beinhaltet einen 18-geschossigen Büroturm, ein Wohngebäude und ein zweites, deutlich kleineres Bürogebäude. Verbindendes Element sind die schillernd weißen, mit glasierten Keramikplatten bekleideten Fassaden.

In der Hamburger HafenCity ist das Projekt »Intelligent Quarters« vor Kurzem fertiggestellt worden. Das Ensemble von Störmer Murphy and Partners beinhaltet einen 18-geschossigen Büroturm, ein Wohngebäude und ein zweites, deutlich kleineres Bürogebäude. Verbindendes Element sind die schillernd weißen, mit glasierten Keramikplatten bekleideten Fassaden.

»Intelligent Quarters«, das klingt nach Bildung, nach Forschung und nach ganz viel IQ. Und in der Tat: Als das jetzt fertiggestellte Projekt im Sommer 2010 beschlossen wurde, war neben der ECE Projektmanagement GmbH auch noch die Kühne-Stiftung für Logistik und Unternehmensführung mit an Bord, die hier ihre Kühne Logistics University (KLU) errichten wollte. Im Zusammenspiel mit der östlich direkt angrenzenden HafenCity Universität (HCU) und zusätzlich zu den ansonsten vorgesehenen Funktionen Wohnen, Arbeiten, Einzelhandel und Freizeit wäre damit ein ansehnlicher Wissenscluster entlang der Uferpromenade zwischen Magdeburger Hafen und Baakenhafen entstanden.

Klingt gut. Aber leider hatte sich die Kühne-Stiftung im weiteren Verlauf für einen anderen Standort entschieden. Trotz der somit veränderten Planung wurde das Projekt weiter unter gleichem Namen verfolgt. Und nach Fertigstellung erweist es sich als deutlicher Gewinn für den Standort: Nach dem Entwurf von Störmer Murphy and Partners – der sich 2011 in einem europaweit ausgeschriebenen Wettbewerb u. a. gegen Vorschläge von Bjarke Ingels und Bothe Richter Teherani durchgesetzt hatte –, ist ein städtebaulich gut integriertes Ensemble mit vielfältigem Funktions-Mix gelungen, das sich mit seinen weißen Keramikfassaden trotz dreier völlig unterschiedlicher Baukörper als homogene Einheit präsentiert und das überdies durch eine hohe Aufenthaltsqualität des öffentlichen Raums überzeugt.

Markant gestaltetes Ensemble

Zentraler Blickfang des für eine Summe von rund 150 Mio. Euro errichteten Quartiers ist der zur Hafenkante in Richtung Südwesten orientierte Büroturm »Watermark«, der mit seiner charakteristischen Silhouette und der bau­rechtlich maximal ausgenutzten Höhe von 70 m eine weithin sichtbare Landmarke innerhalb der HafenCity schafft: »Auf 18 Ebenen stehen hier insgesamt 16 000 m² Büroflächen mit weitem Panoramablick über Hamburg zur Ver­fügung«, erklärt Jan Störmer. Vor Jahren hatte der Architekt mit seinem Büro bereits die Deutschlandzentrale von Kühne + Nagel am Großen Grasbrook und das mittlere Baufeld des Germanischen Lloyds am Brooktorkai hier in der HafenCity geplant. Ähnlich stark auf den Ort bezogen präsentieren sich jetzt auch die Intelligent Quarters mit ihrer spannungsreichen Anordnung, ihrer markanten Höhenstaffelung und den vielfältigen Sichtachsen, die zwischen den Gebäuden entstanden sind. Ein charakteristisches Gestaltungselement des Büroturms sind insbesondere die streng gerasterten Fassaden mit ihren schlanken Fenstern, die die Höhe des Gebäudes betonen. Geschickt aufgebrochen wird die Symmetrie wiederum durch den trapezförmigen Grundriss sowie durch die dynamische Struktur des Baukörpers mit den subtil ­gegeneinander verschobenen und teilweise leicht vorkragenden Geometrien.

Nördlich angrenzend an den Büroturm – und mit seiner Längsfront parallel zur Überseeallee ausgerichtet –, greift das Wohngebäude »Freeport« mit einer Höhe von 30 m die Traufhöhe der umliegenden Bebauung auf und schafft dabei ein klug kalkuliertes optisches Gegengewicht zum hochgewachsenen Büroturm. Auf neun Ebenen haben die Planer hier 46 hochwertige Eigentumswohnungen mit Flächen zwischen 60 und 220 m² umgesetzt. Die flächenbündig eingelassenen horizontalen Fensterbänder sowie die deutlich vorkragenden Loggien nach Osten und Süden ermöglichen dabei eine maximale Aussicht aufs Wasser. Komplettiert wird das Trio durch das sich weiter östlich anschließende siebengeschossige Gebäude »Shipyard«, das zusätzlich 7 800 m² Büroflächen bereitstellt. Ein markantes Detail sind hier die spitz zulaufenden, nach Norden hin oberhalb des Sockels regelrecht nach innen »eingeklappten« Gebäudelinien, die einen gelungenen Bezug zur expressiven Architektur der direkt nebenan gelegenen HafenCity Universität schaffen.

Eine Tiefgarage mit 390 Pkw-Stellplätzen ist für die drei Gebäude zur gemeinsamen Nutzung vorgesehen, der momentan noch nicht komplett fertiggestellte, auf Straßenniveau gelegene Quartiersplatz im Übergang zur HCU, soll demnächst mit Restaurants, Cafés und Geschäften in den Sockelgeschossen bespielt werden. Eine große, öffentlich nutzbare Terrasse ermöglicht dabei einen fließenden Übergang zwischen Platzniveau und Uferpromenade. Im Zusammenspiel der verschiedenen Elemente ist den Planern damit ein würdiger Abschluss der Hafenkante mit attraktiven Außenräumen und vielfältigen Bezügen zwischen Land und Wasser gelungen.

Homogenes Fassadenbild

Große Bedeutung für den Charakter der Bebauung hat die einheitliche Materialsprache des Trios: »Um trotz der unterschiedlichen Nutzungen und der stark variierenden Gebäudekubaturen ein eigenständiges und wiedererkennbares Ensemble mit homogenem Charakter und eigener Identität zu erhalten, war es uns wichtig, alle drei Gebäude mit einer einheitlichen Fassadenbekleidung auszubilden«, so Jan Störmer.

Bereits im Wettbewerb hatten sich die Architekten auf die Umsetzung einer vorgehängten, hinterlüfteten Konstruktion mit weiß glasierten Terrakottafliesen festgelegt: »Die je nach Blickwinkel und Wetterlage unterschiedlich stark schimmernden Tafeln schaffen nicht nur eine sichtbare Verbindung zum weiß verputzten Baukörper der benachbarten HafenCity Universität, sie schreiben auch die jahrhundertealte Tradition von Hamburg als weißer Stadt fort«, erklärt Störmer. »Am ­deutlichsten ist dieser Charakter noch in Stadtteilen wie Eppendorf oder Harvesterhude erlebbar. Die Umsetzung der großen, heute so stadtbildprägenden Backsteinbauten erfolgte dagegen erst im 20. Jahrhundert unter Oberbaudirektor ­Fritz Schumacher«.

Neben ästhetischen und städtebaulichen Aspekten sprachen v. a. bautechnische und bauphysikalische Gründe für den Einsatz von Keramik: Die Platten werden nach dem Schneiden glasiert und dann ähnlich wie Porzellan ein zweites Mal bei hohen Temperaturen gebrannt, um die hochwertigen Glasuren zu erhalten: »Sie haben daher eine extrem geringe Wasseraufnahme, sodass oberflächlicher Schmutz beim nächsten Regen einfach abgewaschen wird und die Flächen damit dauerhaft ihre helle freundliche Farbigkeit behalten«, beschreibt Jan Störmer.

Fliesen-Sonderanfertigung

Weitere Vorteile der feuerbeständigen Platten sind das vergleichsweise geringe Gewicht aufgrund der brandtechnisch nötigen Luftkammern in den einzelnen Elementen, die einfache Handhabung sowie die große Vielfalt an Platten- und Elementformaten, die die Ausbildung unterschiedlicher Details erlaubte. Entsprechend wurden sämtliche Elemente durch das Unternehmen NBK Keramik aus Emmerich als Sonderanfertigung in individuell vorgegebenen Abmessungen produziert: »Das Grundmaß beträgt dabei 1,35 x 0,6 m, alternativ kamen auch Breiten von 0,3 bzw. 0,8 m zum Einsatz. Zudem konnten viele Formteile und Sondermaße umgesetzt werden«.

So waren besonders schmale Elemente für die Ausbildung der Rasterfassade des Büroturms erforderlich. Der unregelmäßige Wechsel von zwei unterschiedlich großen, jeweils plastisch ausgeformten Lisenen-Elementen sowie die Einfassung von jeweils zwei Geschossen durch unterschiedlich breite Brüstungselemente betont dabei den dynamisch-bewegten Charakter der Fassade. Für die Stützen vor dem Eingangsbereich kamen Keramikelemente in alternativer Größe zum Einsatz. Die Fensterrahmen sowie die Fassaden des Mezzaningeschosses wurden im Kontrast mit eloxiertem Aluminium ausgeführt. Beim angrenzenden Wohnturm wurden Keramikelemente in drei unterschiedlichen Breiten gewählt und symmetrisch im Blockverband übereinander angeordnet, um die großen Fassadenflächen zu strukturieren und die horizontale Ausstrahlung des Gebäudes zu forcieren. Das wohlkalkulierte Spiel der Fugen erzeugt dabei ein ausgeprägtes Linienspiel, das sich erst aus einigen Hundert Metern Entfernung auflöst. Beim kleineren Bürogebäude wurden die Keramikelemente stattdessen versetzt angeordnet und zusätzlich auch Tafeln mit vertikaler Profilierung eingesetzt, um eine lebendige Fassadenwirkung zu erzielen.

Perspektiven für mehr Nachhaltigkeit

Die Montage der Platten erfolgte auf einer speziellen Unterkonstruktion aus Aluminium. Die im Zwischenraum integrierte Dämmung aus Steinwolle ermöglicht dabei einen hochwertigen Wärmeschutz. Zusätzlich optimiert wird die Energiebilanz der drei Gebäude durch einen reduzierten Glasanteil in der Fassade von lediglich 45 % sowie durch dreifach verglaste Fenster, die für einen optimierten Lärmschutz außerdem als »HafenCity-Fenster« mit einer oben und einer unten kippbaren Kante ausgebildet wurden. Im Verbund mit verschiedenen weiteren Maßnahmen entsprechen die Intelligent Quarters damit den Anforderungen des Umweltzeichens der HafenCity in Gold sowie des DGNB Vorzertifikats in Silber.

Eine gänzlich andere Strategie verfolgen Störmer Murphy and Partners diesbezüglich mit ihrem Wohnturm »Wildspitze«, der in den kommenden Jahren etwas weiter östlich in unmittelbarer Nähe zum neuen S-Bahnhof Elbbrücken und zum geplanten Elbtower entstehen soll. Denn mit 18 Geschossen und einer Höhe von 65 m soll das Projekt Deutschlands höchster Holzbau werden. Ein vielversprechender Ansatz für ein weiteres Plus an Nachhaltigkeit und neue Perspektiven für die HafenCity.

db, Mo., 2018.10.08



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02. Mai 2018Robert Uhde
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Grünes Wohnzimmer

Mit dem Lohsepark in der Hamburger HafenCity haben Vogt Landschaftsarchitekten einen abwechslungsreich gestalteten grünen Stadtraum geschaffen, der sich als langes Band von Wasser zu Wasser erstreckt. Das integrierte denk.mal Hannoverscher Bahnhof erinnert an die Deportation von über 8 000 Juden, Sinti und Roma.

Mit dem Lohsepark in der Hamburger HafenCity haben Vogt Landschaftsarchitekten einen abwechslungsreich gestalteten grünen Stadtraum geschaffen, der sich als langes Band von Wasser zu Wasser erstreckt. Das integrierte denk.mal Hannoverscher Bahnhof erinnert an die Deportation von über 8 000 Juden, Sinti und Roma.

Was ist nicht schon alles über die Hamburger HafenCity gesagt und geschrieben worden. Über zu viel Grün hat sich dabei noch niemand beklagt. Umso größere Bedeutung kommt deshalb dem 2017 abschließend fertiggestellten Lohsepark zu. Die 4,4 ha große Parkanlage erstreckt sich als 550 m langes und 80 m breites Band vom Ericusgraben im Norden bis zum Baakenhafen im ­Süden und schafft eine markante grüne Fuge innerhalb des extrem dicht ­bebauten Umfelds. Die topografische Staffelung, der Wechsel von offenen Rasenflächen und Elementen des klassischen Landschaftsparks sowie die ­Integration unterschiedlicher Spiel- und Sportflächen schaffen dabei ein abwechslungsreiches und vielfältig nutzbares Gesamtgefüge, das sich ganz explizit an der Tradition des Hamburger Volksparks orientiert.

Staffeln

Mit der Planung des Projekts war 2010 nach einem internationalen Wettbewerb das Büro Vogt Landschaftsarchitekten mit Sitz in Zürich, London und Berlin beauftragt worden, das auch bereits die Außenanlagen am Hauptsitz der Europäischen Zentralbank in Frankfurt a. M. realisiert hat und das ­momentan an der Planung des Areals am Tacheles in Berlin beteiligt ist: »Um die vorhandenen Raumqualitäten der extrem schmalen Grundstücksfläche ­zwischen den bereits bebauten Abschnitten der HafenCity im Westen und den noch zu bebauenden Flächen in Richtung Osten und Südosten hervorzuheben, haben wir die Idee einer freigehaltenen Mittelzone entwickelt, die von ­einer differenzierten Baumbepflanzung an den Rändern flankiert wird«, beschreibt Architekt Günther Vogt einen der zentralen Planungsgedanken.

Entstanden ist dadurch eine freie Blickachse von Nord nach Süd: »Das Wasser ist zwar nicht von jedem Standpunkt aus sichtbar, prägt aber dennoch die Raumwirkung«, so Günther Vogt. »Denn die offenen Wasserflächen durchbrechen die dicht bebaute Fassadenlandschaft und bringen ausreichend Licht und Luft in den Park.« Begleitet wird das Konzept von einer präzisen räumlichen Staffelung der Parkfläche in drei Höhenstufen: »Die in den meisten Bereichen ausgeführte Parkebene von 6,50 müNN fungiert dabei als Vermittler zwischen dem historischen Niveau von 5,50 müNN und der neuen, hochwassergeschützten Stadtebene von 8,00 bis 8,50 müNN«, erklärt Günther Vogt. Umgesetzt wird die Idee u. a. durch die vier an den Längsseiten eingefügten »Bastionen«, die als klar gefasste Landmarken und vielfältig nutzbare Terrassen das Stadt­niveau in den tiefer liegenden Park schieben und eine barrierefreie Erschließung über Zugangsrampen ermöglichen. Der projektspezifisch für die Brüstungen der Bastionen entwickelte, aus einer Wabenstruktur abgeleitete Klinkerformstein unterstreicht dabei den Wunsch nach Transparenz und Offenheit. Die Planer gestalteten außerdem eine langgestreckte Sitzbank aus mit­einander verbundenen Einzelstühlen, die sich je nach Einsatzort flexibel formen lässt und die auch bei Steigungen eine ebene Sitzfläche bereitstellt.

Ergänzt wird das Konzept durch drei »Follies«, die als Elemente des traditionellen Landschaftsparks das klassische Erscheinungsbild der Grünanlage ­unterstützen.

Neben einem Säuleneichenhain als Umgrenzung eines Streetball-Felds und einem kleinen Wald aus bekletterbaren Hainbuchen findet sich darunter auch eine »Umzäunte Wildnis« – ein kleiner »Urwald«, der als ­Experiment sich selbst überlassen werden soll. Bereichert wird das Pflanzkonzept durch Gehölze wie Lederhülsenbäume sowie durch Obstbäume in historischen Sorten, die frei geerntet werden können. Eine Bewohnerinitiative kümmert sich engagiert um die Bewirtschaftung der Bäume.

Verbinden

Als große Herausforderung bei der Planung des Projekts erwies sich die Einbindung der beiden Stirnseiten des Parks, die durch die viel befahrene Überseeallee im Süden bzw. die Stockmeyerstraße im Norden vom sonstigen Park abgetrennt werden.

Vergleichsweise einfach gestaltet sich die Situation in Richtung Ericusgraben, wo die durchgehende Blickachse in Richtung des am gegenüberliegenden Ufer aufsteigenden Ericus-Contor mit seiner markanten Torsituation eine offene Verbindung zwischen Nord und Süd schafft. Jenseits der Stockmeyerstraße trifft der Blick hier überraschend auf eine sanft abfallende Uferböschung aus Gräsern, Stauden, Röhricht und Schilf, die als ökologische Ausgleichsfläche einen gelungenen Kontrast zu den sonst mit Kaimauern gefassten Gewässern des Tidehafens schafft.

Deutlich urbaner präsentiert sich der südliche Abschnitt des Lohseparks,
der ebenso wie die direkt angrenzende HafenCity Universität bereits 2013 ­fertiggestellt worden war. Um trotz der verkehrsreichen Überseeallee einen möglichst organischen Übergang in Richtung Baakenhafen zu erreichen, ­haben die Planer mehrere Bäume auf der Mittelinsel der Überseeallee ­gepflanzt und die ansteigende Topografie des Parks weitergeführt. Der ­Brückenschlag ist ­damit fraglos gelungen, die Durchtrennung der Parkfläche bleibt aber zwangsläufig bestehen. Als zentrales Gestaltungselement integrierten die Planer außerdem eine große Freitreppe in Richtung Wasser, die den ­Höhenunterschied von 3 m zwischen Stadtebene und Uferpromenade überbrückt und gleichzeitig auch als vielfältig nutzbare Sitzgelegenheit und ­Tribüne fungiert: »Je nach Wetter können Passanten und Studierende so ganz entspannt den Sonnenuntergang über der Elbe erleben oder den regelmäßig hier stattfindenden Tanzveranstaltungen beiwohnen«, so Projektleiter ­Johannes Hügle.

Hier wie an sämtlichen anderen Stellen legten die Planer Wert auf charakteristische Materialisierungen. Ein schönes Detail ist z. B. der für die Freitreppe sowie für die angrenzende Rampenanlage verwendete Kolumba-Ziegel, der mit seinem extrem schlanken Format einen modern interpretierten Bezug zur backsteinernen Speicherstadt schafft. Einen ebenso deutlichen Bezug zum Standort zeigt das durchgehend verwendete, im Hafengebiet auch sonst überall vorhandene und überaus robuste historische Großsteinpflaster, das hier für eine verbesserte Begehbarkeit allerdings geschnitten wurde.

Um den Park zu einem »Volkspark« mit hoher Akzeptanz werden zu lassen, wurde das Projekt von Beginn an durch verschiedene Bürgerbeteiligungs­verfahren begleitet. Dabei führten die Landschaftsarchitekten auch Workshops mit Kindern durch. Ein direktes Ergebnis dieses engen Austauschs ist die 2 000 m² große, auch von den angrenzenden Kitas genutzte Kinderspielfläche. Um den Wunsch der Kinder nach Versteckmöglichkeiten aufzugreifen, entwickelten die Planer hier u. a. ein kleines Hüttendorf aus geflochtenen ­Linden. Angrenzend findet sich außerdem eine begehbare Grotte, die mit ­ihren übereinander geschichteten Ebenen aus Stampfbeton und eingearbei­teten Intarsien wie Torf, Geröll, Kiesel, Lehm oder Glas subtil das auch sonst für den Park bestimmende Thema der Topografie aufgreift.

Erinnern

Ein integraler Bestandteil des Parks ist der Lohseplatz mit seinen alten Bestandsbäumen und dem angrenzenden denk.mal Hannoverscher Bahnhof. Um einen Ort der Erinnerung an die über 8 000 Juden, Sinti und Roma zu schaffen, die zwischen 1940 und 1945 von hier aus deportiert wurden, zeichnet eine durch prismenartig gefaltete Stützwände begrenzte Fuge den ehemaligen Gleisverlauf nach und verbindet den Lohseplatz als Teil des ehemaligen Bahnhofsvorplatzes quer durch den Park mit dem historischen Bahnsteig. Dort angelangt schaffen 20 Betonwerksteintafeln mit den in Glas eingelassenen Namen der Deportierten sowie ein großer Gedenktisch einen würdevollen, gemeinsam mit Opferverbänden und Hinterbliebenen entwickelten Gedenkplatz. Verstärkt wird die besondere Atmosphäre des Orts durch eine vermeintlich ungeplante Vegetation aus Birken, Robinien und Wildrosen – Pioniergehölzen also, die sich üblicherweise auf Gleisschotterflächen verbreiten.

Trotz seiner vielfältigen stadträumlichen, sozialen und ökologischen Funktionen wirkt der Lohsepark nirgends überfrachtet, sondern überzeugt durch seine betont großzügige Gestaltung, die Kinder, Sportler, Radfahrer oder Flaneure gleichermaßen anspricht und die für ein harmonisches Miteinander ausgewiesene Bereiche für die unterschiedlichen Gruppen vorsieht. Auch der Gedenkort bleibt ganz bewusst ein optionales Angebot, das die sonstigen, eher heiteren Nutzungen nicht überlagert. Die klare Formensprache einerseits und die charakteristischen Details und Materialisierungen andererseits – ergänzt durch eine subtil eingesetzte funktionale Beleuchtung mit einfachen Bodenleuchten, Lichtstelen und Pendelleuchten –, lassen dabei eine spezifische Atmosphäre entstehen, die gelassen zwischen Ruhe und urbaner Lebendigkeit changiert. Kein Wunder also, dass der Park inzwischen nicht nur von den Anwohnern, sondern auch von Hamburgern anderer Stadtteile gerne als Treffpunkt genutzt wird; als grünes Wohnzimmer inmitten der sonst so dicht ­bebauten HafenCity.

db, Mi., 2018.05.02



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05. März 2018Robert Uhde
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Farbe bewegt Passage

In der niederländischen Kleinstadt Zutphen ermöglichen zwei neue Bahnunterführungen die Anbindung eines neuen Stadtteils an die historische Innenstadt. Die integrierten Licht-Installationen von Herman Kuijer schaffen eine langsam fließende Choreografie aus ­farbigem Licht mit bewusst freundlicher Ausstrahlung.

In der niederländischen Kleinstadt Zutphen ermöglichen zwei neue Bahnunterführungen die Anbindung eines neuen Stadtteils an die historische Innenstadt. Die integrierten Licht-Installationen von Herman Kuijer schaffen eine langsam fließende Choreografie aus ­farbigem Licht mit bewusst freundlicher Ausstrahlung.

Der unweit der deutsch-niederländischen Grenze bei Emmerich gelegene Ort Zutphen wurde bereits während der Römerzeit als fränkische Siedlung errichtet und zählt damit zu den ältesten Städten der Niederlande. Momentan ist man in der knapp 50 000 Einwohner zählenden Kleinstadt damit beschäftigt, das nördlich vom Bahnhof gelegene Viertel Noorderhaven zu einem modernen Wohn- und Büroquartier zu entwickeln und gemeinsam mit dem angrenzenden Gewerbegebiet De Mars besser an das historische Zentrum anzubinden. Die 2007 dazu vorgestellte Masterplanung des renommierten Rotterdamer Büros KCAP umfasst auf einer Fläche von 20 ha rund 1000 Wohnungen sowie Büro- und Ladenflächen und sah außerdem den Bau zweier neuer Unterführungen vor, um so die bislang bestehenden beschrankten Bahnübergänge zu ersetzen.

Erhöhtes Sicherheitsgefühl

Mit der architektonischen Planung und technischen Umsetzung der beiden Tunnel hatte das zuständige niederländische Eisenbahninfrastrukturunternehmen ProRail 2008 im Auftrag der Stadt Zutphen das Utrechter Bauunternehmen Railinfra Solutions sowie das Maastrichter Architekturbüro Maurer United Architects beauftragt. Im Sommer 2013 konnte daraufhin mit den Erdarbeiten begonnen werden, im November 2015 erfolgte die Fertigstellung: Der von Architekt Mari Baauw vom Büro Royal HaskoningDHV – einer 100-prozentigen Tochter von Railinfra Solutions – entwickelte Marstunnel schafft westlich vom Bahnhof eine direkte Verbindung zwischen Nord und Süd und integriert dabei zwei unterschiedlich hoch gelegene Fahrbahnen für Autofahrer bzw. Fußgänger und Radfahrer. Der deutlich kleinere, durch den Architekten Marc Maurer geplante »Kostverloren-Tunnel« – benannt nach einem militärisch bedeutsamen Rondell bei der historischen Niederlage der Niederländer gegen die Spanier im Jahr 1583 –, ermöglicht östlich vom Bahnhof eine attraktive Passage für Fußgänger- und Radfahrer.

»Eigentlich sind die beiden Tunnel herkömmliche Bauwerke aus Beton«, erklärt Peter Kelder, Projektleiter der Stadt Zutphen. »Aufgrund der hohen städtebaulichen Bedeutung der Unterführungen als Scharnier zwischen Alt und Neu hatten wir aber schon frühzeitig die Integration zweier Lichtinstallationen beschlossen, um so neben einer hochwertigen Ästhetik und einer verbesserten Orientierung auch ein erhöhtes Sicherheitsgefühl der Bürger beim Durchfahren der Tunnel zu erreichen.«

Überraschende Perspektiven

Den Auftrag zur Umsetzung hatte 2010 nach einer Empfehlung der städtischen Kunstkommission der renommierte Amsterdamer Lichtkünstler Herman Kuijer erhalten. Kuijer hat in den vergangenen drei Jahrzehnten zahlreiche große Lichtinstallationen im öffentlichen Raum realisiert und ermöglicht mit seinen Arbeiten häufig überraschende Perspektiven auf Architektur und Stadt. Für das Projekt in Zutphen entwickelte er ausgehend von den Anforderungen der Stadt zwei physisch erlebbare und gleichzeitig immateriell bewegte Installationen mit subtil sich verändernden Farbverläufen, die jeweils über ein LED-Steuerpult mithilfe der Lichtsteuerungssoftware Madrix betrieben werden.

»Licht ist nur sichtbar, wenn es irgendwo auftrifft, wenn es also eine Struktur gibt, die das Licht organisiert«, erklärt Herman Kuijer. »Um Lichtkunst, ­Architektur sowie funktionale Anforderungen als Einheit zu planen, habe ich deshalb von Beginn an intensiv mit den beteiligten Architekten Mari Baauw und Marc Maurer sowie den Vertretern der Stadt zusammengearbeitet und außerdem den erfahrenen Lichtingenieur Nico de Kruijter hinzugezogen.« Ausgehend von intensiven Vorplanungen sowie zahlreichen Tests und ­Messungen entstanden schließlich zwei individuell auf den jeweiligen Kontext zugeschnittene, aus vorgefertigten Betonelementen errichtete Raumstruk­turen, die vor Ort durch verdeckt angeordnete, in Position und Ausrichtung exakt berechnete LED-Armaturen mit insgesamt 1000 Leuchten illuminiert werden.

Eindrucksvoll in Szene gesetzt werden die beiden mittlerweile auch als Apple-Werbung zum Zuge gekommenen Installationen durch eine aufwendig programmierte Lichtchoreografie, die mit verbindlich ausgewählten Vorgaben zu Farben, Farbverläufen und zur Wechselgeschwindigkeit beinahe unmerkliche Farbverwandlungen und -überlagerungen auf Abschnitten von jeweils mehreren Betonelementen erzeugt: »Ganz wichtig war mir dabei, dass das Licht niemals gleich ist, sondern dass die Farbzusammensetzung zufällig erfolgt und somit bei jeder Durchwegung eine andere ist«, so Herman Kuijer.

Integrierte Funktionsbeleuchtung

Anders als bei vergleichbaren Projekten war es in Zutphen möglich, das Funktionslicht von vornherein in die Installation zu integrieren, sodass die Ausdruckskraft nicht durch zusätzliche Funktionsleuchten gestört wird. Im Ergebnis wird so eine Klarheit und Reduktion erreicht, die spontan an Arbeiten von James Turrell oder Dan Flavin denken lässt. Da andererseits nur wenig natürliches Licht in die Tunnel dringt, sind beide Lichtprogrammierungen entsprechend auch den Tag über eingeschaltet – »und das sogar deutlich stärker als während der Dämmerung, um so eine für das menschliche Auge durchgehend gleichbleibende Helligkeit zu ermöglichen«, wie Herman Kuijer erklärt. »Bei Dunkelheit beträgt die Lichtstärke dem subjektiven optischen Eindruck zum Trotz sogar lediglich etwa 10 % der am Tag eingesetzten Lichtstärke.«

Der Vergleich beider Unterführungen lässt wie gesehen zahlreiche Gemeinsamkeiten erkennen. Im Marstunnel entsteht die Farbigkeit jedoch allein durch die gewählte Lichtfarbe, im Kostverloren-Tunnel sind zusätzlich auch die Längs- und Kopfseiten der hier vielschichtig ausgeführten Wand- und ­Deckenelemente in Teilen farbig gestrichen, sodass das Licht hier intensiver erscheint. Zudem kamen hier matte Keimfarben zum Einsatz, die eine verbesserte Farbwiedergabe ermöglichen und die sich bei Graffitis leicht überstreichen lassen. Ein charakteristisches Element im Marstunnel ist stattdessen die mittig integrierte Stützenreihe, die eine Art Lichtarkade zwischen den beiden unterschiedlich hoch gelegenen Fahrbahnen schafft. ­Zusätzliche Attraktivität bietet hier die von Architekt Mari Baauw aufwendig als Oktopus gestaltete Südzufahrt mit ihrer dynamisch ausholenden Streckenführung und der schwarz verklinkerten Einfassungsmauer, die von der Innenstadt her kommend einen dunklen cinemascope-artigen Rahmen für die ­dahinter beginnende Lichtinstallation schafft.

Bezug zum Fluss IJssel

Als wichtigen inhaltlichen Bezugspunkt für seine Lichtinstallation erwähnt Herman Kuijer die Wellenbewegung des unmittelbar an die Altstadt angrenzenden Flusses IJssel: »Im Fortschreiten von Licht und Farbe wird so auf meditative Weise die Beziehung von Zeit und Raum erlebbar«, so der Lichtkünstler. Wer sich auf dieses Assoziationsfeld einlässt, dem wird schnell bewusst, dass sich die beiden Tunnel an Orten befinden, die ohne Eingriff des Menschen tief unter Wasser lägen. Für Unruhe sorgt dieser Gedanke jedoch nicht, im Gegenteil: Wenn man die Passanten nach ihrem persönlichen Eindruck befragt, stößt man v.a. auf freudige Überraschung. Für die sonst so oft in Unterführungen spürbare Beklemmung bleibt da gar keine Zeit mehr.

db, Mo., 2018.03.05



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db 2018|03 Tag und Nacht

02. Juni 2017Robert Uhde
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Offenes Quartierswohnzimmer

Im Amsterdamer Stadtteil Slotervaart wurde eine leer stehende Schule in einem partizipatorischen Planungsprozess in ein lebendiges Stadtteilzentrum verwandelt. Aus der ehemaligen Sporthalle wurde dabei ein multifunktional nutzbares »Foyer«, das sich über große Tore zum Stadtteil hin öffnen lässt. Ein cleveres, ressourcenschonendes Low-Budget-Projekt, bei dem Abbruchmaterialien anderer Gebäude wiederverwendet wurden und ein sozialer Brennpunkt entschärft wurde.

Im Amsterdamer Stadtteil Slotervaart wurde eine leer stehende Schule in einem partizipatorischen Planungsprozess in ein lebendiges Stadtteilzentrum verwandelt. Aus der ehemaligen Sporthalle wurde dabei ein multifunktional nutzbares »Foyer«, das sich über große Tore zum Stadtteil hin öffnen lässt. Ein cleveres, ressourcenschonendes Low-Budget-Projekt, bei dem Abbruchmaterialien anderer Gebäude wiederverwendet wurden und ein sozialer Brennpunkt entschärft wurde.

Im Südwesten von Amsterdam wurde seit Beginn der 60er Jahre das bereits in den 30er Jahren durch den Stadtplaner Cornelis van Eesteren konzipierte Quartier Slotervaart als Stadterweiterung aus dem Boden gestampft. Seit den 90er Jahren hatte sich das Viertel durch wachsende Migration und die sukzessive Schließung sozialer Einrichtungen zunehmend zu einem sozialen Brennpunkt entwickelt. Zu den Hot Spots zählte seinerzeit auch die Schule Ru Paré, benannt nach dem Pseudonym der Widerstandskämpferin Henrica Maria ­Paré, die während der deutschen Besatzung der Niederlande im Zweiten Weltkrieg 52 jüdischen Kindern das Leben gerettet hatte.

Nach dem Umzug der Schule in den 2013 direkt nebenan nach Plänen von Marlies Rohmer fertiggestellten Neubau »Het Meervoud« stand das erst 1991 in schlichter funktionaler Architektur mit roten und gelben Klinkerfassaden errichtete Gebäude einige Monate leer und wurde in einem partizipativen ­Planungsprozess zu einem lebendigen Stadtteilzentrum umgenutzt: In der ­Ru Paré Community erhalten die Bewohner des Viertels nach dem Prinzip der Nachbarschaftshilfe wahlweise Computerkurse, Sprachunterricht oder Beratung in Steuer- und Mietsachen und leisten dazu im Gegenzug andere ­gemeinnützige Dienste. Zusätzlich haben Künstler, kleinere Unternehmen oder soziale Organisationen wie eine Flüchtlingshilfe, ein Repair Café und ein Resozialisierungsprojekt für straffällig gewordene Jugendliche die Möglichkeit, günstige Büros anzumieten. Ergänzt wird das durch den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung EFRE geförderte, ansonsten aber finanziell eigenständige Projekt durch die Vermietung von Flächen an profitable ­Start-ups sowie durch die Bereitstellung von Ausbildungsplätzen, als Koch oder z. B. Elektriker.

Partizipatorischer Planungsprozess

Ausgangspunkt der Planung war die Initiative des Sozialunternehmers Hans Krikke, der in Reaktion auf die umfangreichen Sparmaßnahmen im Sozialbereich die Stiftung »Samen Ondernemen« Amsterdam gründete, um jenseits von staatlicher Bürokratie und Bevormundung das Zusammenleben der ­Anwohner im Quartier zu stärken. Auf der Suche nach einem Standort war der Unternehmer schnell auf die leer stehende Schule gestoßen. Auf Basis ­eines anschließend ausgeschriebenen Ideenwettbewerbs zur Umnutzung des ­Gebäudes wurde das vor Ort ansässige Architekturbüro BETA eingeladen und in Zusammenarbeit mit Architektin und Urbanistin Elisabeth Boersma vom Rotterdamer Büro plan B beauftragt, das Gebäude mit einem begrenzten Budget von 575 000 Euro zum Sitz der Stiftung und zum offenen Stadtteil­zentrum umzuwandeln.

»Ausgehend vom Wunsch der Stiftung nach einer möglichst hohen Akzeptanz der Anwohner hatten wir im Vorfeld der Planung zunächst mehrere ­Veranstaltungen und Workshops mit Bewohnergruppen, Pflegedienstleistern, Sozialarbeitern, Künstlern und Jungunternehmen aus dem Viertel organisiert«, berichtet Projektarchitekt Auguste van Oppen vom Büro BETA. »In ­einem gemeinsamen Prozess konnten wir so unterschiedliche Ideen von ­unterschiedlichen Akteuren in das Projekt einfließen lassen und sie zum ­‘Miteigentümer‘ des Entwurfs machen.« Im Rahmen der Treffen wurde u. a. der Nachbarschaftsverein KlusLab gegründet, der später am Umbau der Schule beteiligt war und der gemeinsam mit Studierenden der Fachhoch­schule Amsterdam ein sogenanntes »urban mining project« durchgeführt hat, um Restmaterialien dreier zum Abbruch bestimmter Wohngebäude aus der Nachbarschaft aufzulisten und zur Reduzierung von Kosten und Energie­verbrauch für den Umbau wiederzuverwenden.

»A new kid on the block«

Im Rahmen der Planung standen die Architekten zunächst vor der Frage, die Grundrisse des dreigeschossigen Gebäudes mit seinen vielfach vorgeschobenen, verglasten Erkern für die neue Nutzung zu adaptieren. Die vorhandenen, über einen zentralen Innenhof erschlossenen ehemaligen Klassenzimmer ­ließen sich vergleichsweise unkompliziert zu offenen Büroeinheiten umfunktionieren. Als bauliche Maßnahmen erfolgten hier lediglich die zusätzliche Wärmedämmung der Fassaden sowie der Einbau neuer doppelt verglaster Fenster, um so die hohen Nebenkosten zu senken. »Diese Umbauten haben bereits einen großen Teil des Budgets aufgebraucht, entsprechend war es eine ziemliche Herausforderung, wirkliche architektonische Eingriffe zu realisieren«, berichtet Evert Klinkenberg, der vor der Gründung des Büros BETA bei Herzog & de Meuron gearbeitet und am Lehrstuhl von Gigon & Guyer an der ETH Zürich Entwurf unterrichtet hat.

Deutlich schwieriger gestaltete sich die Umnutzung der in Richtung Südosten in den oberen beiden Ebenen diagonal in den Quader integrierten, bislang ­lediglich durch zwei Glasbausteinflächen geöffneten Sporthalle der Schule: »Um eine schlüssige Gesamtlösung für das Gebäude zu entwickeln und gleichzeitig eine neue Zugangssituation zu schaffen, haben wir vorgeschlagen, den mehr als 7 m hohen »Beletage-Raum« zu einem luftigen Foyer mit Sitzgelegenheiten, Tresen und einer kleinen Bühne umzuwandeln«, beschreibt van Oppen. Das vormals auf der Fassade aufgebrachte Mosaik des Künstlers Hugo Kaagman wurde dabei dokumentiert, um später an anderer Stelle eingefügt zu werden. Aus Kostengründen und als Reminiszenz an die vormalige Nutzung ist der alte Boden der Sporthalle mit den Spielfeldmarkierungen erhalten ­geblieben.

Einen massiven baulichen Eingriff erforderte hingegen der Einbau von vier mittig in die Front eingefügten, senkrecht nach oben verfahrbaren Garagen-Sektionaltoren, mit deren Hilfe sich der zweigeschossige Raum den Sommer über je nach Witterungsverhältnissen per Knopfdruck vollständig öffnen lässt. Um einen unmittelbaren Kontakt zum Viertel herzustellen und eine ­direkte sowie barrierefreie Erschließung des »Stadtteilwohnzimmers« über den ehemaligen Schulhof zu ermöglichen, ergänzten die Architekten außerdem eine Stahltreppe, einen mit Gitterrosten ausgeführten Balkon zum Vorplatz sowie einen Aufzug zur barrierefreien Erschließung. Der ehemalige Schulhof ist inzwischen mit gemeinschaftlich gepflegten Grünflächen als ­öffentlicher Platz für die Nachbarschaft gestaltet worden.

Zusätzliches Zwischengeschoss

Als weiterer wichtiger baulicher Eingriff wurde die bestehende Tragkonstruktion der Halle durch zwei Stahlstützen und zwei Stahlträger ergänzt, um so ein zusätzliches Zwischengeschoss in den Raum einfügen zu können und damit eine optimierte Wirtschaftlichkeit des Projekts zu erreichen. Auf der neu ­hinzugewonnenen Fläche haben die Planer fünf ausrangierte Gewächshäuser ­eines Gartenbaubetriebs in Delft als verglaste Haus-in-Haus-Büros integriert: »Die Einheiten bieten attraktive Adressen für soziale und kreative Start-up-Unternehmen und stellen gleichzeitig gemeinschaftlich nutzbaren Raum zum Co-Working zur Verfügung«, so van Oppen. »Architektonisch brechen sie ­zudem den eher geschlossenen Charakter des Gebäudes auf und sorgen für attraktive Blickachsen und Perspektiven.«

Die Erschließung der fünf Einheiten erfolgt über fünf Öffnungen in der Zwischenfassade und dort ­jeweils eingefügte Brücken aus Gitterrosten. Komplettiert wird das Projekt durch den Einbau einer neuen Heizungsanlage sowie einer neuen Anlage zur Entlüftung. Weitere Umbau- und Sanierungsmaßnahmen haben Architekten und Bauherr bewusst zurückgestellt: »Aufgrund des knappen Budgets haben wir uns zunächst auf das Notwendigste beschränkt. Weitere Maßnahmen können dann später erfolgen.« Das Ergebnis des Umbaus überzeugt dennoch – oder gerade deshalb: Denn es ist den Architekten gelungen, den an sich völlig banalen Bau mit gezielten und überraschenden Eingriffen zu ­einem vorbildlichen Gemeinschaftsprojekt umzuwandeln, das beispielhaft neue Wege für Umnutzung, Partizipation, Quartiersarbeit, Start-up-Förderung und Nachhaltigkeit aufzeigt. Die vorhandene Struktur der Schule mit den zum Innenhof verglasten ehemaligen Klassenräumen hat sich dabei als geradezu ideal erwiesen, um den Anspruch der Stiftung nach Transparenz und Offenheit architektonisch umzusetzen. Im direkten Austausch der unterschiedlichen Nutzer ist eine ­lebendige Atmosphäre entstanden, die Raum zum kreativen Arbeiten schafft und die gleichzeitig einen bewusst niederschwelligen Ort zum Zusammenkommen unterschiedlicher Nutzer bietet. Ein Projekt also, das dringend zur Nachahmung aufruft!

db, Fr., 2017.06.02



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03. Mai 2024Robert Uhde
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Wohnungsbau in Hasselt

Im belgischen Hasselt hat das Atelier Kempe Thill im Innenhof einer ehemaligen Kaserne einen ungewöhnlichen Wohnungsbau mit neun flexibel einteilbaren Ebenen realisiert. Die lichte Architektur mit ihrer rundum verglasten Fassade sorgt in den Wohnungen für viel Tageslicht und steht im gelungenen Kontrast zu den Backsteinfassaden des sanierten bzw. ergänzten Bestands.

Im belgischen Hasselt hat das Atelier Kempe Thill im Innenhof einer ehemaligen Kaserne einen ungewöhnlichen Wohnungsbau mit neun flexibel einteilbaren Ebenen realisiert. Die lichte Architektur mit ihrer rundum verglasten Fassade sorgt in den Wohnungen für viel Tageslicht und steht im gelungenen Kontrast zu den Backsteinfassaden des sanierten bzw. ergänzten Bestands.

Wer mit dem Zug von Aachen oder Brüssel nach Hasselt kommt, dessen Blick trifft direkt am Bahnhof als Allererstes auf die futuristische Architektur des monumentalen Gerichtsgebäudes, das 2013 nach Plänen von Jürgen Mayer H. hier fertiggestellt wurde. Mit der 2022 umgenutzten Herkenrode-Kaserne hat die gerade mal 70 000 Einwohner:innen zählende Hauptstadt der Provinz Limburg mittlerweile ein architektonisches Juwel ganz anderer Art zu bieten. Denn nach der Schließung und temporären Zwischennutzung des innerstädtischen Blocks als Bürostandort hatte die Kommune 2015 beschlossen, den teilweise noch aus dem 17. Jahrhundert stammenden Komplex zu verkaufen, um das ehemals militärisch genutzte Areal behutsam nachzuverdichten und in ein vielfältig nutzbares Innenstadtquartier umzuwandeln.

Mittlerweile ist das Projekt weitgehend fertiggestellt. Eine typologische Besonderheit ist dabei das im Zentrum der Anlage auf dem ehemaligen Exerzierplatz neu entstandene Wohngebäude. Der 2022 nach Plänen von André Kempe und Oliver Thill fertiggestellte Neubau stellt auf neun Ebenen mit einer Bruttogeschossfläche von insgesamt 7 500 m² fünfzig individuell gestaltete Wohnungen mit einer Größe von 28 bis 210 m² zur Verfügung und überrascht dabei durch seine rundum durchgehende Glasfassade und die dahinterliegenden offenen Wintergärten.

Ausgangspunkt für die Planung war ein 2015 ausgeschriebener Einladungswettbewerb, aus dem aufgrund des großen Projektumfangs ein gemeinsamer Entwurf vom Atelier Kempe Thill (Rotterdam) sowie von Abscis Architecten (Gent), dem UAU Collectiv (Hasselt) und LAND landschapsarchitecten (Antwerpen) als Sieger hervorgegangen war. In enger Zusammenarbeit mit den örtlichen Immobilienentwicklern Kolmont und Vestio hatten die vier Büros vorgeschlagen, die zentral innerhalb des mittelalterlichen Stadtringes gelegene Blockbebauung mit ihren monumentalen Kasernengebäuden aus dem späten 19. Jahrhundert und dem markanten Torhaus grundlegend zu sanieren und durch Balkone und Durchgänge stärker zum Blockinneren hin zu orientieren. Parallel dazu wurde das aus der Renaissance (1544) stammende Refugium der Schwestern der Abtei Herkenrode behutsam in das neue Konzept eingebettet.

Ein Teil der nördlichen Blockrandbebauung aus dem 20. Jahrhundert ist demgegenüber aufgrund von Bauschäden abgerissen und durch zeitgenössische Wohnbauten mit hellen Klinkerfassaden ersetzt worden (Planung: Abscis Architecten und UAU-Collectiv). »Die Bestandsgebäude der ehemaligen Kaserne und das Torhaus stehen andererseits als Veranstaltungsgebäude für die Universität Hasselt zur Verfügung, sodass in der Summe ein vielfältiger Funktionsmix entstanden ist«, so André Kempe und Oliver Thill, die beide aus Ostdeutschland stammen und seit 2000 ein eigenes Büro mit Hauptsitz in Rotterdam führen.

Im Rahmen der Planung haben sich die beteiligten Büros ganz bewusst am Konzept der mittelalterlichen Stadt orientiert, ergänzt durch neue räumliche, soziale und ökologische Qualitäten: »Ganz wichtig war in diesem Zusammenhang der städtebauliche Impuls des Projekts«, wie Oliver Thill erklärt. »Denn im Rahmen der Umsetzung ist der bislang geschlossene Baublock durch drei neue Durchgänge geöffnet und über eine halböffentliche Durchwegung an das städtische Gefüge der Stadt Hasselt angebunden worden.« Durch die neu geschaffene Tiefgarage ist es gleichzeitig gelungen, das Gelände komplett autofrei zu halten. Der nach Plänen von LAND gestaltete und in Teilen begrünte Innenhof bietet stattdessen eine sichere Spielumgebung für Kinder und dient gleichzeitig als ruhige Oase für die Bewohnerinnen und Bewohner. Radfahrende haben über einen Fahrrad- und Lastenaufzug einen eigenen Zugang zur Tiefgarage. Eine neu geschaffene unterirdische Verbindung zu einer weiteren Tiefgarage und zu einem außerhalb des Altstadtkerns gelegenen Parkplatz sorgt darüber hinaus dafür, dass das Zentrum von zusätzlichen Verkehrsbewegungen entlastet wird.

Luftiger Wohnungsbau im Kern der Anlage

Die augenfälligste Veränderung vor Ort betrifft den im Zentrum des Blocks auf einer Fläche von 22 x 35 m neu platzierten Wohnungsbau von André Kempe und Oliver Thill, der den Innenhof nach Westen einfasst: »Zu Beginn unserer Planung hatten wir noch überlegt, die mittelalterliche Struktur des Bestandes aufzugreifen«, blickt Oliver Thill zurück. »In enger Abstimmung mit dem Bauherrn haben wir uns dann aber für eine bewusst leichte Architektur mit durchgehenden Glasfassaden entschieden, um so ein deutliches Gegengewicht zu der vorhandenen Backsteinarchitektur zu schaffen und um das vorhandene Licht im Innenhof optimal zu nutzen.« Und trotz des überraschenden Kontrasts und trotz des großen Volumens des Baukörpers ist es gelungen, den Neubau weitgehend zurückhaltend zu gestalten und die Gesamtsituation nicht zu dominieren.

Betont wird der leichte, beinahe schwebende Eindruck des insgesamt rund 9,6 Mio. Euro teuren Neubaus durch die horizontale Gebäudestruktur mit ihren offenen Gebäudeecken und den um rund 0,6 m auskragenden Geschossdecken. Eine Besonderheit sind außerdem die auf der Ost- und Westseite jeweils 2,7 m, auf der Nord- und Südseite jeweils 1,7 m tiefen, je nach Wohnungsgröße unterschiedlich langen Wintergärten. Die mit Meranti-Holzböden angenehm warm gestalteten Wintergärten nehmen rund ein Drittel der jeweiligen Wohnfläche ein und erlauben mit ihren bis zu 5,70 m hohen, oben und unten in Aluminiumprofilen fixierten Ganzglas-Schiebeelementen eine beinahe ganzjährige Nutzung. Zusätzlich fungieren die Wintergärten auch als energetischer Puffer, indem sie die zurückliegenden Wohnungen im Sommer vor der hochstehenden Sonne schützen und im Winter andererseits den Heizwärmebedarf reduzieren. Ein ausreichender Schutz gegen die hohen Windlasten insbesondere in den oberen Ebenen wird dabei durch eine obere Aushebesicherung in den Elementen sichergestellt.

Privatsphäre auch im EG

Ab der fünften Etage und im Staffelgeschoss ermöglichen die geschosshohen Glasfassaden einen ungestörten Panoramablick über die Dachlandschaft von Hasselt. »Die unteren beiden Etagen haben wir demgegenüber als Maisonette-Einheiten ohne von außen sichtbare Geschossdecke ausgebildet, um so die Anordnung von Schlafzimmern im Erdgeschoss zu vermeiden«, erklärt Oliver Thill. »Um auch für die Wohnräume im Erdgeschoss ausreichend Privatsphäre und Komfort zu gewährleisten, haben wir es außerdem um 0,5 m angehoben und die Wohnräume mit vorspringenden, doppelt so hohen Wintergärten ausgebildet.«

Der Zugang zum Gebäude erfolgt über ein luftiges doppelgeschossiges Foyer auf der Westseite, das mit seiner materialbetonten Gestaltung mit Sichtbeton, dem polierten Betonestrich und einer frei stehenden Stirnwand aus Eichenholz den urbanen Charakter des Gebäudes unterstreicht. Von hier erschließen zwei Aufzüge und eine Innentreppe im tragenden Stahlbetonkern die verschiedenen Ebenen: »Zusätzlich zu diesem Kern waren aus bautechnischer Sicht keine tragenden Wände notwendig«, erklärt Oliver Thill. »Stattdessen haben wir lediglich acht notwendige Stützen in den Grundriss integriert, teilweise kombiniert mit den Schächten für Kabel und Rohre. Im Verbund mit einem Innenausbau in Leichtbauweise haben wir eine maximale Kompaktheit und Wirtschaftlichkeit erreicht und gleichzeitig die Grundlage für eine sehr flexible Grundrissentwicklung geschaffen, sodass wir die Wohnungen ganz individuell an die Bedürfnisse der künftigen Bewohner anpassen konnten.«

Mit dem Projekt in Hasselt knüpfen André Kempe und Oliver Thill ganz bewusst an vorherige Entwürfe im Bereich Wohnungsbauprojekte an. Ganz offensichtliche Bezugspunkte bietet dabei das bereits 2009 fertiggestellte Apartmenthaus »HipHouse« im niederländischen Zwolle. Auch dort war es den Architekten gelungen, mit einer raumhohen, hälftig als Schiebetüren ausgeführten Verglasung luftige Wohnungen mit offenem Loft-Charakter zu schaffen: »Aufbauend auf dieser Erfahrung haben wir auch hier in Hasselt versucht, durch eine strategische Verschmelzung städtischer und vorstädtischer Qualitäten ein bezahlbares Idealmodell für städtisches Wohnen zu schaffen«, erklärt Oliver Thill. »Mit seinen großen Wintergärten, dem fließenden Innen-außen-Verhältnis, den loftartigen Grundrissen und der sehr hochwertigen Materialisierung betrachten wir das Projekt dabei als echte Alternative zum vorherrschenden flämischen Wohnmodell in Einfamilienhäusern.«

db, Fr., 2024.05.03



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02. Oktober 2020Robert Uhde
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Dreieckiges Tor zur Stadt

Mit ihrem neuen Bahnhof hat die niederländische Kleinstadt Assen ein charaktervoll gestaltetes neues Entrée mit optimierter Anbindung erhalten. Der Entwurf der beiden Architekturbüros Powerhouse Company und De Zwarte Hond überzeugt v. a. durch seine luftig-elegante Dachkonstruktion aus Holz, die scheinbar über der verglasten Bahnhofshalle schwebt.

Mit ihrem neuen Bahnhof hat die niederländische Kleinstadt Assen ein charaktervoll gestaltetes neues Entrée mit optimierter Anbindung erhalten. Der Entwurf der beiden Architekturbüros Powerhouse Company und De Zwarte Hond überzeugt v. a. durch seine luftig-elegante Dachkonstruktion aus Holz, die scheinbar über der verglasten Bahnhofshalle schwebt.

Mit rund 9.000 Reisenden am Tag ist der Bahnhof der 70.000 Einwohner zählenden Kleinstadt Assen der meistfrequentierte Verkehrsknotenpunkt in der Provinz Drenthe im äußersten Nordosten der Niederlande. Seit 1989 wurde der zwischen Zwolle und Groningen gelegene Durchgangsbahnhof durch einen wenig einladenden Glaskörper mit einem banal gestalteten Dach in blauer Farbigkeit geprägt. Im Rahmen der groß angelegten städtebaulichen Masterplanung »FlorijnAs« ist das gesamte Areal mittlerweile aber erneuert worden. Neben einer grundlegend umgestalteten Verkehrsführung hat die Stadt dabei auch ein neues Bahnhofsgebäude erhalten.

Aus dem Architekturwettbewerb mit fünf eingeladenen Büros war 2014 das Team von Powerhouse Company aus Rotterdam und De Zwarte Hond aus Groningen als Sieger hervorgegangen. Ihr gemeinsamer, in enger Kooperation mit der Gemeinde Assen sowie mit der Niederländischen Bahn entwickelter Entwurf schafft ein offen und freundlich gestaltetes Tor zur westlich angrenzenden Innenstadt und ermöglicht durch eine neue Fußgängerunterführung in Kombination mit einem zuvor bereits eröffneten Fahrradtunnel gleichzeitig eine optimierte Anbindung der östlich der Bahnlinie gelegenen Stadtteile.

Architektonische Ikone für die Stadt Assen

Charakteristischer Blickfang des Neubaus ist das dreiecksförmig gestaltete, über den Bahnsteigen und den Gleisen weit auskragende Holzdach. Die nach Südwesten in Richtung Stadt deutlich aufsteigende und über den Gleisen aufgrund der hier verlaufenden Oberleitungen teilweise geschwungen ausgebildete Konstruktion bietet eine luftig-elegante Überdachung für die durchgehend verglaste Bahnhofshalle. Zudem schafft sie ein markantes, aus allen Blickrichtungen attraktives architektonisches Zeichen, das mit seiner Materialität deutlich sichtbar die Ambitionen der Stadt im Hinblick auf Nachhaltigkeit zeigt. »Unterbrochen wird die Struktur lediglich durch einige transparente Elemente aus Polycarbonat in der Mitte des Dachs, durch die ausreichend Tageslicht in die Bahnhofshalle und auf die Bahnsteige fällt und dort je nach Wetter ein bewegtes Spiel von Licht und Schatten erzeugt«, erklärt Projektarchitekt Dik Houben vom Büro Powerhouse Company.

Die unter dem riesigen Schirm gelegene Bahnhofshalle fungiert als wettergeschützter Aufenthaltsraum und integriert gleichzeitig die Zugänge zu den ­beiden Gleisen, verschiedene Läden sowie Information, Ticketschalter, Fahrkartenautomaten und Toiletten. Ein Teil der Funktionen wurde als eigenständige Pavillons mit abgerundeten Gebäudekanten und mit rot-braunen Klinkerfassaden frei unter das Dach geschoben. Die angenehm-warme Farbigkeit der Steine ermöglicht dabei einen fließenden Übergang zu dem für die Bodengestaltung verwendeten Roten Porphyr und zu dem roten Pflasterstein, der die Ankommenden vom Vorplatz bis in die Innenstadt leitet. Sehr wichtig war bei der Gestaltung der Pavillons außerdem die Berücksichtigung einer maximalen Flexibilität: »Ganz bewusst haben wir die freistehenden Stützen des Dachs unabhängig von der Struktur der Einbauten konstruiert, sodass sich die Aufteilung der Flächen bei Bedarf jederzeit ohne größere Eingriffe ändern lässt«, so Dik Houben.

Komplettiert wird das Raumprogramm durch eine unterhalb der Erde platzierte, nach Norden hin von einem Gründach überdeckte und direkt an die neue Unterführung angegliederte Fahrradgarage mit insgesamt 2.600 Stellplätzen: »Den durch die Umgestaltung weitgehend verkehrsberuhigten Bahnhofsvorplatz konnten wir somit frei halten und entsprechend attraktiv und einladend mit einer neuen Pflasterung und Sitzbänken gestalten.« Ein wichtiger Bestandteil ist dabei die 7 m hohe, durch den Architekten Maurice Nio ­gemeinsam mit dem Künstler Q.S. Serafijn geschaffene hölzerne Hundeskulptur »Mannes«.

Komplexe Dachkonstruktion aus Brettschichtholz-Bindern

Besondere Anforderungen bei der Planung und Umsetzung des Projekts stellte das dreiecksförmige, mit Kantenlängen von 78, 88 und 90 m ausgeführte und insgesamt rund 3.080 m² große Dach aus Fichtenholz. Nach Südwesten steigt die Konstruktion bis auf eine maximal zulässige Höhe von 10 m auf, in Richtung Osten ist das Dach demgegenüber leicht nach unten geneigt, sodass anfallendes Regenwasser hier in einen Sickerteich abfließen kann. Im zentralen Bereich ist das Dach durch die aufliegenden Elemente aus Polycarbonat witterungsdicht abgedichtet, in den Randbereichen haben die Planer einen 8 m breiten, mit Bitumen ausgebildeten Sedum-Grünstreifen integriert, um eine Witterungsbelastung des Holzes zu verhindern und das Überlaufen von Regenwasser zu minimieren.

Das Bahnhofsdach in Assen ist das erste in den Niederlanden, das primär aus Holz besteht. Um die am Abend eindrucksvoll beleuchtete Konstruktion fachgerecht umsetzen zu können, wurde für die Ausführungsplanung und Tragwerksplanung des Dachs das Ingenieurbüro Miebach aus Lohmar bei Köln hinzugezogen. In enger Kooperation von Architekten und Tragwerksplanern und in einem durchgehend BIM-gestützten Prozess wurde das großflächige Flächentragwerk berechnet und ausgearbeitet, bestehend aus insgesamt 324 unsymmetrisch geformten, im Grundriss jeweils 5,0 x 4,85 x 4,30 m großen Dreiecken, die aus 5 m langen, 1,20 m hohen und 22 cm dicken Brettschichtholz-Bindern gebildet werden.

Der Werkstoff Holz erweist sich immer öfter als wirtschaftliche Alternative zu Stahl oder Beton: »Das Verhältnis von Eigengewicht zu Tragfähigkeit und das gut einschätzbare Brandverhalten machen den Baustoff dabei v. a. für Dachtragwerke mit großen Spannweiten sehr attraktiv«, so Lukas Osterloff vom Ingenieurbüro Miebach. Ein wichtiges Argument ist außerdem die hohe Nachhaltigkeit des Baustoffs: »Insgesamt kamen bei dem Projekt 620 m³ Holz zum Einsatz, sodass in der Summe der Kohlenstoff von 620 Tonnen CO2 dauerhaft gebunden wird.«

Parametrische Berechnung der Knotenpunkte

Eine große Herausforderung bei der Planung bedeutete die Lastabtragung der Dachkonstruktion und die Berechnung sämtlicher Stäbe (Brettschichtholz-Binder) sowie der zwischen den einzelnen Dreiecken entstandenen Knotenpunkte: »Aufgrund der unsymmetrischen Form des Dachs und der abweichenden Spannweite über den Gleisen mussten wir die 471 Stäbe und die 190 Knotenpunkte alle individuell berechnen«, erklärt Lukas Osterloff. »Ohne den Einsatz parametrischer Softwarelösungen wäre es letztlich kaum möglich gewesen, die Verbindungen der Stäbe über Schlitzbleche und Stabdübel abgestuft entsprechend der lokalen Belastung durch Eigengewicht, Schnee, Wind und Regenwasser zu konstruieren.«

Ebenfalls individuell angepasst werden mussten die unterschiedlich langen, nach oben biegesteif an das Dach angeschlossenen und unten gelenkig gelagerten Stützen, die in ihrer Materialität aber leider von der übrigen Konstruktion abweichen: »Um einen homogenen Gesamteindruck zu erhalten, hatten wir ursprünglich Holzstützen mit einem Stahlfuß vorgesehen«, berichtet Dik Houben. »Aus Kostengründen und weil die Stützen sonst zu massiv geworden wären, haben wir dann aber abweichend hell beschichtete und nach oben sternförmig auskragende Rundstahlstützen mit einem Durchmesser von jeweils 60 cm gewählt.«

Um das große Flächentragwerk umsetzen zu können, wurden die verschiedenen Bauteile nach Fertigung per CNC-Fräse als Einzelstäbe zur Baustelle geliefert und dort in unterschiedlich großen Elementen vormontiert und eingehoben. Die größten Elemente wurden dabei für die Überbrückung der Gleise eingebaut und beidseitig der Gleise mithilfe von zwei Kränen in ­Millimeterarbeit zusammengeführt. »Trotz des hohen Gewichts der beiden Teile hat das alles aber reibungsfrei funktioniert, sodass wir das Dach in einer Bauzeit von neun Monaten fristgerecht bei laufendem Bahnbetrieb umsetzen konnten.«

db, Fr., 2020.10.02



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db 2020|10 Bauen mit Holz

03. März 2020Robert Uhde
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Kulinarik mitten im Grünen

Das Kopenhagener Sterne-Restaurant Noma hat einen neuen Standort in einem alten Lagergebäude am Rande der Alternativ-Kommune Christiania bezogen. Das nach Plänen von BIG umgesetzte Projekt ergänzt den Bestand durch ein offenes Geflecht aus Einzelvolumen, die fließend in den Außenraum übergehen und durch ihr zurückhaltend skandinavisches Interieur überzeugen.

Das Kopenhagener Sterne-Restaurant Noma hat einen neuen Standort in einem alten Lagergebäude am Rande der Alternativ-Kommune Christiania bezogen. Das nach Plänen von BIG umgesetzte Projekt ergänzt den Bestand durch ein offenes Geflecht aus Einzelvolumen, die fließend in den Außenraum übergehen und durch ihr zurückhaltend skandinavisches Interieur überzeugen.

Seit seiner Eröffnung 2003 hat sich das von Spitzenkoch René Redzepi geführte Kopenhagener Restaurant Noma zu einem regelrechten Mekka für Feinschmecker entwickelt. Vier Mal wurde das lange Zeit in einem ehemaligen Hafenlager aus dem 16. Jahrhundert ansässige und momentan mit zwei Michelin-Sternen bedachte Haus sogar als bestes Restaurant der Welt ausgezeichnet. Für kulinarische Begeisterung sorgen v. a. die puristische Neuinterpretation der nordischen Küche, die Beschränkung auf regionale und saisonale Produkte sowie die entspannt-legere Art der Bewirtung.

Trotz oder gerade wegen seines großen Erfolgs wurde das Restaurant Anfang 2017 geschlossen, um dann, nach längerer Pause, an einem anderen Standort wieder zu eröffnen. Als neue Adresse für das Noma 2.0 hatten sich die Betreiber ein ehemals durch die Königlich Dänische Marine genutztes, aber seit Längerem leer stehendes Minenlager aus dem Jahr 1917 ausgesucht; innenstadtnahen Ort inmitten von ganz viel Grün, gelegen auf einer schmalen Landzunge zwischen zwei Seen und direkt angedockt an die legendäre Kopenhagener Hippie-Kommune Christiania, die sich hier seit den frühen 70er Jahren auf einem 34 ha großen ehemaligen Kasernengelände angesiedelt hat.

Verbindung von Alt und Neu

Mit der architektonischen Planung zur Umnutzung und Erweiterung des schmalen, rund 80 m langen und rückseitig nach Westen in einen Wall eingebetteten Altbaus wurde im Sommer 2015 die vor Ort ansässige Bjarke Ingels Group beauftragt. Ganz zu Beginn war dabei zunächst eine Aufstockung des Bestands vorgesehen: »Aufgrund des bestehenden Denkmalschutzes konnten wir diese Idee aber nicht umsetzen«, blickt Projektarchitekt Frederik Lyng auf den langwierigen Planungsprozess zurück. »Stattdessen haben wir das Gebäude lediglich behutsam saniert und hier auf einer Fläche von 700 m² die Backend-Bereiche Lager, Anlieferung, Labor sowie Mitarbeiter- und Spülküche angesiedelt.« Die klare Strukturierung mit rückseitig perlenschnurartig aneinander gereihten Räumen und fassadenseitig durchgehender Erschließung sorgt dabei für einen optimierten Workflow des 80-köpfigen Noma-Teams.

Die für den Restaurantbetrieb zusätzlich nötigen Anbauten durften andererseits die Höhe des Bestands von 5,50 m nicht überschreiten und außerdem nur dort ergänzt werden, wo die historische Bausubstanz ohnehin beschädigt war. Ausgehend von den strengen Auflagen der Stadt und in enger Kooperation mit den Noma-Betreibern entstand schließlich die Idee, den Riegel an ­seinem südöstlichen Kopfende an verschiedenen Stellen durch sieben eigenständig ausgebildete, über gläserne Fugen aber fließend miteinander verbundene Baukörper zu ergänzen. Die großflächig verglasten und zusätzlich durch Oberlichter geöffneten Volumen schaffen eine luftige Erweiterung des Bestands um rund 500 m² und führen dabei ganz bewusst die additive Bauweise der Häuser in Christiania fort. Im Zusammenspiel ist ein vielschichtiges, bewusst dorfähnliches Geflecht von kleineren und größeren Volumen mit kontrastreich gestalteten Fassaden und Dächern aus Holz, Klinker, Glas und Messing entstanden, das in sämtlichen Bereichen fließend in den grünen Außenraum übergeht.

Hochwertig gestalteter Innenraum

Ähnlich vielschichtig präsentiert sich die Innenraumgestaltung des für insgesamt etwa 40 Gäste konzipierten Restaurants. Analog zu der ungewöhnlichen Baukörperanordnung und in enger Kooperation mit dem zusätzlich hinzugezogenen Studio David Thulstrup entstand eine offene Grundrissanordnung mit den bewusst voneinander getrennten Funktionen Empfang, Küche, Lounge, Grillen, Speisesaal und privater Gesellschaftsraum, die alle ein besonderes Raumerlebnis mit individuell angepasster Materialsprache bieten: »Anders als in herkömmlichen Restaurants haben wir die verschiedenen Funktionen hier ganz bewusst getrennt und dann wieder neu miteinander verbunden, um den Gästen ein besonderes Erlebnis mit wechselnden Raumeindrücken zu bieten«, erklärt Frederik Lyng das Konzept.

In sämtlichen Räumen findet sich eine einfache und materialbetont-ehrliche Innenraumgestaltung mit skandinavisch warmer Ausstrahlung und mit Sinn für überraschende Akzente und Kontraste. So wirkt z. B. die luftige Lounge wie ein gemütliches Wohnzimmer, umgesetzt mit hellen Feldbrandklinkern als Material für Wand und Boden sowie mit einer plastisch abgetreppten ­Decke aus hellen Eichenholzbrettern. Der direkt angrenzende, weitgehend geschlossene Empfangsbereich wurde mit dunklen Feldbrandklinkern und mit schweren Eichenholz-Einbauten gestaltet. Ein schönes Detail ist hier der Kamin, der linkerhand mit dunklen Klinkern und im Übergang zur Lounge abweichend mit hellen Klinkern gestaltet wurde.

Der große Speisesaal erhält demgegenüber durch seine freiliegenden Deckenbalken, die helle Holzdecke sowie durch den wertigen Eichenholzdielenboden einen angenehm entspannten Charakter mit räumlicher Weite. Betont der Eindruck durch Flächen aus vorpatiniertem Messing im vorgelagerten Service-Bereich sowie durch Innenwände aus übereinandergestapelten Holzbrettern mit einer Länge von jeweils 60 cm, die auf den ersten Blick die Anmutung von fein säuberlich aufgeschichteten Holzscheiten ausstrahlen sollen. Der kleinere Gesellschaftsraum lebt wiederum von seinem intimen-sakralen Raumeindruck und den kontrastvoll umgesetzten Außenfassaden aus gebranntem Holz, der Grill schließlich wurde als begehbare Blockhütte gestaltet.

Die Küche im Zentrum

Im Zentrum sämtlicher Aktivitäten steht ganz bewusst die offene, mit hellen Holzmöbeln sowie mit strapazierfähigen und leicht zu reinigenden Terrazzo-Böden aus Flusskieseln umgesetzte Küche: »Von dieser zentralen Position aus haben die Köche einen perfekten Überblick über jeden Winkel des Restaurants und können so alle Abläufe bestens koordinieren«, erklärt Frederik Lyng. »Ebenso können die Gäste hautnah miterleben, was sonst eher hinter den Kulissen passiert. Hinzu kommt, dass es durch die Grundrissanordnung auch möglich ist, dass die Abluftanlage der Küche gleichzeitig die Belüftung sämtlicher Räume übernimmt.«

In allen Restaurant-Bereichen sorgen die großen, teilweise öffenbaren Fensterfronten und Oberlichter im Verbund mit den gläsernen Fugen für einen fließenden Übergang von Innen und Außen und für freie Ausblicke auf den Garten und die angrenzende Wasserfläche. Die Gäste haben so durchgehend das Gefühl, regelrecht im Freien zu dinieren und dabei in sämtlichen Bereichen einen direkten Bezug zur Landschaft, zum Wetter und zu den Jahreszeiten erleben zu können. Komplettiert wird die Innenraumgestaltung durch eine speziell für das Noma 2.0 vom Studio David Thulstrup entwickelte Möblierung. Darunter finden sich auch Tische und Tafeln aus dunklem Eichenholz sowie helle Eichenholz-Stühle mit handgewebten Sitzflächen, die zeitgemäßes dänisches Design mit 60er-Jahre Retro-Look verbinden.

Ein wichtiger Baustein des neuen Noma-Konzepts sind die drei weiter nördlich in Richtung der Straße dem Altbau vorgelagerten, dabei jeweils auf vorhandenen Betonfundamenten errichteten Gewächshäuser. Die drei Bauten stehen dem Restaurant als interaktive Testküche, zum Anbau von Kräutern sowie als betriebseigene Bäckerei zur Verfügung. Direkt neben den drei ­Gewächshäusern erwartet die Besucher dann noch die freie Aussicht über den See und auf die Silhouette des ebenfalls von BIG geplanten Heizkraftwerks Amager Bakke, auf dessen steil abfallendem Dach die Kopenhagener seit einem Jahr Skifahren können. Was für ein schöner architektonischer Nachschlag! Und ein Grund mehr wohl, warum die Tische im Noma für rund ein Jahr im Voraus restlos ausgebucht sind.

db, Di., 2020.03.03



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db 2020|03 Essen und Trinken

16. September 2019Robert Uhde
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»The Street Inside«

In der dänischen Kleinstadt Viborg hat das Kopenhagener Architekturbüro EFFEKT eine leer stehende Industriehalle in ein lebendiges Zentrum für Straßensport und Jugendkultur verwandelt. Die anspruchsvolle Gestaltung des Umbaus steht dabei auch für die Ernsthaftigkeit, mit der soziale Arbeit bei unseren Nachbarn im Norden betrieben wird.

In der dänischen Kleinstadt Viborg hat das Kopenhagener Architekturbüro EFFEKT eine leer stehende Industriehalle in ein lebendiges Zentrum für Straßensport und Jugendkultur verwandelt. Die anspruchsvolle Gestaltung des Umbaus steht dabei auch für die Ernsthaftigkeit, mit der soziale Arbeit bei unseren Nachbarn im Norden betrieben wird.

Jahrelang wurden im jütländischen Viborg Rotoren für Windkraftanlagen der Firma Vestas produziert. Nach der Verlagerung der Produktion blieb davon lediglich eine verlassene Halle aus Stahlbeton, die anschließend ein paar Jahre leer stand, übrig. Doch statt den unweit vom Bahnhof in einem öden Gewerbegebiet gelegenen Bau aus den 70er Jahren einfach weiter verfallen zu lassen, entschied sich die Gemeinde 2016 nach längerer Überlegung zum Ankauf der Halle. Sie sollte nach dem Vorbild der drei Städte Kopenhagen, Esbjerg und Aalborg und in enger Kooperation mit dem dort bereits aktiven gemeinnützigen Verein GAME zu einem weiteren Straßensport- und Jugendkultur-Zentrum umgewandelt werden.

»Streetmekka«

Das mit rund 60 Mitarbeitern besetzte Team von GAME ist in sämtlichen Brennpunktvierteln Dänemarks tätig und bietet außerdem im Libanon sowie in mehreren afrikanischen Staaten Straßensport-Projekte in Verbindung mit Jugendkulturarbeit an.

Mit ihren »Streetmekka« genannten Zentren hat die Non-Profit-Organisation dieses Engagement noch weiter ausgebaut: »Ganz bewusst bieten wir damit ein niederschwelliges und integratives Indoor-Angebot für Jugendliche, die sich von klassischen Vereinssport­arten wie Fußball oder Handball nicht angesprochen fühlen und die eher informelle Angebote zur Freizeitgestaltung suchen«, berichtet GAME-Manager Thomas Gissel. Die gute Nachricht dabei: Im traditionell stark sozial ausgerichteten Dänemark lassen sich solche Ideen dann auch verwirklichen! Denn das innovative, gemeinsam mit einem großen Netzwerk an Pädagogen, Streetworkern und Psychologen umgesetzte Angebot des Vereins wird nicht nur durch die jeweiligen Kommunen, sondern auf Basis des Programms Lokale- & Anlægsfonden auch durch den dänischen Staat sowie durch weitere Sponsoren großzügig unterstützt und gefördert.

Herausfordernde Dimensionen

In Viborg war GAME bereits seit mehreren Jahren im Brennpunktviertel Ellekonebakken tätig: Schnell entwickelte sich deshalb die Idee, die Arbeit des Vereins vor Ort durch die Eröffnung eines Streetmekka-Zentrums in der leer stehenden Vestas-Halle zu erweitern. Nach längeren Gesprächen gelang es, neben den Verantwortlichen der Stadt Viborg auch weitere lokale Auftraggeber von dem Projekt zu überzeugen. 2017 konnte daraufhin ein begrenzter Wettbewerb ausgeschrieben werden, bei dem schließlich der gemeinsam eingereichte Vorschlag der Kopenhagener Architekten EFFEKT und des Landschaftsplanungsbüros BOGL ausgewählt wurde.

Das Büro EFFEKT hatte 2016 bereits die Umnutzung eines ehemaligen Lokschuppens zum Streetmekka in Esbjerg geplant: »Dabei hatten wir es allerdings mit mehreren kleineren Hallen zu tun, die wir jeweils für unterschiedliche Funktionen nutzen konnten«, berichtet Projektarchitekt Ulrik Mathiasson. Hier in Viborg standen die Architekten demgegenüber vor der Herausforderung, einen einzigen großen Innenraum zu bespielen, der zwar im Innern mit seinen beeindruckenden Proportionen und dem mächtigen Stahlbetontragwerk fast schon an eine Kathedrale erinnert, von außen aber als völlig belanglose Kiste in Plattenbau-Ästhetik daherkam. Ausgehend von diesem Befund und in enger Absprache mit dem Bauherrn sowie den Verantwortlichen bei GAME entwickelten die Planer schließlich die Idee, den rohen Charakter der Halle beizubehalten, die typologisch bedingte Abschottung der Halle aber bewusst aufzubrechen. Mit wenigen Eingriffen sollte so eine deutlich extrovertierte Architektur entstehen, die bereits auf den ersten Blick aus ihrer Umgebung hervorsticht.

Überleitende Bereiche

Zur Umsetzung dieser Wirkung wurden zunächst die zuvor geschlossenen Außenwände an den beiden Stirnseiten des rechteckigen Gebäudes abgebrochen und jeweils durch eine gebäudehohe Glasfassade ersetzt. An der Ostseite leicht eingerückt angeordnet, wird dort die neue Hülle zur einladenden und durch einen Pfeil aus Leuchtstoffröhren zusätzlich markierten Eingangsfront. Parallel dazu wurden auch die Fassaden nach Norden und Süden teilweise geöffnet, um hier sowohl neue Flächen zu gewinnen und eine optimierte Nutzung der bestehenden Anschlüsse und Versorgungsleitungen zu erreichen als auch eine bessere Trennung der verschiedenen Funktionen zu ermöglichen.

Um trotz der verschiedenen Eingriffe eine homogene Außenansicht zu erhalten und dadurch auch einen wohltuenden Kontrast zum eher tristen Umfeld zu schaffen, wurde die in Stahlbauweise erweiterte Halle abschließend durch eine luftig wirkende Membran aus 5 cm dicken transluzenten Polycarbonat-Platten umhüllt. Das lichtdurchlässige Material sorgt im Verbund mit den zuvor bereits bestehenden, neu gestalteten Oberlichtern für ausreichend Tageslicht im Innenraum und lässt die Architektur je nach Tageszeit und Lichtverhältnissen als urbane, beinahe entmaterialisierte Lichtinstallation erscheinen, die bereits von außen die verschwommenen Umrisse von Nutzern und Tragstruktur der Halle erahnen lässt. Die unterschiedlich großen, an mehreren Stellen in die Hülle integrierten Rücksprünge schaffen zudem Raum für witterungsgeschützte Nischen. Dies betont zusammen mit größeren, leicht zurückliegend eingelassenen Fenstern, verschiebbaren Torelementen, Spielfeldböden aus Asphalt und den sowohl von Nutzern als auch etablierten Künstlern gestalteten Graffitis den programmatisch gewünschten fließenden Übergang zwischen innen und außen: »Der Raum fungiert so gewissermaßen als Street Inside«, bringt Ulrik Mathiasson das Konzept auf den Punkt.

Freigehaltene Fläche

Ähnlich offen und luftig präsentiert sich auch der insgesamt 3 170 m² große Innenraum der Halle mit seinem vorhandenen Betonboden sowie den neu eingefügten Box-in-Box-Einbauten aus recyceltem und unbehandeltem Holz. Im Bestand des eingeschossigen Verwaltungsriegels an der Südseite wurden ein Bürotrakt, ein separater Mitarbeitereingang sowie eine Holz- und eine Metallwerkstatt integriert, das darauf aufgestockte neue Geschoss beherbergt ein Künstleratelier, Toiletten sowie mehrere Workshop-Räume, darunter ein Musikstudio für DJ-Aufnahmen, ein Animationsstudio und eine bestens ausgestattete FabLab-Werkstatt. Die neu hinzugewonnenen Flächen in Richtung Norden haben die Planer demgegenüber genutzt, um einen fließend nach außen geöffneten, dabei teilweise überdachten und rund um die Uhr zugänglichen Bereich für Skateboard-Aktivitäten zu schaffen.

Durch die hinzugewonnene Fläche in den Randbereichen war die der Halle selbst weitgehend freigeblieben, sodass die Planer hier große zusammenhängende Plätze für Street-Basketball im östlichen Bereich sowie abwechslungsreich gestaltete Hindernisse für Parkour- und Trial-Akteure im westlichen Teil unterbringen konnten. Komplettiert wird der Raumeindruck durch neu eingefügte Tribünenelemente aus Holz sowie einen mittig in die Halle eingestellten zweigeschossigen Box-in-Box-Einbau, der neben einem großen Tanzsaal in der oberen Ebene auch einen lässigen Aufenthaltsbereich bereithält. Die Möbel hierfür wurden teilweise durch die Nutzer selbst angefertigt. Zur Temperierung des Gebäudes auf 16 (Halle) bzw. 21°C (Büros und ­Studios) im Winter wurde eine konventionelle Heizungsanlage eingebaut.

Eingesparte Mittel

Im Zusammenspiel der verschiedenen Elemente und unter bestmöglicher Weiternutzung des Bestands sowie der vor Ort gewonnenen und teilweise recycelten Materialien haben die Planer einen überaus robusten, dabei flexibel nutzbaren Raum geschaffen, an dem sich die Jugendlichen zwanglos treffen können und unterschiedliche Talente erfahren und ausleben können. Interessant dabei: »Trotz der hohen Funktionalität und der außergewöhnlich großen Nachfrage liegen die Kosten mit rund 2 Mio. Euro lediglich bei einem Drittel von herkömmlich errichteten Sporthallen«, wie Ulrik Mathiasson anmerkt.

Um das Projekt noch enger an die Stadt anzubinden, planen die Verantwortlichen gegenwärtig einen neuen Fußgänger- und Radweg in Richtung Zentrum und Bahnhof. Mittelfristig ist außerdem vorgesehen, auch die Nachbarge­bäude sukzessive einer neuen Nutzung zuzuführen und so einen jungen, extrovertierten neuen Stadtteil zu entwickeln. Eine schöne Perspektive, die sich so oder ähnlich auch in zahlreichen anderen Kommunen umsetzen ließe: Leerstehende Industriehallen, die sehnlichst auf eine neue Nutzung warten und deren Erhalt eine Menge Grauer Energie einsparen würde, gibt es schließlich nicht nur in Dänemark. Ähnlich sah das übrigens auch die Jury des renommierten Mies van der Rohe Awards, die das Gebäude 2019 nominierte. Für Mathiasson ist das »ein schöner Erfolg, der uns dazu motiviert, unsere Ideen weiter zu verfolgen!«

db, Mo., 2019.09.16



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db 2019|09 Im Norden

08. Oktober 2018Robert Uhde
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Schillerndes Trio

In der Hamburger HafenCity ist das Projekt »Intelligent Quarters« vor Kurzem fertiggestellt worden. Das Ensemble von Störmer Murphy and Partners beinhaltet einen 18-geschossigen Büroturm, ein Wohngebäude und ein zweites, deutlich kleineres Bürogebäude. Verbindendes Element sind die schillernd weißen, mit glasierten Keramikplatten bekleideten Fassaden.

In der Hamburger HafenCity ist das Projekt »Intelligent Quarters« vor Kurzem fertiggestellt worden. Das Ensemble von Störmer Murphy and Partners beinhaltet einen 18-geschossigen Büroturm, ein Wohngebäude und ein zweites, deutlich kleineres Bürogebäude. Verbindendes Element sind die schillernd weißen, mit glasierten Keramikplatten bekleideten Fassaden.

»Intelligent Quarters«, das klingt nach Bildung, nach Forschung und nach ganz viel IQ. Und in der Tat: Als das jetzt fertiggestellte Projekt im Sommer 2010 beschlossen wurde, war neben der ECE Projektmanagement GmbH auch noch die Kühne-Stiftung für Logistik und Unternehmensführung mit an Bord, die hier ihre Kühne Logistics University (KLU) errichten wollte. Im Zusammenspiel mit der östlich direkt angrenzenden HafenCity Universität (HCU) und zusätzlich zu den ansonsten vorgesehenen Funktionen Wohnen, Arbeiten, Einzelhandel und Freizeit wäre damit ein ansehnlicher Wissenscluster entlang der Uferpromenade zwischen Magdeburger Hafen und Baakenhafen entstanden.

Klingt gut. Aber leider hatte sich die Kühne-Stiftung im weiteren Verlauf für einen anderen Standort entschieden. Trotz der somit veränderten Planung wurde das Projekt weiter unter gleichem Namen verfolgt. Und nach Fertigstellung erweist es sich als deutlicher Gewinn für den Standort: Nach dem Entwurf von Störmer Murphy and Partners – der sich 2011 in einem europaweit ausgeschriebenen Wettbewerb u. a. gegen Vorschläge von Bjarke Ingels und Bothe Richter Teherani durchgesetzt hatte –, ist ein städtebaulich gut integriertes Ensemble mit vielfältigem Funktions-Mix gelungen, das sich mit seinen weißen Keramikfassaden trotz dreier völlig unterschiedlicher Baukörper als homogene Einheit präsentiert und das überdies durch eine hohe Aufenthaltsqualität des öffentlichen Raums überzeugt.

Markant gestaltetes Ensemble

Zentraler Blickfang des für eine Summe von rund 150 Mio. Euro errichteten Quartiers ist der zur Hafenkante in Richtung Südwesten orientierte Büroturm »Watermark«, der mit seiner charakteristischen Silhouette und der bau­rechtlich maximal ausgenutzten Höhe von 70 m eine weithin sichtbare Landmarke innerhalb der HafenCity schafft: »Auf 18 Ebenen stehen hier insgesamt 16 000 m² Büroflächen mit weitem Panoramablick über Hamburg zur Ver­fügung«, erklärt Jan Störmer. Vor Jahren hatte der Architekt mit seinem Büro bereits die Deutschlandzentrale von Kühne + Nagel am Großen Grasbrook und das mittlere Baufeld des Germanischen Lloyds am Brooktorkai hier in der HafenCity geplant. Ähnlich stark auf den Ort bezogen präsentieren sich jetzt auch die Intelligent Quarters mit ihrer spannungsreichen Anordnung, ihrer markanten Höhenstaffelung und den vielfältigen Sichtachsen, die zwischen den Gebäuden entstanden sind. Ein charakteristisches Gestaltungselement des Büroturms sind insbesondere die streng gerasterten Fassaden mit ihren schlanken Fenstern, die die Höhe des Gebäudes betonen. Geschickt aufgebrochen wird die Symmetrie wiederum durch den trapezförmigen Grundriss sowie durch die dynamische Struktur des Baukörpers mit den subtil ­gegeneinander verschobenen und teilweise leicht vorkragenden Geometrien.

Nördlich angrenzend an den Büroturm – und mit seiner Längsfront parallel zur Überseeallee ausgerichtet –, greift das Wohngebäude »Freeport« mit einer Höhe von 30 m die Traufhöhe der umliegenden Bebauung auf und schafft dabei ein klug kalkuliertes optisches Gegengewicht zum hochgewachsenen Büroturm. Auf neun Ebenen haben die Planer hier 46 hochwertige Eigentumswohnungen mit Flächen zwischen 60 und 220 m² umgesetzt. Die flächenbündig eingelassenen horizontalen Fensterbänder sowie die deutlich vorkragenden Loggien nach Osten und Süden ermöglichen dabei eine maximale Aussicht aufs Wasser. Komplettiert wird das Trio durch das sich weiter östlich anschließende siebengeschossige Gebäude »Shipyard«, das zusätzlich 7 800 m² Büroflächen bereitstellt. Ein markantes Detail sind hier die spitz zulaufenden, nach Norden hin oberhalb des Sockels regelrecht nach innen »eingeklappten« Gebäudelinien, die einen gelungenen Bezug zur expressiven Architektur der direkt nebenan gelegenen HafenCity Universität schaffen.

Eine Tiefgarage mit 390 Pkw-Stellplätzen ist für die drei Gebäude zur gemeinsamen Nutzung vorgesehen, der momentan noch nicht komplett fertiggestellte, auf Straßenniveau gelegene Quartiersplatz im Übergang zur HCU, soll demnächst mit Restaurants, Cafés und Geschäften in den Sockelgeschossen bespielt werden. Eine große, öffentlich nutzbare Terrasse ermöglicht dabei einen fließenden Übergang zwischen Platzniveau und Uferpromenade. Im Zusammenspiel der verschiedenen Elemente ist den Planern damit ein würdiger Abschluss der Hafenkante mit attraktiven Außenräumen und vielfältigen Bezügen zwischen Land und Wasser gelungen.

Homogenes Fassadenbild

Große Bedeutung für den Charakter der Bebauung hat die einheitliche Materialsprache des Trios: »Um trotz der unterschiedlichen Nutzungen und der stark variierenden Gebäudekubaturen ein eigenständiges und wiedererkennbares Ensemble mit homogenem Charakter und eigener Identität zu erhalten, war es uns wichtig, alle drei Gebäude mit einer einheitlichen Fassadenbekleidung auszubilden«, so Jan Störmer.

Bereits im Wettbewerb hatten sich die Architekten auf die Umsetzung einer vorgehängten, hinterlüfteten Konstruktion mit weiß glasierten Terrakottafliesen festgelegt: »Die je nach Blickwinkel und Wetterlage unterschiedlich stark schimmernden Tafeln schaffen nicht nur eine sichtbare Verbindung zum weiß verputzten Baukörper der benachbarten HafenCity Universität, sie schreiben auch die jahrhundertealte Tradition von Hamburg als weißer Stadt fort«, erklärt Störmer. »Am ­deutlichsten ist dieser Charakter noch in Stadtteilen wie Eppendorf oder Harvesterhude erlebbar. Die Umsetzung der großen, heute so stadtbildprägenden Backsteinbauten erfolgte dagegen erst im 20. Jahrhundert unter Oberbaudirektor ­Fritz Schumacher«.

Neben ästhetischen und städtebaulichen Aspekten sprachen v. a. bautechnische und bauphysikalische Gründe für den Einsatz von Keramik: Die Platten werden nach dem Schneiden glasiert und dann ähnlich wie Porzellan ein zweites Mal bei hohen Temperaturen gebrannt, um die hochwertigen Glasuren zu erhalten: »Sie haben daher eine extrem geringe Wasseraufnahme, sodass oberflächlicher Schmutz beim nächsten Regen einfach abgewaschen wird und die Flächen damit dauerhaft ihre helle freundliche Farbigkeit behalten«, beschreibt Jan Störmer.

Fliesen-Sonderanfertigung

Weitere Vorteile der feuerbeständigen Platten sind das vergleichsweise geringe Gewicht aufgrund der brandtechnisch nötigen Luftkammern in den einzelnen Elementen, die einfache Handhabung sowie die große Vielfalt an Platten- und Elementformaten, die die Ausbildung unterschiedlicher Details erlaubte. Entsprechend wurden sämtliche Elemente durch das Unternehmen NBK Keramik aus Emmerich als Sonderanfertigung in individuell vorgegebenen Abmessungen produziert: »Das Grundmaß beträgt dabei 1,35 x 0,6 m, alternativ kamen auch Breiten von 0,3 bzw. 0,8 m zum Einsatz. Zudem konnten viele Formteile und Sondermaße umgesetzt werden«.

So waren besonders schmale Elemente für die Ausbildung der Rasterfassade des Büroturms erforderlich. Der unregelmäßige Wechsel von zwei unterschiedlich großen, jeweils plastisch ausgeformten Lisenen-Elementen sowie die Einfassung von jeweils zwei Geschossen durch unterschiedlich breite Brüstungselemente betont dabei den dynamisch-bewegten Charakter der Fassade. Für die Stützen vor dem Eingangsbereich kamen Keramikelemente in alternativer Größe zum Einsatz. Die Fensterrahmen sowie die Fassaden des Mezzaningeschosses wurden im Kontrast mit eloxiertem Aluminium ausgeführt. Beim angrenzenden Wohnturm wurden Keramikelemente in drei unterschiedlichen Breiten gewählt und symmetrisch im Blockverband übereinander angeordnet, um die großen Fassadenflächen zu strukturieren und die horizontale Ausstrahlung des Gebäudes zu forcieren. Das wohlkalkulierte Spiel der Fugen erzeugt dabei ein ausgeprägtes Linienspiel, das sich erst aus einigen Hundert Metern Entfernung auflöst. Beim kleineren Bürogebäude wurden die Keramikelemente stattdessen versetzt angeordnet und zusätzlich auch Tafeln mit vertikaler Profilierung eingesetzt, um eine lebendige Fassadenwirkung zu erzielen.

Perspektiven für mehr Nachhaltigkeit

Die Montage der Platten erfolgte auf einer speziellen Unterkonstruktion aus Aluminium. Die im Zwischenraum integrierte Dämmung aus Steinwolle ermöglicht dabei einen hochwertigen Wärmeschutz. Zusätzlich optimiert wird die Energiebilanz der drei Gebäude durch einen reduzierten Glasanteil in der Fassade von lediglich 45 % sowie durch dreifach verglaste Fenster, die für einen optimierten Lärmschutz außerdem als »HafenCity-Fenster« mit einer oben und einer unten kippbaren Kante ausgebildet wurden. Im Verbund mit verschiedenen weiteren Maßnahmen entsprechen die Intelligent Quarters damit den Anforderungen des Umweltzeichens der HafenCity in Gold sowie des DGNB Vorzertifikats in Silber.

Eine gänzlich andere Strategie verfolgen Störmer Murphy and Partners diesbezüglich mit ihrem Wohnturm »Wildspitze«, der in den kommenden Jahren etwas weiter östlich in unmittelbarer Nähe zum neuen S-Bahnhof Elbbrücken und zum geplanten Elbtower entstehen soll. Denn mit 18 Geschossen und einer Höhe von 65 m soll das Projekt Deutschlands höchster Holzbau werden. Ein vielversprechender Ansatz für ein weiteres Plus an Nachhaltigkeit und neue Perspektiven für die HafenCity.

db, Mo., 2018.10.08



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02. Mai 2018Robert Uhde
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Grünes Wohnzimmer

Mit dem Lohsepark in der Hamburger HafenCity haben Vogt Landschaftsarchitekten einen abwechslungsreich gestalteten grünen Stadtraum geschaffen, der sich als langes Band von Wasser zu Wasser erstreckt. Das integrierte denk.mal Hannoverscher Bahnhof erinnert an die Deportation von über 8 000 Juden, Sinti und Roma.

Mit dem Lohsepark in der Hamburger HafenCity haben Vogt Landschaftsarchitekten einen abwechslungsreich gestalteten grünen Stadtraum geschaffen, der sich als langes Band von Wasser zu Wasser erstreckt. Das integrierte denk.mal Hannoverscher Bahnhof erinnert an die Deportation von über 8 000 Juden, Sinti und Roma.

Was ist nicht schon alles über die Hamburger HafenCity gesagt und geschrieben worden. Über zu viel Grün hat sich dabei noch niemand beklagt. Umso größere Bedeutung kommt deshalb dem 2017 abschließend fertiggestellten Lohsepark zu. Die 4,4 ha große Parkanlage erstreckt sich als 550 m langes und 80 m breites Band vom Ericusgraben im Norden bis zum Baakenhafen im ­Süden und schafft eine markante grüne Fuge innerhalb des extrem dicht ­bebauten Umfelds. Die topografische Staffelung, der Wechsel von offenen Rasenflächen und Elementen des klassischen Landschaftsparks sowie die ­Integration unterschiedlicher Spiel- und Sportflächen schaffen dabei ein abwechslungsreiches und vielfältig nutzbares Gesamtgefüge, das sich ganz explizit an der Tradition des Hamburger Volksparks orientiert.

Staffeln

Mit der Planung des Projekts war 2010 nach einem internationalen Wettbewerb das Büro Vogt Landschaftsarchitekten mit Sitz in Zürich, London und Berlin beauftragt worden, das auch bereits die Außenanlagen am Hauptsitz der Europäischen Zentralbank in Frankfurt a. M. realisiert hat und das ­momentan an der Planung des Areals am Tacheles in Berlin beteiligt ist: »Um die vorhandenen Raumqualitäten der extrem schmalen Grundstücksfläche ­zwischen den bereits bebauten Abschnitten der HafenCity im Westen und den noch zu bebauenden Flächen in Richtung Osten und Südosten hervorzuheben, haben wir die Idee einer freigehaltenen Mittelzone entwickelt, die von ­einer differenzierten Baumbepflanzung an den Rändern flankiert wird«, beschreibt Architekt Günther Vogt einen der zentralen Planungsgedanken.

Entstanden ist dadurch eine freie Blickachse von Nord nach Süd: »Das Wasser ist zwar nicht von jedem Standpunkt aus sichtbar, prägt aber dennoch die Raumwirkung«, so Günther Vogt. »Denn die offenen Wasserflächen durchbrechen die dicht bebaute Fassadenlandschaft und bringen ausreichend Licht und Luft in den Park.« Begleitet wird das Konzept von einer präzisen räumlichen Staffelung der Parkfläche in drei Höhenstufen: »Die in den meisten Bereichen ausgeführte Parkebene von 6,50 müNN fungiert dabei als Vermittler zwischen dem historischen Niveau von 5,50 müNN und der neuen, hochwassergeschützten Stadtebene von 8,00 bis 8,50 müNN«, erklärt Günther Vogt. Umgesetzt wird die Idee u. a. durch die vier an den Längsseiten eingefügten »Bastionen«, die als klar gefasste Landmarken und vielfältig nutzbare Terrassen das Stadt­niveau in den tiefer liegenden Park schieben und eine barrierefreie Erschließung über Zugangsrampen ermöglichen. Der projektspezifisch für die Brüstungen der Bastionen entwickelte, aus einer Wabenstruktur abgeleitete Klinkerformstein unterstreicht dabei den Wunsch nach Transparenz und Offenheit. Die Planer gestalteten außerdem eine langgestreckte Sitzbank aus mit­einander verbundenen Einzelstühlen, die sich je nach Einsatzort flexibel formen lässt und die auch bei Steigungen eine ebene Sitzfläche bereitstellt.

Ergänzt wird das Konzept durch drei »Follies«, die als Elemente des traditionellen Landschaftsparks das klassische Erscheinungsbild der Grünanlage ­unterstützen.

Neben einem Säuleneichenhain als Umgrenzung eines Streetball-Felds und einem kleinen Wald aus bekletterbaren Hainbuchen findet sich darunter auch eine »Umzäunte Wildnis« – ein kleiner »Urwald«, der als ­Experiment sich selbst überlassen werden soll. Bereichert wird das Pflanzkonzept durch Gehölze wie Lederhülsenbäume sowie durch Obstbäume in historischen Sorten, die frei geerntet werden können. Eine Bewohnerinitiative kümmert sich engagiert um die Bewirtschaftung der Bäume.

Verbinden

Als große Herausforderung bei der Planung des Projekts erwies sich die Einbindung der beiden Stirnseiten des Parks, die durch die viel befahrene Überseeallee im Süden bzw. die Stockmeyerstraße im Norden vom sonstigen Park abgetrennt werden.

Vergleichsweise einfach gestaltet sich die Situation in Richtung Ericusgraben, wo die durchgehende Blickachse in Richtung des am gegenüberliegenden Ufer aufsteigenden Ericus-Contor mit seiner markanten Torsituation eine offene Verbindung zwischen Nord und Süd schafft. Jenseits der Stockmeyerstraße trifft der Blick hier überraschend auf eine sanft abfallende Uferböschung aus Gräsern, Stauden, Röhricht und Schilf, die als ökologische Ausgleichsfläche einen gelungenen Kontrast zu den sonst mit Kaimauern gefassten Gewässern des Tidehafens schafft.

Deutlich urbaner präsentiert sich der südliche Abschnitt des Lohseparks,
der ebenso wie die direkt angrenzende HafenCity Universität bereits 2013 ­fertiggestellt worden war. Um trotz der verkehrsreichen Überseeallee einen möglichst organischen Übergang in Richtung Baakenhafen zu erreichen, ­haben die Planer mehrere Bäume auf der Mittelinsel der Überseeallee ­gepflanzt und die ansteigende Topografie des Parks weitergeführt. Der ­Brückenschlag ist ­damit fraglos gelungen, die Durchtrennung der Parkfläche bleibt aber zwangsläufig bestehen. Als zentrales Gestaltungselement integrierten die Planer außerdem eine große Freitreppe in Richtung Wasser, die den ­Höhenunterschied von 3 m zwischen Stadtebene und Uferpromenade überbrückt und gleichzeitig auch als vielfältig nutzbare Sitzgelegenheit und ­Tribüne fungiert: »Je nach Wetter können Passanten und Studierende so ganz entspannt den Sonnenuntergang über der Elbe erleben oder den regelmäßig hier stattfindenden Tanzveranstaltungen beiwohnen«, so Projektleiter ­Johannes Hügle.

Hier wie an sämtlichen anderen Stellen legten die Planer Wert auf charakteristische Materialisierungen. Ein schönes Detail ist z. B. der für die Freitreppe sowie für die angrenzende Rampenanlage verwendete Kolumba-Ziegel, der mit seinem extrem schlanken Format einen modern interpretierten Bezug zur backsteinernen Speicherstadt schafft. Einen ebenso deutlichen Bezug zum Standort zeigt das durchgehend verwendete, im Hafengebiet auch sonst überall vorhandene und überaus robuste historische Großsteinpflaster, das hier für eine verbesserte Begehbarkeit allerdings geschnitten wurde.

Um den Park zu einem »Volkspark« mit hoher Akzeptanz werden zu lassen, wurde das Projekt von Beginn an durch verschiedene Bürgerbeteiligungs­verfahren begleitet. Dabei führten die Landschaftsarchitekten auch Workshops mit Kindern durch. Ein direktes Ergebnis dieses engen Austauschs ist die 2 000 m² große, auch von den angrenzenden Kitas genutzte Kinderspielfläche. Um den Wunsch der Kinder nach Versteckmöglichkeiten aufzugreifen, entwickelten die Planer hier u. a. ein kleines Hüttendorf aus geflochtenen ­Linden. Angrenzend findet sich außerdem eine begehbare Grotte, die mit ­ihren übereinander geschichteten Ebenen aus Stampfbeton und eingearbei­teten Intarsien wie Torf, Geröll, Kiesel, Lehm oder Glas subtil das auch sonst für den Park bestimmende Thema der Topografie aufgreift.

Erinnern

Ein integraler Bestandteil des Parks ist der Lohseplatz mit seinen alten Bestandsbäumen und dem angrenzenden denk.mal Hannoverscher Bahnhof. Um einen Ort der Erinnerung an die über 8 000 Juden, Sinti und Roma zu schaffen, die zwischen 1940 und 1945 von hier aus deportiert wurden, zeichnet eine durch prismenartig gefaltete Stützwände begrenzte Fuge den ehemaligen Gleisverlauf nach und verbindet den Lohseplatz als Teil des ehemaligen Bahnhofsvorplatzes quer durch den Park mit dem historischen Bahnsteig. Dort angelangt schaffen 20 Betonwerksteintafeln mit den in Glas eingelassenen Namen der Deportierten sowie ein großer Gedenktisch einen würdevollen, gemeinsam mit Opferverbänden und Hinterbliebenen entwickelten Gedenkplatz. Verstärkt wird die besondere Atmosphäre des Orts durch eine vermeintlich ungeplante Vegetation aus Birken, Robinien und Wildrosen – Pioniergehölzen also, die sich üblicherweise auf Gleisschotterflächen verbreiten.

Trotz seiner vielfältigen stadträumlichen, sozialen und ökologischen Funktionen wirkt der Lohsepark nirgends überfrachtet, sondern überzeugt durch seine betont großzügige Gestaltung, die Kinder, Sportler, Radfahrer oder Flaneure gleichermaßen anspricht und die für ein harmonisches Miteinander ausgewiesene Bereiche für die unterschiedlichen Gruppen vorsieht. Auch der Gedenkort bleibt ganz bewusst ein optionales Angebot, das die sonstigen, eher heiteren Nutzungen nicht überlagert. Die klare Formensprache einerseits und die charakteristischen Details und Materialisierungen andererseits – ergänzt durch eine subtil eingesetzte funktionale Beleuchtung mit einfachen Bodenleuchten, Lichtstelen und Pendelleuchten –, lassen dabei eine spezifische Atmosphäre entstehen, die gelassen zwischen Ruhe und urbaner Lebendigkeit changiert. Kein Wunder also, dass der Park inzwischen nicht nur von den Anwohnern, sondern auch von Hamburgern anderer Stadtteile gerne als Treffpunkt genutzt wird; als grünes Wohnzimmer inmitten der sonst so dicht ­bebauten HafenCity.

db, Mi., 2018.05.02



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db 2018|05 Außenraum

05. März 2018Robert Uhde
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Farbe bewegt Passage

In der niederländischen Kleinstadt Zutphen ermöglichen zwei neue Bahnunterführungen die Anbindung eines neuen Stadtteils an die historische Innenstadt. Die integrierten Licht-Installationen von Herman Kuijer schaffen eine langsam fließende Choreografie aus ­farbigem Licht mit bewusst freundlicher Ausstrahlung.

In der niederländischen Kleinstadt Zutphen ermöglichen zwei neue Bahnunterführungen die Anbindung eines neuen Stadtteils an die historische Innenstadt. Die integrierten Licht-Installationen von Herman Kuijer schaffen eine langsam fließende Choreografie aus ­farbigem Licht mit bewusst freundlicher Ausstrahlung.

Der unweit der deutsch-niederländischen Grenze bei Emmerich gelegene Ort Zutphen wurde bereits während der Römerzeit als fränkische Siedlung errichtet und zählt damit zu den ältesten Städten der Niederlande. Momentan ist man in der knapp 50 000 Einwohner zählenden Kleinstadt damit beschäftigt, das nördlich vom Bahnhof gelegene Viertel Noorderhaven zu einem modernen Wohn- und Büroquartier zu entwickeln und gemeinsam mit dem angrenzenden Gewerbegebiet De Mars besser an das historische Zentrum anzubinden. Die 2007 dazu vorgestellte Masterplanung des renommierten Rotterdamer Büros KCAP umfasst auf einer Fläche von 20 ha rund 1000 Wohnungen sowie Büro- und Ladenflächen und sah außerdem den Bau zweier neuer Unterführungen vor, um so die bislang bestehenden beschrankten Bahnübergänge zu ersetzen.

Erhöhtes Sicherheitsgefühl

Mit der architektonischen Planung und technischen Umsetzung der beiden Tunnel hatte das zuständige niederländische Eisenbahninfrastrukturunternehmen ProRail 2008 im Auftrag der Stadt Zutphen das Utrechter Bauunternehmen Railinfra Solutions sowie das Maastrichter Architekturbüro Maurer United Architects beauftragt. Im Sommer 2013 konnte daraufhin mit den Erdarbeiten begonnen werden, im November 2015 erfolgte die Fertigstellung: Der von Architekt Mari Baauw vom Büro Royal HaskoningDHV – einer 100-prozentigen Tochter von Railinfra Solutions – entwickelte Marstunnel schafft westlich vom Bahnhof eine direkte Verbindung zwischen Nord und Süd und integriert dabei zwei unterschiedlich hoch gelegene Fahrbahnen für Autofahrer bzw. Fußgänger und Radfahrer. Der deutlich kleinere, durch den Architekten Marc Maurer geplante »Kostverloren-Tunnel« – benannt nach einem militärisch bedeutsamen Rondell bei der historischen Niederlage der Niederländer gegen die Spanier im Jahr 1583 –, ermöglicht östlich vom Bahnhof eine attraktive Passage für Fußgänger- und Radfahrer.

»Eigentlich sind die beiden Tunnel herkömmliche Bauwerke aus Beton«, erklärt Peter Kelder, Projektleiter der Stadt Zutphen. »Aufgrund der hohen städtebaulichen Bedeutung der Unterführungen als Scharnier zwischen Alt und Neu hatten wir aber schon frühzeitig die Integration zweier Lichtinstallationen beschlossen, um so neben einer hochwertigen Ästhetik und einer verbesserten Orientierung auch ein erhöhtes Sicherheitsgefühl der Bürger beim Durchfahren der Tunnel zu erreichen.«

Überraschende Perspektiven

Den Auftrag zur Umsetzung hatte 2010 nach einer Empfehlung der städtischen Kunstkommission der renommierte Amsterdamer Lichtkünstler Herman Kuijer erhalten. Kuijer hat in den vergangenen drei Jahrzehnten zahlreiche große Lichtinstallationen im öffentlichen Raum realisiert und ermöglicht mit seinen Arbeiten häufig überraschende Perspektiven auf Architektur und Stadt. Für das Projekt in Zutphen entwickelte er ausgehend von den Anforderungen der Stadt zwei physisch erlebbare und gleichzeitig immateriell bewegte Installationen mit subtil sich verändernden Farbverläufen, die jeweils über ein LED-Steuerpult mithilfe der Lichtsteuerungssoftware Madrix betrieben werden.

»Licht ist nur sichtbar, wenn es irgendwo auftrifft, wenn es also eine Struktur gibt, die das Licht organisiert«, erklärt Herman Kuijer. »Um Lichtkunst, ­Architektur sowie funktionale Anforderungen als Einheit zu planen, habe ich deshalb von Beginn an intensiv mit den beteiligten Architekten Mari Baauw und Marc Maurer sowie den Vertretern der Stadt zusammengearbeitet und außerdem den erfahrenen Lichtingenieur Nico de Kruijter hinzugezogen.« Ausgehend von intensiven Vorplanungen sowie zahlreichen Tests und ­Messungen entstanden schließlich zwei individuell auf den jeweiligen Kontext zugeschnittene, aus vorgefertigten Betonelementen errichtete Raumstruk­turen, die vor Ort durch verdeckt angeordnete, in Position und Ausrichtung exakt berechnete LED-Armaturen mit insgesamt 1000 Leuchten illuminiert werden.

Eindrucksvoll in Szene gesetzt werden die beiden mittlerweile auch als Apple-Werbung zum Zuge gekommenen Installationen durch eine aufwendig programmierte Lichtchoreografie, die mit verbindlich ausgewählten Vorgaben zu Farben, Farbverläufen und zur Wechselgeschwindigkeit beinahe unmerkliche Farbverwandlungen und -überlagerungen auf Abschnitten von jeweils mehreren Betonelementen erzeugt: »Ganz wichtig war mir dabei, dass das Licht niemals gleich ist, sondern dass die Farbzusammensetzung zufällig erfolgt und somit bei jeder Durchwegung eine andere ist«, so Herman Kuijer.

Integrierte Funktionsbeleuchtung

Anders als bei vergleichbaren Projekten war es in Zutphen möglich, das Funktionslicht von vornherein in die Installation zu integrieren, sodass die Ausdruckskraft nicht durch zusätzliche Funktionsleuchten gestört wird. Im Ergebnis wird so eine Klarheit und Reduktion erreicht, die spontan an Arbeiten von James Turrell oder Dan Flavin denken lässt. Da andererseits nur wenig natürliches Licht in die Tunnel dringt, sind beide Lichtprogrammierungen entsprechend auch den Tag über eingeschaltet – »und das sogar deutlich stärker als während der Dämmerung, um so eine für das menschliche Auge durchgehend gleichbleibende Helligkeit zu ermöglichen«, wie Herman Kuijer erklärt. »Bei Dunkelheit beträgt die Lichtstärke dem subjektiven optischen Eindruck zum Trotz sogar lediglich etwa 10 % der am Tag eingesetzten Lichtstärke.«

Der Vergleich beider Unterführungen lässt wie gesehen zahlreiche Gemeinsamkeiten erkennen. Im Marstunnel entsteht die Farbigkeit jedoch allein durch die gewählte Lichtfarbe, im Kostverloren-Tunnel sind zusätzlich auch die Längs- und Kopfseiten der hier vielschichtig ausgeführten Wand- und ­Deckenelemente in Teilen farbig gestrichen, sodass das Licht hier intensiver erscheint. Zudem kamen hier matte Keimfarben zum Einsatz, die eine verbesserte Farbwiedergabe ermöglichen und die sich bei Graffitis leicht überstreichen lassen. Ein charakteristisches Element im Marstunnel ist stattdessen die mittig integrierte Stützenreihe, die eine Art Lichtarkade zwischen den beiden unterschiedlich hoch gelegenen Fahrbahnen schafft. ­Zusätzliche Attraktivität bietet hier die von Architekt Mari Baauw aufwendig als Oktopus gestaltete Südzufahrt mit ihrer dynamisch ausholenden Streckenführung und der schwarz verklinkerten Einfassungsmauer, die von der Innenstadt her kommend einen dunklen cinemascope-artigen Rahmen für die ­dahinter beginnende Lichtinstallation schafft.

Bezug zum Fluss IJssel

Als wichtigen inhaltlichen Bezugspunkt für seine Lichtinstallation erwähnt Herman Kuijer die Wellenbewegung des unmittelbar an die Altstadt angrenzenden Flusses IJssel: »Im Fortschreiten von Licht und Farbe wird so auf meditative Weise die Beziehung von Zeit und Raum erlebbar«, so der Lichtkünstler. Wer sich auf dieses Assoziationsfeld einlässt, dem wird schnell bewusst, dass sich die beiden Tunnel an Orten befinden, die ohne Eingriff des Menschen tief unter Wasser lägen. Für Unruhe sorgt dieser Gedanke jedoch nicht, im Gegenteil: Wenn man die Passanten nach ihrem persönlichen Eindruck befragt, stößt man v.a. auf freudige Überraschung. Für die sonst so oft in Unterführungen spürbare Beklemmung bleibt da gar keine Zeit mehr.

db, Mo., 2018.03.05



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db 2018|03 Tag und Nacht

02. Juni 2017Robert Uhde
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Offenes Quartierswohnzimmer

Im Amsterdamer Stadtteil Slotervaart wurde eine leer stehende Schule in einem partizipatorischen Planungsprozess in ein lebendiges Stadtteilzentrum verwandelt. Aus der ehemaligen Sporthalle wurde dabei ein multifunktional nutzbares »Foyer«, das sich über große Tore zum Stadtteil hin öffnen lässt. Ein cleveres, ressourcenschonendes Low-Budget-Projekt, bei dem Abbruchmaterialien anderer Gebäude wiederverwendet wurden und ein sozialer Brennpunkt entschärft wurde.

Im Amsterdamer Stadtteil Slotervaart wurde eine leer stehende Schule in einem partizipatorischen Planungsprozess in ein lebendiges Stadtteilzentrum verwandelt. Aus der ehemaligen Sporthalle wurde dabei ein multifunktional nutzbares »Foyer«, das sich über große Tore zum Stadtteil hin öffnen lässt. Ein cleveres, ressourcenschonendes Low-Budget-Projekt, bei dem Abbruchmaterialien anderer Gebäude wiederverwendet wurden und ein sozialer Brennpunkt entschärft wurde.

Im Südwesten von Amsterdam wurde seit Beginn der 60er Jahre das bereits in den 30er Jahren durch den Stadtplaner Cornelis van Eesteren konzipierte Quartier Slotervaart als Stadterweiterung aus dem Boden gestampft. Seit den 90er Jahren hatte sich das Viertel durch wachsende Migration und die sukzessive Schließung sozialer Einrichtungen zunehmend zu einem sozialen Brennpunkt entwickelt. Zu den Hot Spots zählte seinerzeit auch die Schule Ru Paré, benannt nach dem Pseudonym der Widerstandskämpferin Henrica Maria ­Paré, die während der deutschen Besatzung der Niederlande im Zweiten Weltkrieg 52 jüdischen Kindern das Leben gerettet hatte.

Nach dem Umzug der Schule in den 2013 direkt nebenan nach Plänen von Marlies Rohmer fertiggestellten Neubau »Het Meervoud« stand das erst 1991 in schlichter funktionaler Architektur mit roten und gelben Klinkerfassaden errichtete Gebäude einige Monate leer und wurde in einem partizipativen ­Planungsprozess zu einem lebendigen Stadtteilzentrum umgenutzt: In der ­Ru Paré Community erhalten die Bewohner des Viertels nach dem Prinzip der Nachbarschaftshilfe wahlweise Computerkurse, Sprachunterricht oder Beratung in Steuer- und Mietsachen und leisten dazu im Gegenzug andere ­gemeinnützige Dienste. Zusätzlich haben Künstler, kleinere Unternehmen oder soziale Organisationen wie eine Flüchtlingshilfe, ein Repair Café und ein Resozialisierungsprojekt für straffällig gewordene Jugendliche die Möglichkeit, günstige Büros anzumieten. Ergänzt wird das durch den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung EFRE geförderte, ansonsten aber finanziell eigenständige Projekt durch die Vermietung von Flächen an profitable ­Start-ups sowie durch die Bereitstellung von Ausbildungsplätzen, als Koch oder z. B. Elektriker.

Partizipatorischer Planungsprozess

Ausgangspunkt der Planung war die Initiative des Sozialunternehmers Hans Krikke, der in Reaktion auf die umfangreichen Sparmaßnahmen im Sozialbereich die Stiftung »Samen Ondernemen« Amsterdam gründete, um jenseits von staatlicher Bürokratie und Bevormundung das Zusammenleben der ­Anwohner im Quartier zu stärken. Auf der Suche nach einem Standort war der Unternehmer schnell auf die leer stehende Schule gestoßen. Auf Basis ­eines anschließend ausgeschriebenen Ideenwettbewerbs zur Umnutzung des ­Gebäudes wurde das vor Ort ansässige Architekturbüro BETA eingeladen und in Zusammenarbeit mit Architektin und Urbanistin Elisabeth Boersma vom Rotterdamer Büro plan B beauftragt, das Gebäude mit einem begrenzten Budget von 575 000 Euro zum Sitz der Stiftung und zum offenen Stadtteil­zentrum umzuwandeln.

»Ausgehend vom Wunsch der Stiftung nach einer möglichst hohen Akzeptanz der Anwohner hatten wir im Vorfeld der Planung zunächst mehrere ­Veranstaltungen und Workshops mit Bewohnergruppen, Pflegedienstleistern, Sozialarbeitern, Künstlern und Jungunternehmen aus dem Viertel organisiert«, berichtet Projektarchitekt Auguste van Oppen vom Büro BETA. »In ­einem gemeinsamen Prozess konnten wir so unterschiedliche Ideen von ­unterschiedlichen Akteuren in das Projekt einfließen lassen und sie zum ­‘Miteigentümer‘ des Entwurfs machen.« Im Rahmen der Treffen wurde u. a. der Nachbarschaftsverein KlusLab gegründet, der später am Umbau der Schule beteiligt war und der gemeinsam mit Studierenden der Fachhoch­schule Amsterdam ein sogenanntes »urban mining project« durchgeführt hat, um Restmaterialien dreier zum Abbruch bestimmter Wohngebäude aus der Nachbarschaft aufzulisten und zur Reduzierung von Kosten und Energie­verbrauch für den Umbau wiederzuverwenden.

»A new kid on the block«

Im Rahmen der Planung standen die Architekten zunächst vor der Frage, die Grundrisse des dreigeschossigen Gebäudes mit seinen vielfach vorgeschobenen, verglasten Erkern für die neue Nutzung zu adaptieren. Die vorhandenen, über einen zentralen Innenhof erschlossenen ehemaligen Klassenzimmer ­ließen sich vergleichsweise unkompliziert zu offenen Büroeinheiten umfunktionieren. Als bauliche Maßnahmen erfolgten hier lediglich die zusätzliche Wärmedämmung der Fassaden sowie der Einbau neuer doppelt verglaster Fenster, um so die hohen Nebenkosten zu senken. »Diese Umbauten haben bereits einen großen Teil des Budgets aufgebraucht, entsprechend war es eine ziemliche Herausforderung, wirkliche architektonische Eingriffe zu realisieren«, berichtet Evert Klinkenberg, der vor der Gründung des Büros BETA bei Herzog & de Meuron gearbeitet und am Lehrstuhl von Gigon & Guyer an der ETH Zürich Entwurf unterrichtet hat.

Deutlich schwieriger gestaltete sich die Umnutzung der in Richtung Südosten in den oberen beiden Ebenen diagonal in den Quader integrierten, bislang ­lediglich durch zwei Glasbausteinflächen geöffneten Sporthalle der Schule: »Um eine schlüssige Gesamtlösung für das Gebäude zu entwickeln und gleichzeitig eine neue Zugangssituation zu schaffen, haben wir vorgeschlagen, den mehr als 7 m hohen »Beletage-Raum« zu einem luftigen Foyer mit Sitzgelegenheiten, Tresen und einer kleinen Bühne umzuwandeln«, beschreibt van Oppen. Das vormals auf der Fassade aufgebrachte Mosaik des Künstlers Hugo Kaagman wurde dabei dokumentiert, um später an anderer Stelle eingefügt zu werden. Aus Kostengründen und als Reminiszenz an die vormalige Nutzung ist der alte Boden der Sporthalle mit den Spielfeldmarkierungen erhalten ­geblieben.

Einen massiven baulichen Eingriff erforderte hingegen der Einbau von vier mittig in die Front eingefügten, senkrecht nach oben verfahrbaren Garagen-Sektionaltoren, mit deren Hilfe sich der zweigeschossige Raum den Sommer über je nach Witterungsverhältnissen per Knopfdruck vollständig öffnen lässt. Um einen unmittelbaren Kontakt zum Viertel herzustellen und eine ­direkte sowie barrierefreie Erschließung des »Stadtteilwohnzimmers« über den ehemaligen Schulhof zu ermöglichen, ergänzten die Architekten außerdem eine Stahltreppe, einen mit Gitterrosten ausgeführten Balkon zum Vorplatz sowie einen Aufzug zur barrierefreien Erschließung. Der ehemalige Schulhof ist inzwischen mit gemeinschaftlich gepflegten Grünflächen als ­öffentlicher Platz für die Nachbarschaft gestaltet worden.

Zusätzliches Zwischengeschoss

Als weiterer wichtiger baulicher Eingriff wurde die bestehende Tragkonstruktion der Halle durch zwei Stahlstützen und zwei Stahlträger ergänzt, um so ein zusätzliches Zwischengeschoss in den Raum einfügen zu können und damit eine optimierte Wirtschaftlichkeit des Projekts zu erreichen. Auf der neu ­hinzugewonnenen Fläche haben die Planer fünf ausrangierte Gewächshäuser ­eines Gartenbaubetriebs in Delft als verglaste Haus-in-Haus-Büros integriert: »Die Einheiten bieten attraktive Adressen für soziale und kreative Start-up-Unternehmen und stellen gleichzeitig gemeinschaftlich nutzbaren Raum zum Co-Working zur Verfügung«, so van Oppen. »Architektonisch brechen sie ­zudem den eher geschlossenen Charakter des Gebäudes auf und sorgen für attraktive Blickachsen und Perspektiven.«

Die Erschließung der fünf Einheiten erfolgt über fünf Öffnungen in der Zwischenfassade und dort ­jeweils eingefügte Brücken aus Gitterrosten. Komplettiert wird das Projekt durch den Einbau einer neuen Heizungsanlage sowie einer neuen Anlage zur Entlüftung. Weitere Umbau- und Sanierungsmaßnahmen haben Architekten und Bauherr bewusst zurückgestellt: »Aufgrund des knappen Budgets haben wir uns zunächst auf das Notwendigste beschränkt. Weitere Maßnahmen können dann später erfolgen.« Das Ergebnis des Umbaus überzeugt dennoch – oder gerade deshalb: Denn es ist den Architekten gelungen, den an sich völlig banalen Bau mit gezielten und überraschenden Eingriffen zu ­einem vorbildlichen Gemeinschaftsprojekt umzuwandeln, das beispielhaft neue Wege für Umnutzung, Partizipation, Quartiersarbeit, Start-up-Förderung und Nachhaltigkeit aufzeigt. Die vorhandene Struktur der Schule mit den zum Innenhof verglasten ehemaligen Klassenräumen hat sich dabei als geradezu ideal erwiesen, um den Anspruch der Stiftung nach Transparenz und Offenheit architektonisch umzusetzen. Im direkten Austausch der unterschiedlichen Nutzer ist eine ­lebendige Atmosphäre entstanden, die Raum zum kreativen Arbeiten schafft und die gleichzeitig einen bewusst niederschwelligen Ort zum Zusammenkommen unterschiedlicher Nutzer bietet. Ein Projekt also, das dringend zur Nachahmung aufruft!

db, Fr., 2017.06.02



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db 2017|06 Anders bauen

10. Januar 2017Robert Uhde
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Gekonnt kombiniert

Im Stadthafen von Münster ist vor Kurzem das Bürogebäude H7 fertiggestellt worden. Der siebengeschossige in großen Teilen vorgefertigte Holz-Hybrid-Bau von ­Architekt Andreas Heupel überzeugt durch seine Materialkombinationen, nicht zuletzt an seiner differenziert gestalteten Gebäudehülle aus Glas und grün glasierten Keramikelementen.

Im Stadthafen von Münster ist vor Kurzem das Bürogebäude H7 fertiggestellt worden. Der siebengeschossige in großen Teilen vorgefertigte Holz-Hybrid-Bau von ­Architekt Andreas Heupel überzeugt durch seine Materialkombinationen, nicht zuletzt an seiner differenziert gestalteten Gebäudehülle aus Glas und grün glasierten Keramikelementen.

Im Stadthafen von Münster ist vor Kurzem das Bürogebäude H7 fertiggestellt worden. Der siebengeschossige in großen Teilen vorgefertigte Holz-Hybrid-Bau von ­Architekt Andreas Heupel überzeugt durch seine Materialkombinationen, nicht zuletzt an seiner differenziert gestalteten Gebäudehülle aus Glas und grün glasierten Keramikelementen.

Der Werkstoff Holz galt unter Architekten bis vor wenigen Jahren vorrangig als Nischenprodukt für Romantiker und Naturverbundene. Das hat sich mittlerweile geändert. Durch steigende Anforderungen an den Klimaschutz sowie durch technische Innovationen wie den Verbund mit Stahlbetonelementen wird Holz mittlerweile auch immer häufiger als tragendes Material im Mehrgeschossbau eingesetzt. Ein aktuelles Beispiel ist das soeben bezogene Bürogebäude H7 in Münster, das mit seiner Höhe von 25 m das höchste Gebäude in Holz-Hybridbauweise in Nordrhein-Westfalen ist.

Das nach Plänen des vor Ort ansässigen Architekten Andreas Heupel errichtete Projekt integriert auf sieben Ebenen 12 getrennt vermietbare Einheiten mit einer Gesamtfläche von 4 500 m². Die Nutzer profitieren nicht nur von der attraktiven Lage inmitten des florierenden Stadthafens mit seiner kleinteiligen Mischung von Gastronomie, Kultur, Büros und Dienstleistungen, sondern ihnen steht auch eine flexibel adaptierbare Arbeitsumgebung für unterschiedliche Anforderungen zur Verfügung.

Eigenständiger Vermittler

Um die Lage des Grundstücks am südlichen Ufer des Hafenbeckens optimal zu nutzen, öffnen sich die beiden Stirnseiten des Gebäudes großflächig mit Glasfassaden zur Umgebung. Die nach außen ablesbaren, mit Aluminiumprofilen bekleideten Geschossdecken und Stützen lassen dabei auf den ersten Blick die Struktur des Gebäudes erkennen. Deutlich geschlossener präsentieren sich die beiden Fassaden in Richtung Osten und Westen, die mit ihrer überaus differenzierten Gestaltung aus grün glasierten Keramikpaneelen auf die dicht angrenzende Nachbarbebauung reagieren.

Die horizontale Reliefstruktur der jeweils 135 x 50 cm großen, in drei unterschiedlichen Grüntonen eingesetzten Keramikmodule und die spannungsreiche Anordnung und ­Untergliederung der Flächen lässt dabei ein ­lebendiges Fassadenbild entstehen, das je nach Tageslicht und Witterung von unterschiedlichen Reflexionen geprägt wird.

Zusätzliche Spannung erhält der Entwurf durch seine unregelmäßige, durch mäandrierende Lisenen betonte Höhenstaffelung. Die abgetreppte Gebäudekubatur ermöglichte die Schaffung von Dachterrassen in den oberen Ebenen und sorgt gleichzeitig dafür, die Abstandsflächen zu den benachbarten Gebäuden einzuhalten. Darüber hinaus greift das abwechslungsreich ­modellierte Volumen geschickt die extrem heterogene ­Architektur am Standort auf und vermittelt dabei überzeugend zwischen den benachbarten Gebäuden.

Nachhaltigkeit als Programm

Ausgangspunkt der Planung war der Wunsch der Bauherrengesellschaft nach einem modern detaillierten Bürogebäude mit maximaler Flexibilität und ­minimiertem Energie- und Ressourcenverbrauch, das u. a. auch als repräsentativer Firmensitz für den Ankermieter SuperBioMarkt fungieren sollte. Im engen Austausch mit dem auf Basis bisheriger Referenzen direkt beauftragten Architekten Andreas Heupel entstand daraus das Konzept, das Gebäude mittig zu unterteilen und sämtliche Einheiten an einen zentralen Versorgungs- und Erschließungskern – von Westen her, über eine doppelgeschossige Eingangshalle erreichbar – anzubinden. Der nördliche Teil des EG sowie die über eine interne Treppe verbundenen Ebenen zwei und drei stehen dabei als Hauptsitz für SuperBioMarkt zur Verfügung, auf Ebene vier hat sich u. a. das Architekturbüro Heupel mit seinen 22 Mitarbeitern eingerichtet. Komplettiert wird das Raumprogramm durch eine Tiefgarage mit 66 PKW-Stellflächen, durch 28 weitere Stellplätze in einer in die Gebäudekubatur eingefassten Außenfläche nach Süden sowie durch zusätzliche Fahrradstellplätze. Schon zu Beginn der Planung stand fest, das Projekt aus Gründen der Nachhaltigkeit in Holzbauweise auszuführen: »Durch die Verwendung von vorgefertigten Holzelementen im Verbund mit Stahlbetonelementen war es uns dabei möglich, die für Nordrhein-Westfalen landesbaurechtlich zugelassene Grenze von drei Geschossen zu überschreiten«, erklärt Andreas ­Heupel. ­Erfahrungen mit dieser Bauweise hatten bis dahin weder Architekt noch Bauherr vorzuweisen. Als Referenzobjekt für den Neubau diente deshalb der von Architekt Hermann Kaufmann als achtgeschossiger Holz­hybrid ausgeführte LifeCycle Tower (LCT) im österreichischen Dornbirn.

Um das vergleichbar aufgebaute Projekt in Münster erfolgreich planen und umsetzen zu können, wurde neben dem international renommierten und für die Konzeptentwicklung des LCT mitverantwortlichen Ingenieurbüro Ove Arup auch das mit Holzhybrid-Bauten erfahrene Bauunternehmen Brüninghoff hinzugezogen, das den größten Teil der notwendigen Bauteile sowohl vorgefertigt als auch auf Basis einer umfangreichen Logistikplanung mittels BIM auf die Baustelle geliefert hat. »Der Umgang mit transparenten und schnell verfügbaren Termininformationen hat sich insbesondere bei den ­hybriden Fertigteilen bewährt«, erklärt Andreas Heupel. Trotz der dicht bebauten und schwer zugänglichen Grundstückslage am Wasser konnte der Neubau so innerhalb von nur 18 Monaten realisiert werden.

63 mm mehr

Eine besondere Herausforderung stellte die Statik des Gebäudes in Bezug auf den Nachweis des konstruktiven Brandschutzes dar. Entsprechend den gesetzlichen Anforderungen mussten zunächst sämtliche tragenden Wände und Stützen in der Tiefgarage und im EG in konventioneller Stahlbetonbauweise umgesetzt werden. In einem weiteren Schritt wurde anschließend der zentrale Erschließungs- und Versorgungskern in Kletterbauweise mit Stahlbeton ­ausgebildet. Ebenso wurden in den verschiedenen Ebenen des Gebäudes massive Stahlbetonstützen und Stahlbetonträger mit einer Spannweite von jeweils 8,10 m integriert.

Komplettiert wird die Stahlbetonkonstruktion, die sich als mittig ange­­ordnetes Rückgrat des Gebäudes über die ganze Höhe erstreckt, durch beid­seitig eingesetzte Holz-Beton-Verbunddecken auf sämtlichen Ebenen. Unter 5,89 x 2,68 m große und 12 cm dicke Stahlbetonplatten, die aus logistischen Gründen in unmittelbarer Nähe zur Baustelle gegossen wurden, sind 5,85 m­ ­lange, 24 x 26 cm dicke, weiß lasierte Balken aus Fichtenholz ­verschraubt. »Die Holzbalken sorgen in diesem effektiven Verbund für die ­Abtragung der Zugkräfte, die auf der Stützenkonstruktion aufliegenden Betonelemente nehmen demgegenüber v. a. die Druckkräfte auf«, erklärt Projektleiter Jens Marquard das Prinzip. Als Nachteil der leichten Deckenkonstruktion ergab sich lediglich eine verminderte Trittschalldämmung, die aber durch einen in sämtlichen Ebenen durchgehend verlegten Teppichboden kompensiert wird.

Ein weiteres wichtiges statisches Element sind die im Bereich der beiden Längsfassaden im durchgängigen Gebäuderaster von 1,35 m ausgeführten Wandstützen aus Holz. Zusammengefasst in jeweils 8,10 m ­lange Fassadenelemente wurden sie wie die Deckenele­mente komplett vorgefertigt und werkseitig bereits weiß ­lasiert angeliefert. Gemeinsam mit den Holzdecken schaffen sie eine angenehm warme und natürliche Aufenthaltsqualität im gesamten Gebäude.

»Sämtliche tragenden Bauteile aus Holz mussten wir 63 mm stärker als ­statisch notwendig auslegen, damit sie einer theoretischen Branddauer von 90 Minuten standhalten«, erklärt Andreas Heupel. Zudem wurde das ­Treppenhaus als Sicherheitstreppenhaus ausgelegt und die Trennwand ­zwischen nördlichem und südlichem Gebäudeteil als Brandschutzwand aus ­Beton ausgebildet.

Optimierte Energiebilanz

Durch den hohen Anteil an vorgefertigten Elementen aus Holz spart der ­Neubau rund 260 t an CO2 gegenüber einem konventionell geplanten Büro­gebäude ein. Zusätzlich verbessert wird die Energiebilanz durch eine hochwertig abgedichtete Gebäudehülle mit dreifachverglasten Holz-Aluminium-Fenstern und einer bis zu 24 cm dicken Fassadendämmung aus Mineralwolle. Weitere Elemente zur Einsparung von Energie sind die Nutzung der vorhandenen Fernwärme der nebenan gelegenen Stadtwerke Münster, ein natürliches Lüftungskonzept sowie der konsequente Einsatz von intelligent gesteuerter LED-Beleuchtungstechnik. Zudem stehen den Mietern gemeinschaftlich nutzbare Seminar- und Besprechungsräume im südlichen Teil des EG sowie Ladestationen für Elektroautos und E-Bikes zur Verfügung. Im Zusammenspiel der unterschiedlichen Bausteine gelang ein ressourcenschonend geplanter Büroneubau, der nicht nur einen wichtigen Meilenstein für die weitere Entwicklung der Holz-Hybrid-Bauweise setzt, sondern der gleichzeitig auch einen hochwertig gestalteten architektonischen Blickfang am südlichen Ufer des Stadthafens in Münster schafft.

db, Di., 2017.01.10



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Bürogebäude »H7« in Münster



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db 2017|01-02 Vorgefertigt

11. November 2013Robert Uhde
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Reflektierende Black Box

Im Arnheimer Industriepark Kleefse Waard hat das vorhandene Empfangsgebäude ein komplett neues Gesicht erhalten. Der scharfkantige Quader des Amsterdamer Büros NL Architects kontrastiert ein konsequent transparentes EG überraschend und zeichenhaft mit einem schwarzen Aufbau, der gerichtetes Licht bei Dunkelheit effektvoll reflektiert.

Im Arnheimer Industriepark Kleefse Waard hat das vorhandene Empfangsgebäude ein komplett neues Gesicht erhalten. Der scharfkantige Quader des Amsterdamer Büros NL Architects kontrastiert ein konsequent transparentes EG überraschend und zeichenhaft mit einem schwarzen Aufbau, der gerichtetes Licht bei Dunkelheit effektvoll reflektiert.

Die Bauaufgabe »Pförtnerhaus« findet gemeinhin wenig Beachtung. Schade eigentlich, denn an ihr lassen sich wie unter einem Brennglas unterschiedliche gestalterische Tendenzen zum jeweiligen Entstehungszeitpunkt festmachen. Eine ziemlich ungewöhnliche Umsetzung des Themas hat jetzt das Amsterdamer Büro NL Architects für den Industriepark Kleefse Waard IPKW im niederländischen Arnheim vorgestellt. Das im Südosten der Stadt in unmittelbarer Nähe zu einem Rheinarm schon in den 20er Jahren angelegte Terrain beherbergt auf einer Fläche von 90 ha rund 35 Unternehmen, die meisten davon aus den Bereichen Technologie und Forschung.

Um den hohen Sicherheitsanforderungen der vor Ort ansässigen Firmen zu entsprechen, ist der nach Süden und Westen durch zwei Hafenbecken begrenzte Industriepark vollständig umzäunt und wird an sieben Tagen in der Woche rund um die Uhr bewacht. Am nordwestlichen Rand des Areals steht seit den 70er Jahren ein zweigeschossiges Pförtnerhaus, an dem sich Mitarbeiter, Besucher und Zulieferer zunächst registrieren lassen müssen, bevor sie das Gelände – die beiden letzteren nur in Begleitung – betreten dürfen. Nach rund vierzigjähriger Nutzung entsprach der Altbau jedoch nicht mehr den gestiegenen logistischen und repräsentativen Anforderungen der Betreiber. Um eine schnellere Erschließung zu ermöglichen, sollte insbesondere Platz für eine zweite Zufahrtsspur geschaffen werden. Aufgrund der begrenzten Fläche war deshalb zunächst geplant, ein komplett neues Rezeptionsgebäude neben der Straße zu errichten. »Allerdings beherbergte das bestehende Pörtnerhaus die Verteilerzentrale für sämtliche Datenleitungen innerhalb des Industrieparks, sodass es sich letztlich als beinahe unmöglich erwies, das Gebäude abzubrechen, ohne dabei den ganzen Betrieb lahmzulegen«, so Projektarchitekt Guus Peters.

Zeichenhafter Empfang

Als Alternative schlugen die mit der Planung direkt beauftragten Architekten vor, den vorhandenen technischen Kern des Altbaus zu erhalten, aber durch eine elegant detaillierte neue Hülle mit leicht geänderten Proportionen einzufassen; in Richtung Westen sollte das Volumen dazu leicht beschnitten, an den anderen drei Seiten um rund 1,5 m vergrößert werden. Ausgehend von dieser Grundidee wurde die deutlich in die Jahre gekommene Bekleidung aus blau beschichteten Spanplatten komplett abgebrochen und durch eine Hülle mit gänzlich veränderter, betont zeichenhafter Ausstrahlung ersetzt, die sich wohltuend vom zweckbetonten Charakter des Standorts abhebt. Dem umlaufend raumhoch verglasten EG wurde dabei ein tief schwarzes und komplett geschlossenes Geschoss »aufgebürdet«, das trotz seiner optisch wirksamen dunklen Schwere gleichsam über der Erde zu schweben scheint und so auf Anhieb neugierige Blicke von Passanten und Nutzern auf sich zieht; ganz so, als hätten die Architekten sämtliche physikalischen Gesetzmäßigkeiten außer Kraft gesetzt.

Im EG des nachhaltig transformierten Gebäudes haben die Planer als notwendige Einbauten lediglich eine verglaste Rezeption sowie ein kleines, vollständig geschlossenes Volumen mit Büro und Besucher-WC eingefügt. Außerdem wurde neben der Rezeption ein kleiner Wartebereich mit Kaffeeautomat und Schließfächern integriert. Ansonsten wurde der Raum so transparent wie möglich gehalten, um dem Wachdienst anders als früher einen guten Überblick über die Eingangssituation zu verschaffen. Aus dem gleichen Grund ist die Rezeption leicht erhöht auf einem Sockel platziert. Um dennoch eine ausreichende Stehhöhe und außerdem eine optimierte Beleuchtung zu erreichen, findet sich oberhalb der Arbeitsfläche statt der sonst verwendeten abgehängten Deckenelemente aus Aluminium eine rund 20 cm höher angeordnete großformatige Lichtdecke. Im Zusammenspiel mit den transparenten Fassaden wird die Präsenz des Pförtners durch diese Illumination zusätzlich betont. Die acht Stahlstützen im Raum nehmen dagegen zusammen mit den massiv gemauerten, im Zuge des Umbaus leicht veränderten Wandscheiben des Büros die statischen Lasten des OGs auf, das als Black Box die gesamte Schaltzentrale birgt.

Leuchtender Dialog

Ebenso ungewöhnlich wie das Bild der beiden kontrastierenden Geschosse präsentiert sich auch die Materialwahl für die Fassadenhaut des OGs: Um die vom Bauherrn gewünschte »Interaktion des Gebäudes mit den Besuchern« zu ermöglichen, griffen NL Architects dabei auf eine retroreflektierende schwarze Folie zurück. Sie ist in der Lage, einfallendes weitgehend gerichtetes Licht zur Strahlungsquelle zurückzuwerfen, ein Funktionsprinzip, das vorrangig an Oberflächen im Straßenverkehr und bei der Radartechnik eingesetzt wird. Folienbespannte Sandwich-Elemente aus Aluminium wurden auf einer gedämmten Stahlkonstruktion, die den gewünschten Abstand zu den massiven OG-Wänden schafft, montiert. Das gewählte schlanke Format der 4 mm dicken Platten von 4,30 x 1,20 m sorgt dabei für eine elegante Untergliederung der Fassaden.

Um die entstehenden Lichteffekte vorab zu simulieren und anzupassen, nutzten die Architekten die Attrappe eines Fahrzeugcockpits inklusive Beleuchtung. Der schließlich erreichte Effekt ist verblüffend: Denn während das OG am Tag als rätselhaft mattschwarze Box erscheint, in der sich die Umgebung schemenhaft spiegelt, beginnt es bei Nacht und während der Dämmerung bei Kunstlichteinstrahlung in Richtung der Lichtquelle hell zu reflektieren. Je nach Farbtemperatur der Lichtquelle ergeben sich dabei ganz unterschiedliche Farbtöne. Bei Sonnenunter- oder -aufgang verwandelt sich die schwarze Hülle fast schon in eine goldene Oberfläche. Verstärkt wird der Effekt dadurch, dass die Zufahrt zum Industriepark leicht ansteigt und so das Scheinwerferlicht der ankommenden Fahrzeuge direkt auf das OG trifft. Der Bau, der sich tagsüber durch seine schwarze, schwebende Eigenständigkeit abhebt, mutiert so abends zum rätselhaften Lichtobjekt, das direkt und unmittelbar eine interaktive Verbindung zur Lichtquelle und zum Betrachter schafft. Ein überraschendes Erlebnis, das die Ein- und Ausfahrt für die Besucher und Mitarbeiter des Industrieparks zur spannenden Passage werden lässt.

db, Mo., 2013.11.11



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db 2013|11 Schwarz

01. Oktober 2012Robert Uhde
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Flügel verliehen

Auf der ehemaligen NDSM-Werft in Amsterdam sind Teile der alten Schiffsschmiede zum Sitz von Red Bull Niederlande umgewandelt worden. Der Entwurf von Sid Lee Architecture nutzt die historische Kulisse als Spielfläche für eine kontrastreich inszenierte Bürolandschaft.

Auf der ehemaligen NDSM-Werft in Amsterdam sind Teile der alten Schiffsschmiede zum Sitz von Red Bull Niederlande umgewandelt worden. Der Entwurf von Sid Lee Architecture nutzt die historische Kulisse als Spielfläche für eine kontrastreich inszenierte Bürolandschaft.

Im Amsterdamer Norden ist in den vergangenen Jahren die seit 1978 leer stehende NDSM-Werft sukzessive zur »MediaWharf« transformiert worden. In der riesigen Werfthalle haben sich zahlreiche Künstler niedergelassen, die ehemalige Kantine wurde als Kaffeehaus wiederbelebt. Direkt neben dem kleinen Hafen, und in Sichtweite zum Gebäude von MTV Benelux, hat zuletzt auch der österreichische Getränkehersteller Red Bull seinen neuen Hauptsitz für die Niederlande bezogen. Die ursprünglich aus dem Jahr 1927 stammende, auf Basis der alten Kubaturen und Strukturen 2010 weitgehend neu errichtete Industriehalle integriert auf einer Fläche von 875 m² eine abwechslungsreiche Bürolandschaft für rund 60 Mitarbeiter.

Bis zuletzt war Red Bull Nederland in Utrecht ansässig. 2009 hatte die Konzernleitung jedoch beschlossen, den Sitz an einen urbaneren Standort zu verlagern, der eher dem offensiv durch zahlreiche Werbekampagnen propagierten Lifestyle-Image des Unternehmens entspricht. Nach Prüfung von etwa 30 möglichen Alternativen fiel die Wahl auf die Sheddachhallen der denkmalgeschützten ehemaligen Schiffsschmiede. Aus dem begrenzten Architekturwettbewerb konnte sich schließlich der Entwurf des kanadischen Büros Sid Lee Architecture durchsetzen, das seit 2008 mehrere Architektur- und Branding-Projekte für Red Bull realisiert hat und dessen unkonventionelle Handschrift bestens zur CI des Unternehmens passt.

»Ausgehend von der besonderen Unternehmenskultur von Red Bull wollten wir ganz bewusst kein Standard-Büro schaffen«, erklärt Projektarchitekt Jean Pelland. In enger Absprache mit den Nutzern entstand stattdessen ein offen und flexibel gestaltetes Ambiente mit zahlreichen skurrilen Details und bewusster Beschränkung auf einfache, industriell anmutende Materialien wie Stahl, Glas und Holz. Um dabei ein ruhiges und konzentriertes Arbeiten im Team oder allein zu ermöglichen und gleichzeitig Raum zur informellen Begegnung zu bieten, wurden zwei klar definierte Bereiche geschaffen, die durch einen zentralen Service-Kern voneinander getrennt werden. Der südliche der vier noch vorhandenen Sheddachriegel wurde gesondert ausgebaut und an eine Marketingagentur vermietet. In Richtung Norden wurde ein kompletter Riegel abgebrochen, um Platz für das noch zu errichtende, von Group A aus Rotterdam geplante Boutique Hotel zu erhalten.

Aus Alt mach Neu

Inzwischen sind die Räumlichkeiten seit rund 18 Monaten bezogen. Und auch wenn es von Weitem betrachtet so wirkt, als habe sich vor Ort kaum etwas verändert, kann von einem Altbau letztlich keine Rede mehr sein. Schließlich wurde die durch einen Brand stark beschädigte Backsteinfassade mit ihren vier dreiecksförmig nach oben zulaufenden Giebeln im Zuge des Umbaus entsprechend der vorhandenen Geometrien neu errichtet. Und ebenso wurde auch der Innenraum vollständig entkernt und durch Glas- und Trockenbauwände neu untergliedert. Zusätzlich wurden ein neuer Boden aus Betonestrich, neue Sheddächer und neue Zwischendecken sowie eine bewusst sichtbar belassene neue Lüftungsanlage für eine betont industrielle Anmutung eingefügt. Original erhalten wurden letztlich nur die verfahrbaren blauen Tore vor den Fenstern sowie ein Teil der alten Tragstruktur.

Über den Hauptzugang nach Nordwesten gelangen die Mitarbeiter zunächst in den eher informellen Teil des Gebäudes. Statt einer herkömmlich-repräsentativen Empfangssituation erwartet sie dort eine expressiv aus gefalteten und stürzenden Geometrien zusammengesetzte, dabei dreidimensional begehbare Raumskulptur mit überraschenden Perspektiven und fließendem Wechsel von Schwarz und Weiß sowie von Innen und Außen. Die von den Architekten CI-gerecht inszenierte, vom Amsterdamer Büro Fiction Factory mit einer mächtigen Stahlträgerkonstruktion sowie mit einfachen Holzplatten und einer schwarzen Stahlverkleidung errichtete Kulisse erinnert in ihrer Struktur je nach Perspektive an eine Höhlen- oder Gebirgslandschaft, an ein Schiff, an eine Skating- oder Climbing-Anlage oder an den dadaistischen Merzbau von Kurt Schwitters. Neben einer Teeküche mit Sitzecke und einem abgetrennten Konferenzzimmer beherbergt sie auch ein kleines »Kino« mit Videoleinwand. Noch attraktivere Räumlichkeiten bietet anschließend das als Mezzaningeschoss fungierende, und mit blitzförmigem Grundriss gestaltete »Dach« der riesigen Raumplastik, wo den Mitarbeitern eine bequeme Sitzecke zum Entspannen zur Verfügung steht. Über die großen Glasdreiecke in der Brüstung ergeben sich dabei ungewöhnliche Perspektiven auf‘s EG.

Flexible Arbeitswelt

Vergleichsweise funktional präsentiert sich die südlich angrenzende Bürolandschaft. Im Zentrum des Raums stehen offene Gruppenarbeitsplätze zur Verfügung, direkt angrenzend befinden sich die mit gläsernen Schiebetüren sowie mit abgehängten Zwischendecken abgetrennten Zellenbüros für die Bereiche Marketing, Finanzen, Verkauf und Leitung. »Je nach Anforderung stehen unterschiedliche Arbeitsplätze vom Einzel- bis zum Großraumbüro bereit, deren Anordnung sich bei Bedarf leicht verändern ließe«, erklärt Pelland. Zusätzliche Qualität bieten die großen, über die gesamte Gebäudetiefe reichenden Sheddach-Oberlichter, die selbst im zentralen Bereich einen optimierten Tageslichteinfall ermöglichen und damit zur hohen Zufriedenheit der Mitarbeiter mit dem Gebäude beitragen. Zur ergänzenden Kunstlichtversorgung wurden Industrieleuchten im Großraumbüro sowie individuell steuerbare Pendelleuchten in den außen liegenden Zellenbüros integriert.

Ein wichtiges Element im Raum ist die zentral eingestellte Meeting-Box aus Glas und perforiertem schwarzem Stahl, deren asymmetrisches Schmetterlingsdach die Sheddachkonstruktion des Gebäudes zitiert. Besonders eindrucksvolle Perspektiven ergeben sich dabei am Abend, wenn die über Bodenfugen von innen her beleuchtete Raumskulptur als geheimnisvoll illuminierter Meteorit in Szene gesetzt wird. Zusätzliche Flächen bietet der zentrale Servicekern, der neben den WCs auch einen Kopierraum, einen Ruheraum sowie ein kleines Tonstudio zur Vorbereitung der verschiedenen Red-Bull-Events beherbergt.

Individuelle Möbel

Neben der Meeting-Box wurden auch zahlreiche andere Möbel individuell durch die Gestalter von Sid Lee Amsterdam entwickelt. Um dabei eine hohe Flexibilität zu ermöglichen, wurden sämtliche Elemente bewusst modular und multifunktional geplant: So lassen sich die tribünenartig angeordneten Stufen des Ruheraums gleichzeitig als riesige Schubladen verwenden. Und das riesige Wandregal im Eingangsbereich fungiert gleichzeitig als Sitzbank. »Nichts ist hier eindeutig, alles hängt von der Interpretation und Fantasie der Nutzer ab«, erklärt der Architekt das Konzept. »Auf diese Weise wollten wir die brutale Simplizität der alten Industriehalle mit der von Red Bull repräsentierten Aufforderung zur Performance verbinden.« Im Zusammenspiel der unterschiedlichen Elemente entstand eine schrille, aber stimmig umgesetzte Kulisse, die eigentümlich zwischen industriell und künstlich oszilliert und dabei in gewisser Weise tatsächlich dazu geeignet ist, den Mitarbeitern die aus der Red-Bull-Werbung bekannten Flügel zu verleihen. Zusätzlichen Reiz erhält das Ambiente durch die ebenfalls durch die Gestalter von Sid Lee Amsterdam entwickelte – und entsprechend den Markenfarben von Red Bull überwiegend in Rot- und Blautönen umgesetzte – grafische Gestaltung des Innenraums. Das durch Comic und Graffiti inspirierte Design erstreckt sich beinahe allgegenwärtig über unterschiedliche vertikale und horizontale Flächen und schafft so eine fließende Fortsetzung des expressiven Raumeindrucks im Eingangsbereich und einen gelungenen Kontrast zur sonstigen Orthogonalität der Halle. Am deutlichsten wird der rebellische Charakter der Gestaltung beim Gang auf die Toilette. Denn hier haben die Planer ein wahrhaft blasphemisches Wandmosaik mit einer Kopfhörer-tragenden Jungfrau Maria als DJane sowie mit einem fliegenden Jesus und fliegenden Red-Bull-Stieren geschaffen. Ein Hingucker in leuchtend blauen und gelben Farben, der echte Jesusfans allerdings erst mal schlucken lässt.

db, Mo., 2012.10.01



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db 2012|10 Arbeitswelten

09. Februar 2010Robert Uhde
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Zwischen den Welten

Der breit gelagerte Bau beherbergt neben den Räumlichkeiten für zwei unterschiedliche islamische Gemeinden auch ein städtisches Fortbildungs-, Beratungs- und Sozialzentrum. Die handwerklich vermauerte Backsteinfassade bindet das öffentliche Gebäude unauffällig in die Umgebung ein und schafft durch die gelungene Verbindung aus klassischer Moderne und islamischer Ornamentik für die Nutzer die Möglichkeit der Identifikation.

Der breit gelagerte Bau beherbergt neben den Räumlichkeiten für zwei unterschiedliche islamische Gemeinden auch ein städtisches Fortbildungs-, Beratungs- und Sozialzentrum. Die handwerklich vermauerte Backsteinfassade bindet das öffentliche Gebäude unauffällig in die Umgebung ein und schafft durch die gelungene Verbindung aus klassischer Moderne und islamischer Ornamentik für die Nutzer die Möglichkeit der Identifikation.

Der im Südosten von Amsterdam gelegene Stadtteil Transvaal zählt architektonisch und städtebaulich zu den interessantesten Vierteln der niederländischen Hauptstadt. Das hoch verdichtete Quartier wurde seit den 20er Jahren nach städtebaulichen Plänen von Hendrik Pieter Berlage angelegt, dem Altmeister und Mitbegründer der niederländischen Moderne. Mit seinen plastisch-skulptural gestalteten Backsteinbauten bietet es ein Musterbeispiel der sogenannten Amsterdamse School, die zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts das Gesicht der Grachtenstadt entscheidend geprägt hat. Lange Zeit wurde das Viertel überwiegend von Angehörigen der niederländischen Mittelschicht bewohnt, doch die ursprünglichen Mieter drängte es seit den 70er Jahren immer stärker in moderne Wohnviertel an den Stadtrand. Heute haben von den rund 10 000 Bewohnern des Quartiers mehr als 50 % einen »nicht-westlichen Migrationshintergrund« – die meisten von ihnen stammen aus Marokko oder aus der Türkei.

Verschärft durch fehlende Freiflächen und einen dringend sanierungsbedürftigen Gebäudebestand mit häufig zu kleinen Wohnungen hat sich Transvaal seitdem immer mehr zu einem Problemviertel entwickelt. Bereits seit den 80er Jahren wurden unterschiedliche Maßnahmen beschlossen, um die Lebensqualität und die Integration vor Ort zu verbessern. Einen wichtigen Beitrag dazu liefert inzwischen das Multikulturelle Zentrum in der Joubertstraat. Der flexibel nutzbare Neubau beherbergt auf einer Nutzfläche von rund 1 600 m² Büroflächen, Unterrichtsräume und drei unterschiedlich große Gebetsräume für die marokkanisch-islamische sowie für die türkisch-islamische Gemeinde des Viertels. Entsprechend der Auflagen des Fonds für Regionale Entwicklung (D2-Programm) der EU, durch den das Projekt zu rund 30 % finanziert wurde, integriert der Neubau außerdem ein städtisches Fortbildungs-, Beratungs- und Sozialzentrum.

Hybride Baukultur

Die Entstehungsgeschichte der Doppelmoschee geht zurück auf einen Beschluss des Stadtteilrates aus dem Jahr 2000. Damals war das Projekt noch als Umbau einer vormals auf dem Grundstück stehenden Schule geplant. Nach eingehender Analyse ihrer Bausubstanz entschied man sich jedoch schon frühzeitig für einen Neubau. Ende 2005 konnte dann ein Architekturwettbewerb durchgeführt werden, den Marlies Rohmer gewann: »Es ist schon ziemlich ungewöhnlich, Türken, Marokkaner und Niederländer an einem gemeinsamen Ort unter einem Dach zusammenzubringen«, beschreibt die Architektin den Ausgangspunkt ihrer Planung. »Wir haben das Projekt daher als ›Fusion‹ betrachtet, als Zeichen einer ›hybriden Baukultur‹, die nach Synergien und nach einer neuen Ikonografie sucht, die das Gemeinsame und Verbindende betont, ohne dabei die eigene Identität der unterschiedlichen Parteien außer Acht zu lassen.«

Ähnlich integrativ wie das Nutzungskonzept präsentiert sich nun auch die Architektur des Neubaus. Die Errichtung eines Gebetshauses mit Kuppel und Minarett, wie er gegenwärtig so heftig diskutiert wird, spielte dabei von Anfang an keine Rolle. Stattdessen entwickelte Marlies Rohmer einen viergeschossigen, als Stahlträgerkonstruktion ausgeführten Flachdachbau mit einer langgestreckten, sich an der Traufhöhe der angrenzenden Bauten orientierenden Schaufassade aus roten Klinkern. Die frei von tragenden Funktionen errichtete Backsteinhülle fügt den Neubau auf den ersten Blick nahtlos in die umgebende Bebauung ein. Aus der Nähe betrachtet zeigt sich jedoch, dass die Planerin neben Mauerwerkstechniken und stilistischen Details aus dem Repertoire der Amsterdamse School auch islamisch anmutende Elemente in die Fassade übernommen hat. Das materialbetonte Zusammenspiel der unterschiedlichen Einflüsse schafft eine reizvolle Synthese, die sinnfällig die multikulturelle Nutzung des Gebäudes thematisiert.

Ein wichtiges Resultat dieser angestrebten »Fusion« ist die Gestaltung der Erschließungssituation im Gebäude: Zwar haben die Gebetsräume der marokkanischen und türkischen Gemeinde jeweils einen eigenen Zugang erhalten, beide sind aber einem deutlich größeren, von beiden Gemeinden genutzten Haupteingang untergeordnet, der als doppelgeschossige Glasfuge mittig in die Klinkerfassade geschnitten wurde. Weiteren Raum zur wechselseitigen Begegnung der unterschiedlichen Nutzer bieten die Eingangshalle, das gemeinsam genutzte Treppenhaus, die große Freifläche im Innenhof sowie der im 2. OG gelegene Kursraum, der durch das breite Panoramafenster hindurch einen freien Ausblick auf den gegenüber liegenden Sportplatz bietet.

Architektonisch aber geht mit dem Betreten des Innenbereichs ein auffälliger stilistischer Bruch einher. Entsprechend der gestalterischen Wünsche der beiden Gemeinden trifft der Blick, überraschend, auf eine wuchtige Treppenverkleidung aus Holz sowie auf Bodenfliesen und gestalterisch von arabischen Schriftzeichen inspirierte Wanddekore in Blau und Weiß. Linkerhand vom Eingangsflur schließt sich der Gebetsraum für die männlichen Mitglieder der türkischen Gemeinde an, rechterhand liegt der Gebetsraum für die männlichen Mitglieder der marokkanischen Gemeinde. Beide Räume wurden jeweils doppelgeschossig, vielfach in Eigenleistung, mit reich verzierten Wänden und Böden in arabischer Ornamentik gestaltet. In den darüber liegenden Ebenen schließen sich ein kleinerer Gebetsraum für die Frauen sowie die verschiedenen Büros und Unterrichtsräume an.

Filigrane Detaillierung

Da die Gestaltung des Innenbereichs hauptsächlich in der Verantwortung der beiden Gemeinden lag, stand für die Architekten insbesondere die Detaillierung der Schaufassade im Mittelpunkt. Bei der »hybriden Verschmelzung«, wie Marlies Rohmer sie nennt, schienen die unterschiedlichen Stilelemente – arabische und jene der Amsterdamse School – zunächst weit voneinander entfernt zu sein, bei näherer Betrachtung ergaben sich jedoch einige Gemeinsamkeiten, vor allem, was die Plastizität und die Ornamentik betrifft. Es entstand eine rhythmisch abwechslungsreiche, durch verschieden große Fenster strukturierte Collage aus unterschiedlichen Mauerwerksverbänden, die ebenso gut als Synthese unterschiedlicher Kulturen wie als spielerische Erweiterung des strengen Formenkanons der niederländischen Moderne lesbar ist.

Aus der Distanz betrachtet wirkt die Fassade aufgrund ihrer homogenen, auf den Ort bezogenen Materialität zunächst eher unauffällig und zurückhaltend, wie eine zweidimensionale »Backsteintapete«. Beim Näherkommen wandelt sich der Eindruck. Die Front erscheint zunehmend vielschichtiger, filigraner und verspielter, ohne dabei aber ihre klare Struktur zu verlieren und überladen oder gar chaotisch zu wirken. Mehr und mehr werden unterschiedliche gestalterische Details sichtbar, so etwa der durchgehende Sockelbereich aus blutrot glasierten Steinen, die in vier Reihen vertikal übereinander im Parallelverband gemauert wurden. Die beiden außen liegenden Bereiche der Fassade wurden demgegenüber als geometrisches Backsteinrelief mit quadratischen Feldern aus teils vertikal, teils horizontal gemauerten Steinen gestaltet, die sich in bewegtem Rhythmus jeweils um ein kleines quadratisches Fenster im Zentrum des Feldes anordnen. Zusätzliche Dynamik erhalten die an sakrale Rosetten erinnernden und handwerklich hochwertig ausgeführten Felder durch die Ausstrahlung des durchgängig verwendeten, mit tief zurückliegenden dunklen Fugen gemauerten dänischen Handform-Verblenders in unterschiedlichen Formaten. Die vielfältigen Farbnuancen des Steins von Hellgelb über Orange und Dunkelrot bis hin zu Grau und Schwarz lassen dabei in ihrer vibrierenden Wirkung auf den ersten Blick an farbige arabische Mosaiken denken.

Eine ähnliche Anmutung zeigt die Fassade im Bereich des 3. OG, allerdings wurden hier etwas größere Fenster integriert. Im 2. OG schafft das rund 20 m breite, aus fünf Elementen zusammengesetzte Panoramafenster einen markanten Materialkontrast zur übrigen Fassade. Im Bereich des Haupteingangs wurde die Front dagegen als halbtransparente Hülle mit regelmäßigen Aussparungen gestaltet, um den Neubau so zur Stadt zu öffnen und den offenen Charakter des Hauses zu betonen. Besonders reizvolle Perspektiven ergeben sich dabei während der Dunkelheit, wenn der halbdurchlässige Vorhang Einblicke in die dahinter liegenden Büros und Gebetsräume ermöglicht, ohne dabei aber sofort preiszugeben, was sich dort abspielt. Als gelungene architektonische Metapher für eine selbstbewusste Religion und Kultur, die sich öffnet, ohne sich dabei zu verleugnen.

db, Di., 2010.02.09



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db 2010|02 Material wirkt

13. Januar 2010Robert Uhde
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Facettenreiche Fassade

Die 1624 gegründete Reichsuniversität Groningen ist nach der Universität in Leiden die zweitälteste der Niederlande. An insgesamt neun Fakultäten sind hier rund 25 000 Studenten eingeschrieben. Zu den bedeutendsten Instituten der Universität gehört die nordöstlich der Innenstadt gelegene Medizinische Fakultät mit ihren zahlreichen Lehr- und Forschungsgebäuden. Ende 2008 wurde hier ein neues medizinisches Forschungslabor eröffnet. Der im nördlichen Bereich des großflächigen Areals direkt neben der bestehenden 13-geschossigen Universitätsklinik errichtete Neubau integriert auf sechs Ebenen unterschiedlich große Laboreinheiten.

Die 1624 gegründete Reichsuniversität Groningen ist nach der Universität in Leiden die zweitälteste der Niederlande. An insgesamt neun Fakultäten sind hier rund 25 000 Studenten eingeschrieben. Zu den bedeutendsten Instituten der Universität gehört die nordöstlich der Innenstadt gelegene Medizinische Fakultät mit ihren zahlreichen Lehr- und Forschungsgebäuden. Ende 2008 wurde hier ein neues medizinisches Forschungslabor eröffnet. Der im nördlichen Bereich des großflächigen Areals direkt neben der bestehenden 13-geschossigen Universitätsklinik errichtete Neubau integriert auf sechs Ebenen unterschiedlich große Laboreinheiten.

Die 1624 gegründete Reichsuniversität Groningen ist nach der Universität in Leiden die zweitälteste der Niederlande. An insgesamt neun Fakultäten sind hier rund 25 000 Studenten eingeschrieben. Zu den bedeutendsten Instituten der Universität gehört die nordöstlich der Innenstadt gelegene Medizinische Fakultät mit ihren zahlreichen Lehr- und Forschungsgebäuden. Ende 2008 wurde hier ein neues medizinisches Forschungslabor eröffnet. Der im nördlichen Bereich des großflächigen Areals direkt neben der bestehenden 13-geschossigen Universitätsklinik errichtete Neubau integriert auf sechs Ebenen unterschiedlich große Laboreinheiten.

Erste Überlegungen zur Errichtung eines neuen Forschungslabors gab es bereits Anfang 2003. Aus dem anschließend ausgeschriebenen Wettbewerb ging schließlich das Amsterdamer Büro UNStudio um Ben van Berkel als Sieger hervor. Das Büro hatte wenige Jahre zuvor bereits ein funktional wie ästhetisch überzeugendes Laborgebäude für die Universität in Utrecht realisiert. Gegenwärtig sind die Architekten außerdem mit der Planung des Zentrums für Virtuelles Engineering ZVE des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation in Stuttgart befasst.

Geschlossene Hülle

Die vorhandenen Gebäude auf dem Areal der Medizinischen Fakultät wurden in den vergangenen Jahrzehnten ohne einheitlichen Masterplan sukzessive zu einer »Stadt in der Stadt« entwickelt und bieten dementsprechend einen stark heterogenen Gesamteindruck. »Mit unserem Entwurf wollten wir daher einen deutlichen architektonischen Akzent am Standort schaffen, der auf den ersten Blick den innovativen Charakter der vor Ort betriebenen Forschung sichtbar machen soll«, beschreibt Ben van Berkel die Zielsetzung seines Büros. »Eine wichtige funktionale Vorgabe war dabei die Ausbildung einer weitgehend fensterlosen Fassade, um so kein Tageslicht in die Laborräume dringen zu lassen.«

Als Umsetzung dieser Anforderungen entwickelten die Planer einen quaderförmigen, durch eine schräg ansteigende Rückfront leicht asymmetrischen Baukörper in Stahlbetonbauweise, der über eine frei tragende Brücke mit der nordöstlich angrenzenden Universitätsklinik verbunden ist. Zur Verkleidung der Fassaden wurde oberhalb eines bis zu 3 m hohen, grau verputzten Sockels eine durchgehende, lediglich durch einige kleinere Fenster geöffnete Außenhülle aus vertikalen Aluminiumpaneelen im Format von 1,4 x 0,6 m gewählt. Die markant gestaltete Fassade schafft einen hochwertigen Blickfang zur Stadt, ohne dabei mit dem nordwestlich direkt angrenzenden, fast zeitgleich errichteten Lehrgebäude für Anatomie und Embryologie mit seiner organisch gerundeten Außenhülle in Konkurrenz zu treten. Als einzige Zugänge wurden ein Sektionaltor zur Anlieferung sowie jeweils ein Notausgang an der Südost- und der Nordwestfassade integriert. Die Erschließung des Gebäudes erfolgt hingegen ausschließlich über die frei tragende – ebenfalls mit Aluminiumpaneelen sowie mit einer großen Glasfront ausgebildete – Brücke zur Universitätsklinik als direkte Verbindung zum 2. OG.

Um die strenge Geschlossenheit des Baukörpers optisch aufzulösen, gestalteten die Planer die Außenhülle in einigen Bereichen mit unterschiedlich stark geschwungenen, dabei zunehmend in sich gedrehten und nach außen gekehrten Aluminiumpaneelen. Die verschieden breiten, vertikalen Cluster von übereinander platzierten Elementen erzeugen, je nach Blickwinkel und Entfernung, ein bewegtes dreidimensionales Muster, das mit seinem doppeldeutigen Spiel von Zeigen und Verbergen einen spannenden Verweis auf die im Inneren verborgene Forschung bietet. Zusätzlich gesteigert wird der Eindruck durch eine farbige Gestaltung der nach außen gekehrten Innenseiten der Aluminiumelemente: Im unteren Bereich der Fassade wurden gelb beschichtete Innenflächen verwendet, nach oben geht die Farbigkeit schrittweise ins Grüne über, um so einen Bezug zu den angrenzenden Bäumen zu schaffen, wie Ben van Berkel erklärt.

Offene Lichthöfe

Ähnlich facettenreich wie die Außenfassade präsentiert sich auch das Innere, das aus hygienischen Gründen ausschließlich von Mitarbeitern des Instituts betreten werden darf. Für alle anderen endet der Weg vor der Sicherheitsschleuse am Ende der innen grell orange gestalteten Brücke. Im Kern des Gebäudes integrierten die Planer zwei große Lichthöfe in Form von abgestumpften asymmetrischen Kegeln. Im Zusammenspiel mit großformatigen Oberlichtern ermöglichen sie eine ausreichende Versorgung des zentralen Bereichs mit Tageslicht und schaffen gleichzeitig die Voraussetzung für die gewünschte Unterteilung des Gebäudes in unterschiedliche Hygieneniveaus: In beide Atrien wurde eine Wendeltreppe, mit der sich die unterschiedlichen Ebenen der Gebäudebereiche auch unabhängig voneinander erschließen lassen, integriert. Der südlichere der beiden Höfe bietet eine größere Grundfläche und verjüngt sich in Richtung eines relativ kleinen Oberlichts, der andere wurde umgekehrt gestaltet. Ersterer erschließt ausschließlich die vier Laborebenen, der zweite, deutlich hellere, bietet überdies auch Zugang zu den Technikebenen, die sich im Kellergeschoss, zwischen zweiter und dritter Laborebene sowie im Dachgeschoss über der vierten Laborebene befinden. »Die Außenflächen der beiden Kegel haben wir dabei aus Gründen des Brandschutzes als transparente Glasfassade zwischen den Lichthöfen und den angrenzenden Gebäudeebenen gestaltet, so dass die Innenräume der Kegel auch als Fluchttreppenhäuser fungieren«, so Ben van Berkel. Um eine gute Orientierung zu ermöglichen und dunkle Korridorsysteme zu vermeiden, sind die Lichthöfe auf sämtlichen Ebenen von umlaufenden Emporen umgeben. Die Wände und Böden der Emporen führten die Architekten in durchgehender, geschossweise sich verändernder Farbigkeit aus. Ähnlich wie im Außenbereich entstand so ein farbig bewegter Raumeindruck mit fließenden Übergängen: Im EG, in das am wenigsten Tageslicht fällt, wurde Hellgelb gewählt, weiter oben nimmt die Farbintensität zu und wandelt sich über Orange zu leuchtendem Rot. Die durchgehend eingesetzten Bodenbeläge und Wandbeschichtungen aus Kunststoff lassen sich den hohen hygienischen Standards entsprechend problemlos reinigen und desinfizieren.

Flexible Ausstattung

Bei der Ausstattung der einzelnen Laborräume standen überwiegend funktionale Aspekte im Vordergrund. Die Kosten konnten dabei aufgrund der integralen Planung auf 1425 Euro je Quadratmeter Nutzfläche reduziert werden. Aufbauend auf den Vorgaben der Institutsleitung entwickelten die Architekten ein variables Raumkonzept für 18 feste Mitarbeiter mit insgesamt 270 Reinraumlaboreinheiten in vier unterschiedlichen Hygieneniveaus, die durch entsprechende Sicherheitsschleusen bzw. Luftduschen voneinander abgegrenzt werden. Die Hauptlaborräume bieten eine Grundfläche von jeweils 2,70 x 2,70 bzw. 2,70 x 5,40 m und lassen sich bei Bedarf ohne größere Umbauten umrüsten oder erweitern. Die Belichtung der Labore erfolgt ausschließlich über Kunstlicht, lediglich in den neben dem Eingangsbereich gelegenen Büros im 2. OG wurden Fenster integriert. Zur Erfüllung der Brandschutzauflagen wurden Rauchdetektoren eingebaut.

Bei der Entwicklung des Energiekonzepts kam den Architekten entgegen, dass sie aufgrund der geschlossenen Fassade auf eine gesonderte Kühlung des Gebäudes verzichten konnten. Die Kühlung wird stattdessen durch die eingebaute Lüftungsanlage übernommen, die überdies der Nutzung entsprechend einen 16-fachen Luftaustausch je Stunde sicherstellt. Die Zufuhr von Frischluft erfolgt dabei über den großen Lichthof. Zur Beheizung des Gebäudes kommt eine Luft-Wärmepumpe zum Einsatz, die sich für jeden Raum flexibel einstellen lässt. Auch ohne visuellen Kontakt zur Außenwelt steht den Mitarbeitern im neuen Laborgebäude also jederzeit ein angenehmes Binnenklima zur Verfügung – als wichtige Voraussetzung für die innovative medizinische Forschung vor Ort.

db, Mi., 2010.01.13



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db 2010|01 Forschen

05. August 2006Robert Uhde
db

Abwechslungsreich gestaffelt

Seit 1993 wurde der Hauptsitz des Unternehmens ausgehend von einigen Bestandsbauten sukzessive erweitert. Die Planung der Architekten integriert mehrere eigenständige Baukörper unterschiedlichen Charakters zu einer vielschichtig organisierten Gesamtanlage.

Seit 1993 wurde der Hauptsitz des Unternehmens ausgehend von einigen Bestandsbauten sukzessive erweitert. Die Planung der Architekten integriert mehrere eigenständige Baukörper unterschiedlichen Charakters zu einer vielschichtig organisierten Gesamtanlage.

Wer den Hauptsitz des Unternehmens Nedap in der kleinen Gemeinde Groenlo bei Arnheim besucht, der wird überrascht sein: Denn statt auf einen deutlich als solchen markierten Produktionsstandort trifft der Besucher zunächst auf einen halb öffentlichen, mit einem lang gestreckten Wasserbecken sowie fünf Lichtsäulen gestalteten Vorplatz, auf dem das Unternehmen regelmäßig Konzerte stattfinden lässt. Eingefasst wird die Fläche durch zwei flach gehaltene und zurückhaltend mit Glas und Holz detaillierte Gebäudeflügel, die den Firmensitz sensibel in die kleinteilige Struktur der umliegenden Wohn- und Gewerbebebauung einfügen, ohne die Umgebung zu dominieren. Dahinter schließen sich auf einer Fläche von rund drei Hektar die übrigen Nedap-Gebäude an. Mit rund 600 Mitarbeitern entwickelt das 1929 in Amsterdam gegründete und seit 1947 vor Ort ansässige Unternehmen hier mikroelektronische Systeme für unterschiedlichste Anwendungen - von der biometrischen Identifizierung über die Warensicherung, Fahrzeugidentifikation und Nutztierbestandsverwaltung bis hin zu softwaregesteuerten Wahlgeräten.

Anfang der neunziger Jahre entschied Nedap, mit neuen Technologien neue Marktsegmente zu erschließen und dazu den aus mehreren, teilweise sheddachüberdeckten Hallen bestehenden Standort konsequent auszubauen und nachzuverdichten. Ganz bewusst sollte dabei auch der jetzt deutlich stärker markt- und kundenorientierten Organisationsstruktur Rechnung getragen werden, denn statt der bis dahin praktizierten Aufteilung in die Bereiche Verkauf, Einkauf, Entwicklung und Produktion besteht der Gesamtkonzern seitdem aus verschiedenen eigenständigen „Marktgruppen“ mit jeweils eigenen Entwicklungs- und Betriebsstrukturen.
Mit der Gesamtplanung des Projektes wurde auf persönliche Entscheidung des Nedap-Geschäftsführers A. J. Westendorp der Maastrichter Architekt Ruud Bartijn beauftragt, der auch für zwei vor Kurzem fertig gestellte Nedap-Gebäude außerhalb der Niederlande in Meerbusch bei Krefeld sowie in Madrid verantwortlich zeichnet. Ausgangspunkt seines im Laufe der Zeit mehrfach an neue Entwicklungen angepassten Entwurfes sind die teilweise erhalten gebliebenen, im Zuge der Erweiterung umgebauten und neu definierten Gebäude aus den fünfziger und sechziger Jahren. Rund um diesen Kern entstand eine labyrinthartig organisierte „Hülle“ mit fließendem Wechsel zwischen eher weiträumigen und kleinteiligen Strukturen - bestehend aus Neubauten, begrünten Innenhöfen, Patios, offenen Plätzen sowie einer neuen Wegeführung.

Für Orientierung sorgt dabei eine in Nord-Süd-Richtung quer durch das Ensemble führende Haupterschließungsachse, die die einzelnen Büro- und Werkstatteinheiten der verschiedenen Bereiche miteinander verbindet.

Der Unternehmensstruktur von Nedap entsprechend, entschied sich Ruud Bartijn dazu, die durch das unterschiedliche Alter der Bauten ohnehin vorhandene Heterogenität des Standortes durch eine kontrastreiche Form- und Materialgebung der neuen Elemente noch zu verstärken und damit die Eigenständigkeit der verschiedenen Unternehmensbereiche zu unterstreichen. Spitze und kantige Volumina treffen so überraschend auf runde Formen, Holz und Stahl stoßen hart und unvermittelt auf Ziegel, Glas, Glasbausteine, Sichtbeton, Naturstein oder Putzfassaden. Als architektonische Klammer dienen helles Mauerwerk mit horizontalen oder vertikalen Fensterbändern sowie Zedernholzfassaden mit quadratischen Öffnungen, um trotz der offensichtlichen Kontraste einen harmonischen Gesamteindruck zu erzielen.

Den Anfang machte 1992 der Umbau des dreigeschossigen ehemaligen Eingangsgebäudes am westlichen Rand des Areals. Um hier die großflächige Elektronik-Werkstatt zu integrieren, wurde die vorhandene Raumstruktur geöffnet und eine neue, durch ein lang gestrecktes horizontales Fensterband geöffnete Mauerwerksfassade vor die bestehende Tragstruktur gesetzt. Angrenzend entstanden kurz darauf das ebenfalls als Mauerwerksbau errichtete Metallzentrum und der zwischen beiden Elementen platzierte Neubau für den Bereich „Power Supplies“, dessen schräg zulaufende, als Pfosten-Riegel-Konstruktion errichtete Glasfassade entlang der Straße Oude Winterwijkseweg mit den Nachbarbauten kontrastiert.

Deutlich geschlossener präsentiert sich die 1997 im Nordosten des Areals fertig gestellte Erweiterung für den Bereich „Retail Support“. In Richtung des benachbarten Wohngebiets präsentiert sich der über einer leicht ins Erdreich versenkten Parkfläche platzierte - und als Reflex auf den Verlauf des angrenzenden Parallelwegs teilweise ellipsenförmig gestaltete - Baukörper mit einer zurückhaltend gestalteten Mauerwerksfront. In gegenüberliegender Richtung integrierte Ruud Bartijn eine lediglich durch wenige kleine Fenster geöffnete Außenhülle aus horizontal gegliedertem Zedernholz. Zusätzliche Kontraste erhält die kraftvoll komponierte Materialcollage durch die Integration eines komplett geschlossenen, in Sichtbeton gestalteten Anlieferungsbereiches mit einem der Rampe vorgelagerten „Tor“ als archaisch anmutende Zugangssituation.

Weiter südwestlich schließt der 1998 mit einer durchgehenden Glasfassade sowie weit auskragenden Sonnenschutzlamellen ausgebildete Empfangsbereich an. Der als Scharnier des gesamten Areals konzipierte Baukörper integriert nicht nur den offen und modern gestalteten Empfang, sondern fungiert auch als Erschließung für sämtliche übrigen Bereiche - darunter die im Obergeschoss direkt angrenzende, in einem umgebauten Altbau eingerichtete Kantine. Gleichzeitig mit dem Eingangsbereich wurde direkt davor in Zusammenarbeit mit dem Landschaftsplaner Arend Jan van der Horst ein Vorplatz geschaffen, auf dem fünf unterschiedlich hohe Lichtsäulen aus Stahlbeton die Stützenkonstruktion einer ehemals hier platzierten Werkhalle zitieren.

Nach Süden wird die Fläche durch einen lang gestreckten Neubau für den Bereich „Ideas“ begrenzt, der oberhalb des durchgehend mit Glas ausgebildeten Erdgeschosses komplett mit vertikal gegliedertem Zedernholz verkleidet wurde. Markanter Blickpunkt ist dabei das am westlichen Ende des Riegels hervorkragende, als Abschluss des Platzes konzipierte Volumen, in dem die technischen Anlagen untergebracht sind.

In manchen Bereichen erscheint die bewusst kontrastreiche Gegenüberstellung der unterschiedlichen Elemente etwas zufällig. Doch letztlich gelang es Ruud Bartijn mit dieser Strategie, die Größe der Gesamtanlage in überschaubare Einheiten mit jeweils eigener Identität zu untergliedern und so erfahrbar zu machen.

In der Summe ist eine collagenhaft verspielte, aber hoch flexible und abwechslungsreich organisierte „Stadt in der Stadt“ mit hoher Aufenthaltsqualität für die Mitarbeiter entstanden, die auf engstem Raum die verschiedenen Nedap-Geschäftsbereiche integriert. Dem gleichen Prinzip folgt auch die jüngste Erweiterung - der 2005 fertig gestellte, unmittelbar an den Empfangsbereich anschließende Konferenzbereich. Der kantig geschnittene und durch eine großflächige Glasfassade geöffnete Neubau bietet einen flexibel nutzbaren Raum für Präsentationen sowie zum Empfang von Kunden. Im angrenzenden Innenhof steht den Mitarbeitern ein Zen-Garten als naturnaher Erholungsraum zur Verfügung. Mit Blick auf einen neu angelegten Teich mit Dutzenden von Koi-Karpfen, die sich hier sichtbar wohl fühlen und bereits prächtig vermehrt haben.

db, Sa., 2006.08.05



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Produktionsstätte Nederlandsche Apparatenfabriek „Nedap“



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db 2006|08 Gewerbe ausbauen

02. September 2005Robert Uhde
Neue Zürcher Zeitung

Gebaute Kontraste

Mit Projekten wie dem Utrechter «Junkie-Hostel» oder einem Brückenwärterhaus in Middelburg avancierten die Rotterdamer BAR Architecten um Joost Glissenaar und Klaas van der Molen zu einem der erfolgreichsten jungen Planungsbüros der Niederlande. Mit oft einfachen Mitteln schaffen sie überraschende Kontraste.

Mit Projekten wie dem Utrechter «Junkie-Hostel» oder einem Brückenwärterhaus in Middelburg avancierten die Rotterdamer BAR Architecten um Joost Glissenaar und Klaas van der Molen zu einem der erfolgreichsten jungen Planungsbüros der Niederlande. Mit oft einfachen Mitteln schaffen sie überraschende Kontraste.

Die Utrechter Maliebaan gehört zu den vornehmsten Adressen der Stadt. Hinter den prachtvoll verzierten neoklassizistischen Fassaden liegen die Kanzleien von Steuerbüros, Rechtsanwälten und Unternehmensberatern. Mitten in dieser noblen Gegend wurde Ende 2003 in einem dreigeschossigen Haus das durch die BAR Architecten gestaltete «Junkie-Hostel» für obdachlose Rauschgiftsüchtige eröffnet. Als wichtiger Baustein eines umfangreichen kommunalen Programms bietet die Einrichtung jedem ihrer insgesamt 28 Bewohner einen eigenen Schlafraum sowie mehrere Gemeinschaftsräume. Von aussen lässt nichts auf die an diesem Ort recht ungewöhnliche Funktion schliessen; die umgebaute Villa reiht sich nach wie vor nahtlos in die prachtvolle Allee ein. Umso überraschender präsentiert sich das Innere des Hauses, in dem die Architekten zwischen den vorder- und rückseitig gelegenen Wohnräumen zwei unregelmässige «Stapel» mit jeweils drei übereinander geschichteten, bis unter das Dach reichenden Service-Einheiten placiert haben. Und als sei diese Raumkomposition nicht schon ungewöhnlich genug, wurden die Oberflächen der Boxen durchgehend mit einem Fotoprint gestaltet, der übergrosse, fast schon psychedelisch wirkende Efeublätter zeigt - «nicht als ein Verweis auf eine durch Drogen verursachte Halluzination, sondern zusammen mit den himmelblau gestrichenen Wänden im Treppenhaus als ein Mittel, um den Übergang vom Leben auf der Strasse zum Leben unter einem Dach zu erleichtern», wie die BAR Architekten einleuchtend erklären.

Die Gründung des in einem Gewerbebau unweit des Rotterdamer Schiehavens ansässigen Büros BAR Architecten geht zurück auf den Europan-Wettbewerb von 1998, den Joost Glissenaar (1965) und Klaas van der Molen (1966) mit einem städtebaulichen Entwurf für ein Wohnquartier in Amsterdam Ost für sich entscheiden konnten. Das Projekt wurde zwar nicht realisiert, aber der Erfolg ermutigte das Duo, von dem Glissenaar zuvor bei MVRDV und van der Molen bei Kraaijvanger Urbis tätig war, kurz darauf zur Eröffnung eines eigenen Büros, wobei der Name BAR auf die Barcode-artige Anordnung der Wohnblöcke des Europan-Entwurfes zurückgeht.
Radikale Interieurs

«Wir verfolgen eine Entwurfsstrategie, mit der wir eine Art ‹ursprünglicher Architektur› erreichen wollen», erklären die Architekten im Gespräch und betrachten die unvoreingenommene Analyse der jeweiligen Funktion als ihr zentrales Leitmotiv. Eine eindeutige Formensprache ist ihnen dabei weniger wichtig. Als roter Faden hat sich stattdessen das bisweilen ironische Aufzeigen von Widersprüchen herauskristallisiert. Ein fast programmatisches Beispiel für dieses Vorgehen bietet das flexibel einsetzbare und unter anderem als Stadtteilzentrum in Leidsche Rijn eingesetzte Projekt «Mies meets Granpré» (2003) - eine Art Kreuzung aus Barcelona-Pavillon, einem gewöhnlichen Ziegelhaus und einem banalen Wohnwagen, mit der die Architekten einen gelungenen Kommentar auf die in der niederländischen Architektur kursierende Diskussion über das Verhältnis von Tradition (vertreten hier durch Granpré Molière) und Moderne (Mies van der Rohe) geschaffen haben.

Weitere Überraschungen bieten das Druckereigebäude «Plantijn Casparie» in Utrecht (2003) - ein aus drei flachen Volumina zusammengesetzter funktionaler Bau, dessen scheinbar massive Hauptfassade sich beim Näherkommen als weitgehend transparente, durch 80 Holzstützen getragene Glaskonstruktion erweist - und vor allem der Umbau eines ebenfalls in Utrecht gelegenen Altbaus von 1643 zum Sitz des Kunstzentrums BAK. Ähnlich wie beim «Junkie-Hostel» kontrastierten die Architekten dabei eine historische Altbaufassade mit einem radikal umgestalteten Interieur und entwickelten so eine sinnfällige architektonische Umsetzung des Konzeptes des Hauses, das sich als Mittler aktueller Kunstformen wie Multimedia und Performances versteht. Zentrales Element innerhalb der weiss gestrichenen Innenräume ist ein zwei Meter hinter der Aussenfassade eingefügtes, gebäudehohes Raumobjekt mit «Wänden» und Brücken aus perforiertem Stahl sowie Böden aus Glas, das Treppen, Toiletten, Empfangsraum, Bibliothek und Garderobe integriert und dabei ein labyrinthisches Spiel zwischen Realität und optischer Täuschung schafft.

Spannung zwischen Alt und Neu

Einen ähnlich gelungenen Kontrast zwischen Alt und Neu zeigt das Ende 2004 eröffnete Brückenwärterhaus in Middelburg, das als deutlicher Gegenpol zur pittoresken Innenstadtkulisse eine elegant detaillierte kristalline Glasarchitektur zeigt und dabei ein wichtiges städtebauliches Scharnier zwischen Innenstadt und Peripherie schafft. Tatsächlich durch einen Brückenwärter genutzt wird der Bau jedoch nur rund sechsmal im Jahr - zu Inspektionen etwa. Die restliche Zeit über dient er lediglich als automatisierte Schaltstation. Trotz dieser eingeschränkten Nutzung entschied sich die Stadt Middelburg dazu, den Bau nicht lediglich als funktionales Objekt zu betrachten, sondern bewilligte immerhin 300 000 Euro, um mit ihm gleichzeitig eine städtebauliche Aufwertung des Bahnhofareals zu erreichen. Die BAR Architecten (www.bararchitects.com) entwickelten daraufhin einen ambitionierten, markant geschnittenen Bau mit dreieckigem Grundriss, dessen zum Wasser hin schräg abfallendes Untergeschoss auf einem wuchtigen Betonsockel ruht. Von innen bietet die durchgehende Glashülle ein 360-Grad- Panorama, nach aussen hin zeigt sie je nach Tageszeit, Wetter und Blickwinkel die innen liegenden Installationen, oder sie spiegelt die Umgebung wider. Die Architekten selbst beschreiben den Bau deshalb als einen «auf einem Punkt ausbalancierten Diamanten, der erst nachts seine volle Ausstrahlung erreicht. Denn dann wird er von innen her beleuchtet und taucht das Wasser und die umgebende Bebauung durch das mit Siebdrucken bedeckte Glas hindurch in ein fast magisches Licht.»

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2005.09.02



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europa1 Niederlande

01. April 2005Robert Uhde
Neue Zürcher Zeitung

Das Buch im Schilf

Der nach Plänen von Rem Koolhaas erweiterte Utrechter Universitätscampus «De Uithof» ist eines der spannendsten Architekturlaboratorien der Niederlande. Jüngst wurde dort die Bibliothek des Maastrichter Architekten Wiel Arets eröffnet.

Der nach Plänen von Rem Koolhaas erweiterte Utrechter Universitätscampus «De Uithof» ist eines der spannendsten Architekturlaboratorien der Niederlande. Jüngst wurde dort die Bibliothek des Maastrichter Architekten Wiel Arets eröffnet.

Mehr als drei Jahrhunderte lang war die Universität Utrecht im Zentrum der Stadt angesiedelt. Erst gegen Ende der sechziger Jahre wurde der grösste Teil der Institute auf den rund fünf Kilometer entfernten neuen Campus «De Uithof» ausgelagert. Inzwischen ist das weitläufig angelegte Ensemble nach einem Masterplan von Rem Koolhaas sukzessive verdichtet und neu strukturiert worden. So hat es sich ganz allmählich in eine regelrechte «Stadt in der Stadt» verwandelt. Zu den interessantesten Bauten zählen die Fakultät für Wirtschaft und Management von Mecanoo (1995), das von Koolhaas als Mensa und Auditorium errichtete «Educatorium» und das «Minnaertgebouw» von Neutelings Riedijk (beide 1997). Dann folgten ein Laborgebäude von Ben van Berkel (2001) und die 2003 unter einem aufgeständerten Sportplatz eingerichtete «BasketBar» der Amsterdamer NL Architecten.

Als Letztes wurde unlängst die nach Plänen von Wiel Arets realisierte Universitätsbibliothek eröffnet. Der direkt gegenüber einem 80 Meter hohen Veranstaltungsgebäude aus den siebziger Jahren errichtete und damit nach dem Masterplan von Koolhaas am Ort der grössten städtebaulichen Verdichtung placierte Neubau fügt die zuvor an verschiedenen Stellen über die gesamte Stadt verstreuten Institutsbibliotheken unter einem Dach zusammen und schafft so endlich einen zentralen Wissenstempel für sämtliche Studierenden der Stadt. Auf insgesamt neun Ebenen stellt die neue Bibliothek mehr als 100 Regalkilometer mit rund 4,2 Millionen Büchern zur Verfügung - den grössten Teil davon als Magazinbestand, der hier nicht, wie sonst üblich, unter die Erde verbannt wurde, sondern in unterschiedlich grossen, scheinbar frei im Raum schwebenden Boxen aufbewahrt wird. Als weitere Funktionen bietet der rund 45 Millionen Euro teure Neubau eine kleine Ladenzeile und ein Lesecafé mit Aussenterrasse im Erdgeschoss sowie eine östlich angrenzende fünfgeschossige Parkgarage.

Wiel Arets zählt zu den international renommiertesten niederländischen Architekten. Zu seinen zentralen Themen gehört das raffiniert inszenierte Spiel von Transparenz und Opazität, von Zeigen und Verhüllen - zu sehen etwa bei der mit aufeinander gestapelten Glassteinen und Betonplatten gestalteten Akademie für Kunst und Architektur in Maastricht (1993) oder bei dem mit grünlichem Industrieglas eingehüllten, fast ätherisch scheinenden Hauptsitz des niederländischen Möbelherstellers Lensvelt in Breda (1999). Beim Bibliotheksneubau in Utrecht hat Arets sein an der klassischen niederländischen Moderne geschultes und durch die minimalistischen Skulpturen von Richard Serra, Donald Judd oder Sol LeWitt beeinflusstes Vokabular jetzt erstmals um einen deutlich ins Ornamentale reichenden, an Herzog & de Meuron erinnernden Akzent erweitert. Denn der langgestreckte, über eine Laufbrücke mit der gegenüberliegenden Hochhausscheibe verbundene Bau wird weitgehend durch eine partiell doppelte Glasmembran umhüllt, auf deren automatisch sich öffnender oder schliessender Aussenhaut sich die endlos wiederholten, als Sonnenschutz fungierenden Aufdrucke von Schilfhalmen zeigen. Das bildhafte Stück Natur schafft nicht nur einen intelligenten Bezug zu dem hinter dem Neubau sich anschliessenden Grüngürtel, sondern wirkt auch als poetisches Symbol für die stille Präsenz des Buches im Vergleich zum elektronischen Konkurrenten Internet. Das gleiche, vom Fotografen Kim Zwarts eingefangene Motiv findet sich als dreidimensionaler Negativabdruck in den in Beton ausgeführten Fassadenabschnitten sowie in den schwarzen Ortbetonflächen im Inneren des Gebäudes.

Kaum weniger überraschend präsentiert sich das über eine zehn Meter breite Treppe erschlossene und in sämtlichen Details durch Arets selbst entwickelte Innere der Bibliothek, in welchem die Besucher eine labyrinthartig verschachtelte gebäudehohe Halle mit schwindelerregenden Treppen und Galerien, offenen Lesesälen sowie den scheinbar frei im Raum schwebenden Büchermagazinen erwartet. Unterstützt wird der imposante Eindruck durch den schon im Äusseren wirksamen, hier aber bis ins Dramatische gesteigerten Einsatz der Farben Schwarz, Grau und Weiss: Schwarz wählte der Architekt für die bedruckten Betonwände sowie für sämtliche Decken und für die Regale, Weiss findet sich vor allem im Schilfmotiv der grossen Fensterflächen. Erweitert wird der Kontrast durch die hellgrauen Böden, in deren hochglänzender Oberfläche sich die signalroten Theken für die Ausleihe als die einzigen bunten Akzente widerspiegeln. Eine perfekt inszenierte Kulisse als architektonische Hommage an das Buch.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2005.04.01



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Universitätsbibliothek Utrecht

04. März 2005Robert Uhde
Neue Zürcher Zeitung

Belebte Industrie

Die Philips-Fabriken in Eindhoven gehören zu den bekanntesten Beispielen funktionalistischer Industriearchitektur in den Niederlanden. Schon in der Vergangenheit...

Die Philips-Fabriken in Eindhoven gehören zu den bekanntesten Beispielen funktionalistischer Industriearchitektur in den Niederlanden. Schon in der Vergangenheit...

Die Philips-Fabriken in Eindhoven gehören zu den bekanntesten Beispielen funktionalistischer Industriearchitektur in den Niederlanden. Schon in der Vergangenheit wurden Teile des Komplexes einer neuen Nutzung zugeführt, darunter die zum Veranstaltungszentrum «De Witte Dame» umgewandelte ehemalige Lampenfabrik und die frühere Bürozentrale «De Admirant», die beide in den zwanziger Jahren durch Dirk Roosenburg geplant wurden. Noch mehr Möglichkeiten bietet das rund 27 Hektaren grosse und in den kommenden Jahren nach und nach frei werdende Areal «Srijp S», auf dem nach der städtebaulichen Planung des Rotterdamer Büros West 8 bis zum Jahr 2017 ein von begrünten Boulevards erschlossenes neues innerstädtisches Quartier mit 1600 Wohnungen sowie 130 000 Quadratmetern Büro- und Gewerberaum entstehen soll. Durchgehendes Motiv des Projekts ist der Kontrast zwischen den neuen Baublöcken und Hochhäusern und dem Bestand, der zu rund einem Drittel erhalten bleiben soll. Markanteste Zeitzeugen sind dabei der Labor-Komplex, das backsteinerne «Veemgebouw» und die auf einer Länge von 400 Metern daran anschliessende, strahlend weisse Gebäudezeile «De Hoge Rug». Als erster Akzent soll im Jahr 2006 das Klokgebouw genannte ehemalige Uhrengebäude von 1929 als «Muziekfabriek» mit drei Konzerthallen für rund 3000 Besucher eröffnet werden.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2005.03.04



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europa1 Niederlande

03. September 2004Robert Uhde
Neue Zürcher Zeitung

Zeichen aus der Provinz

Oft werden die Niederlande als Eldorado avantgardistischen Bauens gefeiert. Doch nach Jahren des Aufbruchs scheint die Begeisterung einem neuen Realismus zu weichen. Einen der interessantesten Impulse steuert dabei das junge Groninger Büro Onix bei, das sich auf die Thesen des dänischen Filmemachers Lars von Trier beruft.

Oft werden die Niederlande als Eldorado avantgardistischen Bauens gefeiert. Doch nach Jahren des Aufbruchs scheint die Begeisterung einem neuen Realismus zu weichen. Einen der interessantesten Impulse steuert dabei das junge Groninger Büro Onix bei, das sich auf die Thesen des dänischen Filmemachers Lars von Trier beruft.

Die beiden ländlich geprägten Provinzen Groningen und Friesland gelten in den Niederlanden nicht gerade als Brennpunkt architektonischer Entwicklungen. In der Regel stammen die vielbeachteten jungen Baukünstler aus den beiden Metropolen Amsterdam und Rotterdam. Deutlich aus der Reihe fällt da das Groninger Architekturbüro Onix, das sich in kritischer Distanz zum herrschenden Architekturdiskurs ganz offen zum eigenen Standort im weniger dicht besiedelten Nordosten des Landes bekennt.

Nachhaltiges Bauen

Für die meisten Projekte greifen die Architekten um die beiden Gründungsmitglieder Alex van de Beld und Haiko Meijer auf den Werkstoff Holz zurück. So etwa bei dem im letzten Jahr südlich von Groningen realisierten ökologischen Behinderten- Bauernhof „De Mikkelhorst“, bei dem sie die fünf unterschiedlich grossen und mit unterschiedlich geformten, asymmetrischen Dachschrägen ausgebildeten Volumina zu einem homogenen Ganzen vereint haben. Im Schatten der Zackenlinie des Daches ist dabei eine Art Dorfstrasse entstanden, an der, wie an einer Perlenkette aufgereiht, ein Büro, ein kleiner Laden, ein Veranstaltungsraum, eine Teestube, eine Küche, eine Wohnung, eine Scheune, ein Garten sowie Weideflächen liegen. Das gesamte Ensemble besteht zu 90 Prozent aus nicht gestrichenem, naturnah behandeltem und aus Gründen der Materialauthentizität nicht hinter Blendmaterialien verstecktem Fichten- und Lärchenholz. Zum Heizen werden Holzspäne verwendet, zur Warmwasserbereitung dienen Sonnenkollektoren.

Mit ihrer Forderung nach Regionalität und Nachhaltigkeit opponieren die Onix-Architekten ganz offen gegen die ihrer Meinung nach zunehmend kommerzieller werdende Architekturpraxis in den Niederlanden. Mit sentimentalem Antimodernismus hat das jedoch nur wenig zu tun: Das Projekt in Haren erscheint mit seinen kantigen Volumina ebenso wenig als idealisierte Verklärung alter friesischer Bauernhäuser wie die beiden zuvor mit ähnlich schroffen Formen gestalteten Scheunengebäude in Donderen und Drenthe. Statt sich auf vorgegebene, vermeintlich „authentische“ Fassaden- oder Gebäudetypologien zu stützen und diese dann beliebig in neue Kontexte einzufügen - eine Strategie, wie sie gegenwärtig beispielsweise Rob Krier und Christoph Kohl in ihren neumittelalterlich anmutenden „Zitadellen“ Brandevoort oder Broekpolder praktizieren (NZZ 29. 6. 04) -, nutzt Onix die Geschichte des jeweiligen Ortes eher als konzeptuellen Ausgangspunkt einer assoziativen Spurensuche. Mit oftmals wenig sentimentalem Ergebnis: Der Bauernhof in Haren etwa befindet sich mitten auf einer von Wassergräben umschlossenen und von hohen Bäumen umgebenen „Insel“, auf der bis vor wenigen Jahren eine Kläranlage betrieben wurde. Statt die Reste dieser Anlage vollständig abzutragen, nutzte Onix sie spontan zur architektonischen Formfindung und gestaltete am Schnittpunkt zwischen Gebäude und Klärbecken einen deutlichen Fassadenvorsprung. Das stillgelegte „Bassin“ selbst soll künftig als Spielplatz dienen.

Ähnlich stark auf den jeweiligen Kontext bezogen erscheinen auch die Projekte mit eher urbanem Bezug: Das Innere des Musiksaales der Musikschule Groningen gestaltete Onix als organische Raumskulptur aus Holz, die mit ihrer Dynamik direkt auf die Ausbreitung des Klanges zu reagieren scheint, und bei der Erweiterung von vier unmittelbar neben einer Bahnlinie gelegenen Groninger Wohnblöcken setzten die Architekten kompromisslos eine gläserne Lärmschutzfassade vor die einzelnen Einheiten, um die Wohnungen so fliessend mit der Stadt zu verbinden.

Ihre theoretische Umsetzung fanden die Auffassungen der Architekten in dem Anfang 2001 gemeinsam mit anderen Groninger Architekten und Theoretikern ausformulierten Manifest „DogmA 01“ - einer bewusst auf Friesisch niedergeschriebenen „architektonischen Variante“ des dänischen Filmmanifests „Dogma 95“. Ähnlich wie das Filmemacher-Kollektiv um Lars von Trier mit „Dogma 95“ der „Verflachung der Hollywood-Produktionen“ entgegentreten wollte, zielt Onix mit „DogmA 01“ auf eine „essenzielle“ Alternative zur Verflachung der gegenwärtigen Baukultur mit ihrem Hang zur selbstgerecht inszenierten Fassadenarchitektur.

Abweichungen vom Dogma

Als puristische Zwangsjacke will die Architektengruppe Onix „DogmA 01“ jedoch nicht verstanden wissen. Die Amsterdamer Architekturkritikerin Anneke Bokern verweist in diesem Zusammenhang auf die im letzten Jahr realisierte Erweiterung eines Spielplatz-Gebäudes im Groninger Oosterpark: Zwar passt sich die als architektonischer Baumstammstapel gestaltete Form mit ihrem gekrümmten Dach deutlich dem Bestand und der Parkumgebung an, doch hat Onix hier die Stirnseiten des Gebäudes mit 30 Zentimeter langen Rundhölzern verkleidet, um so die Anmutung des Gebäudes als riesiger Holzstapel zu unterstützen. Bezogen auf den Anspruch von Onix, keine Blendmaterialien zu verwenden, handelt es sich hier um einen deutlich zur Schau getragenen Stilbruch. Ähnlich wie sich schon der 1999 von Søren Kragh-Jacobsen gedrehte Dogma-Film „Mifune“ - das nach „Festen“ von Thomas Vinterberg (1998) und Lars von Triers „Idioterna“ (1999) dritte Dogma-Werk - nicht mehr vollständig an die eigenen Regeln hielt und statt ausschliesslich auf vorhandenes Licht mitunter auch auf Scheinwerferlicht zurückgriff, so erlauben sich auch die Onix-Architekten bisweilen Abweichungen von ihrem Dogma. Nicht als Kompromiss, sondern aus ironisch- spielerischer Lust am Experiment.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2004.09.03



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Onix

02. April 2004Robert Uhde
Neue Zürcher Zeitung

Ein Modell für die Zukunft

Zunehmend grösser werdende Schiffe und moderne Umschlagtechniken haben in den letzten Jahrzehnten in vielen Städten zu einer Aufgabe zentrumsnaher Hafenbecken...

Zunehmend grösser werdende Schiffe und moderne Umschlagtechniken haben in den letzten Jahrzehnten in vielen Städten zu einer Aufgabe zentrumsnaher Hafenbecken...

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11. Dezember 2003Robert Uhde
Neue Zürcher Zeitung

Skulpturen in der Stadt

Mit seinen ungewöhnlichen, mitunter provozierenden Entwürfen gilt das Rotterdamer Duo Neutelings Riedijk als eines der schillerndsten Büros der Architekturszene. Eine Ausstellung im Niederländischen Architektur-Institut (NAI) in Rotterdam gibt anhand von 15 Modellen einen umfassenden Einblick in die Arbeit der beiden Planer.

Mit seinen ungewöhnlichen, mitunter provozierenden Entwürfen gilt das Rotterdamer Duo Neutelings Riedijk als eines der schillerndsten Büros der Architekturszene. Eine Ausstellung im Niederländischen Architektur-Institut (NAI) in Rotterdam gibt anhand von 15 Modellen einen umfassenden Einblick in die Arbeit der beiden Planer.

Auf den ersten Blick erscheinen die Arbeiten von Willem Jan Neutelings (1959) und Michiel Riedijk (1964) klar und einleuchtend. Doch dieser Eindruck täuscht, denn die eigentliche Inszenierung beginnt erst hinter den scheinbar einfachen geometrischen Formen - als Konflikt zwischen innen und aussen, als Kontrast von auffallender Sprödigkeit und raffiniertem Detail oder als ironisch-ambivalentes Spiel zwischen Theorie und Praxis. Die Architekten selbst beschreiben ihre Vorgehensweise als «skulpturale Wissenschaft»: Das in einem ersten Schritt erstellte mathematisch-rationale Konzept, mit dem sie die jeweilige Bauaufgabe organisieren, dient dabei lediglich als Grundlage eines weitergehenden, stark intuitiven Gestaltungsprozesses, bei dem sämtliche Planungsparameter wieder aufgerollt und wie in einer Bildhauerwerkstatt neu in den vorgefundenen städtebaulichen Kontext integriert werden.

Das Ergebnis dieses Prozesses sind raffiniert verschachtelte Collagen oder schwere urbane Solitäre mit ungewöhnlicher Fassadengestaltung: Der eher profane Löschwasserspeicher einer Feuerwache in Maastricht geriet zur minimalistisch inszenierten Bühne, der auf die Glasfront einer Druckerei in Ede gedruckte Gedichttext zum Element kunstvoll-überhöhender Aussendarstellung. Und das mit einer Fassade aus rotbraunen Eisenpigmenten verkleidete Utrechter Universitätsgebäude «Minnaert» erscheint den Betrachtern als meteoritenhafte Landmarke inmitten eines sonst eher avantgardistisch geprägten Umfeldes.


«Rubensartige Formen»

Einen umfassenden Einblick in die Arbeit des 1992 gegründeten Büros gibt jetzt eine Ausstellung im Niederländischen Architektur-Institut (NAI) in Rotterdam. Hinter einem schwarzen Vorhang haben die Architekten eine verdunkelte Schatzkammer mit 15 kunstvoll illuminierten Modellen von zum Teil noch unveröffentlichten Entwürfen inszeniert - darunter die Wohnbauprojekte Wijnhaven und Müllerpier in Rotterdam, die Sphinx-Wohnungen in Huizen, das Ij-Hochhaus im Amsterdamer Hafengebiet Borneo/Sporenburg, das Konzertgebäude in Brügge, das Museum für Stadtgeschichte in Antwerpen, das Niederländische Archiv für audiovisuelle Medien in Hilversum, die Schifffahrts- und Transport- Hochschule in Rotterdam, das Innenministerium in Den Haag, das Ägyptische Museum in Gizeh und das Rathaus in Moskau.

Auch diese neueren Arbeiten des Duos beziehen ihre Identität vor allem aus ihren schweren, «rubensartigen Formen» (Neutelings) sowie aus der ungewöhnlichen Gestaltung der Fassaden, die für Neutelings Riedijk in erster Linie die Funktion haben, ein Gebäude entsprechend seiner jeweiligen städtebaulichen Funktion zu kleiden. Von besonderem Interesse ist dabei der Entwurf für das voraussichtlich Ende 2004 fertiggestellte Niederländische Archiv für audiovisuelle Medien (NAA) in Hilversum, das seinen Reiz vor allem aus dem intelligent in Szene gesetzten Kontrast zwischen der Dauerhaftigkeit des im Untergeschoss gelegenen Archivs und dem eher flüchtigen Charakter der in den Obergeschossen zur Schau gestellten Welt der Medien bezieht. Nach aussen hin wird diese doppelte Funktion des Neubaus durch eine grossflächige zweite Fassadenhaut sichtbar, auf der mit Siebdruck aufgebrachte Abbildungen aus dem Archiv eine fast schon sakral anmutende Membran zwischen innen und aussen schaffen.

Ein ähnlich kompakter Entwurf gelang Neutelings Riedijk bei ihrer Planung des voraussichtlich 2005 fertiggestellten Museums für Stadtgeschichte («Museum aan de Stroom») in Antwerpen. Der in urbanistischer Hinsicht als Verknüpfung zwischen Altstadt und Hafen konzipierte quaderförmige Bau besteht aus zehn spiralförmig übereinander gestapelten und grossflächig verglasten Ebenen. Beim Aufstieg nach oben werden sich immer wieder neue Teilansichten bieten, die sich auf der Dachterrasse in rund 50 Metern Höhe zum Panoramablick über die Altstadt und den Hafen von Antwerpen schliessen werden.

Ebenfalls direkt am Wasser liegen das auf dem Rotterdamer «Kop van Zuid» geplante Kolleg für Schifffahrt und Transport - ein kraftvoller Bau aus verschiedenen, unterschiedlich grossen Volumen und mit weit auskragenden Obergeschossen - sowie das als ironisch-kitschiger Kommentar zu den Themen «Architektur» und «Städtebau» lesbare IJ-Hochhaus in Amsterdam. Der 1998 fertiggestellte Baukomplex besteht aus einem rund 60 Meter hohen Wohnhochhaus und einem langgestreckten dreigeschossigen Sockel mit einem Supermarkt. Als weithin sichtbarer Blickfang fungieren einige deutlich zurückversetzte und gleichzeitig farblich betonte Fassadeneinschnitte - fast so, als seien hier einige Stücke aus der äusseren Hülle des sonst eher unauffälligen Gebäudes herausgeschnitten worden. Eher introvertiert präsentiert sich dagegen der deutlich an der Form der Pyramiden orientierte Entwurf für das Ägyptische Museum in Gizeh, bei dem die Architekten ein Netz aus schmalen Tunneln entwickelt haben, die sämtlich in einer riesigen Halle münden.


Wohnungen über dem Wasser

Die Methode der «skulpturalen Wissenschaft» basiert auf einem logisch-rationalen Entwurfskonzept, das offen für eine Vielzahl irrationaler Eingriffe ist. Vor allem bei den Wohnbauprojekten entwickeln die Architekten oftmals eine Art Puzzle aus raffiniert ineinander verschachtelten und mitunter weit auseinander und auf verschiedenen Ebenen angeordneten Räumen. Eine Wohnung von Neutelings Riedijk ist immer auch das Ergebnis einer spielerischen Analyse der jeweiligen Bauaufgabe. Ein besonders faszinierendes Beispiel dieser Vorgehensweise zeigen die komplett im Wasser des Gooi-Sees errichteten Sphinx-Wohnungen in Huizen bei Amsterdam: Um eine weite Panoramaaussicht auf den See zu erreichen, umfassen die weit auskragenden Wohnzimmer jeweils die doppelte Wohnungsbreite. Die Bewohner wissen ihren Ausblick zu schätzen: die Fluten des Gooi-Sees im Cinemascope-Format.


[At Work. Neutelings Riedijk Architects. Hrsg. Willem Jan Neutelings und Michiel Riedijk. Verlag 010 Publishers, Rotterdam 2003. 400 S., Euro 45.-.]

Neue Zürcher Zeitung, Do., 2003.12.11

07. März 2003Robert Uhde
Neue Zürcher Zeitung

Reichtum und Komplexität

Im Jahre 1995 trennte sich Erick van Egeraat von Mecanoo und gründete das Büro EEA in Rotterdam. Typisch für sein Arbeiten ist ein Gespür für ebenso unerwartete wie sinnliche Materialkontraste. Gegenwärtig arbeitet EEA am Masterplan für das Amsterdamer Oosterdokseiland, auf dem bis 2010 eine Flaniermeile entstehen soll.

Im Jahre 1995 trennte sich Erick van Egeraat von Mecanoo und gründete das Büro EEA in Rotterdam. Typisch für sein Arbeiten ist ein Gespür für ebenso unerwartete wie sinnliche Materialkontraste. Gegenwärtig arbeitet EEA am Masterplan für das Amsterdamer Oosterdokseiland, auf dem bis 2010 eine Flaniermeile entstehen soll.

Von Anfang an war Rotterdam das wichtigste Experimentierfeld des 1956 in Amsterdam geborenen Erick van Egeraat, der während zwölf Jahren ein Vordenker des Delfter Architekturbüros Mecanoo war. Hier stehen nicht nur die meisten der Mecanoo-Bauten, hier befindet sich auch der Sitz des 1995 gegründeten Büros Erick van Egeraat Architects (EEA). Jüngster Beleg für seine enge Verbundenheit mit Rotterdam ist die Ichthus- Hochschule, die seit ihrer Eröffnung vor zwei Jahren als einer der wichtigsten architektonischen Eckpfeiler auf dem seit Mitte der neunziger Jahre neu erschlossenen Quartier Kop van Zuid gilt. Schon von weitem überzeugt der achtgeschossige Bau durch seine vollkommen transparente, durch Lamellen filigran gegliederte Glasfassade. Im Inneren der Hochschule findet sich eine offene, um ein lichtdurchflutetes Atrium organisierte Arbeitslandschaft mit Brücken, gläsernen Aufzügen und einem Restaurant mit Sicht auf den Rheinhafen und die durch van Egeraat noch bei Mecanoo zwischen 1985 und 1989 realisierte Wohnsiedlung an der Hillelaan.


Erfolge mit Mecanoo

Mit der Ichthus-Hochschule schliesst sich ein architektonischer Kreis, der fast 20 Jahre zuvor rund zwei Kilometer weiter nördlich begonnen hatte: Dort, am Rotterdamer Kruisplein, hatten van Egeraat und seine damaligen Kommilitonen Francine Houben, Henk Döll, Chris de Weijer und Roelf Steenhuis zwischen 1983 und 1985 auf Grund eines erfolgreichen Wettbewerbs einen Baukomplex mit 97 Sozialwohnungen realisieren und damit beweisen können, dass sozialer Wohnungsbau nicht nur preiswert, sondern auch schön sein kann.
Als es 1995 zum Bruch zwischen van Egeraat und Mecanoo kam, zählte das Team längst zu den erfolgreichsten niederländischen Architekturbüros. Erick van Egeraats wachsendes Interesse an eigenverantwortlicher Projektabwicklung und sein Wunsch, nicht nur hohe Qualität zu schaffen, sondern auch seine persönliche Handschrift noch stärker einzubringen, veranlassten ihn - und mit ihm rund die Hälfte der damaligen Mitarbeiter -, nach zwölf Jahren das Gemeinschaftsbüro zu verlassen und nach Rotterdam umzusiedeln. Heute beschäftigt EEA rund 110 Mitarbeiter in Rotterdam, Budapest, Prag und London.

Architektonisch betrachtet, geht der Ausstieg bei Mecanoo einher mit einer Konzentration auf eine „weiche, einladende“ Architektur, die van Egeraat selbst als „Modern Baroque“ bezeichnet. Mit Nostalgie hat dieser Begriff freilich nur wenig zu tun. Dazu ist van Egeraats Ansatz zu tief verwurzelt in der klassischen Moderne der Niederlande. Dennoch scheint es so, als hätte deren formale und intellektuelle Strenge bei den meisten von Erick van Egeraats Projekten einen sinnlichen Schmelzprozess durchlaufen. „Mit meinen Gebäuden will ich nicht das Minimale, sondern Reichtum und Komplexität erreichen“, sagt Erick van Egeraat. „Mit Glas funktioniert das perfekt, denn es ist vollkommen flexibel in seiner Ausdrucksform: Man kann es als Vorhang auffassen oder als etwas Hartes. Es ist transparent, aber es kann auch opak oder spiegelnd sein.“

So besteht die noch während der Mecanoo-Zeit begonnene Aufstockung der ING-Bank in Budapest (1992-94), mit der van Egeraat ein weisses Neorenaissance-Gebäude von 1882 krönte, aus einem organischen, zweigeschossigen Gebilde aus Holz, Stahl und Glas. Dieser auf dem Altbau aufliegende „Wal“ setzt sich aus 26 unterschiedlich geformten Schichtholzrahmen zusammen, die an der tragenden Hauptkonstruktion aus Stahl aufgehängt sind. Seine transparente Aussenhaut besteht aus insgesamt 483 unterschiedlich geformten Glasbauelementen. Bei der zweiten, 1997 abgeschlossenen Erweiterung der Bank experimentierte van Egeraat mit einem speziell beschichteten Glas, das bei geneigter Ansicht eine Fassade aus Naturstein vorzutäuschen scheint. Vollständige Transparenz ergibt sich nur bei bestimmten Lichtverhältnissen.

Den Einsatz der Details sowie des Materials und dessen Oberfläche, Farbigkeit, Transparenz oder Wärme betrachtet van Egeraat gerne als eine Sache des „Geschmacks“ und behauptet ganz ungeniert, dass seine Architektur den jeweiligen Bauherren vor allem schmecken muss: „Viele Architekten sind der Auffassung, dass Architektur nicht modisch sein darf. Ich denke jedoch, dass Architektur sich mit sämtlichen Tendenzen der Gegenwart auseinandersetzen sollte. Deshalb nehme ich ganz bewusst auch Einflüsse aus Mode und Design in meine Arbeit auf.“


Architektur und Geschmack

Ein überzeugendes Beispiel für diesen Anspruch ist das „Facelifting“ des von der Stadt Utrecht ausgearbeiteten Entwurfs für das Fachtechnische Gymnasium für Mode und Technik (1994-97), dessen Überarbeitung durch EEA fast schon einer modernen Frankenstein-Saga gleicht: Um dem eher uninspirierten Projekt neues Leben einzuhauchen, überzog van Egeraat den überwiegenden Teil des Gebäudes mit einer spannungsvoll gegliederten Hülle aus Glas und gewährte damit überraschende Einblicke in die darunter liegende technische Seite - auf strukturelle Bauglieder, Holz, freiliegendes Mauerwerk und auf die gelbe Steinwolle. Mit seinem ebenso einfachen wie sinnlichen Designkonzept verweist van Egeraat nicht nur auf die Konstruktion des Gebäudes, sondern macht gleichzeitig auch die an der Schule unterrichteten Fächer Grafik und Mode nach aussen sichtbar. Die Bekleidung des Gebäudes tritt mit dem Inhalt in einen spannungsvollen Dialog und schafft auf diese Weise einen subtil inszenierten Kommentar zu den Möglichkeiten eines Einflusses der Mode auf die Architektur.

Ähnlich ungewöhnlich zeigt sich auch die Erweiterung der Crawford Municipal Art Gallery in Cork, Irland (1996-2000), wo es van Egeraat gelang, sämtliche Vorstellungen von materieller Schwere und Leichtigkeit über Bord zu werfen: Zwar baute er das Gebäude mit den hier vorherrschenden Ziegeln fort. Anstatt diese aber zu mauern, wurden sie über einer Unterkonstruktion mit einem schnell trocknenden Kleber zu einer monolithischen, leicht gewellten Schale geformt. Die so entstandene organische Front wölbt sich nicht nur über die Glasfassade im Erdgeschoss, sondern überlappt auch den angrenzenden Altbau. Ein zusätzliches Überraschungsmoment bietet ein an die Arbeiten Lucio Fontanas erinnernder senkrechter Einschnitt, der die im Übrigen geschlossene Ziegelhaut auf halber Strecke verletzt. „In meiner Arbeit versuche ich, von der allgegenwärtigen Symmetrie und Ordnung wegzukommen und stattdessen Asymmetrie und Disharmonie ins Spiel zu bringen“, erklärt van Egeraat.


Neuste Arbeiten

Ein Wohnungsbauprojekt in Tilburg (1996-99), bei dem zwei einfache Volumen mit poliertem Naturstein, Zedernholz und grossen Glasflächen verkleidet wurden, zählt neben der Ichthus-Hochschule in Rotterdam zu den neusten Werken des Architekten. Für noch mehr Aufsehen sorgt gegenwärtig das Stadthaus in Alphen aan de Rijn, mit dem van Egeraat ein fast schon futuristischer Akzent in der beschaulichen Kleinstadt gelungen ist: Es vereint einen viergeschossigen, grossflächig verglasten und durch ein lang gestrecktes, organisches Dach bedeckten öffentlichen Bereich mit Ämtern und Stadtverwaltung und einen eher traditionell gehaltenen und ausschliesslich zur Vermietung vorgesehenen Baukörper. Die Glasfassaden sind mit Abbildungen von Blättern und Bäumen bedruckt, so dass sich das Gebäude fast in seiner Umgebung aufzulösen scheint. „Nötig? Nein! Aber doch schön anzusehen.“ - Und die Zukunft? Neben der Planung für das neue Theater der Royal Shakespeare Company in Stratford (Eröffnung des ersten Bauabschnittes voraussichtlich im Sommer 2005) ist van Egeraat gegenwärtig vor allem mit städtebaulichen Aufgaben beschäftigt: etwa mit der Umwandlung des Amsterdamer Oosterdokseilands, das sich vom Hauptbahnhof bis hin zu Renzo Pianos Wissenschaftsmuseum erstreckt.

Der für die Stadt Amsterdam und den Projektentwickler MAB aus Den Haag konzipierte Masterplan sieht bis zum Jahr 2010 die Schaffung einer innerstädtischen Flaniermeile mit Büros, Wohnungen und Kultureinrichtungen vor. Eingerahmt werden soll das rund 20 Hektaren grosse Areal durch Jo Coenens neues Hauptgebäude der Bibliothek Amsterdam im Osten nahe dem Wissenschaftsmuseum und dem von Toyo Ito geplanten europäisch-asiatischen Handelszentrum „New Chinatown Amsterdam“ direkt neben dem Hauptbahnhof. Dazwischen sind ein Hotel- und Kongresszentrum von David Chipperfield sowie Geschäfte, Büros und Wohnungen (unter anderem von Cruz & Ortiz) vorgesehen. Bei der Umsetzung steht van Egeraat eine reiche, skulpturale Formgebung vor Augen.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2003.03.07



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europa1 Niederlande

24. Januar 2003Robert Uhde
Neue Zürcher Zeitung

Gläsernes Raumschiff

Im Südwesten von Amsterdam wurde jüngst ein unkonventionelles Bürohaus fertiggestellt. Das durch die Architekten Roberto Meyer und Jeroen van Schooten entwickelte Gebäude bietet auf zehn terrassierten Geschossen eine offene Bürolandschaft für 400 Mitarbeiter. Die futuristisch anmutende Aussenhaut aus schimmernden Aluminiumpaneelen und Glas bildet die Grundlage für eine umweltverträgliche Gebäudetechnik.

Im Südwesten von Amsterdam wurde jüngst ein unkonventionelles Bürohaus fertiggestellt. Das durch die Architekten Roberto Meyer und Jeroen van Schooten entwickelte Gebäude bietet auf zehn terrassierten Geschossen eine offene Bürolandschaft für 400 Mitarbeiter. Die futuristisch anmutende Aussenhaut aus schimmernden Aluminiumpaneelen und Glas bildet die Grundlage für eine umweltverträgliche Gebäudetechnik.

Der unlängst am Schnittpunkt zwischen Bahn, Autobahn und Amstelveenseweg fertiggestellte Verwaltungssitz der ING-Bank bildet ein neues Eingangstor im Südwesten der Stadt und gleichzeitig den Auftakt zum Büroviertel «Zuidas», das hier bis ins Jahr 2020 entstehen soll. Neben einer Reihe hochgewachsener Bürobauten sieht die Bebauung auch vier flachere Pavillons im Wasser des «Neuen Meeres» vor. Um seiner Rolle als städtebauliches Scharnier gerecht zu werden, bleibt der Neubau zum Wasser hin mit rund 20 Metern eher niedrig, um auf der Stadtseite mit 48 Metern zu voller Höhe aufzusteigen - ein klares und eindeutiges Statement inmitten des extrem inhomogenen urbanistischen Kontextes entlang der Autobahn.


Coole Form

Wurden Banken und Versicherungsgebäude vor wenigen Jahren noch zumeist als geschlossene, massive «Bunker» entworfen, werden Transparenz, Dynamik oder Ganzheitlichkeit im Finanzbereich inzwischen auch durch die architektonische Erscheinung symbolisiert. Wie schon beim Bau ihrer Filialen in Prag von Frank O. Gehry und in Budapest von Erick van Egeraat setzte die weltweit operierende ING-Gruppe auch in Amsterdam auf einen spektakulären und sofort wiedererkennbaren Entwurf. Aus dem unter 17 Architekturfirmen ausgeschriebenen Wettbewerb ging schliesslich das vor 18 Jahren gegründete Büro Meyer en Van Schooten Architecten als Sieger hervor. Der 1959 in Bogotá geborene Roberto Eduard Meyer und sein um ein Jahr jüngerer Partner Jeroen Wouter van Schooten leiten eines der interessantesten jüngeren Architektenteams der Niederlande, dessen Spektrum von Wohn-, Industrie- und Bürogebäuden bis hin zu Sanierungen und Brückenbauten reicht.

Immer wieder sticht dabei die avantgardistische Formgebung heraus. Nicht als vordergründiger Effekt, sondern als spezifische Antwort auf einen jeweiligen Kontext: Trotz dem ungewöhnlichen geometrischen Layout, das eher an einen modernen Hochgeschwindigkeitszug als an ein Bürogebäude erinnert, resultiert auch die Form des neuen ING-Hauptsitzes ausschliesslich aus den städtebaulichen und architektonischen Funktionen. Aus der Entfernung wird die weithin sichtbare Landmarke vor allem durch die biomorph abgerundete Hülle aus Glas und Metall geprägt. Die stromlinienförmige Ausstrahlung suggeriert dabei Schnelligkeit und Bewegung - ein deutlicher Verweis auf den immateriellen Charakter der globalen Kapitalströme.

Beim Näherkommen wird auch der menschliche Massstab des 136 Meter langen und 30 Meter breiten Gebäudes deutlich: Die in den oberen Geschossen durchgängig als zweite Haut realisierte Glasfassade bietet nicht nur einen Einblick in die Vorgänge im Inneren, sondern schafft auch die Grundlage für das luftige und energiesparend erzeugte Binnenklima. Und ähnlich erweist sich die spektakuläre Aufständerung des Gebäudes mit Hilfe von insgesamt 32 V-förmigen Pilotis nicht als Selbstzweck. Vielmehr ermöglicht sie neben einer optimierten Erschliessung vor allem die freie Sicht von der A 10 durch das transparente Eingangsvolumen hindurch auf das Neue Meer. Aluminiumpaneele umschliessen das Auditorium in der 25 Meter weit nach Westen auskragenden «Nase» des Gebäudes und bekleiden weiter den «Unterbauch» sowie die Fassaden der zweiten Etage, hinter denen sich die gesamte Gebäudetechnik verbirgt.

Auf einer Fläche von 20 000 Quadratmetern bietet der Neubau neben hoher Arbeitsplatzqualität auch flexible Innenraumgestaltung, mit der jederzeit auf neue Anforderungen des sich rasant verändernden Finanzmarktes reagiert werden kann. Das Raumprogramm umfasst neben Büros für rund 400 Mitarbeiter und dem 250 Besucher fassenden Auditorium ein grosses Foyer, Besprechungsräume, zwei Restaurants, Archive, Technikräume sowie eine Parkgarage. Kennzeichnend für die Organisation des Innenraumes ist der fliessende Wechsel von offenen Zonen mit weiter Panoramaaussicht - wie bei den Restaurants, dem Konferenzraum, dem Auditorium, den Patios und Gärten - und eher geschlossenen Bereichen.


Patios und Gärten

Grundlage des ökologischen Energiekonzeptes des neuen ING-Hauptsitzes ist die durchgehende zweite Fassadenhaut aus Glas. Diese schafft nicht nur eine optimale Lichtausbeute und damit einen niedrigeren Strombedarf für die tageslichtabhängig gesteuerte Beleuchtung, sondern ermöglicht darüber hinaus auch die passive Nutzung von Solarenergie. Zudem erlaubt die doppelte Fassadenkonstruktion die Öffnung der Innenfenster, ohne dass man dabei den Lärm und die Abgase der Autobahn in Kauf nehmen muss. Über eine Fernbedienung können die Mitarbeiter individuell die mit Elektromotoren ausgestatteten Fenster öffnen, wodurch das jeweilige Büro dann über die Gebäudesteuerung automatisch von der zentralen Klimaanlage abgekoppelt wird. Am Ende des Tages werden die Fenster automatisch wieder geschlossen und die Klimaanlage wieder eingeschaltet. Um zu verhindern, dass während des Öffnens verunreinigte Luft ins Gebäude einfliesst, wird die in den Zwischenraum zwischen den beiden Schichten einströmende Frischluft dabei ausschliesslich auf der zum Neuen Meer hin gelegenen Südseite eingeschleust.

Eine weitere Massnahme zur Unterstützung der natürlichen Klimatisierung der Innenräume bieten die auf verschiedenen Ebenen angelegten Atrien, Patios und Gärten. Jede der Grünzonen hat einen spezifischen, auf den jeweiligen Ort zugeschnittenen Charakter: Bei der Auffahrt mit dem Panoramalift vom ersten bis ins achte Geschoss fällt der Blick unter anderem auf einen Bambusgarten, auf einen Dschungelgarten und die mit Palmen bepflanzte Süd-Loggia in der sechsten Ebene. Den Höhepunkt der botanischen Exkursion bietet jedoch das achte Geschoss - mehr als 40 Meter über der Stadtlandschaft trifft der Besucher hier auf einen nach aussen hin offenen Garten mit üppig wucherndem Königsfarn und Schottischen Fichten.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2003.01.24



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Verwaltungssitz der ING-Bank

05. April 2002Robert Uhde
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„Eine virologische Architektur“

Der Limburger Architekt Wiel Arets

Der Limburger Architekt Wiel Arets

Mit der Maastrichter Akademie für Kunst und Architektur hat Wiel Arets schon vor Jahren für internationales Aufsehen gesorgt. Seine minimalistischen Bauten interpretieren das bekannte Vokabular der frühen Moderne, wahren aber dabei eine deutliche Distanz zu der in den Niederlanden noch immer populären Neomoderne.

Beim Gang durch das historische Zentrum von Maastricht wird der architekturinteressierte Blick früher oder später auf die rostige Fassade aus Cortenstahl des Herrenausstatters Beltgens treffen. Mit dem 1987 eingerichteten Modegeschäft ist Wiel Arets ein unprätentiöser aber würdevoller Eingriff in die alte, einst von den Römern gegründete Stadt gelungen: Von der Fussgängerzone aus öffnet eine hohe, schmale Tür eine visuelle Schneise zu einem kleinen Patio hinter dem Verkaufsraum, in dessen Mitte die aufgesockelte Büste eines Römers steht. Die deutlich überhöhte, fast schon surreale Ästhetik verwandelt das Modegeschäft in eine Art architektonisches Kunstwerk und lässt die Herrenbekleidung unversehens zur spirituellen Ware werden.


Spitzenleistungen in der Provinz

Einen ganz anderen Eindruck gewinnt man einige hundert Meter weiter südwestlich, wo der 1955 im nahegelegenen Heerlen geborene Architekt vor einigen Jahren ein eigenes Wohn- und Bürohaus fertiggestellt hat - eine minimalistische, längliche Box aus Holz und Beton; nach vorne hin fast verschlossen, nach hinten hin deutlich offener, mit einem langgezogenen horizontalen Fensterband und einem Zugang zum Garten. Trotz seiner festen Verwurzelung in der niederländischen Provinz Limburg versteht sich Arets nicht eigentlich als niederländischer Architekt: „Ich glaube, dass wir eher Kinder unserer Zeit als von einem Ort abhängig sind“, meint Arets, der nach Reisen durch Japan, Russland, Amerika und Europa an der Architectural Association in London (1988-92), an der Columbia University in New York (1991/92) und als Dekan am Berlage-Institut in Amsterdam (1995-98) unterrichtete.

Schon die ersten, zwischen 1984 und 1989 entstandenen Projekte verraten eine deutliche Nähe zur frühen niederländischen Moderne - zu Arbeiten von Johannes J. P. Oud oder Leen van der Vlugt etwa. Mit Gebäuden wie dem Friseursalon in Heerlen (1987) oder der Apotheke in Brunssum (1986) beruft sich Arets noch einmal auf die Forderung, Architektur als Materialisation eines Konzepts zu typisieren und den Ideen von Abstraktion, Universalität, Dauerhaftigkeit und Transparenz eine physische Form zu geben. Von einer „Architektur der Freiheit“ spricht Arets und beschwört dabei die weisse kubische Form, die geschlossene Planung, die Wandstruktur aus Beton und Glas und die patternartige Ausbildung horizontaler Fensterbänder.

Gegenüber den Werken seiner modernen Vorgänger zeichnen sich Arets' Arbeiten jedoch von Beginn an durch einen latenten Bezug zum städtebaulichen Kontext aus. „Wir wollen, dass unsere Gebäude in den existierenden Kontext passen und dabei flexibel und offen für Veränderungen bleiben“, erklärt Arets. Und tatsächlich: Spätestens mit der 1993 fertiggestellten Erweiterung der Akademie für Kunst und Architektur in Maastricht gerät die strenge Geometrie mehr und in Bewegung - die Baukörper schweben, hängen oder überbrücken. Als ein Ergebnis der Massstabsausweitung entwickeln sie sich in Richtung einer verlängerten oder gruppierten Konfiguration. So gelang Arets in Maastricht mit zwei L-förmig angelegten, minimalistisch gehaltenen Blöcken nicht nur eine mutige Zäsur gegenüber der angrenzenden alten Bebauung - durch eine Fussgängerbrücke, die beide Baukörper miteinander verbindet, wurde überdies ein Tormotiv zwischen der historischen Stadt und dem neugeschaffenen „Gedenkplatz“ (Herdenkingsplein) etabliert, wo fast zeitgleich mit der Akademie auch ein durch die Delfter Mecanoo- Architekten entwickelter Wohnkomplex eingeweiht wurde.


Inhaltliche Polyphonie

„Zunehmend hört man, dass es die Aufgabe der Architektur sei, die Städte wieder zu reparieren“, stellt Arets in seinem 1994 veröffentlichten Essay „A Virological Architecture“ fest. Folgt man dem Gedanken, dann stellt sich unweigerlich die Frage nach der richtigen architektonischen Medizin. Im Hinblick auf die Akademie in Maastricht berichtet Arets: „Ich habe intensiv die städtebaulichen Implikationen dekodiert und dann an dieser Stelle ein Gebäude eingefügt, das langsam zwar, aber nachhaltig die Umgebung verändert. Dieser Effekt ist vergleichbar mit einem Virus - einem positiv verstandenen Virus. Ich möchte etwas entwickeln, das aus der Umgebung, also aus dem Organismus selbst hervorkommt, die Codierung dieses Organismus beeinflusst und schliesslich einen neuen Code einfügt.“ Erst durch diese Form der Entschlüsselung kann ein neues Gebäude nach Arets' Überzeugung die Energie erhalten, die es braucht, um die städtebauliche Situation positiv zu verändern und „Räume für das Unvorhergesehene“ und „Spannungen innerhalb der Stadt“ zu schaffen.

Arets will mit seiner Strategie Gebäude entstehen lassen, die zwar „scheinbar einfach aussehen, denen aber eine ungeheure Komplexität innewohnt, so dass man ständig Neues entdeckt“. Bewusst strebt er dabei keine Komplexität der Form, sondern eine „inhaltliche Komplexität“ an: „Ich suche nach inhaltlicher Polyphonie, weil sie ein vielschichtiges Lesen ermöglicht“, meint Arets und vergleicht sein Konzept schliesslich mit den vielschichtig angelegten Filmen von Jean-Luc Godard: „Die Wegführung von Gebäuden entspricht im Prinzip dem Blickwinkel eines Kameramanns.“

Auf den Wahrnehmungsprozess des Betrachters verweist auch das Spiel mit Transparenz und Transluzenz. So besteht die Aussenhaut der Maastrichter Akademie aus massiv aufeinander gestapelten, mattierten Verbundglassteinen oder Betonplatten. Einen ähnlichen Eindruck gewinnt der Besucher auch beim AZL-Pensionsfonds (1990-95) im nahegelegenen Heerlen, einem Erweiterungsbau, dessen rigorose Betonformen in starkem Kontrast zu dem aus mehreren Flügeln bestehenden Ziegelsteinbau von 1941 stehen. Unter einem auskragenden Betonkopfbau hindurch gelangen die Kunden zu einer Freitreppe aus transluzenten Glasbausteinen, die gleichzeitig die Decke des darunterliegenden Archivs bilden. Nachts verwandelt sich der gläserne Boden in einen leuchtenden Teppich, der von der Eingangstreppe aus bis weit in das Gebäude hinein reicht.

„Architektur ist ein Dazwischen, eine Membran, eine Alabasterhaut, ein Ding, das einmal opak und einmal durchsichtig ist, bedeutungsvoll und bedeutungslos, real und irreal“, stellte Arets 1992 in seinem Essay „An Alabaster Skin“ fest. „Wenn man über Haut, Transparenz und Dichte redet, dann soll man nicht nur über das eine Element des Gebäudes, die Fassade, reden. Das Gebäude als Ganzes kann als Haut verstanden werden.“ Ein heikles Unterfangen, schliesslich offenbart die gläserne Haut Geheimnisse aus dem Inneren und hebt die vertrauten Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit auf. Bei der 1998 fertiggestellten Polizeistation in Boxtel - einer von vier realisierten Polizeistationen des Architekten - suchte Arets nach einem spielerischen Kompromiss zwischen notwendigen Sicherheitsanforderungen und dem Bedürfnis, Einblick in die Arbeit der Polizei zu gewähren: Die einzelnen Baukörper wurden so zwar weitgehend von einer Haut aus mattem Industrieglas überzogen, aber nur an einigen Stellen lassen Öffnungen der inne liegenden Betonschale erahnen, was dahinter geschieht. „Reale“ Ein- und Ausblicke werden hingegen erst durch einige wenige horizontal geschnittene Fenster ermöglicht.


Architektur mit Textbezug

Arets' Architektur steht in engem Zusammenhang mit den Schriften, mit denen er sich beschäftigt oder beschäftigt hat. So prägten Nietzsches und Foucaults Schriften den Entwurf für das Gerichtsgebäude in Groningen, und die Amsterdamer Academy for the Arts (1990) weist Bezüge zu den Theorien von Gilles Deleuze und Félix Guattari auf. Im unmittelbaren Kontakt mit den Gebäuden von Arets lassen sich diese Verweise jedoch getrost beiseite schieben. Die suggestive Kraft der stellenweise fast archaischen Architektur spricht für sich selbst. Sie ist stärker als ihre Theorie und strahlt eine Präsenz aus, die jeden Besucher umgehend zum Benutzer werden lässt. Mit einer auf das äusserste reduzierten Architektur zelebriert Arets die rohe Oberfläche, so dass sie einen sinnlichen Reiz und eine haptische Qualität gewinnt. Seine Vorliebe für Beton, Glas (in allen denkbaren Formen), Holz und Zink ist dabei unübersehbar. Gerade der Werkstoff Beton aber gewinnt auf grossen Flächen eine japanisch inspirierte Kargheit.

Ein weiteres Exempel seiner Architektur hat Arets kürzlich mit dem neuen Hauptsitz für den Möbelhersteller Lensvelt in Breda geschaffen: ein langgestrecktes, kristallines Gebäude, das Fabrikhalle, Büros und Showroom unter einem Dach vereint. Auch hier wird der Baukörper zu weiten Teilen von einer transluzenten Hülle umgeben. Das leicht grünliche Glas lässt so schon von weitem die Funktion des Gebäudes erahnen: Hinter der entblössten Tektonik zeichnen sich deutlich sichtbar die Konturen von Paletten und anderem Zubehör der Möbelfirma ab. Beim Gang ins Innere des Gebäudes hält Arets eine weitere Überraschung bereit: Unter einer rund 2,50 Meter über die Erde gehängten Box gelangen die Besucher ganz unverhofft in einen langgestreckten Innenhof, der von den Rotterdamer Landschaftsarchitekten West 8 als ein zenartiges Stilleben mit einer hölzernen Rampe, Ginkgo-Bäumen und einem skulpturalen Wall aus scharfkantigem Schiefer gestaltet worden ist.

Noch nicht fertig gestellt oder noch in Planung sind das multifunktionale Oosterpark-Stadion in Groningen, das bis 2004 als Teil des 54 Hektaren grossen Innenstadtquartiers Europapark realisiert werden soll, und die im Südwesten von Amsterdam entstehenden, 150 Meter hohen Arena-Türme. Fortgeschritten sind auch die Arbeiten auf dem nach einem Masterplan von OMA erweiterten Utrechter Universitäts-Campus „De Uithof“, wo gegen Ende nächsten Jahres die von Arets geplante neue Bibliothek eröffnet wird. Die Entwürfe dieses bisher grössten Projektes des Limburger Architekten zeigen einen neungeschossigen, von einer siebdruckbeschichteten Glashaut umhüllten Bau, der mit den Nachbargebäuden durch zwei Fussgängerbrücken verbunden wird. Durch die transluzente Aussenhaut hindurch offenbart sich ein raffiniertes Puzzle aus hohen Patios, die eine offene Verbindung zwischen Lesesälen und Büros schaffen und die Bibliotheks-Archive aufnehmen sollen. Der Bau fasst die über die gesamte Stadt verstreuten Bibliotheksstandorte an einem Ort zusammen und schafft durch seine Lage im Zentrum des Campus auch einen wichtigen städtebaulichen Schnittpunkt. Das nur einen Steinwurf weit entfernte Educatorium von Rem Koolhaas erwartet also interessante Nachbarschaft.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2002.04.05



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07. September 2001Robert Uhde
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Raffiniert verschachtelt

Wohnhäuser von MVRDV auf Borneo in Amsterdam

Wohnhäuser von MVRDV auf Borneo in Amsterdam

Im Hafengebiet von Amsterdam, ganz im Osten der Halbinsel Borneo, erlaubte die Stadt privaten Bauherrschaften, Häuser mit selbst gewählten Architekten zu realisieren. Das spektakulärste Ergebnis sind wohl die beiden Bauten von MVRDV.

Haus an Haus, so weit das Auge reicht. Das östliche Hafengebiet von Amsterdam gilt als das derzeit kompakteste Neubaugebiet der Niederlande. Nachdem das Gelände gegen Ende der siebziger Jahre durch die Verlegung von Hafenaktivitäten zum Brachland geworden war, sollten die Hafenbecken eigentlich zugeschüttet und das Gebiet mit einer homogenen Blockbebauung aufgefüllt werden. Gut nur, dass sich der Planungsprozess hinzog, denn es brauchte noch rund zehn Jahre, bis die Stadt das atmosphärische Potenzial des Areals erkannte. Nun sollten die ehemaligen Molen KNSM-Eiland, Java-Eiland, Borneo und Sporenburg erhalten bleiben und dem neuen Stadtteil gemeinsam mit Überresten der Hafenanlagen als identitätsstiftendes Element dienen.


Individuelle Auftraggeberschaft

Bei der Ausschreibung für die Entwicklung eines städtebaulichen Konzepts für Borneo und Sporenburg setzte sich das bekannte Planungsbüro West 8 unter Leitung von Adriaan Geuze gegen Vorschläge von Wytze Patijn und Quadrat (alle aus Rotterdam) durch. Um die geforderte Dichte von 100 Häusern je Hektare Bauland einhalten zu können, sah der Plan von West 8 vor, den überwiegenden Teil der insgesamt 2200 Wohneinheiten auf Borneo und Sporenburg als dreigeschossige, radikal in die Tiefe organisierte Reihenhausbebauung mit Flachdach und individuellem Zugang auszuführen. Die minimalen Freibereiche sollten durch die vorhandenen Hafenbecken kompensiert, die privaten Aussenflächen der Wohnungen als Patios und Dachterrassen in die zwischen 4,20 Meter und 6 Meter schmalen und bis zu 40 Meter tiefen Parzellen integriert werden. Um trotz der unterschiedlichen Planung einen Bezug zur grossflächigen Bebauung der benachbarten Hafenmolen KNSM und Java zu schaffen und dem Meer an Häusern eine Struktur zu geben, wurden dem dicht gewebten Reihenhausteppich zwei Monolithen von Frits van Dongen (De Architecten Cie, Amsterdam) und Kees Christiaanse (Rotterdam) - beide auf Sporenburg - zur Seite gestellt. Die Halbinsel Borneo wird dagegen durch einen elfgeschossigen Wohnbau von Koen van Velsen bestimmt, der wie ein Fels aus den flachen Häuserzeilen hervorragt. Noch hinter dem Superblock, am östlichen Ende der rund 700 Meter langen und 200 Meter breiten Halbinsel, liegt die Scheepstimmermanstraat - trotz den langgestreckten Häuserreihen, die die Strasse zu beiden Seiten hin umsäumen, ein relativ intimer und in sich gekehrter Ort.

Die Bebauung der Scheepstimmermanstraat folgt im Wesentlichen dem Konzept von West 8. Im Unterschied zu den übrigen auf Borneo und Sporenburg realisierten Wohnhäusern, die durchgehend von Generalunternehmen errichtet wurden, hat die Stadt hier jedoch sechzig privaten Auftraggebern die Möglichkeit gegeben, ihre eigenen Wohnungen entwerfen und bauen zu können - ein ziemlich einzigartiges Unternehmen, denn erstmals seit dem 17. Jahrhundert verkaufte die Stadt Amsterdam hier Baugrundstücke an Privatpersonen zum Bau von Eigentumswohnungen. Das aufsehenerregende Projekt steht damit in engem Zusammenhang mit der seit einigen Jahren in den Niederlanden geführten Diskussion über individuelle Auftraggeberschaft in den staatlich festgesetzten Neubaugebieten («Vinex-Gebieten»). Massgeblich an der Debatte beteiligt ist der Rotterdamer Architekt Carel Weeber: Noch 1980 sagte er das «Ende der Behaglichkeit» des Bauens der siebziger Jahre voraus und plädierte für grossflächige, durch öffentliche Auftraggeber finanzierte Wohnbauten, für Lösungen also, wie sie auf Java und der KNSM-Insel realisiert wurden. Jetzt vertritt Weeber das genaue Gegenteil und setzt sich für das in der Scheepstimmermanstraat praktizierte «wilde wonen» ein.


Traditionell oder radikal utopisch

Trotz aller Experimentierfreude zeigt die Scheepstimmermanstraat ein einheitliches Strassenbild: Verbindlich festgeschrieben war neben der durchgehenden Tiefe von 16 Metern vor allem die maximale Höhe der Bebauung (9,5 Meter). Sonst aber lässt das Konzept von West 8 den Bauherren und Architekten sämtliche Freiheiten: Bewegt sich schon die Breite der in der Scheepstimmermanstraat bebauten Parzellen willkürlich zwischen 4,20 und 6 Metern - zum Teil wurden auch zwei Baugrundstücke zusammengezogen, um mehr Freiheiten bei der Gestaltung des Grundrisses zu haben -, so zeigen die Fassaden der Häuser jede denkbare Möglichkeit der Gestaltung: Eher schlichte Entwürfe wechseln dabei übergangslos mit radikal-utopischen oder traditionellen Auffassungen - Backstein trifft hier unvermittelt auf Beton oder Aluminium, auf skulpturartig verzinkten Stahl oder Stuck, auf Glasbausteine oder Corten-Stahl. Gleich daneben wechseln Lochfassaden mit Holzlamellen und treffen typische Amsterdamer Grachtenhausfassaden auf italienische Formen. Zeigt sich die eine Front verschlossen, so ist die nächste offen und transparent oder bietet, wie der Entwurf von Herman Hertzberger, einen schmalen Gang zum Wasser. Die gleiche Vielfalt ist auch bei der Raumaufteilung zu beobachten: Verschachtelten Lösungen stehen offene Varianten mit flexiblen Grundrissen entgegen, die Raum bieten zur Einrichtung von Büros, hellen Künstlerateliers oder Restaurants und die über Dachterrassen, Erker, Balkone oder Patios, Galerien, Wintergärten oder tiefe Gärten verfügen.

Zwei besonders spektakuläre Entwürfe stammen aus der Feder von MVRDV aus Rotterdam. Auf der vier Meter breiten und 16 Meter tiefen Parzelle Nr. 18 haben Winy Maas, Jakob van Rijs und Nathalie de Vries den vorhandenen Raum optimal genutzt. Obwohl die baurechtlich festgelegte Höhe von 9,5 Metern eigentlich nur die Ausbildung von drei Geschossen erlaubt hätte, haben MVRDV durch eine überaus intelligente räumliche Organisation vier Etagen mit einem zusätzlichen Zwischengeschoss realisieren können. Zwei kastenförmig ins Wohnungsinnere integrierte Volumen sowie die Absenkung des zum Wasser hin vorgeschriebenen Gartens, den die drei Architekten als vollständig verglaste, patioartige Veranda ausgebildet haben, sorgen für zusätzlichen Raum und vermeiden eine langweilige Stapelung identischer Etagen. Den Architekten ist es trotz der erhöhten Geschosszahl gelungen, die raffiniert miteinander verschachtelten Räume teilweise höher als in üblichen Wohnungen auszuformen: Das der grosszügigen Veranda gegenüber im ersten Stock liegende Wohnzimmer strebt fast schachtartig nach oben und erreicht dabei die Höhe von rund sechs Metern! Das spannend inszenierte Raumerlebnis bildet einen interessanten Kontrast zur fast schon beklemmenden Enge der schmalen Treppen.


Gestapelte Blöcke

Direkt unter dem Wohnzimmer bietet der erste der beiden Blöcke zur Strasse hin Platz für Garage, Eingangsbereich, Abstellraum und Küche. Der zweite Block ragt als wuchtiges, scheinbar frei schwebendes Betonvolumen über der zweigeschossigen Veranda hervor - gerade so, als sei er von den Architekten aus dem Baukörper herausgeschoben worden. Von aussen ist der mit einem Fenstervorsprung ausgebildete Block mit rötlich-braunem Holz verkleidet, in seinem Inneren befinden sich ein Schlaf- und ein Badezimmer. Ein Stockwerk höher, wo das Dach des Hauses zum Wasser hin leicht ansteigt und wo der Blick über eine zweite Galerie ins untenliegende Wohnzimmer hinabstürzt, befindet sich ein lichtdurchflutetes Studio mit Zugang zu einer grosszügigen Dachterrasse. Von hier aus bietet sich den künftigen Bewohnern des Hauses ein prächtiger Ausblick auf das Hafenbecken und die Häuserfront am gegenüberliegenden Ufer.

Ein ähnlich verschachteltes Wohngebäude findet sich auf Parzelle Nr. 12. Auf dem fünf Meter breiten und 16 Meter tiefen Grundstück errichteten die Architekten ein experimentelles Patiohaus, das sich aus zwei schmalen Raumzonen zusammensetzt, von denen nur die rechte Hälfte vollständig bebaut ist. Auf diese Weise ist die Breite des Hauses auf nunmehr 2,5 Meter minimiert worden - die extremste Form des ursprünglichen Plans von West 8! Um die schmale Wohnung ausreichend mit Tageslicht versorgen zu können und den Einsatz von Kunstlicht zu vermeiden, wurde die zum «Innenhof» der Parzelle liegende Fassade des Gebäudes über die gesamte Länge und Höhe vollständig verglast. Innen- und Aussenraum gehen so ineinander über. Geschlossen zeigt sich dagegen die zum Wasser hin orientierte Stirnseite des Hauses.

Über dem unbebauten Teil der Parzelle haben die Architekten zwei geschlossene, nach oben hin verglaste Blöcke an die gläserne Fassade gehängt, die den als Garten vorgesehenen «Innenhof» des Grundstücks überkleiden. Das zur Strasse hin gelegene Volumen beherbergt ein Gästezimmer mit darüber liegendem Bad. In entgegengesetzter Richtung vergrössert ein zweiter Block das zweigeschossige Studio und schafft ausserdem die Plattform für eine Dachterrasse. Ein zusätzlich eingefügter dritter Block neben dem Eingangsbereich verbindet die Wohnung mit der Strasse. Unter seinem ansteigenden, als Garagenrampe fungierenden Dach haben die Architekten einen Lagerraum integriert.


Gebaute Manifeste

Schon in «Farmax», einem 753 Seiten dicken Buch von MVRDV, werden utopische Szenarien für extrem gestapeltes Wohnen und Arbeiten beschrieben. Seine Fortsetzung fand das horizontale und vertikale Zusammenballen mit der Anfang letzten Jahres unter anderem in der Galerie Aedes East in Berlin vorgestellten Videoanimation «Metacity/Datatown». MVRDV fragten: «Wie können wir die Stadt in Zeiten der Globalisierung und Bevölkerungsexplosion verstehen?», und entwickelten einen auf verschiedenen vertikalen Ebenen organisierten Stadtstaat für rund 250 Millionen Einwohner. Ein geschickt inszeniertes Gedankenspiel, das auf manchen Betrachter sicher etwas befremdlich wirken mag - in der gebauten Realität überzeugen die Strategien von MVRDV jedoch immer: Die Alterswohnungen in Amsterdam, das Sendegebäude VPRO in Hilversum oder das Doppelwohnhaus in Utrecht bilden ebenso überzeugende Manifeste urbaner Verdichtung wie der niederländische Pavillon auf der Expo 2000 oder eben die beiden Wohnhäuser auf Borneo.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.09.07



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01. Dezember 2000Robert Uhde
Neue Zürcher Zeitung

Verwandelte Sphinx

Neben Einzelbauten wie dem Niederländischen Architektur-Institut (NAI) in Rotterdam hat Jo Coenen eine Vielzahl städtebaulicher Projekte entwickelt: Nach der Revitalisierung eines Klosters in Tilburg und der Umwandlung der Amsterdamer KNSM-Insel wird demnächst das «Sphinx-Céramique-Terrain» in Maastricht fertig gestellt.

Neben Einzelbauten wie dem Niederländischen Architektur-Institut (NAI) in Rotterdam hat Jo Coenen eine Vielzahl städtebaulicher Projekte entwickelt: Nach der Revitalisierung eines Klosters in Tilburg und der Umwandlung der Amsterdamer KNSM-Insel wird demnächst das «Sphinx-Céramique-Terrain» in Maastricht fertig gestellt.

Nur selten liegen Geschichte, Gegenwart und Zukunft derart eng beisammen: In römischer Zeit war Maastricht (Mosae Traiectum) Teil der Heerlinie, die Köln (Colonia Agrippina) mit Boulogne (Bononia) verband. Im Mittelalter wuchs die Bedeutung des ersten Bischofssitzes auf dem Gebiet der heutigen Niederlande rasch - als stumme Zeugen dieser Epoche verankern die Überreste der jahrhundertealten Festungsmauern Maastricht noch heute fest und sicher im Erdboden. Und seit die südlichste Stadt der Niederlande 1992 auch als Ort europäischer Währungspolitik von sich reden machen konnte, schlendern die Touristen noch zahlreicher als zuvor durch den alten Stadtkern mit seinen vielen Strassencafés.


Ehemaliges Industriegebiet

Auf dem gegenüberliegenden Ufer der Maas entstand seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine bedeutende Tonwaren-Industrie. Um dem Viertel nach dem Niedergang der Sphinx-Fabriken neue Impulse zu geben und dabei das vernachlässigte Potenzial des rechten Maasufers zu nutzen, entschied sich die Stadt Maastricht in den achtziger Jahren dazu, die 23 Hektaren grosse Fläche um das ehemalige Industriegebiet zu einem zentrumsnahen Quartier mit Büros und Wohnungen für 2500 Bewohner umzuwandeln. Der 1987 vorgestellte und seit 1990 sukzessive realisierte Masterplan des ortsansässigen Architekten Jo Coenen sah vor, den nahe der historischen Stadtgrenze gelegenen Nordpunkt des Viertels durch einen neu angelegten, zentralen Boulevard - die Avenue Céramique - mit der weiter südlich gelegenen Stadterweiterung Randwyck zu verbinden.

Die entlang dieser breiten Hauptschlagader angeordnete städtebauliche Komposition reagiert auf die verschiedenen Entstehungsperioden von Maastricht: Im Norden, direkt neben den auf einer Läge von 150 Metern ausgegrabenen und neu in Szene gesetzten mittelalterlichen Stadtmauern, strukturiert ein zentrales Scharnier das Sphinx-Céramique-Terrain - neben öffentlichen Funktionen wie einem grossen Marktplatz und einer Geschäftspassage ist hier auch das durch Coenen selbst entwickelte Centre Céramique angesiedelt. Nach Süden hin, wo das Viertel mit Aldo Rossis Bonnefanten-Museum schon vor Jahren ein sichtbares Zeichen erhalten hat, schliessen grosse offene Volumen die Lücke zwischen den geschlossenen Baublöcken der Stadt des 19. Jahrhunderts und der in den achtziger Jahren entwickelten Stadterweiterung Randwyck und schaffen eine ins Monumentale abgewandelte Fortsetzung der durch die CIAM formulierten Auffassungen der modernen europäischen Stadt.

Die von Norden kommenden Besucher des neuen Viertels werden durch die weit ausgreifenden Arme eines im Knickpunkt der Avenue Céramique gelegenen Baus von Mario Botta empfangen. Durch seine wuchtige, fast bastionhafte Architektur - das in rotem Backstein ausgeführte Ensemble besteht aus einem zentralen Wohnzylinder, der als Scharnier für die beiden flacheren Büroflügel dient - bildet das Gebäude einen weithin sichtbaren Auftakt und schafft eine deutliche Verbindung zur Geschichte der ehemaligen Festungsstadt Maastricht.

Kultureller und städtebaulicher Mittelpunkt des neuen Quartiers ist jedoch das im letzten Jahr eröffnete und dem Botta-Bau gegenübergelegene Centre Céramique von Coenen - ein aus verschiedenen Volumen collagierter und nahezu gläserner Solitär, der auf acht offen übereinander geschichteten Ebenen die neue Stadthalle, eine öffentliche Bibliothek, das Stadtarchiv, ein Informationszentrum und das Europäische Journalistenzentrum beherbergt. Die nicht öffentlich zugänglichen Büros befinden sich in einem vollständig geschlossenen, mit vorfabrizierten Betonpaneelen verkleideten Volumen, das die Südwand und die oberen beiden Geschosse des Gebäudes umfasst.

Nach Westen, also zur Maas hin, hat Coenen einen fliessenden Übergang zwischen der im Erdgeschoss des Gebäudes gelegenen Stadthalle und dem davor sich ausdehnenden Marktplatz geschaffen - eine gelungene Verbindung zwischen Innen- und Aussenraum, der sich auf Souterrain-Niveau eine Verflechtung mit dem Wasser der Stadsgracht und Teilen der rekonstruierten mittelalterlichen Stadtmauer anschliesst. Diese bilden gemeinsam die südliche Begrenzung des Gebäudes. Direkt nebenan führt der intelligent inszenierte Gang durch die Geschichte von Maastricht zum neu errichteten Theatercafé und von dort in die inzwischen zum Theater umgenutzte, ehemalige Porzellanhalle, die mit ihren backsteinernen Fassaden, der Rosette und den grossen Rundbogenfenstern die Zeit der alten Sphinx-Fabriken in Erinnerung ruft.

Von der Theaterhalle aus fällt der Blick auf einen lang gestreckten, siebengeschossigen Riegel aus anthrazitfarbenem Backstein, der den Marktplatz nach Norden hin abschliesst. Der durch den Luganeser Architekten Aurelio Galfetti errichtete Bau bietet neben 100 Wohnungen eine im Erdgeschoss gelegene Geschäftspassage. In westlicher Richtung schliessen sich dem Marktplatz zwei von Coenen errichtete Bauten mit Aussicht auf den Fluss an: ein Luxusapartmenthaus und ein Bürogebäude. Und ab 2001 wird eine neue Brücke für Radfahrer und Fussgänger über die Maas führen. In gegenüberliegender Richtung, an der Avenue Céramique und direkt vis-à-vis des Botta-Baus, folgen zwei Gebäude von Alvaro Siza: ein dem geschwungenem Verlauf des Boulevards angepasster, viertelkreisförmiger Wohnblock und ein 17-geschossiger Wohnturm mit Fassaden aus weissem Marmor, Zink und grauem Naturstein.

Während der nördliche Bereich des Sphinx-Céramique-Terrains bereits Anfang 2001 fertig gestellt sein soll, werden die Arbeiten im südlichen Bereich des Viertels voraussichtlich erst ein Jahr später abgeschlossen. Soeben begonnen hat man hier etwa mit dem Bau eines durch Luigi Snozzi geplanten, direkt am Maasufer gelegenen Appartement-Komplexes: Die lang gestreckte, aus insgesamt zwölf rhythmisch gegliederten Volumen bestehende Zeile soll nach ihrer Fertigstellung 131 Wohnungen bieten - alle mit Blick auf den Fluss und den davor liegenden Charles-Eyck-Park, der das Centre Céramique im Norden mit dem Bonnefanten-Museum im Süden verbindet. Gegenüber Rossis Bau schliessen sich ein bereits fertig gestelltes Bürogebäude von Wiel Arets und ein noch zu errichtender Büroblock von Herman Hertzberger an. Im zentralen Bereich des Viertels - zwischen dem Block von Snozzi im Westen und der durch die historische Einfallsroute gebildeten östlichen Begrenzung - wird die Avenue Céramique von grossflächigen Wohnblöcken mit insgesamt rund 800 Wohnungen gesäumt. Als Architekten dieser Bauten zeichnen Bruno Albert (Lüttich), Theo Teeken (Heerlen), Arno Meijs, Hari Gulikers und Buro Boosten (alle Maastricht), Bob van Reeth (Antwerpen), Hubert-Jan Henket (Boxtel), MBM Arquitectes (Barcelona) und Cruz & Ortiz (Sevilla).


Harmonische Stadt

Die Umwandlung des Sphinx-Céramique-Terrains zeigt Jo Coenens Vorliebe für die Ideale der europäischen Stadt: «Jetzt, da die uns umgebende Welt buchstäblich in verschiedene Teile auseinander fällt, sollte die heutige Generation von Städtebauern keine Planungen entwickeln, die diesen Zustand weiter aufrechterhalten oder sogar ironisch unterstützen. Stattdessen sollten ihre Entwürfe die einzelnen Fragmente in Bezug zueinander bringen und so die Situation klären - kurz: Integration statt Divergenz», meint der 1949 im limburgischen Heerlen geborene Architekt, der sein erstes eigenes Büro 1979 in Eindhoven eröffnete und seit 1989 mit bis zu 25 Mitarbeitern in Maastricht tätig ist. Anders als Rem Koolhaas, dessen Interesse an der amerikanischen Stadt zu einem provokanten Aufeinanderprallen von heterogenen Elementen führt, hat Coenen also vor allem eine auf harmonische Zusammenfügung bedachte Stadtplanung im Blick.

Ähnlich grosse Dimensionen wie in Maastricht hat Coenen zuvor schon in Tilburg (1992-96) und Amsterdam (1990-98) bewältigt: In Tilburg hinterliess der Zusammenbruch der Mitte des 19. Jahrhunderts aufgeblühten Textilindustrie zahlreiche leer stehende Fabrikkomplexe. Die weniger durch grosse Gebärden oder monumentale Eingriffe als durch kleine Interventionen gekennzeichnete Masterplanung von Coenen ist vorrangig darauf ausgerichtet, Verbindungen innerhalb des städtischen Raumes zu schaffen. Zentraler Bestandteil dieses Strebens ist die Errichtung eines «Kunstclusters», eines collagenhaft aus verschiedenen rechteckigen und geschwungenen Volumen zusammengefügten Gebäudekomplexes mit grossen städtebaulichen Qualitäten, der auf dem Gelände eines ehemaligen Klosters ein neues Konservatorium, eine Ballettakademie sowie eine Konzerthalle in sich vereint.

Im östlichen Hafengebiet von Amsterdam sollte ursprünglich das Ende der siebziger Jahre durch die Verlegung der Hafenaktivitäten zur Brache gewordene Gelände zugeschüttet und mit einer homogenen Blockbebauung überzogen werden. Inzwischen ist das atmosphärische und geschichtliche Potenzial des Areals genutzt und auf den ehemaligen Molen KNSM, Java, Borneo und Sporenburg eine zentrumsnahe Wohnstadt mit rund 6000 Wohnungen errichtet worden. Der eher kleinmassstäblichen, mit vier Quergrachten unterteilten Bebauung des lang gestreckten Java-Eilandes (Masterplan von Sjoerd Soeters) steht eine grossformatige, nach Plänen von Jo Coenen errichtete Bebauung des gegenüberliegenden KNSM-Eilandes entgegen. Als weithin sichtbare Eingangssituation fungiert dabei das deutlich an die Architektur der ehemaligen Lagerhäuser angelehnte Piräusgebäude von Hans Kollhoff und Christian Rapp, von dem aus ein breiter Erschliessungsboulevard bis hin zu einem kreisförmigen, von Coenen geplanten Rundbau am Ende des Eilandes führt. Ähnlich wie beim Sphinx-Céramique-Terrain wird auch die Bebauungsstruktur entlang der KNSM-Laan durch den rhythmischen Wechsel von offenen Räumen und grossflächigen Baublöcken bestimmt.

Coenen, der seit 1987 als Professor in Karlsruhe, Aachen, Lausanne und Eindhoven tätig gewesen ist und gegenwärtig in Delft lehrt, arbeitete nach Beendigung seines Studiums an der Technischen Hochschule in Eindhoven (1975) vorübergehend mit James Stirling, Luigi Snozzi und Aldo van Eyck. Kaum verwunderlich also, dass auch seine eigenen Entwürfe stark durch die geschichtsbewusste Vernetzung von Architektur und Städtebau sowie das Formen des Übergangs zwischen beiden Elementen gekennzeichnet sind: Über weit ausgestreckte Tentakeln, über Sockel oder monumentale Treppen, offene Eingangshallen oder freistehende Säulen nehmen sie Besitz von ihrer Umgebung, so dass sich der Aussenraum fliessend in den Innenräumen fortsetzt.

«Architektur leite ich immer aus dem städtischen Kontext ab, in dem das Neue entstehen soll», sagt Coenen. Im Gegensatz zu den Auffassungen der Forum-Architekten um Aldo van Eyck und Herman Hertzberger, deren Gebäude fast vollständig durch die städtische Struktur aufgenommen werden, behaupten sich die Bauten von Coenen wesentlich stärker als autonome Objekte in der Stadt. Seit 1992 zeigt sich dabei eine zunehmend freiere Formgebung: Der «freundliche Monumentalismus» seiner früheren Arbeiten macht mehr und mehr Platz für luftig zusammengefügte Collagen, die jedoch - wie das Maastrichter Centre-Céramique-Gebäude, der Kunstcluster in Tilburg oder die 1997 fertig gestellte Polizeistation in Sittard - nach wie vor als Element ihres städtebaulichen Kontextes zu lesen sind.

Ausgangspunkt dieser Entwicklung ist der viel beachtete Bau für das Nederlands Architectuur-Instituut (NAI) in Rotterdam (1988-93): Das schräg gegenüber dem Boymans-van-Beuningen-Museum (1929-35) und in Sichtweite der 1992 eröffneten Kunsthalle von Koolhaas gelegene Gebäude-Ensemble ist gestalterisch und funktional deutlich in vier verschiedene Bereiche gegliedert - von der über einen künstlich angelegten Teich führenden Brücke gelangen die Besucher in einen betonierten Sockelbau mit Foyer, Café und Buchhandlung, in einen gläsernen Aufbau mit Leseraum, Auditorium und Verwaltungsräumen, in ein mit Backstein ausgebildetes Museums-Volumen und in einen lang gestreckten, spitzwinkligen Archivflügel. Überbrückende Elemente und die ausdrucksstarke Orchestrierung von transparenten und opaken Fassaden schaffen vielfältige Beziehungen zwischen Innen- und Aussenräumen und verbinden den Bau mit der Rochussenstraat. «Eine offene Atmosphäre, die die Besucher einlädt, sich am Architektur-Diskurs zu beteiligen», meint Coenen.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2000.12.01



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Sphinx-Céramique-Terrain

07. April 2000Robert Uhde
Neue Zürcher Zeitung

Ein Pragmatiker mit Visionen

Durch ihre einfachen geometrischen Volumen wirken die Arbeiten des Holländers Kees Christiaanse zunächst eher unauffällig. Die städtebauliche und gestalterische Qualität der oftmals terrassenförmig aufsteigenden oder mäandernd ineinandergreifenden Baukörper - überwiegend Wohnbauten - erschliesst sich meist erst auf den zweiten Blick.

Durch ihre einfachen geometrischen Volumen wirken die Arbeiten des Holländers Kees Christiaanse zunächst eher unauffällig. Die städtebauliche und gestalterische Qualität der oftmals terrassenförmig aufsteigenden oder mäandernd ineinandergreifenden Baukörper - überwiegend Wohnbauten - erschliesst sich meist erst auf den zweiten Blick.

Direkt am Wasser erhob sich schon eines der ersten Projekte von Kees Christiaanse: Als Teil eines grösseren städtebaulichen Entwurfs zur Umgestaltung des nördlichen Rotterdamer Maasufers (1988-91) errichtete der 1953 in Amsterdam geborene Architekt eine schwarze Terrazzo-Arkade mit einer zum Wasser hin gerichteten Tribüne und entwickelte damit eine gelungene Überbrückung des Höhenunterschieds zwischen dem Boompjes Boulevard und dem tiefer gelegenen Quai. Christiaanse schuf mit seiner eleganten Inszenierung nicht nur einen visuellen Rahmen für den angrenzenden Fluss, sondern auch eine würdige Bühne für den verspielten Boompjes-Pavillon, den die Delfter Mecanoo-Architekten als Bestandteil des Entwurfs ans Maasufer stellten.


Rationale Entwurfsprozesse

Vom Boompjes Boulevard aus schliesst sich nach Norden die sogenannte Wijnhaven-Insel an. Das Herz der «Rotterdamer Wasserstadt» wurde nach dem Krieg mit geschlossenen Büroblöcken mit einer Traufhöhe von 20 Metern bebaut, doch heute steht ein Grossteil der Gebäude leer. Um aus dem niedergehenden Dienstleistungsgebiet ein lebendiges Quartier mit Funktionsmischung zu entwickeln - ohne dabei die wirtschaftliche Entwicklung des Stadtteils zu blockieren -, schlug der 1993 erstellte Bebauungsvorschlag von Christiaanse Spielregeln vor, die gleichsam selbstregulierend Höhe und Dichte im Quartier steuern sollen. Die wichtigste Regel ist dabei die Schlankheitsregel, die (ähnlich wie in Greenwich oder Soho) die Höhe der einzelnen Baukörper an ihre Schlankheit koppelt. Mit einem Minimum an derartigen städtebaulichen Regeln gelang es Christiaanse, ein System zu erzeugen, das der Architektur grösste Freiheiten gewährt und gleichzeitig Besonnung, Aussicht und Orientierung im Quartier garantiert.

«Entwerfen ist kein romantisches Abenteuer, sondern ein logischer und rationaler Prozess, der hauptsächlich aus Ja/Nein-Entscheidungen besteht», behauptete Christiaanse 1990 in einem ausgerechnet als «Manifesto» überschriebenen Essay. Eine deutliche Absage an die Vorstellung eines visionären Masterplans, mit der Christiaanse zwar keine Rückkehr in die städtebaulichen Irrwege der sechziger Jahre verfolgt, aber immerhin feststellt, dass reine Bildentwürfe keine adäquate Antwort auf die komplexen ökonomischen und politischen Bedingungen der Gegenwart seien. «Stadtplanung organisiert die öffentlichen Belange und muss zur Architektur ein bestimmtes Mass an Neutralität wahren, damit die Architektur 1000 Blumen blühen lassen kann», meint Christiaanse statt dessen und lässt dem Architekten und Städtebauer dabei die Rolle eines jonglierenden Navigators innerhalb einer komplexen Dynamik zukommen - ein Pragmatismus, den Christiaanse bereits während seiner neunjährigen Tätigkeit als Partner in Rem Koolhaas' Office for Metropolitan Architecture (OMA) in Rotterdam (1980-89) entwickelt hat. So ist es nicht zuletzt Christiaanse zu verdanken, dass auch in der Anfangsphase von OMA nicht nur theoretisiert, sondern hin und wieder auch gebaut wurde.

Unmittelbar im Anschluss an seine Zeit bei OMA eröffnete Christiaanse seine eigenen Büros in Rotterdam (seit 1989) und in Köln (seit 1990). Neben der Entwicklung von städtebaulichen Konzepten gilt sein Engagement seitdem vor allem dem grossflächigen Wohnungsbau. Von Beginn an gelang es Christiaanse dabei, das Ideal von einer lebenswerten Umwelt in abwechslungsreicher, lebendiger Stadtlandschaft mit sozialem Engagement zu verbinden - kaum verwunderlich also, dass er 1993 zum Leiter der Architekturabteilung des niederländischen Rijksgebouwendienst berufen wurde. Beim Entwurf für das Delfter Studentenheim «Westlandhof» (1991-93) etwa, das zu grossen Teilen von ausländischen Studierenden bewohnt wird, ermöglichte Christiaanse, dass diese für unterschiedlich lange Zeit auch Familienangehörige mit nach Delft bringen können: Die einzelnen Wohneinheiten lassen sich problemlos zu Dreipersonenhaushalten umrüsten. Urbanistisch folgt der «Westlandhof» dem Verlauf einer stark befahrenen Strasse vor dem Gebäude; der bananenförmig geschwungene, von vier auf neun Etagen anwachsende Bau wurde deshalb mit zahlreichen Lärmschutzvorkehrungen ausgerüstet und fungiert gleichzeitig als breiter Lärmschutzwall für die dahinterliegende Wohnbebauung.


Materialkontraste

Ähnlich war auch die Ausgangssituation für den ebenfalls in Delft angesiedelten Hooikade- Wohnkomplex (1994-97), wo vier abstrakte, fast minimalistische Blöcke einen breiten Lärmschutzwall zwischen der Bahnlinie und einem nach hinten sich anschliessenden Wohngebiet bilden. Um einen einheitlichen Gesamteindruck und einen fliessenden Übergang zwischen den einzelnen Volumen zu erreichen, legte Christiaanse an den Stirnseiten der Gebäude eine Hülle aus Beton um die sonst überwiegend mit Holz verschalten Fassaden. Zur Strassenseite hin fungiert statt dessen eine zwei Meter breite Wintergartenzone als Lärmpuffer. Auffällig dabei, dass die so oft konstatierte Nüchternheit der Architektur von Christiaanse keineswegs in eine schlichte Materialästhetik mündet: Das warme Zedernholz bildet einen spannenden Kontrast zu den eher kühlen Materialien Beton, Glas und Stahl.

Etwa zur gleichen Zeit (1994-98) stellte Christiaanse zwei ebenso elegante wie freundliche Wohnkomplexe in einer Amersfoorter Nachkriegssiedlung fertig. Ihm gelang dabei ein neuer Typus von Galeriewohnung, bei dem der von der Holzfassade abgelöste Laubengang zu einer drei Meter breiten Wohnstrasse erweitert wurde. Auf diese Weise wird nicht nur die Privatsphäre der Bewohner gewahrt, sondern auch das bei Galeriewohnungen sonst übliche Problem der Verschattung stark gemindert. Die Zugänge zu den einzelnen Wohnungen in der Spreeuwen- und Koekoek-Strasse führen über jeweils 3 mal 3 Meter grosse Brücken - eine Art Zwischenzone zwischen der öffentlichen Wohnstrasse und den eigentlichen Wohnungen, die von den Bewohnern als private Terrasse genutzt werden kann, die aber auch Raum für Nachbarschaftskontakte schafft.


Wohnbauprojekte

Einen ganz anderen Massstab galt es in Berlin zu bewältigen. Die künftige «Wasserstadt am Spandauer See» soll bis zum Jahr 2010 rund 14 000 neue Wohneinheiten für rund 35 000 Bewohner bereitstellen - eine «städtische Landschaft» mit hoher Dichte in topographisch einmaliger Lage. Teil des gigantischen Projektes ist ein 1994 von Christiaanse eingereichter und inzwischen fast vollständig realisierter städtebaulicher Entwurf für rund 1800 Wohnungen und 45 000 m² Büro-, Einzelhandels- und Dienstleistungsflächen auf dem sogenannten Siemens- Quartier, einer Halbinsel im westlichen Uferbereich der Oberhavel, die sich bereits seit Jahrzehnten im Besitz des Elektronikherstellers befindet und wo aus den Anfangsjahren noch die 1929 von Hans Poelzig erbaute Fertigungshalle erhalten ist. Christiaanses Entwurf, an dessen architektonischer Umsetzung neben ihm auch Josef Paul Kleihues beteiligt gewesen ist, überzeugt vor allem durch seine Betonung des Inselcharakters und seine sensible Gestaltung der Uferzonen als wichtigster öffentlicher Raum: Die Strassenzüge öffnen sich zum Wasser hin konisch und formen sich in entgegengesetzter Richtung unter dem Einfluss des kurvigen Ufers zu unregelmässigen Vierecken. Dadurch ergeben sich interessante Sichtbeziehungen vom Wasser zur terrassenförmig angelegten Dachlandschaft und umgekehrt.

Durch ihre Lage am Wasser zeichnen sich auch zwei gegenwärtige Projekte von Christiaanse aus: Im östlichen Hafengebiet von Amsterdam, wo der Architekt bereits 200 Wohnungen auf dem nach einem städtebaulichen Konzept von Sjoerd Soeters bebauten «Java-Eiland» (1992-98) und 44 Wohnungen auf der nach Plänen von West 8 bebauten Mole «Borneo-Sporenburg» (1994-98) realisieren konnte, wurde vor kurzem mit der Umgestaltung der alten Speichergebäude entlang dem langgestreckten IJ-Ufer begonnen. Nach den Entwürfen von Christiaanse wird der heute ungenutzte Gebäudezug zu einem zusammenhängenden Ensemble mit Büroflächen, Wohn- und Arbeitslofts, Luxusappartements und Sozialwohnungen umgestaltet, wobei neben neuen Volumen auch die alten Speichergebäude «Afrika», «Asien» und «Europa» integriert werden sollen. «Es sind die Grenzen zwischen den alten und neuen Stadtfragmenten, die die Stadt bewusst machen», erklärt Christiaanse. «Wir versuchen sie zu stärken und ihnen eine Identität zu geben. Die Stadtteile bekommen so einen neuen Eingang zur Geschichte.»

Unmittelbar vor der Ausführung stehen auch drei Gebäude am Holzhafen in Hamburg-Altona, die auf Grund ihrer zentralen, elbnahen Position ein wichtiges Element bei der weiteren Entwicklung der Hamburger Wasserfront bilden sollen. In städtebaulicher Hinsicht wird das Elbufer hier vor allem durch die Abwechslung von massiven Speichergebäuden und offenen Zwischengebieten bestimmt - durch Christiaanses Bebauung wird das Gebiet um einen weiteren dieser typischen «trichterförmigen Räume» erweitert, die die Elbe mit weiter zurückliegenden Gebieten wie Fischmarkt oder Fischereihafen verbinden: Zwei Backsteinbauten sollen einen wuchtigen Rahmen für das alte Hafenbecken und einen Vorplatz formen; etwas zurückversetzt plant Christiaanse ausserdem einen kristallinen Wohnturm. Um die ufernahe Lage noch weiter zu betonen, sollen mäandrierende Grundrisse und Fassaden sowie das Aushöhlen der Bauvolumen durch grosszügige Innenhöfe vielfältige Ausblicke aufs Wasser gewähren.


Schulhaus mit gummiartiger Hülle

Eine Bauaufgabe ganz anderer Art hat Christiaanse unlängst auf dem Rotterdamer Maashalbinsel Kop van Zuid fertiggestellt: Von der anliegenden Strasse aus zeigt sich die inmitten des Wohngebietes Stadstuinen angesiedelte Pijler Grundschule (1996-98) als minimalistischer, nahezu geschlossener Baukörper. Die eher aneinandergeleimten als mit Mörtel vermauerten und dabei mit ihren Grundflächen nach aussen gekehrten Ziegel erzeugen den Eindruck einer nahtlosen und straffen, fast gummiartigen Aussenhaut mit gleichzeitig abstrakter und taktiler Textur. Zum Innenhof hin hat Christiaanse dagegen mit grossen Glasflächen für helle Klassenräume gesorgt. Besonders begeistert aber sind die Schüler über eine ganz in Holz ausgeführte Veranda - ein «Open-air Klassenraum», von dem aus sie über eine externe, ebenfalls in Holz ausgeführte Aussentreppe direkt hinunter in den Schulhof gelangen können!

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2000.04.07

07. Januar 2000Robert Uhde
Neue Zürcher Zeitung

Manhattan an der Maas

Seit den sechziger Jahren haben sich die Aktivitäten in den meisten europäischen Hafenstädten verlagert: in Rotterdam beispielsweise in Richtung Europort an der Maas-Mündung. Brachliegende ehemalige Hafenflächen und leerstehende Gebäude waren die Folge. Auf der Maas-Halbinsel Kop van Zuid wandeln sie sich nach einem städtebaulichen Plan von Teun Koolhaas seit Mitte der achtziger Jahre zu einem zentrumsnahen Quartier.

Seit den sechziger Jahren haben sich die Aktivitäten in den meisten europäischen Hafenstädten verlagert: in Rotterdam beispielsweise in Richtung Europort an der Maas-Mündung. Brachliegende ehemalige Hafenflächen und leerstehende Gebäude waren die Folge. Auf der Maas-Halbinsel Kop van Zuid wandeln sie sich nach einem städtebaulichen Plan von Teun Koolhaas seit Mitte der achtziger Jahre zu einem zentrumsnahen Quartier.

Die Gegensätze zwischen Amsterdam und Rotterdam sind seit dem Zweiten Weltkrieg deutlich stärker geworden: Während sich die pittoreske, historisch gewachsene Innenstadt von Amsterdam nach wie vor durch eine homogene Höhe auszeichnet, erinnern in Rotterdam nur noch wenige Strassenzüge und Einzelbauten an die Zeit vor 1940, als deutsche Bomben die Stadt weitgehend zerstörten. Nach dem Krieg wurde die Maas- Metropole fast vollständig in neuen Formen wiederaufgebaut. Sie bietet heute fast das Bild einer amerikanischen Stadt.


Musterstadt der Moderne

Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein hatte sich die Bebauung Rotterdams noch ausschliesslich auf die Bereiche nördlich der Maas erstreckt. Erst als die Hafenbecken nach und nach zum südlichen Ufer hin verlegt wurden, begann sich die Stadt zunehmend auch hierhin auszubreiten. Im Verlauf von nur 25 Jahren wurden mehr als 120 Hektar Agrarland zum Hafengebiet umgewandelt. Die stetig ansteigende Einwohnerzahl - die Bevölkerung Rotterdams wuchs um 1900 jährlich um rund 10 000 Menschen - führte seit 1916 zum Bau zahlreicher öffentlicher Wohnkomplexe, darunter bedeutende Projekte von Michiel Brinkman und dem damals neu eingesetzten Stadtarchitekten Jacobus J. Oud, der zwischen 1919 und 1930 Siedlungen in den Stadtteilen Spangen, Tusschendijken und Kiefhoek schuf. In der Folge entwickelte sich Rotterdam zu einer regelrechten Musterstadt der Moderne. Aus der gleichen Zeit stammt auch die im Nordwesten Rotterdams gelegene Van-Nelle-Fabrik von Brinkman & Van der Vlugt (1925-31), die noch heute als Ikone des Neuen Bauens gefeiert wird.

Nach dem deutschen Angriff im Mai 1940 blieben nur noch wenige innerstädtische Gebäude erhalten, darunter das Rathaus von 1920, das Postamt von 1923 und die gerade erst fertiggestellte Rotterdamer Börse. Statt eines Wiederaufbaus entschied man sich in Rotterdam jedoch konsequent für einen grossflächigen Neuaufbau. Federführend zeigte sich dabei vor allem das Büro Van den Broek & Bakema, das seit Beginn der fünfziger Jahre unter Beibehaltung der Maximen der Moderne unter anderem die berühmt gewordene Fussgängerzone De Lijnbaan errichtete.

War es seit Ende der sechziger Jahre eher Amsterdam, das mit den Forum-Architekten um Herman Hertzberger und dem vor kurzem verstorbenen Aldo van Eyck den niederländischen Architekturdiskurs bestimmte, so prognostizierte Rem Koolhaas Anfang der achtziger Jahre, dass nun in Rotterdam in städtebaulicher und architektonischer Hinsicht vieles geschehen werde. Koolhaas sollte recht behalten, denn tatsächlich wurde seitdem eine stattliche Anzahl städtebaulicher Projekte geplant und realisiert, mit teilweise atemberaubender Geschwindigkeit, die in anderen europäischen Städten - abgesehen vielleicht vom wiedervereinigten Berlin - so niemals denkbar wäre: Fast zeitgleich mit dem Bau der Kunsthalle von Rem Koolhaas (1988-92) wurde unweit davon Jo Coenens Niederländisches Architekturinstitut fertiggestellt. Im sogenannten Weena-Gebiet im Inneren der City, wo eine von Koolhaas entworfene Busstation am Hauptbahnhof die ankommenden Bahnreisenden begrüsst, war schon ab Mitte der achtziger Jahre in nur fünf Jahren Bauzeit ein Boulevard mit Hochhäusern im amerikanischen Stil errichtet worden.

Der Höhepunkt der städtebaulichen Entwicklung steht Rotterdam jedoch wohl erst noch bevor: Waren es durch die Verlegung der Hafenaktivitäten zum Europort hin zuerst die nördlichen Hafengebiete (De Oude Haven, De Leuvehaven und Delfshaven-Buitendijks), die eine Wohnfunktion bekamen, konzentriert sich die Entwicklung Rotterdams gegenwärtig auf die südliche Maas- Halbinsel Kop van Zuid. Bis zu Beginn der achtziger Jahre wohnten hier fast ausschliesslich Hafenarbeiter. Die Auslagerung der Hafenaktivitäten und die damit einhergehende Rezession führten im Viertel zu hoher Arbeitslosigkeit und steigender Kriminalität. Die Stadt erklärte die alten Hafengebiete daher zum Sanierungsgebiet.

Im Auftrag der Stadt Rotterdam entwickelte Teun Koolhaas, der Neffe von Rem Koolhaas, 1987 einen städtebaulichen Plan, der - durch die Londoner Docklands inspiriert - eine für die damalige Zeit neuartige Metamorphose des heruntergekommenen Hafengebietes vorsah. Ausgangspunkt des Konzepts war eine neue Verbindung zum Festland, die den zuvor durch die Maas abgeschnittenen Süden Rotterdams an das Zentrum anschliessen und die infrastrukturelle Voraussetzung für den Bau von 5300 Sozial- und Eigentumswohnungen, 380 000 Quadratmetern Bürofläche sowie Läden, Restaurants, Sport- und Freizeiteinrichtungen bilden sollte. Der Plan zeigt sich ähnlich rigoros, wie die Planungen zum Wiederaufbau der Stadt nach dem Weltkrieg: Auch bei der Neuordnung des ehemaligen Hafenquartiers Kop van Zuid sollten nur wenige der historischen Bauten erhalten bleiben.

Die Anbindung an die Innenstadt wurde 1996 durch die Eröffnung der atemberaubenden, deutlich an Arbeiten von Santiago Calatrava orientierten Erasmus-Brücke von Ben van Berkel erreicht - ein regelrechter «Quantensprung über die Maas», wie die Rotterdamer meinen. Seitdem wandelt sich die Maas-Halbinsel vom ehemaligen Industriegebiet zu einem nur noch wenige Minuten von der Innenstadt entfernten Quartier mit Wohn- und Dienstleistungsflächen. Um die architektonische Qualität der Neubauten zu sichern, werden die eingereichten Pläne der vorgesehenen Neubauten regelmässig durch die Mitglieder eines von der Stadtverwaltung eingesetzten internationalen Ausschusses von Sachverständigen begutachtet. Ihre Aufmerksamkeit gilt dabei insbesondere dem städtebaulichen Zusammenhang der architektonischen Entwürfe. Ohne ein positives Gutachten des Quality Team erteilt die Stadt keine Baugenehmigung.


Architektonische Qualitätskontrolle

Erster Höhepunkt des neuen Stadtquartiers war die grossflächige Wohnbebauung de Landtong von Frits van Dongen (de Architekten Cie, Amsterdam), die fast zeitgleich mit der Erasmus- Brücke fertiggestellt wurde. Das Raumprogramm der dreiseitig vom Wasser umspülten «Landzunge» zwischen Spoorweghaven und Binnenhaven besteht aus insgesamt 623 Wohneinheiten, die von van Dongen auf unterschiedlich ausgebildete Wohnblöcke verteilt wurden: In einer wohlüberlegten Komposition aus Masse, Material und Typologie gehen fünf frei gestellte, zum Teil terrassierte Riegel in drei Turmbauten über, die aus dem viergeschossigen Sockel des Komplexes emporsteigen. Einem elfgeschossigen Riegel zur nördlich gelegenen Maas hin, der in seiner strengen Komposition die Backsteinarchitektur industrieller Hafengebäude zu zitieren sucht, steht dabei nach Süden hin ein etwas flacher gehaltener Riegel mit immerhin noch acht Geschossen entgegen. Besonders markant sind jedoch die mittleren drei Riegel der Landtong ausgebildet, die terrassenartig von vier Geschossen im Süden bis auf elf Geschosse im Norden ansteigen. Weiter südlich schliesst sich dem Komplex ein offeneres Wohngebiet mit überwiegend zwei- bis viergeschossigen Häusern an.

Im gegenüberliegenden Entrepothaven, einem inzwischen als Jachthafen genutzten Teil des Binnenhavens, wurde hingegen versucht, die besondere Atmosphäre des Ortes zu bewahren. Neben alten Hafenkränen blieb hier auch das für Rotterdamer Verhältnisse schon fast «antike» ehemalige Lagerhaus Der vijf Werelddelen (Die fünf Kontinente) aus dem Jahr 1879 erhalten. In den oberen Geschossen des Backsteingebäudes wurden rund einhundert neue Wohneinheiten eingerichtet, im Erdgeschoss sorgen Restaurants und Läden für Hafenatmosphäre. Weniger gelungen erscheint dagegen die gegenüberliegende Seite des Hafenbeckens, wo vergeblich versucht wurde, mit einer modernen Architektursprache an das Vorbild des alten Lagerhauses anzuknüpfen.

Mehr Einfühlungsvermögen beweist ein halbkreisförmig angelegter, mit Fassaden aus Holz verkleideter Wohnblock von Cepezed (1994-95), der am nordwestlichen Ende des ehemaligen Lagerhauses einen fliessenden Übergang zwischen einem Platz und dem angrenzenden Binnenhaven schafft. Mit seiner Kreisform zitiert das Gebäude überdies geschickt die ebenfalls halbkreisförmigen Enden eines langgestreckten, annähernd V-förmigen Wohnblocks von Carel Weeber, der südlich des Entrepothavens 549 Wohnungen zur Verfügung stellt. Der Bau sorgt für einen wichtigen städtebaulichen Akzent im östlichen Bereich des Kop van Zuid.


Türme und Theater

Die Rosestraat weiter abwärts, direkt neben dem Bahnhof Rotterdam-Zuid gelegen, schliesst das 1997 durch das Architektenduo Bolles & Wilson aus Münster und das Rotterdamer Büro Kruisheer Elffers fertiggestellte Albeda College den Kop van Zuid nach Süden hin ab. Auf dem dreieckigen Gelände treffen zwei unterschiedlich genutzte dreigeschossige Gebäudeflügel auf spitzem Winkel zusammen und steigen von dort zu einem raffiniert gestalteten, vertikalen Baukörper auf. Die Fassade des imposanten Turms weicht im Erdgeschoss des Gebäudes einige Meter zurück und neigt sich in den oberen Stockwerken weit nach vorn, so dass der Turm fast zu schweben scheint - ein überaus gelungener Bezug zum expressiv geknickten Pylon der Erasmus-Brücke!

Vom Albeda College führt der Rundgang wieder nach Norden; vorbei am Hillekop Plein, wo die Delfter Mecanoo-Architekten Ende der achtziger Jahre einen wellenförmig angelegten Wohnkomplex geschaffen haben, und schliesslich wieder zurück zur Erasmus-Brücke. Kurz vor der Brücke trifft der Blick auf den wuchtigen Wilhelminahof vom Rotterdamer Büro Kraaijvanger & Urbis (1994-97), der auf insgesamt 15 Geschossen rund 120 000 Quadratmeter Bürofläche bietet. Der in orangerotem Backstein gehaltene Baukörper dient als weithin sichtbare Eingangssituation des neuen Quartiers und stellt den zurzeit noch wichtigsten städtebaulichen Punkt für die Erschliessung des Kop van Zuid dar - sein gewaltiges Nordportal wirkt dabei fast wie eine steinerne Kulisse für das ebenfalls von Kraaijvanger & Urbis entworfene Gerichtssaalgebäude sowie für einen halbkreisförmig angelegten Büroturm von Cees Dam. Nach Osten und Süden hin wird der Wilhelminahof in den nächsten Jahren durch einen rund 135 Meter hohen Büroturm sowie durch zwei weitere grossflächige Gebäudekomplexe erweitert: auf der Zuidkade 1 sollen in vier Gebäuden Wohn- und Büroflächen von insgesamt 50 000 Quadratmetern entstehen, auf der Zuidkade 2 ist ein Ensemble mit rund 80 000 Quadratmeter Bürofläche geplant.

Direkt gegenüber dem Wilhelminahof wird gegenwärtig nach Plänen von Bolles & Wilson das Luxor-Theater errichtet. Hinter seinen tomatenroten Aussenwänden soll das Musicaltheater Platz für rund 1500 Besucher bereitstellen. Das Münsteraner Büro konnte sich mit seinem ungewöhnlichen Entwurf unter anderem gegen einen Vorschlag von Rem Koolhaas durchsetzen. Von der Baustelle des Luxor-Theaters sind es nur noch wenige hundert Meter zum Wilhelminapier, dem historischen Zentrum des Kop van Zuid. Rotterdam spielte eine wichtige Rolle bei der Emigration nach Amerika, seit 1873 stachen vom Wilhelminapier aus Tausende von Passagieren auf Schiffen der späteren Holland-Amerika-Linie (HAL) in See. Zurzeit wird die schmale Landzunge noch durch das prachtvolle, mit Jugendstilmotiven geschmückte Verwaltungsgebäude der HAL bestimmt, das zwischen 1901 und 1920 vom Büro Müller und Van der Tak realisiert wurde. Nach der aufwendigen Restaurierung des Gebäudes mit den zwei kupferfarbenen Türmen hat sich hier 1993 das Hotel New York eingerichtet, das als Geheimtip unter Rotterdam-Reisenden gilt.


Zukunftsprojekte

Einige Meter weiter schliesst sich das von Brinkman, Van den Broek & Bakema errichtete Schiffterminal (1937-53) und Norman Fosters Meerforschungszentrum (1994) an. Doch der nostalgische Blick in die Vergangenheit trügt: Schon die Baukräne verraten, dass sich das Gesicht des Wilhelminapiers in einigen Jahren vollständig gewandelt haben wird. Nach Fosters Plänen soll auf dem langgestreckten Pier eine doppelreihige Hochhaus-Skyline entstehen - die Rotterdamer sprechen schon jetzt erwartungsvoll von «Manhattan an der Maas». Den Auftakt des gigantischen Vorhabens bildet das von Foster geplante World Port Center, mit dessen Bau 1998 begonnen wurde.

Weniger lang brauchen die Rotterdamer auf Renzo Pianos neues Hauptgebäude der PTT Telecom zu warten. Der rund 100 Meter hohe Bau am Fuss der Erasmus-Brücke soll demnächst fertiggestellt sein. Die nach Norden, zur Stadt hin ausgerichtete Fassade neigt sich ähnlich wie das Albeda College von Bolles & Wilson weit nach vorn. «Das Gebäude ist Teil des Rotterdamer Hafens, die Kräne stehen hier auch nicht gerade», erläutert der italienische Architekt seinen Entwurf. Dessen zentrales Element ist ein ebenfalls rund 100 Meter hoher und schräg stehender, durch einen mächtigen Pfeiler gestützter Bildschirm, der die Reklamewände auf dem Times Square in New York, dem Piccadilly Circus in London, vor allem aber von «Blade Runner»-City zitiert. Die im oberen Teil verbreiteten Botschaften dieser überdimensionalen Zeitung sollen auch noch am anderen Maasufer lesbar sein. Wer immer also eines der 290 Luxusappartements in De Hoge Heren am gegenüberliegenden Kopf der Erasmus-Brücke beziehen wird, der kann aus den auf einem wuchtigen Sockel stehenden Zwillingstürmen von Wiel Arets stets die neusten Nachrichten erblicken.

Das ehrgeizige Projekt Kop van Zuid stellt gegenwärtig die zentrale städtebauliche Aufgabe Rotterdams dar. Ein gewaltiger Umbruch - die Betriebsamkeit des einst grössten Binnenhafens der Welt weicht Schritt für Schritt der postindustriellen Stadt mit ihren wuchtigen Büro- und Wohnkomplexen. Schnell drängen sich da Vergleiche mit der Umnutzung der ehemaligen Osthäfen in Amsterdam auf, wo auf den erhalten gebliebenen Hafenmolen KNSM, Java, Borneo und Sporenburg demnächst Häuser für insgesamt 20 000 Bewohner fertiggestellt sein werden (NZZ 5. 3. 99) - ein ähnlich gewaltiges Projekt, das jedoch anders als der umgestaltete Kop van Zuid kaum gewerbliche Flächen vorsieht.

Die Erneuerung des Kop van Zuid wird zwar erst in einigen Jahren abgeschlossen sein, doch schon jetzt sieht sich die Stadtverwaltung dazu ermutigt, weitere potentielle Stadterneuerungsgebiete in den Blick zu fassen. Und als sei es damit noch nicht genug, sollen demnächst zwei Bauwerke die Höhe des seit 1960 höchsten Turms der Niederlande, des Euromastes, überbieten: Für ein Wohnhaus am Boompjes Boulevard am nördlichen Maasufer ist eine Höhe von über 200 Metern vorgesehen, und für einen in unmittelbarer Nähe des Euromastes geplanten Turm werden sogar 300 Meter angestrebt.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2000.01.07



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18. Dezember 1999Robert Uhde
Neue Zürcher Zeitung

Unter Aluminium

Im niederländischen Nijmegen wurde vor wenigen Wochen ein architektonisch bedeutendes Museum eröffnet, das sowohl moderne Kunst als auch Archäologie ausstellt. Der Neubau besteht aus einem achtzig Meter langen, extrem flach gehaltenen Körper, dessen seegrüne Milchglasfront von der dunklen Silhouette der dahinter sich erhebenden Baumriesen eingerahmt wird.

Im niederländischen Nijmegen wurde vor wenigen Wochen ein architektonisch bedeutendes Museum eröffnet, das sowohl moderne Kunst als auch Archäologie ausstellt. Der Neubau besteht aus einem achtzig Meter langen, extrem flach gehaltenen Körper, dessen seegrüne Milchglasfront von der dunklen Silhouette der dahinter sich erhebenden Baumriesen eingerahmt wird.

Als Nijmegen noch Noviomagus hiess, war der Ort die bedeutendste römische Festung auf dem Gebiet der heutigen Niederlande. Jahrhunderte später liessen hier zunächst Karl der Grosse und dann Friedrich Barbarossa die Valkhof-Pfalz (775) und die Valkhof-Burg (1152) errichten. In unmittelbarer Nähe dieses Ensembles hat im September das «Museum Het Valkhof» seine Pforten geöffnet. Mit der jüngsten Schöpfung des Amsterdamer Architektenduos Ben van Berkel und Caroline Bos kann die bewegte Geschichte der Stadt endlich an einem angemessenen Ort präsentiert werden. Das Haus zeigt neben Exponaten älterer und moderner Kunst vor allem die hier ausgegrabenen Zeugnisse aus römischer Zeit.


Supermarkt und Musentempel

Wie ein Chamäleon spiegelt die langgestreckte Milchglasfront die Launen des Wetters; und bei Dunkelheit scheint der Museumsbau wie ein lichter Goldbarren über dem Platz zu schweben. Über einen schwarzen Ziegelboden ins Innere gelangt, treffen die Besucher unversehens auf eine wuchtige Treppenskulptur aus beinahe weissem Beton - eine weitläufige, helle und fliessende Stufenlandschaft mit grünlichgrauen Betonböden und blanken Balustraden aus Birkenholz, die schnell das Bild eines römischen Amphitheaters hervorruft. Mit ihren weit ausgreifenden Armen verbindet die breite Treppe die auf drei Ebenen angesiedelten Abteilungen des Museums miteinander: Im Erdgeschoss befinden sich Buchhandlung, Café, Bibliothek, Verwaltung, Archive und pädagogische Abteilung, die «eigentlichen» Museumsräume sind fast ausschliesslich im oberen Geschoss angesiedelt. Im Untergeschoss haben Architekten und Ausstellungsmacher einen archäologischen Pavillon eingerichtet.

Das seit einigen Monaten zum UN Studio erweiterte Büro Van Berkel & Bos plant räumliche Arrangements, die «abtauchenden, niederstürzenden, aufschliessenden, zerschneidenden, faltenden Bewegungen folgen». Ob die Rotterdamer Erasmusbrücke oder die unweit von Amsterdam errichtete Möbius-Villa (NZZ 5. 2. 99) - die Aushebelung des Orthogonalen zieht sich wie ein roter Faden durch die Arbeiten des Büros. Weniger um vordergründige dekonstruktivistische Effekte zu erzielen, als vielmehr um «allumfassende Strukturen und Raumgefüge zu schaffen, die Konstruktion, Funktion und Benutzerströme zu einem Ganzen zusammenführen», wie van Berkel beschreibt.

«Supermarkt, Tempel und soziale Begegnungsstätte - programmatisch ist dieses Museum ein hybrider Raum»: dies konstatieren die Architekten in ihrem jüngst veröffentlichten, dreibändigen Manifest «Move», in dem das schnell wachsende Œuvre des UN Studio als flüchtiger Film vorbeizieht. Statt aus einer herkömmlichen Struktur mit abgetrennten eigenen Flügeln besteht das Raumgefüge des neuen Museums aus fünf parallelen Gängen mit unterschiedlich breiten Querverbindungen; ein Labyrinth der kurzen Wege, in dem sich die durch einfallendes Licht oder Sichtbeziehungen zwischen den einzelnen Strassen angelockten Besucher ihre individuellen Routen durch die verschiedenen Abteilungen suchen können. «Insgesamt sind 88 Wege durch das Museum möglich», rechnet van Berkel vor. 88 Möglichkeiten also, zwischen den einst im Provinzmuseum G. M. Kam aufbewahrten archäologischen Beständen und den bisher im Nijmegener Museum Commanderie van Sint Jan untergebrachten Kunst hin und her zu pendeln.


Erhebung in der Landschaft

Das spektakulärste Element des Museums ist seine ungewöhnliche Deckenkonstruktion: Die wellenförmig durch die Räume und Gänge mäandernden Aluminiumpaneele nehmen nicht nur alle technischen Installationen auf, sondern lassen darüber hinaus die unterschiedlichen Räume und Abteilungen des Museums zu einer Einheit verschmelzen. Die Reise des schillernden Aluminium-Plafonds beginnt wie die der breiten Treppe im Eingangsbereich; zusammen steigen dann beide in einer grossen Bewegung zu einer im oberen Geschoss gelegenen L-förmigen Galerie auf, von wo aus man einen guten Überblick über das Gebäudeinnere und eine traumhafte Aussicht auf den alten Stadtwall, den Valkhof sowie auf den dahinter gelegenen Fluss Waal und weite Teile der Provinz Gelderland geniesst.

Hier oben wellt sich die Aluminiumdecke über die Köpfe der Besucher hinweg und lädt dabei zum Vergleich mit dem wohl berühmtesten wellenförmigen Plafond der modernen Architekturgeschichte ein, der 1934 von Alvar Aalto geschaffenen Holzdecke im Vortragssaal der Stadtbibliothek von Viipuri. Aalto strebte mit seiner in sieben Teilen gleichmässig mäandernden Decke nach einer idealen Akustik, für van Berkel war statt dessen das Binnenklima das Hauptmotiv: Die fast chaotische Decke dämpft nicht nur das einfallende Tageslicht, sondern nimmt auch die technischen Installationen der Beleuchtungs-, Klima-, Sprinkler- und Alarmanlage in sich auf. Dabei richten sich ihre so mutigen Schwingungen keineswegs nach ästhetischen Idealen, sondern folgen ausschliesslich den erwarteten Besucherzahlen: In Räumen, in denen die Ausstellungsmacher mit grossem Publikumsandrang rechneten, mussten mehr Installationen untergebracht und damit auch heftigere Wellen erzeugt werden: eine Lösung, die Funktion, Konstruktion und das Verhalten der Benutzer auf verblüffende und einleuchtende Weise zum Einklang bringt. Und das Ergebnis? Auffallend ruhig und gelassen verhält sich die Decke über den Arbeiten der modernen Künstler. Zu etwas mehr Rührung lässt sie sich dann über den Werken der alten Meister verleiten; am meisten aber reagiert sie auf die vielen römischen Fundstücke. Wie gesagt: die Stadt hat eine bewegte Geschichte.

Robert Uhde


Museum Het Valkhof, Kelfkensbos 59, Nijmegen. Öffnungszeiten: Di bis Fr 10-17 Uhr, Sa, So und Feiertage: 12-17 Uhr.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 1999.12.18



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Museum Het Valkhof

03. September 1999Robert Uhde
Neue Zürcher Zeitung

Verdichtete Utopien

Mit einem Doppelwohnhaus in Utrecht, einem Sendegebäude in Hilversum und einem Altenwohnheim in Amsterdam erregte das junge Rotterdamer Architekturbüro MVRDV viel Aufsehen. 1998 schoben die drei Architekten Winy Maas, Jakob van Rijs und Nathalie de Vries ein «Theoriejahr» ein, um ihre Utopien einer Stadt der Zukunft weiter zu verdichten.

Mit einem Doppelwohnhaus in Utrecht, einem Sendegebäude in Hilversum und einem Altenwohnheim in Amsterdam erregte das junge Rotterdamer Architekturbüro MVRDV viel Aufsehen. 1998 schoben die drei Architekten Winy Maas, Jakob van Rijs und Nathalie de Vries ein «Theoriejahr» ein, um ihre Utopien einer Stadt der Zukunft weiter zu verdichten.

Ein wuchtiges, quaderförmiges Hafengebäude nahe dem ältesten Teil des Rotterdamer Hafens. Ganz oben, im dritten Stock, befindet sich das Büro von MVRDV. Zwischen zahllosen Modellen aus Holz, Harz, Karton oder Kork schwirren 25 junge Mitarbeiter durch die grosszügig angelegten Räume. Zwischendurch fällt der Blick auf die gewaltigen Wassermassen der Maas - Sturm und Drang hier wie dort, eine Stimmung fast wie an der Amsterdamer Börse. Immer häufiger kommt es inzwischen vor, dass das nach den Namensinitialen der drei Gründungsmitglieder benannte Büro Aufträge ablehnen muss.


Sturm und Drang

Der Gründung von MVRDV durch Winy Maas (1959), Jakob van Rijs (1964) und Nathalie de Vries (1965) vor sieben Jahren gingen ein gemeinsames Studium an der TU in Delft und Erfahrungen bei Rem Koolhaas in Rotterdam, bei Berkel & Bos in Amsterdam und bei Mecanoo in Delft voraus. Winy Maas hatte überdies ein Landschaftsarchitektur-Studium absolviert und für die Unesco in Nairobi gearbeitet. Danach lief alles sehr schnell: Nachdem sich die drei Architekten schon 1991 mit dem Projekt «Berlin Voids» für eine Wohnbebauung im Prenzlauer Berg in Berlin einen Preis im Europan-2-Wettbewerb hatten sichern können, folgte 1993 der Auftrag für den Ende 1997 vollendeten Bau eines zentralen Sendegebäudes für den Alternativ-Radio-Sender VPRO in Hilversum (NZZ 27. 1. 98). Die Radiomacher wollten die 13 über die gesamte Stadt verteilten Standorte des Senders zu einem Gebäude zusammenführen. Als moderne Adaption von Herman Hertzbergers Centraal-Beheer-Bürogebäude in Apeldoorn (1968-1972), das in der Ära nach Achtundsechzig eine partizipatorische Architektur versucht hatte, errichtete MVRDV einen vollständig transparenten, fünfgeschossigen Betonbau, dessen mäandrierende Ebenen durch raffiniert angelegte Stege, Rampen und Treppen fliessend ineinander übergehen. Damit ergibt sich ein spielerisch gestaltetes Raumkontinuum von eher öffentlichen Zonen bis zu intimeren Räumen.

Zeitgleich mit dem VPRO-Gebäude stellten die MVRDV-Architekten ihren Woonzorgcomplex (WoZoCo) in Amsterdam Osdorp vor. Ausrichtung und Höhe der Gartenstadt aus den fünfziger Jahren waren baurechtlich festgelegt. MVRDV machte daraus eine gestalterische Tugend und hängte 13 der 100 Wohnungen als freischwebende Volumen von der Fassade ab. Eine perfekt inszenierte Ausnutzung des vorhandenen Raumes! Ähnlich auch der Grundgedanke für die Villa KBBW, ein viergeschossiges Zweifamilienhaus in Utrecht, das Winy Maas gemeinsam mit dem Architekten Bjaerne Mastenbroek (De Architektengroep, Amsterdam) errichtete: Mit den beiden zickzackartig miteinander verklammerten Wohnungen, deren transparente Fassaden ein völliges Verschmelzen von Innen- und Aussenraum erzeugen, zeigen die Architekten, dass sich das von ihnen vertretene Prinzip des Verschachtelns und Verdichtens auch auf den Wohnungs- und Siedlungsbau anwenden lässt.

Je mehr man sich mit den städtebaulichen Theorien von MVRDV auseinandersetzt, desto mehr geraten die vor Ort so individuellen Lösungen zu gebauten Manifesten von Urbanität und Verdichtung. In «Farmax», einem 753 Seiten dicken Buch von MVRDV, in dem die Leser durch utopische Szenarien für die Rotterdamer und die Amsterdamer Innenstadt geführt werden, propagieren die Architekten eine Steigerung der Kapazitäten unseres derzeitigen Lebensraumes durch horizontales und vertikales Zusammenballen mit maximaler Konzentration verschiedener Funktionen. Deutlich sichtbar bleibt dabei der Einfluss von Rem Koolhaas, dessen Buch «S,M,L,XL» einen neuen Typus Architekturbuch darstellte. Zwar behandelte Koolhaas nur seine Projekte und dachte weniger stark in Manifesten, dennoch beschwörte auch er auf essayistische Weise ein neues architektonisches Zeitalter herauf.


Kultur der Verdichtung

Für Koolhaas besteht der bedeutendste Beitrag Amerikas zum urbanen Design in den geballten Hochhaus-Zentren der Städte, ein Phänomen, das er als «Culture of Congestion», «Kultur der Ballung», bezeichnet. Ähnliches schwebt auch den Architekten von MVRDV vor: «Immer mehr Regionen der Welt sind zu mehr oder weniger durchgehenden städtischen Ballungsgebieten geworden.» In Europa zeige das allmähliche Zusammenwachsen von Gegenden in Oberitalien, im Schweizer Mittelland, im Rhein-Main-Gebiet, im Ruhrgebiet oder in der «Randstad» zwischen Rotterdam und Amsterdam, wie wichtig es sei, sich Gedanken über die Stadt der Zukunft zu machen, meinen die Architekten von MVRDV. Der zunehmenden Langeweile, die aus dieser homogenen Zersiedelung resultiere, stellen sie das Konzept einer abwechslungsreichen Kombination von vertikal und horizontal verdichteten Ballungszentren und «künstlichen» Naturflächen («Light Urbanism») entgegen.

Gegenwärtig arbeiten Maas, van Rijs und de Vries an der Computeranimation Metacity/Datatown. Das jüngst in der Berliner Galerie Aedes East und zuvor bereits in Den Haag gezeigte Projekt stellt einen visionären Stadtentwurf vor, der auf einer Extrapolation niederländischer Statistiken beruht. In einem begehbaren Kubus, dessen Wände aus Projektionsflächen bestehen, wurden die Besucher auf eine digitale Reise durch einen virtuellen Stadtstaat entführt. «Wie können wir die Stadt in Zeiten der Globalisierung und Bevölkerungsexplosion verstehen? Verlieren wir in dieser unübersichtlichen Fülle die Kontrolle, oder können wir den Ursachen nachgehen und sie manipulieren?» fragen die Architekten und fordern: «Lasst uns die dichteste Stadt der Welt erfinden, die erlaubt, Raum für eine wachsende Weltbevölkerung zu schaffen.» Ähnlich wie die im letzten Jahr vorgestellten Pläne des niederländischen Architekten Carel Weeber für ein «Wildes Wohnen» folgt auch Metacity/Datatown einer klassischen Annäherung zur Stadt, nämlich der Dauer von einer Reisestunde (im Mittelalter noch 4 Kilometer, mit einem modernen Hochgeschwindigkeitszug sind es heute bis zu 400 Kilometer). Der autarke Stadtstaat ist damit viermal so gross wie die Niederlande. Bei einer ebenfalls viermal so hohen Bevölkerungsdichte von rund 1500 Einwohnern je Quadratkilometer (der Kanton Genf zählt 1400, der Kanton Basel-Stadt 5200 Einwohner je Quadratkilometer) würden hier 250 Millionen Einwohner leben - die Bevölkerung der USA in einer einzigen Stadt!

Innerhalb von Metacity/Datatown unterscheiden die Architekten von MVRDV 26 Sektoren, variierend zwischen Landbau und Wald, Müllplatz und Friedhof, und stellen Berechnungen darüber an, wieviel Wald nötig ist, um das anfallende CO2 umzuwandeln, oder welcher Platz gebraucht wird, um die benötigte Energie durch Windkraft zu erzeugen - eine typisch holländische, fast calvinistische Methode: pragmatisch, klar und streng geordnet, beinahe spartanisch. Auch wenn man zweifelt, ob Metacity/Datatown tatsächlich die Visualisierung einer begehrenswerten Utopie oder eher die Darstellung eines Albtraums zeigt - in der Realität greift die Strategie der Verdichtung allemal und führt sogar zu ungeahnten Freiheiten, wie die bisher fertiggestellten Projekte des Büros beweisen. Im östlichen Hafengebiet von Amsterdam, dem derzeit kompaktesten Neubaugebiet in den Niederlanden, stellt MVRDV gegenwärtig zwei radikal in die Tiefe organisierte, schmale Reihenwohnhäuser fertig. Eine der beiden zwischen 4 und 5 Meter breiten und 16 Meter tiefen Parzellen wird sogar nur zur Hälfte bebaut! An die vollständig transparente Innenfassade des Hauses wollen die Architekten zwei Volumen hängen, die frei über dem unbebauten Teil des Grundstückes schweben. Innen- und Aussenraum sollen so unmerklich ineinander übergehen.

Als weitere Projekte entwickeln die Architekten gerade die «Z-Mall» für das staatlich festgesetzte Vinex-Gebiet Leidschenveen und den niederländischen Pavillon für die Expo 2000 in Hannover (NZZ 22. 4. 99). Das vertikale Mini-Öko-System soll aus verschiedenen Typen künstlich angelegter Landschaften (Pflanzen, Wasser, Regen, Wind, Strand, Häuser, Wald oder Landwirtschaft) bestehen, die auf insgesamt 35 Metern Höhe durch quadratische Geschossplatten voneinander getrennt und übereinander geschichtet werden. «Die Niederlande, ein Staat mit hoher Bevölkerungsdichte, haben eine lange Tradition der Landgewinnung aus dem Meer. Mit unserem Projekt wollen wir diese Künstlichkeit weiter radikalisieren», meint Maas optimistisch. Und weiter gedacht: Warum sollen unsere Kinder in Zukunft nicht tatsächlich im 12. Stock spielen? Dort gibt es immerhin einen kleinen See, und ausserdem fahren hier oben keine Autos!

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 1999.09.03



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04. Juni 1999Robert Uhde
Neue Zürcher Zeitung

Bauen mit wenig Theorie und viel Engagement

Mit einem kreativ gestalteten Wohnblock in Rotterdam haben die Mecanoo-Architekten Mitte der achtziger Jahre demonstriert, dass auch sozialer Wohnungsbau schön sein kann. Inzwischen zählt das nach dem dadaistischen Pamphlet «Mecanoo» von Theo van Doesburg benannte Team zu den erfolgreichsten niederländischen Architekturbüros der letzten Jahre.

Mit einem kreativ gestalteten Wohnblock in Rotterdam haben die Mecanoo-Architekten Mitte der achtziger Jahre demonstriert, dass auch sozialer Wohnungsbau schön sein kann. Inzwischen zählt das nach dem dadaistischen Pamphlet «Mecanoo» von Theo van Doesburg benannte Team zu den erfolgreichsten niederländischen Architekturbüros der letzten Jahre.

Der Entwurf war stimmig, keine Frage. Aber dass sie den Wettbewerb zur Bebauung des Rotterdamer Kruisplein tatsächlich auch gewinnen könnten, daran hatten die drei Delfter Architekturstudenten Francine Houben, Henk Döll und Roelf Steenhuis wohl selbst nicht geglaubt. Eilig mietete die inzwischen durch die beiden Studienkollegen Chris de Weijer und Erick van Egeraat erweiterte Gruppe daraufhin einen kleinen Büroraum in der Delfter Innenstadt, und kaum achtzehn Monate später wurden die letzten der insgesamt 97 Sozialwohnungen im Rotterdamer Zentrum fertiggestellt. Um die verschiedenen Formen gemeinschaftlichen Wohnens mit hoher gestalterischer Qualität verbinden zu können, setzten die Architekten dabei von Anfang an auf einen intensiven Dialog mit Bauherren, künftigen Bewohnern und Nachbarn - eine Strategie, die bis heute die Planungsphase ihrer Projekte bestimmt.


Wohnungsbau

Seit der Fertigstellung des Wohnkomplexes am Kruisplein vor nunmehr 14 Jahren hat Mecanoo mehr als 220 Projekte entworfen. Etwa 80 davon sind bereits realisiert worden, weitere 35 Projekte befinden sich noch in der Planung. Das kleine Hinterzimmer in de Oude Delft 203 dient dabei nur noch als Bibliothek, denn längst haben sich die Aktivitäten des Büros über das gesamte Gebäude ausgeweitet. Zwei grossflächige Etagen mit einem kirchenähnlichen Raum im Zentrum bieten fast schon fürstliche Arbeitsbedingungen für die mittlerweile rund 60 Mitarbeiter von Mecanoo.

Die Bedeutung des staatlich gelenkten Wohnungsbaus, der vielen jungen Architekten als Sprungbrett zur Selbständigkeit dient, ist in den Niederlanden nach wie vor gross. Für die Architekten von Mecanoo bildete die Bebauung des Kruisplein den Auftakt zu einer ganzen Reihe weiterer Wohnbauprojekte. Allein in Rotterdam entwickelte die Gruppe Stadtquartiere am Tiendplein (1984-90), an der Hillelaan (1985-89) und am Ringvaartsplas (1988-93). In Maastricht folgte fast zeitgleich die Bebauung des Herdenkingsplein, in Den Haag stellte das Büro vor zwei Jahren ausserdem ein kompaktes Wohngebiet mit rund 800 Wohnungen am Groothandelsmarkt fertig. Die Idee der Gartenstadt, realisiert durch kleinteilige Reihenhausparzellen am Rand des Geländes, wird dabei mit wellenförmig angelegten Blöcken und einem zentralen Hochhaus verknüpft, das - ähnlich wie der zentrale Baukörper in der Rotterdamer Hillelaan - eine deutliche Nähe zu Alvar Aaltos «Neuer Vahr» in Bremen erkennen lässt.

Wo sich andere niederländische Architekturbüros, vor allem OMA oder MVRDV, in manifestartigen Schriften der Utopie einer maximal verdichteten Grossstadt anzunähern versuchen, bekennen sich die Architekten von Mecanoo offen zur Tradition der niederländischen Moderne; zu Jacobus Oud und Gerrit Rietveld oder zu den «Forum-Architekten» um Herman Hertzberger und den vor kurzem verstorbenen Aldo van Eyck, denen vor allem an der sozialen und integrativen Dimension der Architektur gelegen war. Wirkliche theoretische Programme sucht man bei Mecanoo jedoch vergeblich. «Wir sind frei von Dogmen, und das bedeutet, dass wir nie vorab Stellung beziehen», beschreiben Houben, Döll und de Weijer ihre Arbeit (van Egeraat, der bis 1995 massgeblich an zahlreichen Projekten beteiligt war, hat Mecanoo inzwischen ebenso verlassen wie Steenhuis). «Alles andere würde bedeuten, dass sämtliche Diskussionen über Architektur schnell in puren Stilfragen versanden, und die interessieren uns nicht. Wir suchen statt dessen bewusst eine langsame Annäherung. In manchen Fällen muss man ein bestehendes Gewebe fortsetzen und verstärken. In anderen Fällen ist es dagegen ratsamer, das vorgefundene Gewebe durch ein neues zu ersetzen. Die Entscheidungen sind vor allem vom Ort abhängig.»

Besonders eindrucksvoll lässt sich die Philosophie der Mecanoo-Architekten beim Rotterdamer Wohnhaus von Francine Houben am Kralingse Plas (1990-91) verfolgen. Durch eine fast vollständig gläserne Fassade bietet die lichtdurchflutete Villa am Ende einer Reihe von Häusern aus dem 19. Jahrhundert eine schöne Aussicht auf das Wasser und die Bäume des gegenüberliegenden Parks. Im dreigeschossigen, raffiniert verschachtelten Inneren, mit dem die Architekten an den eleganten Modernismus von Alvar Aaltos Villa Mairea (1937-39) anknüpfen, wurden grosse, durchgehende Räume mit überraschenden Durchgängen geschaffen, die sämtlich in offener Verbindung zueinander stehen. Deutlich zeigt sich dabei die Sensibilität gegenüber den Materialien: Die Projektarchitekten Houben und van Egeraat kontrastierten warme Materialien wie Holz, Kupfer und Bambus mit kühlen Baustoffen wie Glas, Stahl und Beton und erzeugten so ein raffiniertes Design mit ausserordentlich sinnlichen und taktilen, fast schon poetischen Effekten und Reizen. Den für den Boden verwendeten Beton behandelten sie mit einer Lage aus Wachs, die dem rauhen Material einen subtilen Glanz verleiht. Je nach Intimität der Räume wird das Material wärmer, durch das Zusammensetzen von Holz und Stein wird ausserdem die natürliche Farbe verstärkt.


Landschaftsplanung

Ein anderes eher kleinformatiges Projekt hatten die Architekten von Mecanoo ein Jahr zuvor ein paar Kilometer weiter südöstlich am Maasufer errichtet. Die frech verspielte, scheinbar ungleichgewichtige Formgebung des «Boompjes»-Pavillons (1989-90) fügt sich nahtlos in die Hafenaktivitäten sowie eine von Kees Christiaanse errichtete schwarze Arkade mit einer zum Wasser hin gelegenen Tribüne ein und bildet zudem ein gelungenes städtebauliches Pendant zum zeitgleich gebauten 16stöckigen Hochhaus von Wim Quist auf der gegenüberliegenden Strassenseite.

Mit Beginn der neunziger Jahre lässt sich eine deutliche Erweiterung des Aufgabenfeldes von Mecanoo beobachten. Lag der Schwerpunkt des Büros in den ersten Jahren ausschliesslich in den Bereichen Wohnungs- und Städtebau, ist Mecanoo seit einigen Jahren auch auf den Gebieten Landschafts- und Innenarchitektur tätig. Ein überaus gelungenes Projekt haben die Architekten dabei auf dem nach Masterplänen von Rem Koolhaas erweiterten Utrechter Universitätscampus «de Uithof» geschaffen: Die nach dem Vorbild einer arabischen Kasbah errichtete Fakultät für Wirtschaft und Management (1993-95), ein kompakter, relativ flach gehaltener Gebäudeblock aus Beton, Glas, Stahl und Holz, umschliesst in ihrem Inneren drei hofartig angelegte Gärten - einen üppigen Dschungel-Patio, einen japanisch inspirierten Zen-Patio und einen mit Teich und Felsbrocken gestalteten Wasser-Patio.

Zu noch spektakuläreren Mitteln hat Mecanoo beim Bau der neuen Bibliothek der Technischen Universität in Delft (1992-98; NZZ 2. 6. 98) gegriffen. Von aussen zeigt sich der gegenüber dem 1966 gebauten «Béton-brut-Koloss» des berühmten Hörsaalzentrums von van den Broek & Bakema gelegene Bau weit eher als skulpturale Landschaft denn als universitäres Gebäude. Ein schräg ansteigendes, begehbares Grasdach, das am Fuss der breiten Eingangstreppe beginnt und nach etwa 80 Metern seinen Höhepunkt erreicht, mündet in ein rund 40 Meter hohes kegelförmiges Element, das in seinem Inneren vier Leseebenen beherbergt. Die übrigen Räume der Bibliothek, das Magazin, die Verwaltungsräume und den grossen Arbeitssaal, der durch seine transparenten Glasfassaden einen schönen Blick nach aussen ermöglicht, haben die Mecanoo-Architekten raffiniert unter dem aufsteigenden Grasdach verborgen.


Typologische Erneuerungen

Durch die zunehmende Online-Bereitstellung von Informationen verwandelt sich der repräsentative Bücherspeicher von einst mehr und mehr zur multimedialen Schnittstelle zwischen Benutzern und Informationseinheiten. Mit der Strategie, den weitaus grössten Teil des Buchbestandes kurzerhand ins Erdreich zu versenken, wo auf Regalen von insgesamt 45 km Länge rund eine Million Bücher ruhen, haben die Architekten auch eine zeitgemässe typologische Erneuerung der Bauaufgabe Bibliothek geschaffen. Den Besuchern unmittelbar zugänglich sind nur 80 000 wichtige Publikationen in einem vier Geschosse hohen Bücherregal, das an der Stirnseite des grossen Lesesaals vor eine ultramarin leuchtende Wand gehängt wurde. Die Bewegungen der Besucher vor den Regalen verleihen der Wand Tiefe und machen sie zu einem fast schon theatralisch inszenierten Schaufenster. Das gleiche Ultramarin, das sich im übrigen auch bei den Bodenbelägen im Kegel der Bibliothek wiederfindet, hatte die Projektarchitektin Francine Houben schon kurz zuvor beim sensiblen Umbau einer protestantischen Kirche aus dem 18. Jahrhundert zu einem Theater für die Amsterdamer Theatergesellschaft «De Trust» verwendet. Trotz einem Budget von nur 3 Millionen Franken war es ihr dabei gelungen, mit Hilfe von wenigen Akzenten wie Farbe und Licht die Aufmerksamkeit des Publikums auf bestimmte Bereiche zu lenken.

Zuletzt haben die Mecanoo-Architekten zwei Wohnbauten in Amsterdam fertiggestellt. In der Vinkenstraat das Domizil einer Wohngruppe älterer homosexueller Männer und Frauen, in der im gleichen Block gelegenen Brouwersgracht ein auf den ersten Blick wenig spektakuläres Doppelwohnhaus mit grossen Fensterpartien und Holzvertäfelungen, hinter dessen leicht nach vorne geneigtem Mauerwerk sich jedoch eine um so freiere Anordnung des Grundrisses verbirgt. «Je mehr man in der Lage ist, die Essenz eines Ortes zu verstärken, um so freier ist man in der architektonischen Formgebung. Das könnte man unseren Ausgangspunkt nennen», erklären die Architekten schlicht.

Robert Uhde

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 1999.06.04



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09. April 1999Robert Uhde
Neue Zürcher Zeitung

Ein Fenster zum Wald

Als der Amsterdamer Architekt Paul de Ruiter mit dem Bau einer Seniorenvilla für ein älteres Ehepaar in der niederländischen Gemeinde Moergestel bei s'Hertogenbosch beauftragt wurde, liess er sich von Le Corbusiers «petite maison» am Genfer See inspirieren. Entstanden ist eine kleine Hommage eines Jungarchitekten an den grossen Meister.

Als der Amsterdamer Architekt Paul de Ruiter mit dem Bau einer Seniorenvilla für ein älteres Ehepaar in der niederländischen Gemeinde Moergestel bei s'Hertogenbosch beauftragt wurde, liess er sich von Le Corbusiers «petite maison» am Genfer See inspirieren. Entstanden ist eine kleine Hommage eines Jungarchitekten an den grossen Meister.

Die Villa La Roche in Paris war gerade bezogen und «Vers une architecture» soeben erschienen, da machte sich der 37jährige Le Corbusier daran, seinen Eltern ein einfaches Haus in Corseaux bei Vevey am Ufer des Genfersees zu entwerfen. «Unser Haus ist einfach, so einfach wie sein Architekt», sollte seine Mutter später über die kleine Villa sagen. Le Corbusiers Vater lebte nur ein knappes Jahr in der «petite maison», er verstarb schon 1925. Seine Mutter, sollte jedoch noch 35 Jahre hier verbringen, bis zu ihrem Tod im Alter von 100 Jahren. Kurz darauf wurde die Villa unter Denkmalschutz gestellt. Eine späte Ehrung für die «längliche Kiste auf der Erde», wie der Meister das Haus nannte.

Ein Haus fürs Alter

Als der 1962 geborene Amsterdamer Architekt Paul de Ruiter vor einigen Jahren mit dem Entwurf einer Villa für ein etwa sechzigjähriges Ehepaar betraut wurde, erinnerte er sich an das Haus in Corseaux. Ihm schwebte kein originalgetreues Abbild, kein einfaches Zitat vor, sondern eine zeitgemässe und freie Übersetzung, die das Vorbild Le Corbusiers eher als assoziativen Hintergrund denn als konkrete Handlungsvorgabe begreifen wollte. Schon die Kulisse der «Villa Aurora Borealis», der «Morgenröte des Nordens», hätte kaum besser gewählt werden können: Der kompakte und fast minimalistische flache Bau aus Glas, Backstein und Zedernholz fügt sich sensibel in die waldige, leicht hügelige Landschaft Brabants ein. Dem Grundgedanken folgend, dass die Bewohner unabhängig bis ins hohe Alter in der Villa leben können sollten, hat Paul de Ruiter den 230 Quadratmeter grossen Grundriss des Hauses in zwei rechteckige, ineinander gedrehte Baukörper aufgeteilt. Beide Bereiche sind so angelegt, dass sie sich jederzeit zu zwei getrennten Wohnungen umstrukturieren lassen. Bei Pflegebedarf können also etwa die Kinder oder andere Personen mit in die Villa einziehen.
Um die Möglichkeit der Aufteilung in zwei getrennte Wohnungen auch nach aussen sichtbar werden zu lassen, haben beide Volumen eine eigene Materialsprache und Detaillierung erhalten: Nach Norden hin, wo Le Corbusier die Villa seiner Eltern in futuristische Blechschindeln hüllte, schliesst sich die Brabanter Villa durch anthrazitfarbenen Backstein und ein mit Kupfer beschichtetes Schrägdach von der Aussenwelt ab. Hier befindet sich der Gästebereich mit eigenem Bad und ein Arbeitszimmer. Der nach Süden zum Wald hin sich anschliessende «eigentliche» Wohnbereich mit Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche und grossem Bad ist dagegen in rötlichem Zedernholz gehalten. Für ausreichend Licht im langen Flur zwischen beiden Baukörpern sorgt ein 16 Meter langes Oberlicht, das den Höhenunterschied zwischen dem flachen Wohnbereich und dem schrägen vorderen Bereich ausgleicht.

Nach Süden schafft viel Glas offene und helle Räume in der waldigen Umgebung. Besonders schön ist der Blick auf die Bäume aus dem vier Meter breiten Fenstervorsprung aus rahmenlosem, verleimtem Isolierglas – eine Spezialanfertigung, die für ein Höchstmass an Transparenz und Abstraktion sorgt und in diesen Ausmassen in den Niederlanden bisher noch nicht realisiert worden ist. Vom Garten aus wird dann ein weiteres Detail sichtbar: Hier hat de Ruiter den Höhenunterschied des Grundstückes genutzt, um einen Teil des in Holz gehaltenen Baukörpers spielerisch über dem Boden schweben zu lassen.
Um den Bewohnern im Alter ein möglichst barrierefreies Wohnen zu ermöglichen, weisen die einzelnen Räume der Villa keine Höhenunterschiede und keine Treppen auf und gehen fliessend ineinander über. Sämtliche Türen wurden dabei so verbreitert und proportional erhöht, dass man sie auch mit dem Rollstuhl benutzen kann. Wenn die mattgläsernen Türen offen sind, entsteht quer durchs Haus eine 15 Meter lange Sichtachse, die vom Badezimmer zum äusseren Ende des Wohnzimmers reicht. Im Zentrum befindet sich dabei das Schlafzimmer, «denn auch bei einer eventuellen Bettlägerigkeit sollen sich die Bewohner nicht an den Rand des Hauses abgeschoben fühlen», meint der Architekt.

Ästhetik und Ökologie

Paul de Ruiter, der nach seinem Studium an der TU in Delft zwischen 1991 und 1992 im renommierten Amsterdamer Büro van Berkel & Bos gearbeitet hat, sucht in seiner Arbeit nach einem ästhetisch wie energetisch sinnvollen Zusammenspiel von Gebäude, Fassade und Umraum. «Es imponiert mir, wie Jean Nouvel moderne Technologie als selbstverständlichen Teil von Kultur betrachtet», meint er und erwähnt dann auch den Minimal-Künstler Donald Judd und dessen Verständnis von Raum und Licht. Für das soeben fertiggestellte Mercator-1-Gebäude, das erste von insgesamt sechs Gebäuden, die Paul de Ruiter für den neuen Wissenschafts- und Technologiepark der Universität Nijmegen plant, hat er eine neuartige zweischalige Fassade aus Glas und transparentem Stoff entwickelt, deren abstrakte Rahmeneinteilung in der Tat interessante Bezüge zu Judd erkennen lässt. Aber Paul de Ruiter denkt schon weiter: «Mercator 6 soll dann ausschliesslich mit Wind- und Sonnenenergie auskommen. Gebäude können auf diese Weise zu Energieproduzenten umgestaltet werden.»

Neben der Villa «Aurora Borealis» und dem Mercator-1-Gebäude hat Paul de Ruiter in den vergangenen vier Jahren die Orchard Business Area in Wageningen, den ebenfalls in Nijmegen gelegenen Houtlaan Technology & Science Park und das Unternehmerzentrum Simon Stevin in Arnheim realisiert – eine beachtliche Referenzliste für einen erst 36jährigen Architekten, die aber in den Niederlanden keinen Einzelfall darstellt. Während andernorts über die schwierige Lage von Berufseinsteigern geklagt wird und Architekten noch mit vierzig als «jung» gelten, sorgen in den Niederlanden neben kurzen Studienzeiten vor allem der gegenwärtige Wirtschaftsboom und eher günstige Baukosten dafür, dass eine beachtliche Zahl junger, innovativer Büros sich profilieren kann. Paul de Ruiter jedenfalls muss sich kaum Gedanken über die Zukunft seines Büros machen: Mit dem Mercator-Projekt in Nijmegen wird er die nächsten acht Jahre beschäftigt sein, noch in diesem Jahr wird er ausserdem drei weitere Senioren-Villen bauen. Was ihn stört, ist, dass dieser Bautypus noch immer mit einem negativen Image behaftet ist, «dabei sind ältere Menschen heute oft erstaunlich aufgeschlossen gegenüber neuen Ideen».

Die Entwurfsarbeiten zur ersten der drei Villen sind so gut wie abgeschlossen; im Zentrum des Hauses hat Paul de Ruiter ein kleines Atrium mit einem Schwimmbecken vorgesehen. Noch nicht entschieden hat er dagegen über das Dach der Villa. Gegenwärtig beabsichtigt er, erneut Kupfer zu verwenden. «Im Verlauf von etwa 20 Jahren wechselt das Dach dann seine Farbe und erhält dabei seine typische leuchtend-grüne Patina.» Ein schönes Bild des Alterns.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 1999.04.09



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