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05. März 2010Hans-Georg Bächtold
TEC21

Mehr Mut zum Eingriff

Die Bevölkerung wächst, die Wohnfläche pro Kopf nimmt zu, die Siedlungsfläche dehnt sich aus, die gefahrenen Distanzen werden länger. Dadurch wird der Raum enger, das Bauland knapper, intakte Landschaft seltener, die Artenvielfalt kleiner. Die Raumplanung hat bisher nicht zum gewünschten Ziel geführt. Um mehr Wirkung zu erzielen, muss sie politischer denken lernen und künftig mutiger auf Verhaltensänderungen abzielen.

Die Bevölkerung wächst, die Wohnfläche pro Kopf nimmt zu, die Siedlungsfläche dehnt sich aus, die gefahrenen Distanzen werden länger. Dadurch wird der Raum enger, das Bauland knapper, intakte Landschaft seltener, die Artenvielfalt kleiner. Die Raumplanung hat bisher nicht zum gewünschten Ziel geführt. Um mehr Wirkung zu erzielen, muss sie politischer denken lernen und künftig mutiger auf Verhaltensänderungen abzielen.

Der Blick auf die heutige Schweiz zeigt es deutlich: Planerische Praxis, politische Realität und gesellschaftlicher Wandel haben nicht zum Ergebnis geführt, das sich die Raumplanung einst als Wunschziel gesetzt hat. Artikel 1 des Bundesgesetzes über die Raumplanung legt fest: «Bund, Kantone und Gemeinden sorgen dafür, dass der Boden haushälterisch genutzt wird. Sie stimmen ihre raumwirksamen Tätigkeiten aufeinander ab und verwirklichen eine auf die erwünschte Entwicklung des Landes ausgerichtete Ordnung der Besiedlung. Sie achten dabei auf die natürlichen Gegebenheiten sowie auf die Bedürfnisse von Bevölkerung und Wirtschaft.» Die aktuellen Diskussionen, ausgelöst unter anderem durch das Einreichen der Landschaftsinitiative, belegen diesen Befund und bringen Defizite zur Sprache. Diese gehen auf «Konstruktionsfehler» bei der Gesetzgebung vor 30 Jahren zurück und zeigen sich im Alltag bei der Umsetzung. Sie sind aber auch eine Folge der steigenden individuellen Ansprüche an den Lebensraum: geräumigeres Wohnen, flexible Arbeitsplätze, mehr Mobilität und attraktive Erholungsräume für die zunehmende Freizeit.

Wer sich mit unserem Lebensraum und der Raumplanung auseinandersetzt, kommt nicht umhin, Antworten zu suchen auf die Fragen, welche Kräfte in unserem Lebensraum wirken oder wirken werden und ihn massgeblich mitgestalten und welche räumliche Ordnung die Voraussetzung für eine zukunftsfähige Entwicklung der Schweiz sein könnte. Raumplanungstheorie und Forschung liefern gute Ansätze für Antworten. Doch die räumliche Entwicklung ist eng mit der gesellschaftlichen verflochten. Deshalb braucht es auch Antworten auf die viel schwierigeren Fragen, welche Raumstrukturen im föderalistischen System Schweiz machbar sind und wie die Raumplanung als staatliche Aufgabe die individuellen Ansprüche an den Lebensraum lenken und sogar begrenzen kann.

Ein Blick zurück

1955 sorgte die kleine rote Broschüre «achtung: die schweiz» für landesweites Aufsehen. Max Frisch, Lucius Burckhardt und Markus Kutter schrieben darin: «Es geht einfach weiter, Serie um Serie, wie die Vergrösserung einer Kaninchenfarm. Fährt man weiter, zeigt sich, dass das schweizerische Mittelland aufgehört hat, eine Landschaft zu sein.»[1] 1979 legte das Raumplanungsgesetz Ziele und Verfahrensregeln für den Umgang mit unserem Lebens- und Wirtschaftsraum fest. Damit nahm die Raumplanung auf allen Staatsebenen die Arbeit auf. Ausgangspunkt war die Erkenntnis, dass der Boden ein beschränktes, nicht vermehrbares Gut darstellt.

Doch auch im letzten Jahrzehnt betrug das Wachstum der überbauten Siedlungsgebiete in der Schweiz rund 13 %. Es lag damit deutlich über dem Bevölkerungswachstum von rund 9 %. Die Siedlungsflächen wachsen pro Kopf und Jahr um 1.5 m². Rund ein Drittel des Flächenzuwachses entfällt auf den Bau von Einfamilienhäusern. Der Anteil der Zweitwohnungen am Gesamtwohnungsbestand erreicht rund 12 %. Der Zuwachs an Zweitwohnungen beschränkt sich keineswegs auf die Tourismusgebiete; in Basel erreicht ihr Anteil bereits rund 8 %, in Zürich rund 6 %. Die Lebensweise ist offensichtlich entscheidender als die Anzahl Menschen.Mit der Zersiedelung und dem Siedlungswachstum in die Fläche geht die fortlaufende funktionale Entmischung von Wohnort, Arbeitsplatz, Einkaufsstandorten und Freizeitanlagen einher. Die heutige Siedlungsstruktur ist nur mit einem hohen Mobilitätsgrad der Bevölkerung und einer entsprechend ausgebauten Verkehrsinfrastruktur funktionsfähig. 81 % aller Haushalte der Schweiz verfügten 2005 über mindestens ein Auto, vor 30 Jahren waren es noch 70 %. 2005 hatten 31 % der Haushalte zwei oder mehr Autos, 1980 waren es erst 17 %.

Zwei Drittel aller Distanzen werden heute mit dem Auto zurückgelegt. Der Preis der hohen Mobilität im Bereich des motorisierten Individualverkehrs ist die Umweltbelastung: Ein Drittel der schweizerischen Wohnbevölkerung ist tagsüber einem Strassenlärm ausgesetzt, der das Wohlbefinden erheblich einschränkt. Hinzu kommen die Luftverschmutzung und der Landverbrauch.

Das Bundesamt für Raumentwicklung (ARE) forderte 2006 einen Bericht internationaler Experten zum Stand der Raumentwicklung und der Raumplanung Schweiz an.[2] Dort ist nachzulesen, dass die Zersiedelung mit ihren Folgeerscheinungen weder ökonomisch noch ökologisch sinnvoll sei und die Handlungsspielräume kommender Generationen einschränke. Die Entwicklung müsse deshalb zu einem grossen Teil über die Transformation des Bestandes bewältigt werden. Darin liegt eine zentrale Herausforderung für die weitere Raumentwicklung.

Die Zukunft als Massstab

Der Blick zurück genügt nicht. Massstab für die Raumplanung Schweiz ist die Zukunft. Die Schweizerbevölkerung wächst laufend. Wir nähern uns der 8-Millionen-Grenze. Die Wachstumsrate liegt heute bei rund 1 %. Das entspricht fast 80 000 zusätzlichen Einwohnenden pro Jahr. Würden sie konzentriert leben, entspräche das jährlich einer neuen Stadt in der Grösse von St. Gallen. Zur Erinnerung: 1962, als die Schweiz 5.5 Mio. Einwohnende zählte, stellte der St. Galler Professor Francesco Kneschaurek seine Studien zur Bevölkerungsentwicklung vor, seine Vision einer 10-Millionen-Schweiz, für die es Wohnraum und Infrastruktur bereitzustellen gelte. Dieser damalige Trend wurde der Planung als Ziel unterlegt. Von zentraler Bedeutung ist auch eine zweite Wachstumsrate: Die Schweizerinnen und Schweizer wohnen heute auf 49 m² pro Kopf – 1960 beanspruchten sie noch 22 m². In den Wohnungen breiten sich Wohnlandschaften aus, die Singlehaushalte nehmen zu, und der Individualismus mit seinen Ansprüchen wächst.

Gemeinden, Kantone, Bund

Die Träger der Raumplanung sind in der Schweiz die Gemeinden, die Kantone und der Bund. Die Raumplanung als öffentliche Aufgabe muss die raumwirksamen Tätigkeiten, vor allem die der Gemeinwesen aller Stufen, ständig aufeinander abstimmen. Dazu kommen weitere raumrelevante private Akteure wie die Ersteller von Einkaufszentren, Sport- und Freizeitanlagen.

Den über 2600 Schweizer Gemeinden obliegt es, im Rahmen der Nutzungsplanung Bauzonen auszuweisen, meist über Volksentscheide. Damit werden Art, Dimension und Ort der einzelnen Nutzungen grundeigentümerverbindlich festgelegt. Die Bauzonen bilden die Grundlage für das Erteilen der Baubewilligungen. Bisher ist bei dieser Art von Nutzungsplanung ein Übergewicht der Bodennutzungsplanung zu verzeichnen. Die Wirkungen auf benachbarte Nutzungen und die Verträglichkeit mit der Umwelt und dem Umfeld werden zu wenig berücksichtigt.

Den Kantonen kommt die Hauptverantwortung für die Raumplanung zu. Ihre Richtpläne zeigen den aktuellen Stand der Koordination im Hinblick auf die gewünschte räumliche Entwicklung. Sie geht von räumlichen Konflikten aus und sucht nach Lösungen. Doch dieses Steuerungspotenzial wird noch ungenügend eingesetzt, insbesondere zur Koordination raumwirksamer Aspekte der einzelnen Fachplanungen (Verkehrsplanung, Ver- und Entsorgung usw.). Der Bund erarbeitet Grundlagen, um seine raumwirksamen Aufgaben erfüllen zu können, erstellt die nötigen Konzepte und Sachpläne und stimmt sie aufeinander ab. Er arbeitet mit den Kantonen zusammen und gibt ihnen seine Konzepte, Sachpläne und Bauvorhaben rechtzeitig bekannt. Und er genehmigt die Richtpläne der Kantone.

Fehlerhafte Aufgabenteilung

Diese Aufgabenteilung ist in Anbetracht der Herausforderungen mit grundlegenden Konstruktionsfehlern behaftet:

1. Der Gesetzgeber hat die Macht von Gemeindehoheit und Gemeindeautonomie zu wenig beachtet. Die Gemeindegrenzen stellen ein wesentliches Hindernis für den Vollzug der flächendeckenden Raumentwicklung dar. In der heutigen Planungsrealität hat die kommunale Entwicklung erste Priorität. Sie wird mittels Ausweisung genügender und attraktiver Bauzonen umgesetzt – ohne Abstimmung mit den Nachbargemeinden. Die Kantone haben die Nutzungsplanung weitgehend den Gemeinden überlassen. Die Kombination von kommunaler Kompetenz zum Ausweisen von Bauzonen und kommunaler Steuerhoheit führt dazu, dass heute viele Bauzonen am falschen Ort liegen. Die kantonale Richtplanung hat es meist nicht geschafft, die Gemeinden zu einem regionalen oder kantonalen Denken zu bringen. Und es ist zu wenig gelungen, die Pläne und Wünsche der Gemeinden mit den Zielvorstellungen des Kantons in Übereinstimmung zu bringen. Als Folge davon gibt es zwar genug Bauzonen für eine Entwicklung, aber sie liegen am falschen Ort.

2. Die Kantone – als Hauptverantwortliche der Raumplanung – sind zu schwach. Das Defizit liegt nicht bei den Instrumenten (insbesondere der Richtplan ist ein wesentlicher Bestandteil im Gefüge der Führungsinstrumente, da er einen klaren Orientierungsrahmen für die kantonale Raumentwicklung schafft), sondern vielmehr bei den Politikerinnen und Politikern. Die Gemeinden ans Gängelband zu nehmen, ist in den kantonalen Parlamenten nicht beliebt. Die Mitglieder kantonaler Regierungen und Parlamente verstehen sich in erster Linie als Vertreter einer Gemeinde oder Region und weniger als Verantwortliche für den gesamten Kanton. Dazu kommen die leidenschaftliche Uneinigkeit der Politik bei Eingriffen ins Grundeigentum und in die individuellen Freiheiten sowie ihre häufigen Schwierigkeiten beim Umgang mit langen und komplexen Prozessen.

Vor diesem Hintergrund gehen viele Kantone die Richtplanung zu technisch, zu bürokratisch und zu wenig strategisch und problemorientiert an. Planen in funktionalen, die Gemeindegrenzen überschreitenden Räumen hat noch kaum Fuss gefasst. Ein klares Defizit liegt auch darin, dass sich die Richtpläne nicht präzise genug zur Siedlungsentwicklung äussern. Auch Aspekte der sehr raumrelevanten Steuerpolitik finden sich in den Richtplänen nicht. Der Bund wird diesbezüglich seine Genehmigungspraxis ändern müssen.

3. Auf Bundesebene fehlt eine Grundlage für eine gesamtheitliche Sicht der Raumentwicklung Schweiz: eine Auslegeordnung, die als Basis zur Koordination der einzelnen Sachplanungen dienen könnte. Zudem muss sich der Bund den Vorwurf gefallen lassen, seine Sachpläne, insbesondere in den sehr raumwirksamen Bereichen Verkehr und Luftfahrt, zu spät, zu wenig koordiniert und zu wenig zielgerichtet erarbeitet zu haben.

Im Raumplanungsalltag ist auch immer wieder festzustellen, wie schwach das Bundesamt für Raumentwicklung (ARE) ist, insbesondere bei der zwingend notwendigen Koordination der verschiedenen Bundesämter. Dazu kommt, dass die Raumplanung über wenig Geld verfügt. Ein gutes Beispiel dafür, wie trotzdem grenzüberschreitende Planungen in Gang gesetzt werden können, bildeten die Modellvorhaben des Bundes.[3] Auch die Agglomerationsprogramme sind ein guter Ansatz – trotz fehlender Klarheit und fehlenden Finanzmitteln.

Verkehr - der heimliche Raumplaner

Die heute als Zersiedlung angeprangerte Entwicklung ist das Ergebnis der Nachfrage nach Boden, diese ist ihrerseits die Folge der Infrastrukturplanung und -realisierung. Das Zusammenspiel zwischen Verkehrsinfrastruktur und Bevölkerungsentwicklung mit ihren Auswirkungen auf den Raum zeigt sich etwa am Beispiel des Kantons Aargau.[4] Der bestens erschlossene Kanton konnte kürzlich den 600 000. Einwohnenden willkommen heissen; Prognosen gehen von bis zu 740 000 im Jahr 2035 aus. Das bedeutet, dass 6 Mio. zusätzliche Quadratmeter Wohnfläche benötigt werden. Auffallend, aber nicht überraschend ist dabei, dass die Bevölkerungsentwicklung vorwiegend in ruhigeren Räumen mit guter Verkehrserschliessung stattfindet – diese Kombination macht einen guten Wohnstandort aus.

Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum führen zu kritischen Engpässen: Schiene wie Strasse stossen zunehmend an ihre Kapazitätsgrenzen. Dadurch nehmen die Erreichbarkeit und damit die Standortattraktivität ab. Es entsteht eine wachsende Spannung zwischen Siedlungsentwicklung, Wirtschaftsentwicklung, Verkehrsentwicklung und Standortattraktivität – keine leichte Aufgabe in Anbetracht der grossen Gemeindeautonomie.

Vor diesem Hintergrund sind neue Raumentwicklungsstrategien gefragt: tangenziale Verbindungen wie die Glatttalbahn, um die Agglomeration zu verdichten (dafür dürfen die S-Bahn-Netze räumlich nicht weiter ausgedehnt werden) oder Konzentration der Siedlungsentwicklung: eine neue Stadt im Kanton Aargau an einem Standort mit hervorragender Anbindung an den öffentlichen Verkehr. Nur mit solch mutigen – und dem bisherigen Planungssystem noch fremden – Ansätzen kann das Ziel der Raumordnung erreicht werden, verbunden mit massiven und zeitgerechten Investitionen in die Verkehrssysteme. In dieser Richtung gibt es bereits gute Ansätze.[5]

Mehr Mut, Politikverständnis und ein Paradigmenwechsel

Die Raumplanung muss die Zukunftsprobleme unseres Lebensraums lösen. Was kann sie tun? Das Bevölkerungswachstum, das heisst die Einwanderung stoppen? Zur Mässigung und zum Verzichten aufrufen? Die bestehenden Siedlungen an sehr gut erschlossenen Standorten verdichten? Neue Städte bauen? Die Aufgabenteilung in der Raumplanung ändern? In den letzten Jahren ist der Mut zu Visionen – offenbar im Gleichschritt mit den wirtschaftlichen Schwierigkeiten – einem überstarken Pragmatismus gewichen. Selbstverständlich muss das Machbare ein wesentlicher Bestandteil der räumlichen Planung sein. Zu beklagen ist aber das Fehlen von Mut als treibende Kraft. Im letzten Jahrhundert mit seinem Fortschrittsglauben haben Fachleute immer wieder mutige Ideen zur Diskussion gestellt.[6] Die Raumplanung ist zunehmend auf den politischen Gestaltungswillen angewiesen. Sie muss deshalb das politische System kennen und erfordert Eindenken in die politischen Prozesse und Abläufe. Bei Studierenden und Mitarbeitenden in den Raumplanungsämtern ist aber gerade in diesem Bereich schwindendes Interesse festzustellen und – damit zusammenhängend – auch das Fehlen überzeugender Argumentation, von Engagement und Leidenschaft. Dafür trifft man auf Flucht in Formalismus und Routine.

Die Zukunftsprobleme unseres Lebensraumes sind mit den Instrumenten der Raumplanung zu lösen. Dafür muss es aber zu einem Paradigmenwechsel kommen: Raumplanung darf sich nicht länger auf das Festlegen von Nutzungsflächen beschränken, sondern muss dazu beitragen, die raumwirksamen Aktivitäten zu koordinieren und dabei Möglichkeiten berücksichtigen, wie die Verhaltensweisen der Menschen gesteuert werden können. Heute stehen dafür nur rudimentäre Mittel zur Verfügung. In Anbetracht der Herausforderungen wird dies noch zu wenig ernsthaft diskutiert. Zur Entwicklung von intelligenten und akzeptierten Lösungen braucht es eine viel grosszügigere geistige Welt – und eine erfolgreiche Raumplanung. Denn der Raumplanung kommt nur dann eine Schlüsselrolle zu, wenn es ihr gelingt, Handlungen zu bewirken.


Anmerkungen:
[01] Max Frisch, Lucius Burckhardt, Markus Kutter: achtung: die schweiz. Zürich, 1955
[02] Raumplanung und Raumentwicklung Schweiz. Bericht der internationalen Expertengruppe, Zürich, 2008
[03] www.are.admin.ch
[04] Peter C. Beyeler: «Verkehrsinfrastrukturen im Aargau: Wie stark hinkt die Projektrealisierung den Bedürfnissen hinterher?», in: Planen und Bauen von Infrastrukturen: Geht’s auch schneller? Dokumentation zur Infra-Tagung vom 21. Januar 2010, S. 25–33
[05] Nicole Wirz: «Bauen am richtigen Ort», in: TEC21 7/2010, S. 49
06] Walter Schiesser: «Die Sixties und die Lust am Fabulieren», in: NZZ Folio 02/1994

TEC21, Fr., 2010.03.05



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2010|10 Die Schweiz wird knapp

14. August 2009Hans-Georg Bächtold
TEC21

Flanieren und Ankommen

Verkehrsplaner propagieren eine geringe Regelungsdichte als Beitrag, um die Attraktivität von Siedlungen zu steigern. In Begegnungszonen haben FussgängerInnen Vortritt und dürfen den ganzen Strassenraum benutzen. Die Vertreter des öff entlichen Verkehrs reagieren jedoch ablehnend auf das «organisierte Chaos», da sie Zeitverlust und Kostenfolgen fürchten. Untersuchungen aus dem Kanton Basel-Stadt bilden die Grundlage für eine Diskussion – und zeigen, dass weitere Untersuchungen und Auswertungen nötig sind.

Verkehrsplaner propagieren eine geringe Regelungsdichte als Beitrag, um die Attraktivität von Siedlungen zu steigern. In Begegnungszonen haben FussgängerInnen Vortritt und dürfen den ganzen Strassenraum benutzen. Die Vertreter des öff entlichen Verkehrs reagieren jedoch ablehnend auf das «organisierte Chaos», da sie Zeitverlust und Kostenfolgen fürchten. Untersuchungen aus dem Kanton Basel-Stadt bilden die Grundlage für eine Diskussion – und zeigen, dass weitere Untersuchungen und Auswertungen nötig sind.

Lange dominierte der Verkehr das Ortsbild: Die negativen Auswirkungen der ausschliesslich nach technischen Überlegungen gebauten Verkehrsanlagen traten in Form von erschwerten Querungsmöglichkeiten, abnehmender Sicherheit, grösseren Zeitverlusten, zunehmender Lärm- und Luftbelastung und sinkender Umsätze in der Folge immer stärker zutage. Diesen «Verkehrsproblemen» wurde oft mit einem Ausbau der bestehenden Anlagen begegnet. Heute stehen als wirkungsvolle Lösungsansätze die Reduktion der Belastungen und die Gestaltung der Freiräume im Vordergrund. Neu sind diese Forderungen allerdings nicht – bereits 1982 lautete ein Leitsatz: Die Strasse ist für alle da. Strassenraum ist Lebensraum.[1]

Die Siedlungen sollen wieder ein attraktiver Lebensraum für die Bewohnerinnen und Bewohner werden. Die Raumplanung bemüht sich unter dem Motto «Innere Entwicklung» um wohnliche Siedlungen und Quartiere, der Umweltschutz versucht, mit technischen Mass nahmen an der Quelle die Umweltbelastungen zu senken, und die Verkehrsplanung hat mit gestalterischen Massnahmen den Verkehr gezähmt, verlangsamt oder aus den Ortskernen verdrängt.[2, 3] In der aktuellen Agglomerationspolitik wird der Gestaltung der Strassenräume eine wichtige Funktion beigemessen, und der Bund finanziert die Einrichtung von Begegnungs- und Tempo-30-Zonen mit. In den letzten Jahren haben daher viele Gemeinden Tempo-30-Zonen eingerichtet, die – richtig konzipiert – sehr wirkungsvoll sind. Ausserdem zeigt sich, dass es sinnvoll ist, solche Zonen in den Gemeinden möglichst flächendeckend umzusetzen.[4, 5]

Von der Flanierzone zur Begegnungszone

Zu Diskussionen Anlass geben heute die Begegnungszonen, von denen mittlerweile über 300 in der Schweiz realisiert wurden oder in Realisierung sind.[6] Diese schaffen anstelle einer funktionalen Trennung der unterschiedlichen Verkehrsteilnehmenden einen Lebensraum von hoher Aufenthaltsqualität – mit geringem Flächenverbrauch und auf tiefem Geschwindigkeitsniveau. Den Anfang nahm dieses neue, fussgängerfreundliche Verkehrsregime 1996 als «Flanierzone» in Burgdorf. Wissenschaftliche Auswertungen des Pilotprojekts zeigten positive Ergebnisse: Befragungen ergaben, dass sich die anfängliche Skepsis der Bevöl kerung und des Gewerbes im Laufe der Zeit in Akzeptanz wandelte. Zugleich nahm der Umsatz der Geschäfte zu. Nach der Einführung sank das Geschwindigkeitsniveau um ca. 20 km/h, und der motorisierte Verkehr nahm um 16 % ab. Seit 2000 wurde die zunächst provisorische Gestaltung des Strassenraums definitiv umgebaut und als Fläche von Fassade zu Fassade gestaltet.

Begegnungszonen eignen sich dort, wo erheblicher Fussgängerverkehr herrscht, eine Fussgängerzone auf Grund der Grösse des Geschäftsgebietes aber nicht in Betracht kommt. Der querende Fussgängerverkehr hat einen wesentlichen Anteil am Gesamtverkehr, und die Durchmischung erfolgt flächig über die gesamte signalisierte Langsamfahrstrecke. Diese wird auch vom Linienbus frequentiert, ebenso ist die Zufahrt mit Autos und die Anlieferung mit Lastwagen zu gewährleisten.

Über den tatsächlichen Nutzen von Begegnungszonen scheiden sich die Geister. Zwei Kriterien, für die allerdings nur wenige Auswertungen vorliegen, bestimmen die Diskussion: die Unfalldaten und die tatsächlich gefahrene Geschwindigkeit in den Langsamfahrzonen. Ein vom Baudepartement des Kantons Basel-Stadt veröffentlichter Bericht zur Erfolgskontrolle der verschiedenen Projekte zeigt, dass die Geschwindigkeit unter 30 km/h gesenkt wurde. Gleichzeitig wird die Höchstgeschwindigkeit von 20 km/h nur in zwei Begegnungs zonen eingehalten. Das Verwaltungsgericht St. Gallen hat in einem Urteil festgehalten: Die gefahrenen Geschwindigkeiten im Bereich einer Begegnungszone lagen bei den vorgenommenen Messun gen bei 85 % aller Motorfahrzeuge im Bereich bis 38 km/h und bei 50 % aller Motorfahrzeuge im Bereich bis 28 km/h. Kein Fahrzeug überschritt die Limite von 50 km/h. Daraus wurde im Gutachten die Schlussfolgerung gezogen, es sei ein «recht tiefes Ge schwindigkeits niveau» erreicht worden, sodass aufgrund der gefahrenen Geschwindigkeiten keine schwere Gefährdung bzw. keine Notwendigkeit zum Schutz besonderer Kategorien von Verkehrsteilnehmern bestehe.[7] Eine andere Auswertung von Unfalldaten in vier Begegnungszonen (Burgdorf, Biel, Lyss und Einsiedeln) zeigt eine Reduktion der Unfälle, der Verletzten und der Sachschäden zwischen 10 % und 30 %. Die Zahl der Verletzten – Fussgänger und Radfahrer – sank von 20 auf 16. Ein grosser Teil der Unfälle sind Bagatellunfälle, die unabhängig vom Verkehrsregime bei tiefen Geschwindigkeiten geschehen, etwa beim Parkieren, Manövrieren oder Abbiegen. Insgesamt kann den Begegnungszonen bezüglich Verkehrssicherheit also ein gutes Zeugnis ausgestellt werden. Die Befürchtung, dass sich durch die geringe Regelungsdichte und die damit verbundene Verunsicherung mehr Unfälle ereignen, hat sich nicht bewahrheitet. Andererseits ist die Reduktion der Unfallzahlen und -folgen nicht so markant, dass mit der Einrichtung einer Begegnungszone eine deutliche Verbesserung der Verkehrssicherheit einhergeht. Wünschenswert wären hier Untersuchungen mit einer breiteren Datenbasis in Abhängigkeit von den Gestaltungstypen.

Konflikte mit dem öffentlichen Verkehr

Die Kritik an den neuen Zonen kommt meist vonseiten des öffentlichen Verkehrs, dessen Interessen den Forderung nach «Langsamfahrzonen» entgegenstehen: Die Umläufe der Buslinien sind zum Teil sehr knapp bemessen und bei Verkehrsbehinderungen kaum pünktlich fahrbar. Zudem wird in den nächsten Jahren mit einem markanten Zuwachs an öV-Benützern gerechnet, die ihre Anschlüsse gesichert sehen wollen. Bei Entscheiden ist daher genau zwischen den verschiedenen Ansprüchen abzuwägen.

Die nachstehenden Überlegungen und Ansätze basieren vor allem auf den Diskussionen im Kanton Basel-Landschaft im Zusammenhang mit der Einführung und der Ausdehnung der Langsamfahrzonen und auf Reaktionen von Verkehrsfachleuten.[8] Grundlage für die Erteilung einer Bewilligung für eine Tempo-30-Zone ist die «Verordnung über Tempo-30-Zonen und Begegnungszonen» vom September 2001. Darin wurde die Flächenbegrenzung auf 0.7 km2 aufgehoben, sodass ganze Ort- oder Talschaften zu einer einzigen Tempo-30-Zone werden können. Nicht geregelt wurde jedoch der Umgang mit dort verlaufenden öV-Linien. Dadurch erhöht sich die Konfliktwahrscheinlichkeit, die zu unplanbaren zeitlichen Verzögerungen im Busverkehr führen können – mit negativen Auswirkungen auf den Fahrplan:

1. Temporeduktion: Durch die Verlangsamung der Busfahrt aufgrund der Reduktion der Höchstgeschwindigkeit wird die Benützung des öffentlichen Verkehrs unattraktiver und stellt keine interessante Alternative zum Individualverkehr dar.

2. Wegfall der Vortrittsberechtigung: Mit einer Langsamverkehrszone geht die Einführung eines generellen Rechtsvortritts einher. Auch Busse müssen bei jeder Rechtseinmündung den Vortritt gewähren, was für die Fahrgäste unangenehme und sicherheitsrelevante abrupte Brems- und Anfahrvorgänge zur Folge hat.

3. Hindernisse: In Langsamverkehrszonen wird die Fahrbahnbreite meist durch Anordnung von versetzten Parkfeldern oder künstlichen Hindernissen reduziert. Dies bewirkt eine für die Fahrgäste unangenehme und für den Wagenführer anspruchsvolle Schlangenfahrt. Zudem ergeben sich umständliche Kreuzungsvorgänge mit Personenwagen.

Obwohl die gefahrene Höchstgeschwindigkeit auf für Langsamverkehr vorgesehenen Strassen wenig über 40 km/h hinausgeht und dadurch der Fahrzeitverlust meist klein ausfällt, kann Punkt 1 insbesondere bei gespannter Fahrplanlage und knappen Anschlusszeiten betriebliche Probleme bereiten und gegebenenfalls sogar Folgekosten verursachen, wenn mehr Busse eingesetzen werden müssen, um die Umlaufzeiten sicherzustellen. Stärker fallen die Punkte 2 und 3 ins Gewicht, da sie gleichzeitig fahrplan- und sicherheitsrelevant sind. Eine Vollbremsung stellt das höchste Gefährdungspotenzial für Fahrgäste dar, vor allem bei einem hohen Anteil stehender Fahrgäste.

Ein weiteres Spannungsfeld zeigt sich im Bereich von Schulen. Um den Konflikt zwischen Kindern und anderen Verkehrsteilnehmenden zu minimieren, wünschen sich Gemeinden in diesen Strassenabschnitten eine Verkehrsberuhigung. Gleichzeitig ist der Linienbus vielerorts das Haupttransportmittel für die Schüler, der notwendig in Schulhausnähe verkehrt und hält. Vor diesem Hintergrund werden folgende Handlungsgrundsätze abgeleitet:

1. Auf Hauptsammelstrassen mit öV-Linien sind grundsätzlich keine Tempo-30-Zonen und Begegnungszonen zulässig.

2. Auf Quartiersammelstrassen mit öV-Linien sind Tempo-30-Zonen (nach Abwägung der Nachteile für den Busbetrieb) denkbar.

3. Auf Haupt- und Quartiersammelstrassen ohne öV-Linien sind Tempo-30-Zonen und Begegnungszonen möglich (Beurteilung: evtl. zukünftige Bedienung mit öV-Linie).

Zusätzlich sind in der Nähe von Schulhäusern, bei publikumsintensiven Einrichtungen oder auf zentralen Plätzen kurze Tempo-30-Abschnitte oder Begegnungszonen zur Vernetzung verkehrsberuhigter Zonen nach vorgängiger Prüfung durch die öV-Verantwortlichen denkbar. Dass sich Busse und Begegnungszone durchaus vertragen, zeigt wiederum das Beispiel Burgdorf. Verkehrsplaner schätzen die Fahrzeitverluste gering ein, da Begegnungszonen dort eingerichtet wurden, wo bisher schon langsam gefahren wurde. Viel stärker auf die Gesamtfahrzeit wirken sich Knotenpunkte mit Lichtsignalanlagen und unterschiedlich lange Haltezeiten aus – wenn zum Beispiel viele Menschen ein- oder aussteigen wollen.


Anmerkungen:
[01] Manfred Sack: Lebensraum: Strasse. Schriftenreihe des deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz, Band 14, Bonn 1982, 84 Seiten
[02] Hanspeter Lindenmann, Stefan Frey, Markus Schwob: Gestaltung von Kantonsstrassen in Ortskernen. Institut für Verkehrsplanung, Transporttechnik, Strassen- und Eisenbahnbau ETHZürich, Tiefbauamt des Kantons Basel-Landschaft, Zürich und Liestal 1987, 69 Seiten
[03] Tiefbauamt des Kantons Bern, Gemeinde Köniz, Tiefbauamt der Stadt Bern (Hrsg.): Der Wabernblock. Bern 1998, 56 Seiten
[04] Mobilservice – Plattform für eine zukunft sorientierte Mobilität: Praxisbeispiel, Zonen mit Tempobeschränkung, 24 Seiten, www.mobilservice.ch
[05] Mit dem «Berner Modell» hat der Kanton Bern zusammen mit Fachleuten auf teils pragmatischem und teils wissenschaft lichem Weg eine Vorgehens und Planungsphilosophie entwickelt, welche die Reparatur und das Schaff en von Entwicklungsspielräumen im Auge hat, aber auch das Umgehen mit dem Konfliktpotenzial. www.tba.bve.be.ch, Berner Modell (Projektbeschriebe, Wirksamkeitsanalysen, Film «Berner Modell»)
[06] www.begegnungszonen.ch
[07] Entscheid des Verwaltungsgerichts vom 23. Januar 2007
[08] Im Kanton Basel-Landschaft ist die Abteilung öffentlicher Verkehr dem Amt für Raumplanung angegliedert – wie auch die Fachstelle Lärmschutz und die Kantonale Denkmal- und Ortsbildpflege. Innerhalb des Kantons beschäftigen sich insbesondere drei kantonale Amtsstellen mit der Genehmigung von Langsamfahrzonen: die Polizei, das Tiefbauamt und das Amt für Raumplanung

TEC21, Fr., 2009.08.14



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tec21 2009|33-34 Dosiertes Chaos

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05. März 2010Hans-Georg Bächtold
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Die Bevölkerung wächst, die Wohnfläche pro Kopf nimmt zu, die Siedlungsfläche dehnt sich aus, die gefahrenen Distanzen werden länger. Dadurch wird der Raum enger, das Bauland knapper, intakte Landschaft seltener, die Artenvielfalt kleiner. Die Raumplanung hat bisher nicht zum gewünschten Ziel geführt. Um mehr Wirkung zu erzielen, muss sie politischer denken lernen und künftig mutiger auf Verhaltensänderungen abzielen.

Die Bevölkerung wächst, die Wohnfläche pro Kopf nimmt zu, die Siedlungsfläche dehnt sich aus, die gefahrenen Distanzen werden länger. Dadurch wird der Raum enger, das Bauland knapper, intakte Landschaft seltener, die Artenvielfalt kleiner. Die Raumplanung hat bisher nicht zum gewünschten Ziel geführt. Um mehr Wirkung zu erzielen, muss sie politischer denken lernen und künftig mutiger auf Verhaltensänderungen abzielen.

Der Blick auf die heutige Schweiz zeigt es deutlich: Planerische Praxis, politische Realität und gesellschaftlicher Wandel haben nicht zum Ergebnis geführt, das sich die Raumplanung einst als Wunschziel gesetzt hat. Artikel 1 des Bundesgesetzes über die Raumplanung legt fest: «Bund, Kantone und Gemeinden sorgen dafür, dass der Boden haushälterisch genutzt wird. Sie stimmen ihre raumwirksamen Tätigkeiten aufeinander ab und verwirklichen eine auf die erwünschte Entwicklung des Landes ausgerichtete Ordnung der Besiedlung. Sie achten dabei auf die natürlichen Gegebenheiten sowie auf die Bedürfnisse von Bevölkerung und Wirtschaft.» Die aktuellen Diskussionen, ausgelöst unter anderem durch das Einreichen der Landschaftsinitiative, belegen diesen Befund und bringen Defizite zur Sprache. Diese gehen auf «Konstruktionsfehler» bei der Gesetzgebung vor 30 Jahren zurück und zeigen sich im Alltag bei der Umsetzung. Sie sind aber auch eine Folge der steigenden individuellen Ansprüche an den Lebensraum: geräumigeres Wohnen, flexible Arbeitsplätze, mehr Mobilität und attraktive Erholungsräume für die zunehmende Freizeit.

Wer sich mit unserem Lebensraum und der Raumplanung auseinandersetzt, kommt nicht umhin, Antworten zu suchen auf die Fragen, welche Kräfte in unserem Lebensraum wirken oder wirken werden und ihn massgeblich mitgestalten und welche räumliche Ordnung die Voraussetzung für eine zukunftsfähige Entwicklung der Schweiz sein könnte. Raumplanungstheorie und Forschung liefern gute Ansätze für Antworten. Doch die räumliche Entwicklung ist eng mit der gesellschaftlichen verflochten. Deshalb braucht es auch Antworten auf die viel schwierigeren Fragen, welche Raumstrukturen im föderalistischen System Schweiz machbar sind und wie die Raumplanung als staatliche Aufgabe die individuellen Ansprüche an den Lebensraum lenken und sogar begrenzen kann.

Ein Blick zurück

1955 sorgte die kleine rote Broschüre «achtung: die schweiz» für landesweites Aufsehen. Max Frisch, Lucius Burckhardt und Markus Kutter schrieben darin: «Es geht einfach weiter, Serie um Serie, wie die Vergrösserung einer Kaninchenfarm. Fährt man weiter, zeigt sich, dass das schweizerische Mittelland aufgehört hat, eine Landschaft zu sein.»[1] 1979 legte das Raumplanungsgesetz Ziele und Verfahrensregeln für den Umgang mit unserem Lebens- und Wirtschaftsraum fest. Damit nahm die Raumplanung auf allen Staatsebenen die Arbeit auf. Ausgangspunkt war die Erkenntnis, dass der Boden ein beschränktes, nicht vermehrbares Gut darstellt.

Doch auch im letzten Jahrzehnt betrug das Wachstum der überbauten Siedlungsgebiete in der Schweiz rund 13 %. Es lag damit deutlich über dem Bevölkerungswachstum von rund 9 %. Die Siedlungsflächen wachsen pro Kopf und Jahr um 1.5 m². Rund ein Drittel des Flächenzuwachses entfällt auf den Bau von Einfamilienhäusern. Der Anteil der Zweitwohnungen am Gesamtwohnungsbestand erreicht rund 12 %. Der Zuwachs an Zweitwohnungen beschränkt sich keineswegs auf die Tourismusgebiete; in Basel erreicht ihr Anteil bereits rund 8 %, in Zürich rund 6 %. Die Lebensweise ist offensichtlich entscheidender als die Anzahl Menschen.Mit der Zersiedelung und dem Siedlungswachstum in die Fläche geht die fortlaufende funktionale Entmischung von Wohnort, Arbeitsplatz, Einkaufsstandorten und Freizeitanlagen einher. Die heutige Siedlungsstruktur ist nur mit einem hohen Mobilitätsgrad der Bevölkerung und einer entsprechend ausgebauten Verkehrsinfrastruktur funktionsfähig. 81 % aller Haushalte der Schweiz verfügten 2005 über mindestens ein Auto, vor 30 Jahren waren es noch 70 %. 2005 hatten 31 % der Haushalte zwei oder mehr Autos, 1980 waren es erst 17 %.

Zwei Drittel aller Distanzen werden heute mit dem Auto zurückgelegt. Der Preis der hohen Mobilität im Bereich des motorisierten Individualverkehrs ist die Umweltbelastung: Ein Drittel der schweizerischen Wohnbevölkerung ist tagsüber einem Strassenlärm ausgesetzt, der das Wohlbefinden erheblich einschränkt. Hinzu kommen die Luftverschmutzung und der Landverbrauch.

Das Bundesamt für Raumentwicklung (ARE) forderte 2006 einen Bericht internationaler Experten zum Stand der Raumentwicklung und der Raumplanung Schweiz an.[2] Dort ist nachzulesen, dass die Zersiedelung mit ihren Folgeerscheinungen weder ökonomisch noch ökologisch sinnvoll sei und die Handlungsspielräume kommender Generationen einschränke. Die Entwicklung müsse deshalb zu einem grossen Teil über die Transformation des Bestandes bewältigt werden. Darin liegt eine zentrale Herausforderung für die weitere Raumentwicklung.

Die Zukunft als Massstab

Der Blick zurück genügt nicht. Massstab für die Raumplanung Schweiz ist die Zukunft. Die Schweizerbevölkerung wächst laufend. Wir nähern uns der 8-Millionen-Grenze. Die Wachstumsrate liegt heute bei rund 1 %. Das entspricht fast 80 000 zusätzlichen Einwohnenden pro Jahr. Würden sie konzentriert leben, entspräche das jährlich einer neuen Stadt in der Grösse von St. Gallen. Zur Erinnerung: 1962, als die Schweiz 5.5 Mio. Einwohnende zählte, stellte der St. Galler Professor Francesco Kneschaurek seine Studien zur Bevölkerungsentwicklung vor, seine Vision einer 10-Millionen-Schweiz, für die es Wohnraum und Infrastruktur bereitzustellen gelte. Dieser damalige Trend wurde der Planung als Ziel unterlegt. Von zentraler Bedeutung ist auch eine zweite Wachstumsrate: Die Schweizerinnen und Schweizer wohnen heute auf 49 m² pro Kopf – 1960 beanspruchten sie noch 22 m². In den Wohnungen breiten sich Wohnlandschaften aus, die Singlehaushalte nehmen zu, und der Individualismus mit seinen Ansprüchen wächst.

Gemeinden, Kantone, Bund

Die Träger der Raumplanung sind in der Schweiz die Gemeinden, die Kantone und der Bund. Die Raumplanung als öffentliche Aufgabe muss die raumwirksamen Tätigkeiten, vor allem die der Gemeinwesen aller Stufen, ständig aufeinander abstimmen. Dazu kommen weitere raumrelevante private Akteure wie die Ersteller von Einkaufszentren, Sport- und Freizeitanlagen.

Den über 2600 Schweizer Gemeinden obliegt es, im Rahmen der Nutzungsplanung Bauzonen auszuweisen, meist über Volksentscheide. Damit werden Art, Dimension und Ort der einzelnen Nutzungen grundeigentümerverbindlich festgelegt. Die Bauzonen bilden die Grundlage für das Erteilen der Baubewilligungen. Bisher ist bei dieser Art von Nutzungsplanung ein Übergewicht der Bodennutzungsplanung zu verzeichnen. Die Wirkungen auf benachbarte Nutzungen und die Verträglichkeit mit der Umwelt und dem Umfeld werden zu wenig berücksichtigt.

Den Kantonen kommt die Hauptverantwortung für die Raumplanung zu. Ihre Richtpläne zeigen den aktuellen Stand der Koordination im Hinblick auf die gewünschte räumliche Entwicklung. Sie geht von räumlichen Konflikten aus und sucht nach Lösungen. Doch dieses Steuerungspotenzial wird noch ungenügend eingesetzt, insbesondere zur Koordination raumwirksamer Aspekte der einzelnen Fachplanungen (Verkehrsplanung, Ver- und Entsorgung usw.). Der Bund erarbeitet Grundlagen, um seine raumwirksamen Aufgaben erfüllen zu können, erstellt die nötigen Konzepte und Sachpläne und stimmt sie aufeinander ab. Er arbeitet mit den Kantonen zusammen und gibt ihnen seine Konzepte, Sachpläne und Bauvorhaben rechtzeitig bekannt. Und er genehmigt die Richtpläne der Kantone.

Fehlerhafte Aufgabenteilung

Diese Aufgabenteilung ist in Anbetracht der Herausforderungen mit grundlegenden Konstruktionsfehlern behaftet:

1. Der Gesetzgeber hat die Macht von Gemeindehoheit und Gemeindeautonomie zu wenig beachtet. Die Gemeindegrenzen stellen ein wesentliches Hindernis für den Vollzug der flächendeckenden Raumentwicklung dar. In der heutigen Planungsrealität hat die kommunale Entwicklung erste Priorität. Sie wird mittels Ausweisung genügender und attraktiver Bauzonen umgesetzt – ohne Abstimmung mit den Nachbargemeinden. Die Kantone haben die Nutzungsplanung weitgehend den Gemeinden überlassen. Die Kombination von kommunaler Kompetenz zum Ausweisen von Bauzonen und kommunaler Steuerhoheit führt dazu, dass heute viele Bauzonen am falschen Ort liegen. Die kantonale Richtplanung hat es meist nicht geschafft, die Gemeinden zu einem regionalen oder kantonalen Denken zu bringen. Und es ist zu wenig gelungen, die Pläne und Wünsche der Gemeinden mit den Zielvorstellungen des Kantons in Übereinstimmung zu bringen. Als Folge davon gibt es zwar genug Bauzonen für eine Entwicklung, aber sie liegen am falschen Ort.

2. Die Kantone – als Hauptverantwortliche der Raumplanung – sind zu schwach. Das Defizit liegt nicht bei den Instrumenten (insbesondere der Richtplan ist ein wesentlicher Bestandteil im Gefüge der Führungsinstrumente, da er einen klaren Orientierungsrahmen für die kantonale Raumentwicklung schafft), sondern vielmehr bei den Politikerinnen und Politikern. Die Gemeinden ans Gängelband zu nehmen, ist in den kantonalen Parlamenten nicht beliebt. Die Mitglieder kantonaler Regierungen und Parlamente verstehen sich in erster Linie als Vertreter einer Gemeinde oder Region und weniger als Verantwortliche für den gesamten Kanton. Dazu kommen die leidenschaftliche Uneinigkeit der Politik bei Eingriffen ins Grundeigentum und in die individuellen Freiheiten sowie ihre häufigen Schwierigkeiten beim Umgang mit langen und komplexen Prozessen.

Vor diesem Hintergrund gehen viele Kantone die Richtplanung zu technisch, zu bürokratisch und zu wenig strategisch und problemorientiert an. Planen in funktionalen, die Gemeindegrenzen überschreitenden Räumen hat noch kaum Fuss gefasst. Ein klares Defizit liegt auch darin, dass sich die Richtpläne nicht präzise genug zur Siedlungsentwicklung äussern. Auch Aspekte der sehr raumrelevanten Steuerpolitik finden sich in den Richtplänen nicht. Der Bund wird diesbezüglich seine Genehmigungspraxis ändern müssen.

3. Auf Bundesebene fehlt eine Grundlage für eine gesamtheitliche Sicht der Raumentwicklung Schweiz: eine Auslegeordnung, die als Basis zur Koordination der einzelnen Sachplanungen dienen könnte. Zudem muss sich der Bund den Vorwurf gefallen lassen, seine Sachpläne, insbesondere in den sehr raumwirksamen Bereichen Verkehr und Luftfahrt, zu spät, zu wenig koordiniert und zu wenig zielgerichtet erarbeitet zu haben.

Im Raumplanungsalltag ist auch immer wieder festzustellen, wie schwach das Bundesamt für Raumentwicklung (ARE) ist, insbesondere bei der zwingend notwendigen Koordination der verschiedenen Bundesämter. Dazu kommt, dass die Raumplanung über wenig Geld verfügt. Ein gutes Beispiel dafür, wie trotzdem grenzüberschreitende Planungen in Gang gesetzt werden können, bildeten die Modellvorhaben des Bundes.[3] Auch die Agglomerationsprogramme sind ein guter Ansatz – trotz fehlender Klarheit und fehlenden Finanzmitteln.

Verkehr - der heimliche Raumplaner

Die heute als Zersiedlung angeprangerte Entwicklung ist das Ergebnis der Nachfrage nach Boden, diese ist ihrerseits die Folge der Infrastrukturplanung und -realisierung. Das Zusammenspiel zwischen Verkehrsinfrastruktur und Bevölkerungsentwicklung mit ihren Auswirkungen auf den Raum zeigt sich etwa am Beispiel des Kantons Aargau.[4] Der bestens erschlossene Kanton konnte kürzlich den 600 000. Einwohnenden willkommen heissen; Prognosen gehen von bis zu 740 000 im Jahr 2035 aus. Das bedeutet, dass 6 Mio. zusätzliche Quadratmeter Wohnfläche benötigt werden. Auffallend, aber nicht überraschend ist dabei, dass die Bevölkerungsentwicklung vorwiegend in ruhigeren Räumen mit guter Verkehrserschliessung stattfindet – diese Kombination macht einen guten Wohnstandort aus.

Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum führen zu kritischen Engpässen: Schiene wie Strasse stossen zunehmend an ihre Kapazitätsgrenzen. Dadurch nehmen die Erreichbarkeit und damit die Standortattraktivität ab. Es entsteht eine wachsende Spannung zwischen Siedlungsentwicklung, Wirtschaftsentwicklung, Verkehrsentwicklung und Standortattraktivität – keine leichte Aufgabe in Anbetracht der grossen Gemeindeautonomie.

Vor diesem Hintergrund sind neue Raumentwicklungsstrategien gefragt: tangenziale Verbindungen wie die Glatttalbahn, um die Agglomeration zu verdichten (dafür dürfen die S-Bahn-Netze räumlich nicht weiter ausgedehnt werden) oder Konzentration der Siedlungsentwicklung: eine neue Stadt im Kanton Aargau an einem Standort mit hervorragender Anbindung an den öffentlichen Verkehr. Nur mit solch mutigen – und dem bisherigen Planungssystem noch fremden – Ansätzen kann das Ziel der Raumordnung erreicht werden, verbunden mit massiven und zeitgerechten Investitionen in die Verkehrssysteme. In dieser Richtung gibt es bereits gute Ansätze.[5]

Mehr Mut, Politikverständnis und ein Paradigmenwechsel

Die Raumplanung muss die Zukunftsprobleme unseres Lebensraums lösen. Was kann sie tun? Das Bevölkerungswachstum, das heisst die Einwanderung stoppen? Zur Mässigung und zum Verzichten aufrufen? Die bestehenden Siedlungen an sehr gut erschlossenen Standorten verdichten? Neue Städte bauen? Die Aufgabenteilung in der Raumplanung ändern? In den letzten Jahren ist der Mut zu Visionen – offenbar im Gleichschritt mit den wirtschaftlichen Schwierigkeiten – einem überstarken Pragmatismus gewichen. Selbstverständlich muss das Machbare ein wesentlicher Bestandteil der räumlichen Planung sein. Zu beklagen ist aber das Fehlen von Mut als treibende Kraft. Im letzten Jahrhundert mit seinem Fortschrittsglauben haben Fachleute immer wieder mutige Ideen zur Diskussion gestellt.[6] Die Raumplanung ist zunehmend auf den politischen Gestaltungswillen angewiesen. Sie muss deshalb das politische System kennen und erfordert Eindenken in die politischen Prozesse und Abläufe. Bei Studierenden und Mitarbeitenden in den Raumplanungsämtern ist aber gerade in diesem Bereich schwindendes Interesse festzustellen und – damit zusammenhängend – auch das Fehlen überzeugender Argumentation, von Engagement und Leidenschaft. Dafür trifft man auf Flucht in Formalismus und Routine.

Die Zukunftsprobleme unseres Lebensraumes sind mit den Instrumenten der Raumplanung zu lösen. Dafür muss es aber zu einem Paradigmenwechsel kommen: Raumplanung darf sich nicht länger auf das Festlegen von Nutzungsflächen beschränken, sondern muss dazu beitragen, die raumwirksamen Aktivitäten zu koordinieren und dabei Möglichkeiten berücksichtigen, wie die Verhaltensweisen der Menschen gesteuert werden können. Heute stehen dafür nur rudimentäre Mittel zur Verfügung. In Anbetracht der Herausforderungen wird dies noch zu wenig ernsthaft diskutiert. Zur Entwicklung von intelligenten und akzeptierten Lösungen braucht es eine viel grosszügigere geistige Welt – und eine erfolgreiche Raumplanung. Denn der Raumplanung kommt nur dann eine Schlüsselrolle zu, wenn es ihr gelingt, Handlungen zu bewirken.


Anmerkungen:
[01] Max Frisch, Lucius Burckhardt, Markus Kutter: achtung: die schweiz. Zürich, 1955
[02] Raumplanung und Raumentwicklung Schweiz. Bericht der internationalen Expertengruppe, Zürich, 2008
[03] www.are.admin.ch
[04] Peter C. Beyeler: «Verkehrsinfrastrukturen im Aargau: Wie stark hinkt die Projektrealisierung den Bedürfnissen hinterher?», in: Planen und Bauen von Infrastrukturen: Geht’s auch schneller? Dokumentation zur Infra-Tagung vom 21. Januar 2010, S. 25–33
[05] Nicole Wirz: «Bauen am richtigen Ort», in: TEC21 7/2010, S. 49
06] Walter Schiesser: «Die Sixties und die Lust am Fabulieren», in: NZZ Folio 02/1994

TEC21, Fr., 2010.03.05



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2010|10 Die Schweiz wird knapp

14. August 2009Hans-Georg Bächtold
TEC21

Flanieren und Ankommen

Verkehrsplaner propagieren eine geringe Regelungsdichte als Beitrag, um die Attraktivität von Siedlungen zu steigern. In Begegnungszonen haben FussgängerInnen Vortritt und dürfen den ganzen Strassenraum benutzen. Die Vertreter des öff entlichen Verkehrs reagieren jedoch ablehnend auf das «organisierte Chaos», da sie Zeitverlust und Kostenfolgen fürchten. Untersuchungen aus dem Kanton Basel-Stadt bilden die Grundlage für eine Diskussion – und zeigen, dass weitere Untersuchungen und Auswertungen nötig sind.

Verkehrsplaner propagieren eine geringe Regelungsdichte als Beitrag, um die Attraktivität von Siedlungen zu steigern. In Begegnungszonen haben FussgängerInnen Vortritt und dürfen den ganzen Strassenraum benutzen. Die Vertreter des öff entlichen Verkehrs reagieren jedoch ablehnend auf das «organisierte Chaos», da sie Zeitverlust und Kostenfolgen fürchten. Untersuchungen aus dem Kanton Basel-Stadt bilden die Grundlage für eine Diskussion – und zeigen, dass weitere Untersuchungen und Auswertungen nötig sind.

Lange dominierte der Verkehr das Ortsbild: Die negativen Auswirkungen der ausschliesslich nach technischen Überlegungen gebauten Verkehrsanlagen traten in Form von erschwerten Querungsmöglichkeiten, abnehmender Sicherheit, grösseren Zeitverlusten, zunehmender Lärm- und Luftbelastung und sinkender Umsätze in der Folge immer stärker zutage. Diesen «Verkehrsproblemen» wurde oft mit einem Ausbau der bestehenden Anlagen begegnet. Heute stehen als wirkungsvolle Lösungsansätze die Reduktion der Belastungen und die Gestaltung der Freiräume im Vordergrund. Neu sind diese Forderungen allerdings nicht – bereits 1982 lautete ein Leitsatz: Die Strasse ist für alle da. Strassenraum ist Lebensraum.[1]

Die Siedlungen sollen wieder ein attraktiver Lebensraum für die Bewohnerinnen und Bewohner werden. Die Raumplanung bemüht sich unter dem Motto «Innere Entwicklung» um wohnliche Siedlungen und Quartiere, der Umweltschutz versucht, mit technischen Mass nahmen an der Quelle die Umweltbelastungen zu senken, und die Verkehrsplanung hat mit gestalterischen Massnahmen den Verkehr gezähmt, verlangsamt oder aus den Ortskernen verdrängt.[2, 3] In der aktuellen Agglomerationspolitik wird der Gestaltung der Strassenräume eine wichtige Funktion beigemessen, und der Bund finanziert die Einrichtung von Begegnungs- und Tempo-30-Zonen mit. In den letzten Jahren haben daher viele Gemeinden Tempo-30-Zonen eingerichtet, die – richtig konzipiert – sehr wirkungsvoll sind. Ausserdem zeigt sich, dass es sinnvoll ist, solche Zonen in den Gemeinden möglichst flächendeckend umzusetzen.[4, 5]

Von der Flanierzone zur Begegnungszone

Zu Diskussionen Anlass geben heute die Begegnungszonen, von denen mittlerweile über 300 in der Schweiz realisiert wurden oder in Realisierung sind.[6] Diese schaffen anstelle einer funktionalen Trennung der unterschiedlichen Verkehrsteilnehmenden einen Lebensraum von hoher Aufenthaltsqualität – mit geringem Flächenverbrauch und auf tiefem Geschwindigkeitsniveau. Den Anfang nahm dieses neue, fussgängerfreundliche Verkehrsregime 1996 als «Flanierzone» in Burgdorf. Wissenschaftliche Auswertungen des Pilotprojekts zeigten positive Ergebnisse: Befragungen ergaben, dass sich die anfängliche Skepsis der Bevöl kerung und des Gewerbes im Laufe der Zeit in Akzeptanz wandelte. Zugleich nahm der Umsatz der Geschäfte zu. Nach der Einführung sank das Geschwindigkeitsniveau um ca. 20 km/h, und der motorisierte Verkehr nahm um 16 % ab. Seit 2000 wurde die zunächst provisorische Gestaltung des Strassenraums definitiv umgebaut und als Fläche von Fassade zu Fassade gestaltet.

Begegnungszonen eignen sich dort, wo erheblicher Fussgängerverkehr herrscht, eine Fussgängerzone auf Grund der Grösse des Geschäftsgebietes aber nicht in Betracht kommt. Der querende Fussgängerverkehr hat einen wesentlichen Anteil am Gesamtverkehr, und die Durchmischung erfolgt flächig über die gesamte signalisierte Langsamfahrstrecke. Diese wird auch vom Linienbus frequentiert, ebenso ist die Zufahrt mit Autos und die Anlieferung mit Lastwagen zu gewährleisten.

Über den tatsächlichen Nutzen von Begegnungszonen scheiden sich die Geister. Zwei Kriterien, für die allerdings nur wenige Auswertungen vorliegen, bestimmen die Diskussion: die Unfalldaten und die tatsächlich gefahrene Geschwindigkeit in den Langsamfahrzonen. Ein vom Baudepartement des Kantons Basel-Stadt veröffentlichter Bericht zur Erfolgskontrolle der verschiedenen Projekte zeigt, dass die Geschwindigkeit unter 30 km/h gesenkt wurde. Gleichzeitig wird die Höchstgeschwindigkeit von 20 km/h nur in zwei Begegnungs zonen eingehalten. Das Verwaltungsgericht St. Gallen hat in einem Urteil festgehalten: Die gefahrenen Geschwindigkeiten im Bereich einer Begegnungszone lagen bei den vorgenommenen Messun gen bei 85 % aller Motorfahrzeuge im Bereich bis 38 km/h und bei 50 % aller Motorfahrzeuge im Bereich bis 28 km/h. Kein Fahrzeug überschritt die Limite von 50 km/h. Daraus wurde im Gutachten die Schlussfolgerung gezogen, es sei ein «recht tiefes Ge schwindigkeits niveau» erreicht worden, sodass aufgrund der gefahrenen Geschwindigkeiten keine schwere Gefährdung bzw. keine Notwendigkeit zum Schutz besonderer Kategorien von Verkehrsteilnehmern bestehe.[7] Eine andere Auswertung von Unfalldaten in vier Begegnungszonen (Burgdorf, Biel, Lyss und Einsiedeln) zeigt eine Reduktion der Unfälle, der Verletzten und der Sachschäden zwischen 10 % und 30 %. Die Zahl der Verletzten – Fussgänger und Radfahrer – sank von 20 auf 16. Ein grosser Teil der Unfälle sind Bagatellunfälle, die unabhängig vom Verkehrsregime bei tiefen Geschwindigkeiten geschehen, etwa beim Parkieren, Manövrieren oder Abbiegen. Insgesamt kann den Begegnungszonen bezüglich Verkehrssicherheit also ein gutes Zeugnis ausgestellt werden. Die Befürchtung, dass sich durch die geringe Regelungsdichte und die damit verbundene Verunsicherung mehr Unfälle ereignen, hat sich nicht bewahrheitet. Andererseits ist die Reduktion der Unfallzahlen und -folgen nicht so markant, dass mit der Einrichtung einer Begegnungszone eine deutliche Verbesserung der Verkehrssicherheit einhergeht. Wünschenswert wären hier Untersuchungen mit einer breiteren Datenbasis in Abhängigkeit von den Gestaltungstypen.

Konflikte mit dem öffentlichen Verkehr

Die Kritik an den neuen Zonen kommt meist vonseiten des öffentlichen Verkehrs, dessen Interessen den Forderung nach «Langsamfahrzonen» entgegenstehen: Die Umläufe der Buslinien sind zum Teil sehr knapp bemessen und bei Verkehrsbehinderungen kaum pünktlich fahrbar. Zudem wird in den nächsten Jahren mit einem markanten Zuwachs an öV-Benützern gerechnet, die ihre Anschlüsse gesichert sehen wollen. Bei Entscheiden ist daher genau zwischen den verschiedenen Ansprüchen abzuwägen.

Die nachstehenden Überlegungen und Ansätze basieren vor allem auf den Diskussionen im Kanton Basel-Landschaft im Zusammenhang mit der Einführung und der Ausdehnung der Langsamfahrzonen und auf Reaktionen von Verkehrsfachleuten.[8] Grundlage für die Erteilung einer Bewilligung für eine Tempo-30-Zone ist die «Verordnung über Tempo-30-Zonen und Begegnungszonen» vom September 2001. Darin wurde die Flächenbegrenzung auf 0.7 km2 aufgehoben, sodass ganze Ort- oder Talschaften zu einer einzigen Tempo-30-Zone werden können. Nicht geregelt wurde jedoch der Umgang mit dort verlaufenden öV-Linien. Dadurch erhöht sich die Konfliktwahrscheinlichkeit, die zu unplanbaren zeitlichen Verzögerungen im Busverkehr führen können – mit negativen Auswirkungen auf den Fahrplan:

1. Temporeduktion: Durch die Verlangsamung der Busfahrt aufgrund der Reduktion der Höchstgeschwindigkeit wird die Benützung des öffentlichen Verkehrs unattraktiver und stellt keine interessante Alternative zum Individualverkehr dar.

2. Wegfall der Vortrittsberechtigung: Mit einer Langsamverkehrszone geht die Einführung eines generellen Rechtsvortritts einher. Auch Busse müssen bei jeder Rechtseinmündung den Vortritt gewähren, was für die Fahrgäste unangenehme und sicherheitsrelevante abrupte Brems- und Anfahrvorgänge zur Folge hat.

3. Hindernisse: In Langsamverkehrszonen wird die Fahrbahnbreite meist durch Anordnung von versetzten Parkfeldern oder künstlichen Hindernissen reduziert. Dies bewirkt eine für die Fahrgäste unangenehme und für den Wagenführer anspruchsvolle Schlangenfahrt. Zudem ergeben sich umständliche Kreuzungsvorgänge mit Personenwagen.

Obwohl die gefahrene Höchstgeschwindigkeit auf für Langsamverkehr vorgesehenen Strassen wenig über 40 km/h hinausgeht und dadurch der Fahrzeitverlust meist klein ausfällt, kann Punkt 1 insbesondere bei gespannter Fahrplanlage und knappen Anschlusszeiten betriebliche Probleme bereiten und gegebenenfalls sogar Folgekosten verursachen, wenn mehr Busse eingesetzen werden müssen, um die Umlaufzeiten sicherzustellen. Stärker fallen die Punkte 2 und 3 ins Gewicht, da sie gleichzeitig fahrplan- und sicherheitsrelevant sind. Eine Vollbremsung stellt das höchste Gefährdungspotenzial für Fahrgäste dar, vor allem bei einem hohen Anteil stehender Fahrgäste.

Ein weiteres Spannungsfeld zeigt sich im Bereich von Schulen. Um den Konflikt zwischen Kindern und anderen Verkehrsteilnehmenden zu minimieren, wünschen sich Gemeinden in diesen Strassenabschnitten eine Verkehrsberuhigung. Gleichzeitig ist der Linienbus vielerorts das Haupttransportmittel für die Schüler, der notwendig in Schulhausnähe verkehrt und hält. Vor diesem Hintergrund werden folgende Handlungsgrundsätze abgeleitet:

1. Auf Hauptsammelstrassen mit öV-Linien sind grundsätzlich keine Tempo-30-Zonen und Begegnungszonen zulässig.

2. Auf Quartiersammelstrassen mit öV-Linien sind Tempo-30-Zonen (nach Abwägung der Nachteile für den Busbetrieb) denkbar.

3. Auf Haupt- und Quartiersammelstrassen ohne öV-Linien sind Tempo-30-Zonen und Begegnungszonen möglich (Beurteilung: evtl. zukünftige Bedienung mit öV-Linie).

Zusätzlich sind in der Nähe von Schulhäusern, bei publikumsintensiven Einrichtungen oder auf zentralen Plätzen kurze Tempo-30-Abschnitte oder Begegnungszonen zur Vernetzung verkehrsberuhigter Zonen nach vorgängiger Prüfung durch die öV-Verantwortlichen denkbar. Dass sich Busse und Begegnungszone durchaus vertragen, zeigt wiederum das Beispiel Burgdorf. Verkehrsplaner schätzen die Fahrzeitverluste gering ein, da Begegnungszonen dort eingerichtet wurden, wo bisher schon langsam gefahren wurde. Viel stärker auf die Gesamtfahrzeit wirken sich Knotenpunkte mit Lichtsignalanlagen und unterschiedlich lange Haltezeiten aus – wenn zum Beispiel viele Menschen ein- oder aussteigen wollen.


Anmerkungen:
[01] Manfred Sack: Lebensraum: Strasse. Schriftenreihe des deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz, Band 14, Bonn 1982, 84 Seiten
[02] Hanspeter Lindenmann, Stefan Frey, Markus Schwob: Gestaltung von Kantonsstrassen in Ortskernen. Institut für Verkehrsplanung, Transporttechnik, Strassen- und Eisenbahnbau ETHZürich, Tiefbauamt des Kantons Basel-Landschaft, Zürich und Liestal 1987, 69 Seiten
[03] Tiefbauamt des Kantons Bern, Gemeinde Köniz, Tiefbauamt der Stadt Bern (Hrsg.): Der Wabernblock. Bern 1998, 56 Seiten
[04] Mobilservice – Plattform für eine zukunft sorientierte Mobilität: Praxisbeispiel, Zonen mit Tempobeschränkung, 24 Seiten, www.mobilservice.ch
[05] Mit dem «Berner Modell» hat der Kanton Bern zusammen mit Fachleuten auf teils pragmatischem und teils wissenschaft lichem Weg eine Vorgehens und Planungsphilosophie entwickelt, welche die Reparatur und das Schaff en von Entwicklungsspielräumen im Auge hat, aber auch das Umgehen mit dem Konfliktpotenzial. www.tba.bve.be.ch, Berner Modell (Projektbeschriebe, Wirksamkeitsanalysen, Film «Berner Modell»)
[06] www.begegnungszonen.ch
[07] Entscheid des Verwaltungsgerichts vom 23. Januar 2007
[08] Im Kanton Basel-Landschaft ist die Abteilung öffentlicher Verkehr dem Amt für Raumplanung angegliedert – wie auch die Fachstelle Lärmschutz und die Kantonale Denkmal- und Ortsbildpflege. Innerhalb des Kantons beschäftigen sich insbesondere drei kantonale Amtsstellen mit der Genehmigung von Langsamfahrzonen: die Polizei, das Tiefbauamt und das Amt für Raumplanung

TEC21, Fr., 2009.08.14



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