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28. Dezember 2004Johann Christoph Reidemeister
Neue Zürcher Zeitung

Nachdenken über Einfachheit

Einer Epoche ihren Namen zu geben, davon träumt jeder Kritiker. Richard Wollheim gelang dies 1965 in seinem Artikel «Minimal Art». Erklärt hat er die neue...

Einer Epoche ihren Namen zu geben, davon träumt jeder Kritiker. Richard Wollheim gelang dies 1965 in seinem Artikel «Minimal Art». Erklärt hat er die neue...

Einer Epoche ihren Namen zu geben, davon träumt jeder Kritiker. Richard Wollheim gelang dies 1965 in seinem Artikel «Minimal Art». Erklärt hat er die neue Bewegung, die in den sechziger Jahren mit Künstlern wie Donald Judd oder Carl Andre in New York einsetzte, allerdings nicht. Bald schon verliess die Minimal Art das rein künstlerische Umfeld und wuchs zum Minimalismus heran, der von Amerika nach Europa und Japan gelangte und von der Mode über das Design bis hin zur Architektur kaum eine Kunstgattung unberührt liess. Je weiter er expandierte, umso schwieriger wurde es, ihn zu definieren. Das liegt in erster Linie an seinen vielen Gesichtern - und sicherlich auch daran, dass der Minimalismus sich nie ein Manifest gegeben hat.

Nun, da der Computer die triumphale Rückkehr des Organischen in Design und Architektur ermöglichte, scheint der Minimalismus allmählich zu einem historischen Phänomen zu werden, das sich je nach Zeit, Land und Kunstgattung als unterschiedlich erweist. Während die Minimal Art als Kunstform entschieden amerikanisch ist, entstand die minimalistische Architektur in Europa und Japan aus der Ablehnung der postmodernen Collage heraus als Bekenntnis zur Moderne. Was beide verbindet, ist die Ästhetik der Einfachheit. Reine Geometrie, perfekte Proportion und ein sensibler Umgang mit den Materialien sind die wesentlichen Zutaten, aus denen die schöne Einfachheit gemacht wird. In der Architektur wurden daraus Häuser, die Ruhe und Gelassenheit ausstrahlen, indem sie jedes Zuviel vermeiden. Zu den Architekten, die solche Häuser bauen, zählen John Pawson mit seiner kühlen Eleganz, Tadao Ando mit seiner sinnlichen Strenge oder Herzog & de Meuron. Das Basler Architekturbüro, das längst zu neuen Horizonten vorgestossen ist, bemühte sich seit den späten achtziger Jahren zusammen mit Architekten wie Peter Zumthor oder Diener & Diener ideenreich um die einfache Bauform und hat so den gewichtigen Schweizer Beitrag zum Minimalismus mitbegründet.

Endgültige Aussagen über minimalistische Architektur oder über minimalistisches Design (das von Künstlern, Architekten und Gestaltern wie Donald Judd, Jean Nouvel, Claudio Silvestrin oder Hannes Wettstein gleichermassen gepflegt wird) sind nicht einfach, da die Diskussion noch im Fluss ist. Gleichwohl haben sich Franco Bertoni sowie die Autorengemeinschaft Ruby, Sachs und Ursprung des Themas angenommen. Bertoni bietet in zwei Publikationen reiches Material und lässt teilhaben an seiner einfühlsamen Kennerschaft, geht aber leider assoziativ vor und vermag so die besondere Problematik des Minimalismus nicht zu fassen. Ruby, Sachs und Ursprung sehen sehr viel klarer, benennen die Brüche des Minimalismus und schlagen eine brauchbare Kategorisierung vor, mit der sie aber die Seele des Minimalismus nicht einzufangen wissen. Erst alle drei Publikationen zusammen ermöglichen ein Gesamtbild von Architektur und Design im Zeichen des Minimalismus.

[ Franco Bertoni: Minimalistisches Design. Birkhäuser-Verlag, Basel 2004. 221 S., Fr. 108.-.
Ders.: Minimalistische Architektur. Birkhäuser-Verlag, Basel 2003. 222 S., Fr 108.-.
A. Ruby, A. Sachs, P. Ursprung: Minimal Architecture (englisch). Prestel-Verlag, München 2003. 176 S., Fr. 100.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2004.12.28



verknüpfte Publikationen
Minimal Architecture
Minimalistische Architektur
Minimalistisches Design

06. August 2004Johann Christoph Reidemeister
Neue Zürcher Zeitung

Vertraute Fremdheit

Die ästhetische Innovation fällt sofort ins Auge: Drei scharfkantige Baukörper auf einer Metallplatte schneiden in den Stadtraum. Sie haben die Form schlichter...

Die ästhetische Innovation fällt sofort ins Auge: Drei scharfkantige Baukörper auf einer Metallplatte schneiden in den Stadtraum. Sie haben die Form schlichter...

Die ästhetische Innovation fällt sofort ins Auge: Drei scharfkantige Baukörper auf einer Metallplatte schneiden in den Stadtraum. Sie haben die Form schlichter Satteldachhäuser, sonst aber wenig gemein mit ihrer spitzgiebeligen Umgebung. Schimmerndes Metall legt sich über Dächer, Mauern und selbst über das Grundstück. Konventionelle Fensteröffnungen gibt es keine, stattdessen ist die Metallhaut vor den Scheiben zu einem Rost perforiert, der den Blick nach aussen zulässt, von aussen betrachtet aber das Allover der Fassade nicht unterbricht. Balkone, Fenstersimse, Dachvorsprünge oder auch nur eine Regenrinne hat diese Architektur demonstrativ abgeschüttelt. Alles, die einheitliche Farbe wie auch die glatte, ununterbrochene Oberfläche, lässt die Häuser wie Monolithe wirken und nicht wie Behältnisse für das alltägliche Leben.

Dieses an Bauklötze erinnernde Gebäudeensemble entspricht unseren Sehgewohnheiten so wenig, dass es geradezu unwirklich erscheint. Fast sieht es so aus, als wäre hier ein überdimensioniertes Architekturmodell abgestellt worden, wie ein Puzzleteil passgenau eingefügt in die umgebende Stadt. Die vertraute Form unter der ungewohnten Metallhülle - das ist eine beunruhigende Verfremdung, mit der die Architekten dazu herausfordern, das Gesehene zu überprüfen. Trotz formaler Rigorosität und eisigen Farben kommt mit solchen Sehexperimenten eine verspielte Note an diesem Haus zum Klingen, die seine überstrenge Ästhetik konterkariert. Keine Spätgeburt des Minimalismus also, sondern eine dekonstruierende Persiflage des schwäbischen Hangs zum Giebel ist hier entstanden. Was dem Häuslebauer Geborgenheit und Sicherheit verspricht, das suchen Allmann Sattler Wappner zu übersteigern. - Das neuartige Äussere erforderte eine Neuerfindung in der Bautechnik. Die Herausforderung bei der Fassadenherstellung war es, die Oberfläche möglichst fugenlos zu realisieren. Die Lösung ist bemerkenswert: Die Metallplatten sind auf Schienen montiert, welche die Materialbewegung aufnehmen und in eine einzige Dehnungsfuge pro Hausseite leiten. Auch bei der Klimatisierung wurden neue Wege begangen. Ein Kühlsystem in den Decken, das mit Grundwasser aus 70 Metern Tiefe gespeist wird, reduziert die nutzungsbedingten hohen Wärmelasten der Vortrags- und Schulungsräume. Im Zusammenspiel mit kontrollierter Luftumwälzung und Lichtlenkung erübrigt sich damit eine energieintensive Klimaanlage. Das innovative Selbstverständnis dieser Architektur kommt ebenfalls beim Sockelgeschoss zum Tragen, das mit quadratischen Stahlplatten belegt wurde, in die stilisierte Blattmuster gefräst wurden. Bei Sonnenlicht erzeugt es wunderbare Schattenspiele. Das Licht wird dann an den harten Kanten der übergrossen Blätter in Hell und Dunkel geschnitten und wandert langsam über die Inneneinrichtung.

Ein dermassen abstrahierter Baukörper unterliegt der Gefahr, spröde zu wirken, alles Leben im Haus dem Verdikt der perfekten Form zu unterwerfen und jede Selbstverständlichkeit der Idee zu opfern. Und tatsächlich muss bemängelt werden, dass der Eingang kaum zu finden ist, wenn die Öffnungszeiten vorbei und die ornamentierten Türen beinahe übergangslos in das Fassadenmuster integriert sind. Wenig gelungen sind auch die aseptisch wirkenden Innenräume wie Lobby oder Kantine, die keinerlei Aufenthaltsqualitäten bieten. Mit hellgrauem Epoxidharz wurde in Anlehnung an die Gebäudehülle eine glatte, glänzende Arbeitslandschaft modelliert. Doch während das Metall der Fassade im wechselnden Licht des Himmels changiert, sieht es innen so aus, als wäre alles in einen Topf mausgraue Farbe gefallen.

Trotz solchen Schwächen ist das Verbandsgebäude der Südwestmetall in Reutlingen ein vom Konzept bis zu den sorgsam ausgeführten Details sauber durchgearbeitetes Haus. Vor allem ist es ein gebautes Bekenntnis zu guter Architektur, mehr noch, es ist ein Plädoyer für ein Architekturverständnis, das sein Ziel darin erkennt, der individuellen Bauaufgabe mit eigens dafür entwickelten Lösungen gerecht zu werden. Innovation in ihrem besten Sinne.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2004.08.06

06. Februar 2004Johann Christoph Reidemeister
Neue Zürcher Zeitung

Zimmer ohne Aussicht

Ein Wohnhaus von Bottega und Ehrhardt in Ludwigsburg

Ein Wohnhaus von Bottega und Ehrhardt in Ludwigsburg

Zur Strasse hin steht das Haus da wie eine Festung. Nur einen Fensterschlitz gibt es in der Fassade. Man glaubt, das Bauwerk habe sich hinter meterdicken Mauern verschanzt. Die Konzentration auf das Innere ist Programm. So ist eine Gebäudeform entstanden, die sich gegenüber der Umgebung abschottet. Viel gibt es dort auch nicht, worauf das Haus sich beziehen könnte. Die eher banalen Einfamilienhäuser am Hang, das Bahntrassee, das die Züge ins nahe Stuttgart lenkt, die Ausfallstrasse: Sie alle wirken wie Symbole, die auf einen Alltag verweisen, der woanders stattfindet. Was für ein Haus baut man in einem solchen Wohnquartier? Kann man hier überhaupt ein qualitätvolles Haus bauen? Was die beiden 36 und 37 Jahre alten Architekten Giorgio Bottega und Henning Ehrhardt mit ihrem «Haus S» in Ludwigsburg errichtet haben, ist ein gepanzerter Unterstand gegen die Tristesse der Vorstadt und gleichzeitig ein Haus, das seine Unmöglichkeit signalisiert. Wie eine Persiflage auf die biederen Satteldachhäuser der Umgebung steht es da. Was aussieht, als hätte man ein normales Haus mit Beton übergossen, ist eine Absage an das schwäbische Häuslebaueridyll.

Der Flucht vor der Banalität des Alltags wurde hier architektonische Form verliehen. Solche Fluchtbewegungen sind in der Gegenwartsarchitektur keine Seltenheit, wie das Beispiel des Japaners Tadao Ando zeigt. Seine Bauwerke sind Schalen, die sich schützend um den Grossstadtmenschen legen, puristische Betonquader auch, welche sich nur zum Innenhof öffnen und so ganz auf sich selbst bezogen bleiben. Doch während sich Andos stille Häuser von der Hektik der Grossstadt abwenden, kehrt das Wohnhaus von Bottega und Ehrhardt der Leere der Vorstadt den Rücken zu. Seine ungewöhnliche, fast schon spektakuläre Form verdankt das «Haus S» einem Zusammenprall mit den behördlichen Vorgaben: Die Stadt bestand auf einem Giebel, während der Bauherr sich ein Flachdach wünschte. Zwei Jahre dauerte der Streit, dann fanden die Architekten eine Lösung. Sie bauten ein Haus, bei dem Fassade und das vorgeschriebene Giebeldach mit dem gleichen körnigen Putz überzogen wurden, wodurch das Dach kaum mehr als solches in Erscheinung tritt.

Selbstverständlich handelt es sich beim Haus in Ludwigsburg um eine Ehrbezeugung an das Haus Rudin von Herzog & de Meuron in Leymen und an das Mehrfamilienhaus in Unterägeri der Zürcher Architekten Giuliani & Hönger. Eine Premiere im eigentlichen Sinne ist das «Haus S» also nicht. Bottega und Ehrhardt sehen sich zwar als Vertreter einer eher puristischen Architektur. Dennoch haben sie sich dem kantigen Minimalismus nicht uneingeschränkt verschrieben. So wird das massige Bauvolumen des «Hauses S» im Eingangsbereich gefährlich untergraben, und sein Innenraum ist trotz dem glänzenden Boden aus Epoxidharz und der Sichtbetontreppe, die wie eine Nadel in den Raum sticht, kein langweiliger Laufsteg der Leidenschaftslosigkeit, sondern ein Raumexperiment, das durch Offenheit überzeugt, aber auch Rückzugsmöglichkeiten bereithält.

Mit ihrem gelungenen Entwurf für das Wohnen in der Gegenwart gehören Bottega und Ehrhardt zu den wenigen Jungarchitekten in Deutschland, die ein Bauwerk vorweisen können, das auch im Ausland beachtet wird. Ihr Erfolgsrezept war der Mut, dort Nein zu sagen, wo es sein musste. Bei vielen Bauaufgaben des Stuttgarter Architektenduos hat das Wirkung gezeigt. Ihr erster Auftraggeber, von dem sie den Auftrag bekommen hatten, eine Erweiterung zu konzipieren, meldete sich monatelang nicht, nachdem ihm die Neulinge den Abriss seines Hauses vorgeschlagen hatten. Nur einen hübschen Anbau wollten sie nicht machen. Doch ihre Pläne für ein komplett neues Haus gingen dem Bauherrn nicht mehr aus dem Sinn. Irgendwann kam dann von ihm der Anruf, der für Bottega und Ehrhardt den Start in die eigene Karriere bedeutete: Ob sie nicht ein Restaurant gestalten wollten, wurden sie gefragt. Ehrhardt meint, dass man sich eben Respekt verschaffe, wenn man sich nicht um jeden Preis verkaufe. «Mit uns gibt es nur Radikallösungen» - dieser Satz von Bottega und Ehrhardt markiert einen Anspruch, der sich im «Haus S» eindrucksvoll materialisiert hat.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2004.02.06



verknüpfte Bauwerke
Haus S

04. Oktober 2002Johann Christoph Reidemeister
Neue Zürcher Zeitung

Schule machen

Schule machen
Die Münchner Architekten Allmann Sattler Wappner
Seit seiner mit dem Deutschen Architekturpreis ausgezeichneten Schule bei Chemnitz gilt das Büro Allmann Sattler Wappner als Labor für gut durchdachte Bauwerke. Das Münchner Trio hat nun ein weiteres Gymnasium realisiert und damit bewiesen, dass auch in Deutschland junge Architektur das Potenzial hat, Schule zu machen.

Schule machen
Die Münchner Architekten Allmann Sattler Wappner
Seit seiner mit dem Deutschen Architekturpreis ausgezeichneten Schule bei Chemnitz gilt das Büro Allmann Sattler Wappner als Labor für gut durchdachte Bauwerke. Das Münchner Trio hat nun ein weiteres Gymnasium realisiert und damit bewiesen, dass auch in Deutschland junge Architektur das Potenzial hat, Schule zu machen.

Junge Architekten tun sich schwer in Deutschland. Anders als in der Schweiz gibt es hier kein gemeinsames Gestaltungskonzept, an dem zu bauen wäre. Ein Vordenker, wie ihn Rem Koolhaas in den Niederlanden verkörpert, fehlt. Statt einer lebhaften Architekturdebatte mit jungen Beiträgen bestimmt heute bis auf wenige Ausnahmen die Generation der 60- bis 70-Jährigen das Baugeschehen. Kein Wunder also, wenn Jurymitglieder auf der verzweifelten Suche nach neuen Tendenzen in der deutschen Architektur Büros mit Auszeichnungen überhäufen, die kaum ein realisiertes Projekt vorzuweisen haben, dafür aber gute Ideen und viel Optimismus. So erging es auch den Münchner Architekten Markus Allmann, Amandus Sattler und Ludwig Wappner. Und dies für einmal zu Recht, wie die jüngsten Erfolge zeigen: Für ihr erstes Gebäude, ein ringförmiges Gymnasium in der Nähe von Chemnitz, gab es den Deutschen Architekturpreis, ein ebenso funktionaler wie ironisch gestalteter Wertstoffhof in München folgte. Im vergangenen Jahr dann wurde der lichte Glaskubus der Herz-Jesu- Kirche im Münchner Stadtteil Neuhausen geweiht: ein kühler Schrein, der seither die Herzen der Kritiker für das Münchner Trio erwärmt. Ihr Büro ist inzwischen auf 40 Mitarbeiter angewachsen, die in einem verwinkelten Hinterhaus an derzeit 16 Projekten arbeiten.

Aus 158 eingereichten Wettbewerbsbeiträgen wurde der Entwurf für die Herz-Jesu-Kirche ausgewählt. Eine Kiste voll Licht ist sie geworden - transparent, wo es nur geht, klar in ihrer geometrischen Reinheit und strahlend in ihrer materiellen Opulenz (NZZ 22. 2. 01). Mit ihr ist Allmann seinem Traum von breiter Publizität ein Stück näher gekommen. Der Bau findet Zuspruch. Hier ist gelungen, wofür viele beten: die Popularisierung guter Architektur.

Das jüngste Projekt des Büros ist eine Schule nordwestlich von München, die vor wenigen Monaten eröffnet wurde. In einer durch den Fluss Glonn geprägten, weitläufigen Auenlandschaft unmittelbar am Siedlungsrand des kleinen Städtchens Markt Indersdorf schwebt die Schule als aufgeständertes Rechteck vier Meter über den feuchten Wiesen. Klassenräume, Pausenhof und Sporthalle fasst es in eine einzige Form. In Verlängerung des Baukörpers schneiden sich Wasserbecken, Sportanlagen und Hausmeisterbungalow harsch in die Landschaft ein. Die den Schulräumen vorgelagerten grosszügigen Loggien sind mit unbehandeltem Fichtenholz eingefasst und durch Brüstungen aus grünlich schimmerndem Glas abgeschlossen. Fassade findet hier als immaterieller, meterbreiter Verlauf zwischen innen und aussen statt - alles andere als die biederen Abgrenzungsdemonstrationen versteinerter bundesdeutscher Hauptstadtpraxis.

Was von aussen betrachtet als offene Struktur einlädt, das ist im Inneren ein das Klima regulierender Schattenspender und Blickkanal - jede Klasse bekommt ihre ganz eigene und unverstellte Sicht auf die landschaftliche Umgebung. Doch der introvertierte Blick vermag noch mehr zu bieten: Er kann von den umlaufenden Fluren aus wahlweise auf den Pausenhof mit seiner die gesamte Breite des Hofes einnehmenden Sitztreppe gerichtet werden oder aber in die Sporthalle. Die Gemeinschaft präsentiert sich vor den Blicken der eigenen Mitglieder und erfährt dadurch die Summe ihrer Aktivitäten als identitätsstiftenden Ort Schule. Eine solche Architektur definiert Lernen erfrischend neu: als Arbeit in der Gruppe, im Wettbewerb mit anderen und immer mit Blick auf die Welt draussen.

Das nächste Projekt des jungen Münchner Büros entsteht für den Arbeitgeberverband Südwestmetall in Reutlingen. Ein Verwaltungssitz, komponiert als eine Gruppe von drei Häusern, die unspektakulär spitzgieblig in den Himmel ragen und unscheinbar villenartig aussähen, wären da nicht die Hüllen aus poliertem Edelstahl: Aus einem einzelnen nahtlos fliessenden Stück gefertigt, sollen sie Dach und Aussenwände der Baukörper optisch zu einer Form zusammenschweissen und Massivität evozieren, wo es nur schimmernde Fassaden geben wird - eine Hommage an Herzog & de Meuron, die die ausgehöhlte Kompaktheit bei ihrem Haus Rudin erstmals inszenierten. Wie eine bauklötzerne Persiflage auf die Satteldach-Heimeligkeit der Umgebung werden die Häuschen von Allmann Sattler Wappner dastehen. Und als Zeichen dafür, dass auch in Deutschland mutige Architektur möglich ist.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2002.10.04

17. April 2002Johann Christoph Reidemeister
Neue Zürcher Zeitung

Shopping und „Junkspace“

Rem Koolhaas' neuste Städtebaustudie

Rem Koolhaas' neuste Städtebaustudie

Kürzlich bekannte der holländische Architekt Rem Koolhaas in einem Fernsehinterview, es gehe ihm in seiner Arbeit um nichts anderes als um das in unserer Zeit längst zu einem Luxus gewordene Denken. Aber wie denkt man über die Gedankenlosigkeit so mancher zeitgenössischer Architektur nach? Worüber liesse sich grübeln angesichts der Stadt von heute, die wir durch Bauten für den Konsum und den Transport banalisiert haben? Zusammen mit seinen Studenten an der Harvard University hat sich Koolhaas mit der Unwirtlichkeit unserer Städte auseinandergesetzt und ein Buch herausgegeben, in dem er das Phänomen Shopping als den unser heutiges urbanes Leben am stärksten bestimmenden Faktor beschreibt. Der zentrale Begriff in dem Buch heisst «Junkspace». Mit ihm umschreibt Koolhaas den architektonischen Raum, der für das Shoppen überall errichtet wird: nicht nur in Einkaufszentren, sondern auch in Flughäfen, Krankenhäusern und Museen. Am besten kann man sich diesen Raum anhand eines Bildes vorstellen, das den 45 Beiträgen vorangestellt ist. Verglichen werden Geschäftszonen in New York, Nagoya und Tokio. Dabei handelt es sich immer um dieselbe graue Einheitsarchitektur: Innenräume mit niedrigen, abgehängten Decken und kaltem Neonlicht sowie möglichst stützenlose Passagen, die mit polierten Steinplatten ausgelegt sind. Die Architektur ist vorhersehbar geworden. Sie ist es deshalb, weil sie nicht einem individuellen Gestaltungswillen, sondern dem wirtschaftlichen Kalkül gehorcht. Und das will überall dasselbe: mehr Umsatz. Koolhaas' Bilanz ist niederschmetternd: «Junkspace» ist der Abfall der Modernisierung und das Ende der Aufklärung. Als Produkt der Begegnung von Rolltreppe und Klimaanlage ist «Junkspace» das Territorium niedriger Erwartungen, expansiv und unendlich: das Fegefeuer.

Koolhaas ist mit Stadtstudien wie «Delirious New York» oder «Singapore Songlines» als der grosse Bewunderer alles Modernen bekannt geworden. In seinem neuen Buch formuliert er nun erstmals seine Bedenken und tritt damit in die Tradition von Modernekritikern wie Alexander Mitscherlich, Colin Rowe oder Fred Koetter. Mit ihm liefert er eine beissende Zeitkritik ab, die uns alle vor die Frage stellt, ob wir wirklich nichts Besseres mit unseren Städten vorhaben, als in ihnen dem Shopping zu frönen. Nicht nur ein Buch über Architektur ist das, auch nicht nur eines über die Stadt, sondern in seinem Kern eines über unser Leben, das wir in den Städten und Vorstädten führen. Es ist eine soziologische Beobachtung unserer marktwirtschaftlichen Konditionierung, eine Studie zur «condition humaine» am Anfang des 21. Jahrhunderts, eine bedingungslose Analyse des Heute. Etwas, worüber nachzudenken sich lohnt.


[The Harvard Design School Guide to Shopping. Hrsg. Rem Koolhaas. Taschen-Verlag, Köln 2001. 800 S., Fr. 90.-.]

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2002.04.17

07. September 2001Johann Christoph Reidemeister
Neue Zürcher Zeitung

Anzeichen einer anderen Moderne

Die Erfolgsfaktoren der neuen holländischen Architektur

Die Erfolgsfaktoren der neuen holländischen Architektur

Begeistert schaut die internationale Architektenschaft auf die Niederlande. Viele Büros sind in den letzten zehn Jahren mit spektakulären Entwürfen, die tatsächlich auch gebaut wurden, an die Öffentlichkeit getreten. Einige der Faktoren dieser Erfolgsstory stehen nun mit der jüngsten Generation von Architekten wieder zur Disposition.

Beim Landeanflug auf Amsterdam-Schiphol kreist das Flugzeug mitunter über Flevoland, dem grössten Polder der Niederlande. Aus der Vogelperspektive gesehen, formieren sich die künstlich dem Meer abgerungenen rechteckigen Ackerflächen zwischen den schnurgeraden Landstrassen zu einem abstrakt anmutenden Raster Mondrian'scher Ordnungslogik. Dieses Bild ist Symbol für das Selbstverständnis eines Volkes, das sich des Bodens unter den Füssen nicht gewiss sein darf. Die Niederlande sind denn auch für Kristin Feireiss, die vormalige Direktorin des Nederlands Architectuurinstituut (NAI), «das Land, das sich seine Bewohner selber schaffen».


Phänomene des Wachstums

Die Architektur wird von diesen Umständen unmittelbar betroffen. In einem Land, dessen Häuser zu einem grossen Teil auf Holzpfählen stehen, die in den sumpfigen Boden gerammt wurden, ist Architektur gleichbedeutend mit Existenz. Sie ist mehr als nur Mittel für die Schaffung von Wohn- und Arbeitsraum, sie ist Gegenstand der öffentlichen Diskussion und wird als Teil der nationalen Kultur verstanden. Der kollektive Pioniergeist, mit dem die nationalen Projekte zur Entwässerung und Eindeichung ganzer Meere Anfang des 20. Jahrhunderts vorangetrieben wurden, hat die Menschen in den letzten zehn Jahren erneut erfasst. Diesmal allerdings steht die architektonische Landschaft im Zentrum des Interesses, was dem Land eine baukulturelle Blüte beschert, um die es vielerorts beneidet wird.

Dabei sah es lange Zeit gar nicht nach einem architektonischen Aufbruch aus. Nach einer ungestümen Wachstumsphase in der Nachkriegszeit, in der man zukunftsgläubig von durchstrukturierten, ins Riesenhafte aufgetürmten Stadtlandschaften träumte, die nicht länger ein Ort der Begegnung, sondern ein Funktionsplan waren, fand sich das Land zu Beginn der achtziger Jahre in einer Rezession nicht nur der Wirtschaft, sondern auch der Visionen wieder. Die Wende brachte das vielgefeierte Poldermodell. Es beruhte im Wesentlichen auf der Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften und der Ausweitung von Teilzeitjobs und hat seit den ersten Konsensrunden im Jahr 1982 die Doppelleistung zuwege gebracht, eine wirtschaftliche Prosperität mit einer kulturellen gleichzuschalten, in deren Umfeld das international stark beachtete holländische Architekturexperiment überhaupt erst stattfinden konnte.

Die architektonische Blüte des Landes ging einher mit einem soliden wirtschaftlichen Wachstum, das seit nunmehr zwölf Jahren über dem Durchschnitt der EU liegt. Dieses Wachstum manifestiert sich nicht zuletzt in einem Baurausch, der ganze Stadtviertel in kürzester Zeit entstehen lässt oder grossmassstäbliche Planungen hervorbringt wie die einer neuen Stadt mit 40 000 Wohnungen auf künstlich aufgeschütteten Sandbänken, die vor der Küste Den Haags und Rotterdams verteilt werden sollen. Über 75 Prozent des Wohnraums sind nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Von Leerstand ist keine Rede. Im Gegenteil, die Nachfrage nimmt stetig zu. Das betrifft vor allem die boomende Randstad mit den Wirtschaftszentren Amsterdam, Den Haag, Rotterdam und Utrecht.


Architektur als Lebewesen

Gebaut wurde in den letzten Jahren viel. Architektonisch massgeblich aber waren vor allem überschaubare Bauaufgaben wie etwa Altersheime, Polizeireviere, Postämter, Radiosender, Universitätsgebäude, Museen und Villen. Die öffentliche Hand finanzierte die meisten dieser Bauprojekte. An ihnen konnte sich die junge Architektenschaft beweisen. Durchdacht und entspannt, erwachsen und bedingungslos jugendlich, so kommen ihre Entwürfe daher. Die Experimentierfreude, mit der die Architekten entwerfen, sieht man den oft rohen Bauten auf den ersten Blick nicht immer an. Doch mit jeder ihrer schlichten Kisten setzen sie neue Bautypologien in die flache Landschaft. Die ungebändigte Wildheit ihrer Architektur liegt in einer anarchischen Ungebundenheit allen Standards gegenüber und einer freudigen Innovationslust, die Motor für so unerwartete Gebäudestrukturen wie jene des niederländischen Expo-Pavillons von MVRDV sein kann. Nicht in einem an Gehry erinnernden Formenwirbel liegt das Ungezügelte ihrer gebauten Visionen, sondern in ihrer programmatisch konzeptuellen Arbeitsweise. Diese verdanken viele junge Architekten dem Theoretiker und Architekten Rem Koolhaas. Durch Koolhaas' Beispiel angeregt, untersuchen sie seit Beginn der neunziger Jahre in ihren Arbeiten die inhaltliche Beziehung zur Moderne und haben so eine schal gewordene Postmoderne überwunden. Entstanden ist vielerorts eine Architektur, die dem sinnlichen Detail eine untergeordnete Stellung zuweist, ein Anti-Design, die Verkündung einer Welt jenseits hedonistischen Stilgebarens.

Ausgehend von dieser Basis ist das architektonische Spektrum immer breiter und schillernder geworden. Es reicht neuerdings bis hin zu der programmatischen Aufhebung des alten Gegensatzes von Natur und Technik in einer Architektur, die als genetisch selbstbestimmtes Lebewesen verstanden werden will. Kas Oosterhuis und Lars Spuybroek zählen zu den exponiertesten Repräsentanten dieses Trends. In einer Zeit, in der viel über drängende Aufgaben wie billigen Massenwohnungsbau nachgedacht wird, leisten sie sich den Luxus, einen lollibunten Designkanon aufzustellen und erst hinterher über dessen Funktionalisierung zu spekulieren. Ein Entwurf, der tiefer als die spektakulär gefaltete und erotisch geschwollene Aussenhaut blicken lässt, existiert nur in den seltensten Fällen. Denn wie muss man sich das Innere von Oosterhuis' «Rotterdam & Internet» vorstellen, einem Gebäude, das sich mit Hilfe einer Gummihaut über einen pneumatischen Fachwerkbau bewegt, zusammenzieht, anspannt und entspannt? Mit seinem gebauten Muskel versucht Oosterhuis den neuesten technischen Entwicklungen auf die Schliche zu kommen, die flimmernde, kugelbunt mutierende Internet-Gegenwart in einer Architektur einzufangen, die aussieht, als habe man eine Plasticdose mit Anabolika gemästet. Mit solch kompromisslos verschwenderischen Formphantasien, mit ihrer barocken Oberflächenseligkeit und der Vergötterung des Individuellen haben sich die jungen Biogendesigner über die Koolhaas'sche konzeptuelle Stringenz in der Architektur hinweggesetzt.

Der Dialog mit den Kunden beansprucht immer mehr Raum. Den Entwurfsprozess hat das nachhaltig verändert. Die Erwartungshaltung von Staat und Bauherrn zum Ausgangspunkt architektonischer Formfindung zu nehmen: das ist einer der wichtigsten Beiträge der jungen niederländischen Architektengeneration zum internationalen Architekturdiskurs. Auf den immer stärker eingeschränkten Handlungsspielraum des Architekten haben sie mit neuen Entwurfsmethoden reagiert, ihr Selbstverständnis haben sie den Umständen angepasst: nicht selbsternannter Kunstallmächtiger oder Heilsbringer ist der Architekt in Holland, sondern ein Ingenieur der Wünsche. Den Grundstein hat auch hier Koolhaas mit seinem Office for Metropolitan Architecture (OMA) gelegt. Dieses sah sich Anfang der achtziger Jahre beim städtebaulichen Entwurf für den IJ-Plein in Amsterdam mit den divergierenden Anforderungen der Anwohner aus den benachbarten Stadtvierteln und der künftigen Bewohner konfrontiert. In diesen Jahren der Demokratisierung führte die Kritik dieser Gruppen oft dazu, dass Architekten ihre weit vorangeschrittenen Pläne von Grund auf neu erarbeiten mussten. Statt mit einem fertigen Entwurf kam OMA deshalb mit einem grossen Koffer, der eine Auswahl von Plänen in standardisierter Form enthielt. Mit ihr wurde ein äusserst flexibler Verhandlungsprozess bestritten, während OMA die Wünsche der Betroffenen anhand der Pläne visualisierte und den endgültigen Entwurf ausarbeitete.

Eine pragmatische Architektur ist so in den letzten Jahren entstanden, die sich von jedem starren Stildenken distanziert. Architektur als Markenzeichen - «so etwas machen wir nicht», gibt etwa Mecanoo-Gründerin Francine Houben entschieden zu verstehen. «Wir haben eine sehr enge Beziehung zu unseren Kunden. Wir geben ihren Ideen eine Form. Das ist ein sehr individueller Prozess. Wollten sie ein weisses Haus, würden sie zu Richard Meier gehen, wollten sie ein verrücktes Haus, zu Frank Gehry. Bei uns bekommen sie etwas wirklich Besonderes.» Eine Aufgabe des Prinzips des freischaffenden Künstlers ist das keineswegs, sondern dessen modifizierende Rettung. Denn selbst eine computergestützte Kartierung aller auf die Bauaufgabe Einfluss nehmenden Kräfte, wie sie MVRDV in ihren «Datascapes» durchführen, ist ein sehr feines Instrument, das nicht faule Kompromisse produziert, sondern die verloren geglaubten Freiräume für die Architektur ermitteln helfen kann.


Die Rolle des Staates

Rund 10 Millionen Euro gibt der niederländische Staat jährlich zur Förderung der Architektur aus. Besonders viel Geld ist das nicht, aber es wird effektvoll eingesetzt: Das international bekannte NAI in Rotterdam erhält etwa 3,2 Millionen Euro jährlich und ist so zum grössten Architekturmuseum der Welt geworden. Seit 1993 leistet es herausragende Öffentlichkeitsarbeit für die Architektur mit Ausstellungen, Symposien und Workshops. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der Arbeit mit Kindern, für die eigens ein Anbau von Jo Coenen errichtet wird. Für Kristin Feireiss, die nach fünf Jahren Tätigkeit das NAI verlässt, drückt sich das einzigartige Umfeld für Architektur in den Niederlanden auch in der erstmals für 2002 geplanten Architekturbiennale aus, deren Leitung sie übernehmen wird. Die Niederlande sind damit neben Italien das zweite europäische Land mit einer derartigen Veranstaltung.

Die Architekten werden aber auch direkt vom Staat subventioniert: zwei der wichtigsten Förderfonds sind der Stimuleringsfonds voor Architectuur in Rotterdam, der jährlich rund 2,5 Millionen Euro ausgibt, und der Fonds voor Beeldende Kunsten, Vormgeving en Bouwkunst, abgekürzt BKVB, in Amsterdam, der jährlich eine Summe von 800 000 Euro für Architektur aufwendet. In der Liste der Begünstigten finden sich Büros wie Mecanoo, MVRDV, Kas Oosterhuis. Gefördert werden Reisen, Publikationen und Projekte. Ausserdem gibt es Studienbeihilfen in Höhe von bis zu 28 000 Euro und Starthilfen bei der Gründung des eigenen Büros in Höhe von 15 000 Euro. Beim Stimuleringsfonds können auch Stiftungen, Museen, Verlage oder Architekturzeitschriften finanziellen Rückhalt für ihre Arbeit finden.

Selbst in hohe Staatsämter können Architekten aufsteigen. Nicht irgendwelche Technokraten lässt man über wichtige Fördermassnahmen entscheiden, sondern unbequeme Leute aus der Praxis. Der Mann, der als neuer Reichsbaumeister zukünftig die architektonischen Direktiven im Lande geben wird, heisst Jo Coenen. In dieser Funktion besitzt Coenen ein Mitspracherecht bei Gebäuden, die der Staat selber errichtet. Auch wenn er kein Vetorecht besitzt, ist seine Rolle als Ratgeber und Förderer eine äusserst einflussreiche. Die Koffer packen, das war Coenens erste Amtshandlung. Denn die Baubehörde in Den Haag entsprach nicht seinen Vorstellungen von einem kreativen Arbeitsumfeld. Stattdessen zog er in eine nahe gelegene alte Werkstatt, in der er ein Laboratorium zusammen mit hinzugezogenen Architekten aufbauen will. Nicht repräsentativer Ort und bürokratische Arbeitsweise definieren hier das hohe Staatsamt, sondern nur die Güte der Architektur von morgen.

Das Engagement des Staates für die Architektur wird von einer breiten öffentlichen Mitbestimmung getragen. Die gemeinschaftlichen Leistungen in der Landgewinnung etablierten eine Tradition, die die Architektur als Aufgabe der Allgemeinheit betrachtet. Anders als die Anhänger der Avantgarde setzen die Niederländer auf einen demokratischen Formfindungsprozess, der in endlose Bürgerbefragungen ausarten kann und dem ein radikaler Plan lediglich als Diskussionspapier für eine weitaus gewöhnlichere und alltäglichere Praxis dienen kann. Trotz oder gerade wegen dieser Hürden erhält auch noch die phantastischste Architektur Gehör und nicht selten eine Chance.


Der Erfolg der Jugend

Alle diese Charakteristika der zeitgenössischen niederländischen Architektur tragen zu ihrer Jugendlichkeit bei - eine Jugendlichkeit, die wörtlich genommen werden will. Immer wieder erstaunt, dass die Architekten hier nicht nur experimentelle Architektur realisieren können, sondern dies auch in einem Alter, in dem in anderen Ländern meist erst einmal die Zeit des Darbens einsetzt. Die Gründer von Mecanoo standen am Anfang dieses Trends. Sie gewannen 1985 den Wettbewerb für den Wohnkomplex am Kruisplein, Rotterdams zentraler Einkaufsstrasse. Damals waren sie noch Studenten und der Älteste der Gruppe gerade 25 Jahre alt. Und MVRDV war eine Gemeinschaft von Hochschulabsolventen ohne eigenes Büro, als 1993 Vertreter des Radiosenders VPRO sich bei ihnen meldeten, um sie mit dem Entwurf ihrer neuen Zentrale in Hilversum zu beauftragen. Die daraufhin hastig angemieteten Räume in einem Lagerhaus im Hafen von Rotterdam dienten dazu, langjährige Praxis vorzutäuschen. Die Verhandlungen bestritten die Jungarchitekten mit Tage zuvor eingekauften Kaffeetassen und grossen Hoffnungen. Den Auftrag erhielten sie umgehend. Mittlerweile hat sich das Büro über die gesamte Etage des Lagerhauses ausgedehnt. Der Blick aus Ländern, in denen ein solch taschenspielertrickartig beschleunigter Start in die eigene Karriere allenfalls aus finsteren Gangsterfilmen bekannt ist, lässt das vitale Gründerfieber der niederländischen Architekturszene nur umso heller erstrahlen.

Nicht lange ist es her, da war Koolhaas der Prophet dieser bedingungslosen Jugendlichkeit. 1978 schrieb er «Delirious New York», ein Manifest für den Aufbruch in ein neues architektonisches Zeitalter. Als begeisterter Verfechter metropolitaner Lebenslust feierte er die wuchernden Vergnügungsparks von Coney Island als den Ort, an dem an der Ablösung des in Manhattan etablierten Beaux-Arts-Stils laboriert wurde. Heute ist es kein anderer als Koolhaas, der die Jugend in den Niederlanden zur Besonnenheit aufruft: Zu schematisch gehe sie an ihre Aufgabe, verkenne die kritische Substanz der Moderne und ergehe sich im gefühligen Formalismus, so seine Kritik. Zeichen einer bevorstehenden Revolution wie damals auf Coney Island?

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.09.07



verknüpfte Beiträge
europa1 Niederlande

31. August 2001Johann Christoph Reidemeister
Neue Zürcher Zeitung

Im Glashaus wohnen

Ein Stuttgarter Neubau beflügelt die deutsche Architekturszene

Ein Stuttgarter Neubau beflügelt die deutsche Architekturszene

Die Partys werden immer länger. Die Gäste wollen einfach nicht mehr gehen. Stattdessen geniessen sie die Aussicht, versuchen Füchse oder Eichhörnchen zu erspähen und würden das Naturschauspiel des wechselnden Lichts über den Hügeln nach einem Sonnenuntergang am liebsten bis zur Morgendämmerung verfolgen. - Hoch über dem Stuttgarter Talkessel hat der Architekt und Ingenieur Werner Sobek ein Wohnhaus gebaut, das er zusammen mit seiner Frau und seinem Sohn bewohnt. Wie die Case-Study-Häuser, die ab 1945 in den Hängen um Los Angeles entstanden, hat dieses Haus das Potenzial, eine «modernere Moderne» einzuleiten, die auf neuen Möglichkeiten im Bauen und einem freiheitlichen Menschen- und Gesellschaftsbild basiert.


Intelligenter Glaskubus

In einer Bergfalte in Stuttgart-Degerloch erhebt sich der viergeschossige Glaskubus wie eine Aussichtskanzel über der Stadt. Vollständig verglast und ohne Wände im Innern steht er nackt inmitten eines Naturschutzgebiets. Der dichte Baumbestand des weitläufigen Hanggrundstücks schirmt das Haus vor fremden Blicken ab. Gut zu sehen ist dagegen das geschraubte Stahlskelett, das die gläserne Hülle zusammenhält. Diese besteht aus einer Dreifachverglasung, deren mit Edelgas und Kunststofffolien aus der Raumfahrt gefüllte Zwischenräume das Licht ungehindert passieren lassen, Wärme wie Kälte dagegen abweisen. Beschichtete Holzplatten unterteilen das Raumkontinuum in vier Geschosse. In die Deckenelemente wurden Kupferrohrschlangen integriert, durch die Wasser zum Heizen oder Kühlen der Räume läuft. Sie sind Teil des wegweisenden Energieprogramms: Das Haus produziert die benötigte Elektrizität über Solarzellen auf dem Dach zum grossen Teil selbst und kommt auf Grund eines Wärmetauschers ohne zusätzliche Beheizung aus. Abgerundet wird das intelligente System durch einen Computer, über den sich das Klima regulieren lässt und der es beispielsweise ermöglicht, vom unteren Geschoss aus die Fenster im obersten zu schliessen. Den Rest regeln Sensoren: Schranktüren, Wasserhähne und Toilettenspülung lassen sich ebenso berührungslos wie hygienisch per Handbewegung dirigieren.

Das Haus wurde komplett aus vorgefertigten Teilen hergestellt. Die Bauzeit ist rekordverdächtig: In nur vier Tagen stand das Stahlgerüst, nicht mehr als zehn Wochen waren nötig, um das Haus komplett zu installieren. Mit einer Präzision wurde hier geplant und gebaut, die Toleranzen von nur fünf Millimetern über die vier Geschosse ergeben hat - Werte, die eher im Maschinen- als beim Rohbau üblich sind. Dieser Anspruch an die Detailgenauigkeit hat Sobek zum begehrten Partner von Architekten wie Helmut Jahn, Christoph Ingenhoven oder Renzo Piano werden lassen.

So zukunftsweisend die Technik auch ist, das Glashaus selbst ist eine 50 Jahre alte Erfindung der Moderne. Das berühmteste, das Farnsworth-Haus auf einem waldigen Grundstück unweit von Chicago, entwarf Ludwig Mies van der Rohe 1946 als einen lichtdurchfluteten Kasten, kunstvoll proportioniert und ebenso feinfühlig auf die ihn umgebende Auenlandschaft bezogen. Drei Jahre später errichtete Philip Johnson mit seinem gläsernen Wohnhaus in New Canaan einen weiteren programmatischen Bau für das Wohnen im modernen Amerika - und eine Hommage an Mies van der Rohe. Doch die Verwendung industriell hergestellter Materialien bereitete diesen Baumeistern und den Bewohnern bald Sorgen: Die Häuser waren im Sommer überhitzt, und im Winter überzogen sich die Fenster mit Eisblumen. Die damals neuen Werkstoffe wie grossflächige Glastafeln, Stahlprofile und anodiertes Aluminium hielten nicht, was sie versprachen. Das Programm des Funktionalismus war eine Vision, keine Realität - und so musste die Prophezeiung erst nach und nach durch eine unter Zugzwang geratene Bauindustrie erfüllt werden. Sobek geht es bei seinem Haus nicht um die technisch perfekte Umsetzung von Mies' Ideen. So deutlich es in der Tradition von moderner Ästhetik und technischem Innovationsdrang steht, so sehr will es in dieser Entwicklung weiter voranschreiten: Die minimale Form vermag es nur zu zitieren; die Technik aber revolutioniert es.


Blick in die Zukunft

Sobeks Haus ist seine ganz persönliche Vision des heutigen Wohnens. Manch einem Besucher wird der gläserne Schrein voll technischer Sensationen einen Blick in die Zukunft offenbaren. Doch der Hausherr ist längst einen Schritt weiter und experimentiert derzeit mit Fasertechnologie, um einen Ersatz für Beton zu finden, einen nach Sobeks Ansicht völlig veralteten Baustoff, der immer wieder Probleme bei der Verschalung verursacht. «Viele denken, das muss so sein. Ich aber bin der Meinung, dass das nicht so sein muss», gibt sich Sobek kämpferisch. Erstmals will er nun gefaltete Stoffe für die Fassade eines Pavillons verwenden, der sich in seinem futuristischen Kleid auf der Expo 02 in Biel präsentieren wird.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.08.31



verknüpfte Bauwerke
Glashaus «R 128»

17. August 2001Johann Christoph Reidemeister
Neue Zürcher Zeitung

Herausgeputzt

Das IG-Farbenhaus von Hans Poelzig

Das IG-Farbenhaus von Hans Poelzig

Der 1869 geborene Architekt Hans Poelzig liebte die grosse Form. Gewaltige Volumina türmte er in klaren Geometrien auf. Manchmal milderte er sie in einem orientalischen oder gotischen Stil etwas ab, doch meistens liess er sie in aller Reinheit hervortreten. Mit Kuben, Würfeln, Zylindern und Oktogonen deklinierte er Bauaufgaben vor allem für Industrie, Handel und Verwaltung durch. Ein wegweisendes frühmodernes Werk hat er mit ihnen geschaffen. Alle seine Häuser wirken robust und irgendwie zeitlos. Die soeben abgeschlossene Restaurierung des denkmalgeschützten IG-Farbenhauses in Frankfurt am Main macht jetzt Qualitäten und Grenzen dieser Architektur erneut erfahrbar. Von 1928 bis 1930 entstand die Zentrale des damals grössten Wirtschaftskonzerns Europas im Stahlskelettbau mit vorgehängten Travertinplatten. Der in einem langen Bogen durch den Grüneburgpark gezogene Riegel bot 2500 Menschen einen Arbeitsplatz. Das Haus streckt sich der Sonne entgegen. Alle Räume sind nach Süden orientiert, die 250 Meter langen Flure und die Treppenhäuser der Quertrakte nach Norden.

Nach vollendeter Tat sind nun die brünierten Bronzetüren zu den Treppenhäusern wiederhergestellt und ebenso die schweren Aufzugstüren in goldgelber Bronze. Die mit Holzfurnieren komplett ausgelegten Konferenzräume wurden sorgsam renoviert. Die Wände des Vestibüls, das von zwei breiten Treppen in leichter Bewegung umfasst wird, ziert der originale rosafarbene Marmor. Darüber schimmert eine Decke aus Aluminium. Es besteht kein Zweifel: Hier hat eine vorbildliche Restaurierung stattgefunden mit Wissen um die Historie des Ortes und Einfallsreichtum in der Angleichung alter Ziele an heutige Standards. Ende Oktober soll der Bau von Bundespräsident Johannes Rau offiziell eingeweiht werden. Seine Nutzerin, die Johann-Wolfgang-Goethe-Universität, ist schon eingezogen.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.08.17

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Presseschau 12

28. Dezember 2004Johann Christoph Reidemeister
Neue Zürcher Zeitung

Nachdenken über Einfachheit

Einer Epoche ihren Namen zu geben, davon träumt jeder Kritiker. Richard Wollheim gelang dies 1965 in seinem Artikel «Minimal Art». Erklärt hat er die neue...

Einer Epoche ihren Namen zu geben, davon träumt jeder Kritiker. Richard Wollheim gelang dies 1965 in seinem Artikel «Minimal Art». Erklärt hat er die neue...

Einer Epoche ihren Namen zu geben, davon träumt jeder Kritiker. Richard Wollheim gelang dies 1965 in seinem Artikel «Minimal Art». Erklärt hat er die neue Bewegung, die in den sechziger Jahren mit Künstlern wie Donald Judd oder Carl Andre in New York einsetzte, allerdings nicht. Bald schon verliess die Minimal Art das rein künstlerische Umfeld und wuchs zum Minimalismus heran, der von Amerika nach Europa und Japan gelangte und von der Mode über das Design bis hin zur Architektur kaum eine Kunstgattung unberührt liess. Je weiter er expandierte, umso schwieriger wurde es, ihn zu definieren. Das liegt in erster Linie an seinen vielen Gesichtern - und sicherlich auch daran, dass der Minimalismus sich nie ein Manifest gegeben hat.

Nun, da der Computer die triumphale Rückkehr des Organischen in Design und Architektur ermöglichte, scheint der Minimalismus allmählich zu einem historischen Phänomen zu werden, das sich je nach Zeit, Land und Kunstgattung als unterschiedlich erweist. Während die Minimal Art als Kunstform entschieden amerikanisch ist, entstand die minimalistische Architektur in Europa und Japan aus der Ablehnung der postmodernen Collage heraus als Bekenntnis zur Moderne. Was beide verbindet, ist die Ästhetik der Einfachheit. Reine Geometrie, perfekte Proportion und ein sensibler Umgang mit den Materialien sind die wesentlichen Zutaten, aus denen die schöne Einfachheit gemacht wird. In der Architektur wurden daraus Häuser, die Ruhe und Gelassenheit ausstrahlen, indem sie jedes Zuviel vermeiden. Zu den Architekten, die solche Häuser bauen, zählen John Pawson mit seiner kühlen Eleganz, Tadao Ando mit seiner sinnlichen Strenge oder Herzog & de Meuron. Das Basler Architekturbüro, das längst zu neuen Horizonten vorgestossen ist, bemühte sich seit den späten achtziger Jahren zusammen mit Architekten wie Peter Zumthor oder Diener & Diener ideenreich um die einfache Bauform und hat so den gewichtigen Schweizer Beitrag zum Minimalismus mitbegründet.

Endgültige Aussagen über minimalistische Architektur oder über minimalistisches Design (das von Künstlern, Architekten und Gestaltern wie Donald Judd, Jean Nouvel, Claudio Silvestrin oder Hannes Wettstein gleichermassen gepflegt wird) sind nicht einfach, da die Diskussion noch im Fluss ist. Gleichwohl haben sich Franco Bertoni sowie die Autorengemeinschaft Ruby, Sachs und Ursprung des Themas angenommen. Bertoni bietet in zwei Publikationen reiches Material und lässt teilhaben an seiner einfühlsamen Kennerschaft, geht aber leider assoziativ vor und vermag so die besondere Problematik des Minimalismus nicht zu fassen. Ruby, Sachs und Ursprung sehen sehr viel klarer, benennen die Brüche des Minimalismus und schlagen eine brauchbare Kategorisierung vor, mit der sie aber die Seele des Minimalismus nicht einzufangen wissen. Erst alle drei Publikationen zusammen ermöglichen ein Gesamtbild von Architektur und Design im Zeichen des Minimalismus.

[ Franco Bertoni: Minimalistisches Design. Birkhäuser-Verlag, Basel 2004. 221 S., Fr. 108.-.
Ders.: Minimalistische Architektur. Birkhäuser-Verlag, Basel 2003. 222 S., Fr 108.-.
A. Ruby, A. Sachs, P. Ursprung: Minimal Architecture (englisch). Prestel-Verlag, München 2003. 176 S., Fr. 100.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2004.12.28



verknüpfte Publikationen
Minimal Architecture
Minimalistische Architektur
Minimalistisches Design

06. August 2004Johann Christoph Reidemeister
Neue Zürcher Zeitung

Vertraute Fremdheit

Die ästhetische Innovation fällt sofort ins Auge: Drei scharfkantige Baukörper auf einer Metallplatte schneiden in den Stadtraum. Sie haben die Form schlichter...

Die ästhetische Innovation fällt sofort ins Auge: Drei scharfkantige Baukörper auf einer Metallplatte schneiden in den Stadtraum. Sie haben die Form schlichter...

Die ästhetische Innovation fällt sofort ins Auge: Drei scharfkantige Baukörper auf einer Metallplatte schneiden in den Stadtraum. Sie haben die Form schlichter Satteldachhäuser, sonst aber wenig gemein mit ihrer spitzgiebeligen Umgebung. Schimmerndes Metall legt sich über Dächer, Mauern und selbst über das Grundstück. Konventionelle Fensteröffnungen gibt es keine, stattdessen ist die Metallhaut vor den Scheiben zu einem Rost perforiert, der den Blick nach aussen zulässt, von aussen betrachtet aber das Allover der Fassade nicht unterbricht. Balkone, Fenstersimse, Dachvorsprünge oder auch nur eine Regenrinne hat diese Architektur demonstrativ abgeschüttelt. Alles, die einheitliche Farbe wie auch die glatte, ununterbrochene Oberfläche, lässt die Häuser wie Monolithe wirken und nicht wie Behältnisse für das alltägliche Leben.

Dieses an Bauklötze erinnernde Gebäudeensemble entspricht unseren Sehgewohnheiten so wenig, dass es geradezu unwirklich erscheint. Fast sieht es so aus, als wäre hier ein überdimensioniertes Architekturmodell abgestellt worden, wie ein Puzzleteil passgenau eingefügt in die umgebende Stadt. Die vertraute Form unter der ungewohnten Metallhülle - das ist eine beunruhigende Verfremdung, mit der die Architekten dazu herausfordern, das Gesehene zu überprüfen. Trotz formaler Rigorosität und eisigen Farben kommt mit solchen Sehexperimenten eine verspielte Note an diesem Haus zum Klingen, die seine überstrenge Ästhetik konterkariert. Keine Spätgeburt des Minimalismus also, sondern eine dekonstruierende Persiflage des schwäbischen Hangs zum Giebel ist hier entstanden. Was dem Häuslebauer Geborgenheit und Sicherheit verspricht, das suchen Allmann Sattler Wappner zu übersteigern. - Das neuartige Äussere erforderte eine Neuerfindung in der Bautechnik. Die Herausforderung bei der Fassadenherstellung war es, die Oberfläche möglichst fugenlos zu realisieren. Die Lösung ist bemerkenswert: Die Metallplatten sind auf Schienen montiert, welche die Materialbewegung aufnehmen und in eine einzige Dehnungsfuge pro Hausseite leiten. Auch bei der Klimatisierung wurden neue Wege begangen. Ein Kühlsystem in den Decken, das mit Grundwasser aus 70 Metern Tiefe gespeist wird, reduziert die nutzungsbedingten hohen Wärmelasten der Vortrags- und Schulungsräume. Im Zusammenspiel mit kontrollierter Luftumwälzung und Lichtlenkung erübrigt sich damit eine energieintensive Klimaanlage. Das innovative Selbstverständnis dieser Architektur kommt ebenfalls beim Sockelgeschoss zum Tragen, das mit quadratischen Stahlplatten belegt wurde, in die stilisierte Blattmuster gefräst wurden. Bei Sonnenlicht erzeugt es wunderbare Schattenspiele. Das Licht wird dann an den harten Kanten der übergrossen Blätter in Hell und Dunkel geschnitten und wandert langsam über die Inneneinrichtung.

Ein dermassen abstrahierter Baukörper unterliegt der Gefahr, spröde zu wirken, alles Leben im Haus dem Verdikt der perfekten Form zu unterwerfen und jede Selbstverständlichkeit der Idee zu opfern. Und tatsächlich muss bemängelt werden, dass der Eingang kaum zu finden ist, wenn die Öffnungszeiten vorbei und die ornamentierten Türen beinahe übergangslos in das Fassadenmuster integriert sind. Wenig gelungen sind auch die aseptisch wirkenden Innenräume wie Lobby oder Kantine, die keinerlei Aufenthaltsqualitäten bieten. Mit hellgrauem Epoxidharz wurde in Anlehnung an die Gebäudehülle eine glatte, glänzende Arbeitslandschaft modelliert. Doch während das Metall der Fassade im wechselnden Licht des Himmels changiert, sieht es innen so aus, als wäre alles in einen Topf mausgraue Farbe gefallen.

Trotz solchen Schwächen ist das Verbandsgebäude der Südwestmetall in Reutlingen ein vom Konzept bis zu den sorgsam ausgeführten Details sauber durchgearbeitetes Haus. Vor allem ist es ein gebautes Bekenntnis zu guter Architektur, mehr noch, es ist ein Plädoyer für ein Architekturverständnis, das sein Ziel darin erkennt, der individuellen Bauaufgabe mit eigens dafür entwickelten Lösungen gerecht zu werden. Innovation in ihrem besten Sinne.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2004.08.06

06. Februar 2004Johann Christoph Reidemeister
Neue Zürcher Zeitung

Zimmer ohne Aussicht

Ein Wohnhaus von Bottega und Ehrhardt in Ludwigsburg

Ein Wohnhaus von Bottega und Ehrhardt in Ludwigsburg

Zur Strasse hin steht das Haus da wie eine Festung. Nur einen Fensterschlitz gibt es in der Fassade. Man glaubt, das Bauwerk habe sich hinter meterdicken Mauern verschanzt. Die Konzentration auf das Innere ist Programm. So ist eine Gebäudeform entstanden, die sich gegenüber der Umgebung abschottet. Viel gibt es dort auch nicht, worauf das Haus sich beziehen könnte. Die eher banalen Einfamilienhäuser am Hang, das Bahntrassee, das die Züge ins nahe Stuttgart lenkt, die Ausfallstrasse: Sie alle wirken wie Symbole, die auf einen Alltag verweisen, der woanders stattfindet. Was für ein Haus baut man in einem solchen Wohnquartier? Kann man hier überhaupt ein qualitätvolles Haus bauen? Was die beiden 36 und 37 Jahre alten Architekten Giorgio Bottega und Henning Ehrhardt mit ihrem «Haus S» in Ludwigsburg errichtet haben, ist ein gepanzerter Unterstand gegen die Tristesse der Vorstadt und gleichzeitig ein Haus, das seine Unmöglichkeit signalisiert. Wie eine Persiflage auf die biederen Satteldachhäuser der Umgebung steht es da. Was aussieht, als hätte man ein normales Haus mit Beton übergossen, ist eine Absage an das schwäbische Häuslebaueridyll.

Der Flucht vor der Banalität des Alltags wurde hier architektonische Form verliehen. Solche Fluchtbewegungen sind in der Gegenwartsarchitektur keine Seltenheit, wie das Beispiel des Japaners Tadao Ando zeigt. Seine Bauwerke sind Schalen, die sich schützend um den Grossstadtmenschen legen, puristische Betonquader auch, welche sich nur zum Innenhof öffnen und so ganz auf sich selbst bezogen bleiben. Doch während sich Andos stille Häuser von der Hektik der Grossstadt abwenden, kehrt das Wohnhaus von Bottega und Ehrhardt der Leere der Vorstadt den Rücken zu. Seine ungewöhnliche, fast schon spektakuläre Form verdankt das «Haus S» einem Zusammenprall mit den behördlichen Vorgaben: Die Stadt bestand auf einem Giebel, während der Bauherr sich ein Flachdach wünschte. Zwei Jahre dauerte der Streit, dann fanden die Architekten eine Lösung. Sie bauten ein Haus, bei dem Fassade und das vorgeschriebene Giebeldach mit dem gleichen körnigen Putz überzogen wurden, wodurch das Dach kaum mehr als solches in Erscheinung tritt.

Selbstverständlich handelt es sich beim Haus in Ludwigsburg um eine Ehrbezeugung an das Haus Rudin von Herzog & de Meuron in Leymen und an das Mehrfamilienhaus in Unterägeri der Zürcher Architekten Giuliani & Hönger. Eine Premiere im eigentlichen Sinne ist das «Haus S» also nicht. Bottega und Ehrhardt sehen sich zwar als Vertreter einer eher puristischen Architektur. Dennoch haben sie sich dem kantigen Minimalismus nicht uneingeschränkt verschrieben. So wird das massige Bauvolumen des «Hauses S» im Eingangsbereich gefährlich untergraben, und sein Innenraum ist trotz dem glänzenden Boden aus Epoxidharz und der Sichtbetontreppe, die wie eine Nadel in den Raum sticht, kein langweiliger Laufsteg der Leidenschaftslosigkeit, sondern ein Raumexperiment, das durch Offenheit überzeugt, aber auch Rückzugsmöglichkeiten bereithält.

Mit ihrem gelungenen Entwurf für das Wohnen in der Gegenwart gehören Bottega und Ehrhardt zu den wenigen Jungarchitekten in Deutschland, die ein Bauwerk vorweisen können, das auch im Ausland beachtet wird. Ihr Erfolgsrezept war der Mut, dort Nein zu sagen, wo es sein musste. Bei vielen Bauaufgaben des Stuttgarter Architektenduos hat das Wirkung gezeigt. Ihr erster Auftraggeber, von dem sie den Auftrag bekommen hatten, eine Erweiterung zu konzipieren, meldete sich monatelang nicht, nachdem ihm die Neulinge den Abriss seines Hauses vorgeschlagen hatten. Nur einen hübschen Anbau wollten sie nicht machen. Doch ihre Pläne für ein komplett neues Haus gingen dem Bauherrn nicht mehr aus dem Sinn. Irgendwann kam dann von ihm der Anruf, der für Bottega und Ehrhardt den Start in die eigene Karriere bedeutete: Ob sie nicht ein Restaurant gestalten wollten, wurden sie gefragt. Ehrhardt meint, dass man sich eben Respekt verschaffe, wenn man sich nicht um jeden Preis verkaufe. «Mit uns gibt es nur Radikallösungen» - dieser Satz von Bottega und Ehrhardt markiert einen Anspruch, der sich im «Haus S» eindrucksvoll materialisiert hat.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2004.02.06



verknüpfte Bauwerke
Haus S

04. Oktober 2002Johann Christoph Reidemeister
Neue Zürcher Zeitung

Schule machen

Schule machen
Die Münchner Architekten Allmann Sattler Wappner
Seit seiner mit dem Deutschen Architekturpreis ausgezeichneten Schule bei Chemnitz gilt das Büro Allmann Sattler Wappner als Labor für gut durchdachte Bauwerke. Das Münchner Trio hat nun ein weiteres Gymnasium realisiert und damit bewiesen, dass auch in Deutschland junge Architektur das Potenzial hat, Schule zu machen.

Schule machen
Die Münchner Architekten Allmann Sattler Wappner
Seit seiner mit dem Deutschen Architekturpreis ausgezeichneten Schule bei Chemnitz gilt das Büro Allmann Sattler Wappner als Labor für gut durchdachte Bauwerke. Das Münchner Trio hat nun ein weiteres Gymnasium realisiert und damit bewiesen, dass auch in Deutschland junge Architektur das Potenzial hat, Schule zu machen.

Junge Architekten tun sich schwer in Deutschland. Anders als in der Schweiz gibt es hier kein gemeinsames Gestaltungskonzept, an dem zu bauen wäre. Ein Vordenker, wie ihn Rem Koolhaas in den Niederlanden verkörpert, fehlt. Statt einer lebhaften Architekturdebatte mit jungen Beiträgen bestimmt heute bis auf wenige Ausnahmen die Generation der 60- bis 70-Jährigen das Baugeschehen. Kein Wunder also, wenn Jurymitglieder auf der verzweifelten Suche nach neuen Tendenzen in der deutschen Architektur Büros mit Auszeichnungen überhäufen, die kaum ein realisiertes Projekt vorzuweisen haben, dafür aber gute Ideen und viel Optimismus. So erging es auch den Münchner Architekten Markus Allmann, Amandus Sattler und Ludwig Wappner. Und dies für einmal zu Recht, wie die jüngsten Erfolge zeigen: Für ihr erstes Gebäude, ein ringförmiges Gymnasium in der Nähe von Chemnitz, gab es den Deutschen Architekturpreis, ein ebenso funktionaler wie ironisch gestalteter Wertstoffhof in München folgte. Im vergangenen Jahr dann wurde der lichte Glaskubus der Herz-Jesu- Kirche im Münchner Stadtteil Neuhausen geweiht: ein kühler Schrein, der seither die Herzen der Kritiker für das Münchner Trio erwärmt. Ihr Büro ist inzwischen auf 40 Mitarbeiter angewachsen, die in einem verwinkelten Hinterhaus an derzeit 16 Projekten arbeiten.

Aus 158 eingereichten Wettbewerbsbeiträgen wurde der Entwurf für die Herz-Jesu-Kirche ausgewählt. Eine Kiste voll Licht ist sie geworden - transparent, wo es nur geht, klar in ihrer geometrischen Reinheit und strahlend in ihrer materiellen Opulenz (NZZ 22. 2. 01). Mit ihr ist Allmann seinem Traum von breiter Publizität ein Stück näher gekommen. Der Bau findet Zuspruch. Hier ist gelungen, wofür viele beten: die Popularisierung guter Architektur.

Das jüngste Projekt des Büros ist eine Schule nordwestlich von München, die vor wenigen Monaten eröffnet wurde. In einer durch den Fluss Glonn geprägten, weitläufigen Auenlandschaft unmittelbar am Siedlungsrand des kleinen Städtchens Markt Indersdorf schwebt die Schule als aufgeständertes Rechteck vier Meter über den feuchten Wiesen. Klassenräume, Pausenhof und Sporthalle fasst es in eine einzige Form. In Verlängerung des Baukörpers schneiden sich Wasserbecken, Sportanlagen und Hausmeisterbungalow harsch in die Landschaft ein. Die den Schulräumen vorgelagerten grosszügigen Loggien sind mit unbehandeltem Fichtenholz eingefasst und durch Brüstungen aus grünlich schimmerndem Glas abgeschlossen. Fassade findet hier als immaterieller, meterbreiter Verlauf zwischen innen und aussen statt - alles andere als die biederen Abgrenzungsdemonstrationen versteinerter bundesdeutscher Hauptstadtpraxis.

Was von aussen betrachtet als offene Struktur einlädt, das ist im Inneren ein das Klima regulierender Schattenspender und Blickkanal - jede Klasse bekommt ihre ganz eigene und unverstellte Sicht auf die landschaftliche Umgebung. Doch der introvertierte Blick vermag noch mehr zu bieten: Er kann von den umlaufenden Fluren aus wahlweise auf den Pausenhof mit seiner die gesamte Breite des Hofes einnehmenden Sitztreppe gerichtet werden oder aber in die Sporthalle. Die Gemeinschaft präsentiert sich vor den Blicken der eigenen Mitglieder und erfährt dadurch die Summe ihrer Aktivitäten als identitätsstiftenden Ort Schule. Eine solche Architektur definiert Lernen erfrischend neu: als Arbeit in der Gruppe, im Wettbewerb mit anderen und immer mit Blick auf die Welt draussen.

Das nächste Projekt des jungen Münchner Büros entsteht für den Arbeitgeberverband Südwestmetall in Reutlingen. Ein Verwaltungssitz, komponiert als eine Gruppe von drei Häusern, die unspektakulär spitzgieblig in den Himmel ragen und unscheinbar villenartig aussähen, wären da nicht die Hüllen aus poliertem Edelstahl: Aus einem einzelnen nahtlos fliessenden Stück gefertigt, sollen sie Dach und Aussenwände der Baukörper optisch zu einer Form zusammenschweissen und Massivität evozieren, wo es nur schimmernde Fassaden geben wird - eine Hommage an Herzog & de Meuron, die die ausgehöhlte Kompaktheit bei ihrem Haus Rudin erstmals inszenierten. Wie eine bauklötzerne Persiflage auf die Satteldach-Heimeligkeit der Umgebung werden die Häuschen von Allmann Sattler Wappner dastehen. Und als Zeichen dafür, dass auch in Deutschland mutige Architektur möglich ist.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2002.10.04

17. April 2002Johann Christoph Reidemeister
Neue Zürcher Zeitung

Shopping und „Junkspace“

Rem Koolhaas' neuste Städtebaustudie

Rem Koolhaas' neuste Städtebaustudie

Kürzlich bekannte der holländische Architekt Rem Koolhaas in einem Fernsehinterview, es gehe ihm in seiner Arbeit um nichts anderes als um das in unserer Zeit längst zu einem Luxus gewordene Denken. Aber wie denkt man über die Gedankenlosigkeit so mancher zeitgenössischer Architektur nach? Worüber liesse sich grübeln angesichts der Stadt von heute, die wir durch Bauten für den Konsum und den Transport banalisiert haben? Zusammen mit seinen Studenten an der Harvard University hat sich Koolhaas mit der Unwirtlichkeit unserer Städte auseinandergesetzt und ein Buch herausgegeben, in dem er das Phänomen Shopping als den unser heutiges urbanes Leben am stärksten bestimmenden Faktor beschreibt. Der zentrale Begriff in dem Buch heisst «Junkspace». Mit ihm umschreibt Koolhaas den architektonischen Raum, der für das Shoppen überall errichtet wird: nicht nur in Einkaufszentren, sondern auch in Flughäfen, Krankenhäusern und Museen. Am besten kann man sich diesen Raum anhand eines Bildes vorstellen, das den 45 Beiträgen vorangestellt ist. Verglichen werden Geschäftszonen in New York, Nagoya und Tokio. Dabei handelt es sich immer um dieselbe graue Einheitsarchitektur: Innenräume mit niedrigen, abgehängten Decken und kaltem Neonlicht sowie möglichst stützenlose Passagen, die mit polierten Steinplatten ausgelegt sind. Die Architektur ist vorhersehbar geworden. Sie ist es deshalb, weil sie nicht einem individuellen Gestaltungswillen, sondern dem wirtschaftlichen Kalkül gehorcht. Und das will überall dasselbe: mehr Umsatz. Koolhaas' Bilanz ist niederschmetternd: «Junkspace» ist der Abfall der Modernisierung und das Ende der Aufklärung. Als Produkt der Begegnung von Rolltreppe und Klimaanlage ist «Junkspace» das Territorium niedriger Erwartungen, expansiv und unendlich: das Fegefeuer.

Koolhaas ist mit Stadtstudien wie «Delirious New York» oder «Singapore Songlines» als der grosse Bewunderer alles Modernen bekannt geworden. In seinem neuen Buch formuliert er nun erstmals seine Bedenken und tritt damit in die Tradition von Modernekritikern wie Alexander Mitscherlich, Colin Rowe oder Fred Koetter. Mit ihm liefert er eine beissende Zeitkritik ab, die uns alle vor die Frage stellt, ob wir wirklich nichts Besseres mit unseren Städten vorhaben, als in ihnen dem Shopping zu frönen. Nicht nur ein Buch über Architektur ist das, auch nicht nur eines über die Stadt, sondern in seinem Kern eines über unser Leben, das wir in den Städten und Vorstädten führen. Es ist eine soziologische Beobachtung unserer marktwirtschaftlichen Konditionierung, eine Studie zur «condition humaine» am Anfang des 21. Jahrhunderts, eine bedingungslose Analyse des Heute. Etwas, worüber nachzudenken sich lohnt.


[The Harvard Design School Guide to Shopping. Hrsg. Rem Koolhaas. Taschen-Verlag, Köln 2001. 800 S., Fr. 90.-.]

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2002.04.17

07. September 2001Johann Christoph Reidemeister
Neue Zürcher Zeitung

Anzeichen einer anderen Moderne

Die Erfolgsfaktoren der neuen holländischen Architektur

Die Erfolgsfaktoren der neuen holländischen Architektur

Begeistert schaut die internationale Architektenschaft auf die Niederlande. Viele Büros sind in den letzten zehn Jahren mit spektakulären Entwürfen, die tatsächlich auch gebaut wurden, an die Öffentlichkeit getreten. Einige der Faktoren dieser Erfolgsstory stehen nun mit der jüngsten Generation von Architekten wieder zur Disposition.

Beim Landeanflug auf Amsterdam-Schiphol kreist das Flugzeug mitunter über Flevoland, dem grössten Polder der Niederlande. Aus der Vogelperspektive gesehen, formieren sich die künstlich dem Meer abgerungenen rechteckigen Ackerflächen zwischen den schnurgeraden Landstrassen zu einem abstrakt anmutenden Raster Mondrian'scher Ordnungslogik. Dieses Bild ist Symbol für das Selbstverständnis eines Volkes, das sich des Bodens unter den Füssen nicht gewiss sein darf. Die Niederlande sind denn auch für Kristin Feireiss, die vormalige Direktorin des Nederlands Architectuurinstituut (NAI), «das Land, das sich seine Bewohner selber schaffen».


Phänomene des Wachstums

Die Architektur wird von diesen Umständen unmittelbar betroffen. In einem Land, dessen Häuser zu einem grossen Teil auf Holzpfählen stehen, die in den sumpfigen Boden gerammt wurden, ist Architektur gleichbedeutend mit Existenz. Sie ist mehr als nur Mittel für die Schaffung von Wohn- und Arbeitsraum, sie ist Gegenstand der öffentlichen Diskussion und wird als Teil der nationalen Kultur verstanden. Der kollektive Pioniergeist, mit dem die nationalen Projekte zur Entwässerung und Eindeichung ganzer Meere Anfang des 20. Jahrhunderts vorangetrieben wurden, hat die Menschen in den letzten zehn Jahren erneut erfasst. Diesmal allerdings steht die architektonische Landschaft im Zentrum des Interesses, was dem Land eine baukulturelle Blüte beschert, um die es vielerorts beneidet wird.

Dabei sah es lange Zeit gar nicht nach einem architektonischen Aufbruch aus. Nach einer ungestümen Wachstumsphase in der Nachkriegszeit, in der man zukunftsgläubig von durchstrukturierten, ins Riesenhafte aufgetürmten Stadtlandschaften träumte, die nicht länger ein Ort der Begegnung, sondern ein Funktionsplan waren, fand sich das Land zu Beginn der achtziger Jahre in einer Rezession nicht nur der Wirtschaft, sondern auch der Visionen wieder. Die Wende brachte das vielgefeierte Poldermodell. Es beruhte im Wesentlichen auf der Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften und der Ausweitung von Teilzeitjobs und hat seit den ersten Konsensrunden im Jahr 1982 die Doppelleistung zuwege gebracht, eine wirtschaftliche Prosperität mit einer kulturellen gleichzuschalten, in deren Umfeld das international stark beachtete holländische Architekturexperiment überhaupt erst stattfinden konnte.

Die architektonische Blüte des Landes ging einher mit einem soliden wirtschaftlichen Wachstum, das seit nunmehr zwölf Jahren über dem Durchschnitt der EU liegt. Dieses Wachstum manifestiert sich nicht zuletzt in einem Baurausch, der ganze Stadtviertel in kürzester Zeit entstehen lässt oder grossmassstäbliche Planungen hervorbringt wie die einer neuen Stadt mit 40 000 Wohnungen auf künstlich aufgeschütteten Sandbänken, die vor der Küste Den Haags und Rotterdams verteilt werden sollen. Über 75 Prozent des Wohnraums sind nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Von Leerstand ist keine Rede. Im Gegenteil, die Nachfrage nimmt stetig zu. Das betrifft vor allem die boomende Randstad mit den Wirtschaftszentren Amsterdam, Den Haag, Rotterdam und Utrecht.


Architektur als Lebewesen

Gebaut wurde in den letzten Jahren viel. Architektonisch massgeblich aber waren vor allem überschaubare Bauaufgaben wie etwa Altersheime, Polizeireviere, Postämter, Radiosender, Universitätsgebäude, Museen und Villen. Die öffentliche Hand finanzierte die meisten dieser Bauprojekte. An ihnen konnte sich die junge Architektenschaft beweisen. Durchdacht und entspannt, erwachsen und bedingungslos jugendlich, so kommen ihre Entwürfe daher. Die Experimentierfreude, mit der die Architekten entwerfen, sieht man den oft rohen Bauten auf den ersten Blick nicht immer an. Doch mit jeder ihrer schlichten Kisten setzen sie neue Bautypologien in die flache Landschaft. Die ungebändigte Wildheit ihrer Architektur liegt in einer anarchischen Ungebundenheit allen Standards gegenüber und einer freudigen Innovationslust, die Motor für so unerwartete Gebäudestrukturen wie jene des niederländischen Expo-Pavillons von MVRDV sein kann. Nicht in einem an Gehry erinnernden Formenwirbel liegt das Ungezügelte ihrer gebauten Visionen, sondern in ihrer programmatisch konzeptuellen Arbeitsweise. Diese verdanken viele junge Architekten dem Theoretiker und Architekten Rem Koolhaas. Durch Koolhaas' Beispiel angeregt, untersuchen sie seit Beginn der neunziger Jahre in ihren Arbeiten die inhaltliche Beziehung zur Moderne und haben so eine schal gewordene Postmoderne überwunden. Entstanden ist vielerorts eine Architektur, die dem sinnlichen Detail eine untergeordnete Stellung zuweist, ein Anti-Design, die Verkündung einer Welt jenseits hedonistischen Stilgebarens.

Ausgehend von dieser Basis ist das architektonische Spektrum immer breiter und schillernder geworden. Es reicht neuerdings bis hin zu der programmatischen Aufhebung des alten Gegensatzes von Natur und Technik in einer Architektur, die als genetisch selbstbestimmtes Lebewesen verstanden werden will. Kas Oosterhuis und Lars Spuybroek zählen zu den exponiertesten Repräsentanten dieses Trends. In einer Zeit, in der viel über drängende Aufgaben wie billigen Massenwohnungsbau nachgedacht wird, leisten sie sich den Luxus, einen lollibunten Designkanon aufzustellen und erst hinterher über dessen Funktionalisierung zu spekulieren. Ein Entwurf, der tiefer als die spektakulär gefaltete und erotisch geschwollene Aussenhaut blicken lässt, existiert nur in den seltensten Fällen. Denn wie muss man sich das Innere von Oosterhuis' «Rotterdam & Internet» vorstellen, einem Gebäude, das sich mit Hilfe einer Gummihaut über einen pneumatischen Fachwerkbau bewegt, zusammenzieht, anspannt und entspannt? Mit seinem gebauten Muskel versucht Oosterhuis den neuesten technischen Entwicklungen auf die Schliche zu kommen, die flimmernde, kugelbunt mutierende Internet-Gegenwart in einer Architektur einzufangen, die aussieht, als habe man eine Plasticdose mit Anabolika gemästet. Mit solch kompromisslos verschwenderischen Formphantasien, mit ihrer barocken Oberflächenseligkeit und der Vergötterung des Individuellen haben sich die jungen Biogendesigner über die Koolhaas'sche konzeptuelle Stringenz in der Architektur hinweggesetzt.

Der Dialog mit den Kunden beansprucht immer mehr Raum. Den Entwurfsprozess hat das nachhaltig verändert. Die Erwartungshaltung von Staat und Bauherrn zum Ausgangspunkt architektonischer Formfindung zu nehmen: das ist einer der wichtigsten Beiträge der jungen niederländischen Architektengeneration zum internationalen Architekturdiskurs. Auf den immer stärker eingeschränkten Handlungsspielraum des Architekten haben sie mit neuen Entwurfsmethoden reagiert, ihr Selbstverständnis haben sie den Umständen angepasst: nicht selbsternannter Kunstallmächtiger oder Heilsbringer ist der Architekt in Holland, sondern ein Ingenieur der Wünsche. Den Grundstein hat auch hier Koolhaas mit seinem Office for Metropolitan Architecture (OMA) gelegt. Dieses sah sich Anfang der achtziger Jahre beim städtebaulichen Entwurf für den IJ-Plein in Amsterdam mit den divergierenden Anforderungen der Anwohner aus den benachbarten Stadtvierteln und der künftigen Bewohner konfrontiert. In diesen Jahren der Demokratisierung führte die Kritik dieser Gruppen oft dazu, dass Architekten ihre weit vorangeschrittenen Pläne von Grund auf neu erarbeiten mussten. Statt mit einem fertigen Entwurf kam OMA deshalb mit einem grossen Koffer, der eine Auswahl von Plänen in standardisierter Form enthielt. Mit ihr wurde ein äusserst flexibler Verhandlungsprozess bestritten, während OMA die Wünsche der Betroffenen anhand der Pläne visualisierte und den endgültigen Entwurf ausarbeitete.

Eine pragmatische Architektur ist so in den letzten Jahren entstanden, die sich von jedem starren Stildenken distanziert. Architektur als Markenzeichen - «so etwas machen wir nicht», gibt etwa Mecanoo-Gründerin Francine Houben entschieden zu verstehen. «Wir haben eine sehr enge Beziehung zu unseren Kunden. Wir geben ihren Ideen eine Form. Das ist ein sehr individueller Prozess. Wollten sie ein weisses Haus, würden sie zu Richard Meier gehen, wollten sie ein verrücktes Haus, zu Frank Gehry. Bei uns bekommen sie etwas wirklich Besonderes.» Eine Aufgabe des Prinzips des freischaffenden Künstlers ist das keineswegs, sondern dessen modifizierende Rettung. Denn selbst eine computergestützte Kartierung aller auf die Bauaufgabe Einfluss nehmenden Kräfte, wie sie MVRDV in ihren «Datascapes» durchführen, ist ein sehr feines Instrument, das nicht faule Kompromisse produziert, sondern die verloren geglaubten Freiräume für die Architektur ermitteln helfen kann.


Die Rolle des Staates

Rund 10 Millionen Euro gibt der niederländische Staat jährlich zur Förderung der Architektur aus. Besonders viel Geld ist das nicht, aber es wird effektvoll eingesetzt: Das international bekannte NAI in Rotterdam erhält etwa 3,2 Millionen Euro jährlich und ist so zum grössten Architekturmuseum der Welt geworden. Seit 1993 leistet es herausragende Öffentlichkeitsarbeit für die Architektur mit Ausstellungen, Symposien und Workshops. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der Arbeit mit Kindern, für die eigens ein Anbau von Jo Coenen errichtet wird. Für Kristin Feireiss, die nach fünf Jahren Tätigkeit das NAI verlässt, drückt sich das einzigartige Umfeld für Architektur in den Niederlanden auch in der erstmals für 2002 geplanten Architekturbiennale aus, deren Leitung sie übernehmen wird. Die Niederlande sind damit neben Italien das zweite europäische Land mit einer derartigen Veranstaltung.

Die Architekten werden aber auch direkt vom Staat subventioniert: zwei der wichtigsten Förderfonds sind der Stimuleringsfonds voor Architectuur in Rotterdam, der jährlich rund 2,5 Millionen Euro ausgibt, und der Fonds voor Beeldende Kunsten, Vormgeving en Bouwkunst, abgekürzt BKVB, in Amsterdam, der jährlich eine Summe von 800 000 Euro für Architektur aufwendet. In der Liste der Begünstigten finden sich Büros wie Mecanoo, MVRDV, Kas Oosterhuis. Gefördert werden Reisen, Publikationen und Projekte. Ausserdem gibt es Studienbeihilfen in Höhe von bis zu 28 000 Euro und Starthilfen bei der Gründung des eigenen Büros in Höhe von 15 000 Euro. Beim Stimuleringsfonds können auch Stiftungen, Museen, Verlage oder Architekturzeitschriften finanziellen Rückhalt für ihre Arbeit finden.

Selbst in hohe Staatsämter können Architekten aufsteigen. Nicht irgendwelche Technokraten lässt man über wichtige Fördermassnahmen entscheiden, sondern unbequeme Leute aus der Praxis. Der Mann, der als neuer Reichsbaumeister zukünftig die architektonischen Direktiven im Lande geben wird, heisst Jo Coenen. In dieser Funktion besitzt Coenen ein Mitspracherecht bei Gebäuden, die der Staat selber errichtet. Auch wenn er kein Vetorecht besitzt, ist seine Rolle als Ratgeber und Förderer eine äusserst einflussreiche. Die Koffer packen, das war Coenens erste Amtshandlung. Denn die Baubehörde in Den Haag entsprach nicht seinen Vorstellungen von einem kreativen Arbeitsumfeld. Stattdessen zog er in eine nahe gelegene alte Werkstatt, in der er ein Laboratorium zusammen mit hinzugezogenen Architekten aufbauen will. Nicht repräsentativer Ort und bürokratische Arbeitsweise definieren hier das hohe Staatsamt, sondern nur die Güte der Architektur von morgen.

Das Engagement des Staates für die Architektur wird von einer breiten öffentlichen Mitbestimmung getragen. Die gemeinschaftlichen Leistungen in der Landgewinnung etablierten eine Tradition, die die Architektur als Aufgabe der Allgemeinheit betrachtet. Anders als die Anhänger der Avantgarde setzen die Niederländer auf einen demokratischen Formfindungsprozess, der in endlose Bürgerbefragungen ausarten kann und dem ein radikaler Plan lediglich als Diskussionspapier für eine weitaus gewöhnlichere und alltäglichere Praxis dienen kann. Trotz oder gerade wegen dieser Hürden erhält auch noch die phantastischste Architektur Gehör und nicht selten eine Chance.


Der Erfolg der Jugend

Alle diese Charakteristika der zeitgenössischen niederländischen Architektur tragen zu ihrer Jugendlichkeit bei - eine Jugendlichkeit, die wörtlich genommen werden will. Immer wieder erstaunt, dass die Architekten hier nicht nur experimentelle Architektur realisieren können, sondern dies auch in einem Alter, in dem in anderen Ländern meist erst einmal die Zeit des Darbens einsetzt. Die Gründer von Mecanoo standen am Anfang dieses Trends. Sie gewannen 1985 den Wettbewerb für den Wohnkomplex am Kruisplein, Rotterdams zentraler Einkaufsstrasse. Damals waren sie noch Studenten und der Älteste der Gruppe gerade 25 Jahre alt. Und MVRDV war eine Gemeinschaft von Hochschulabsolventen ohne eigenes Büro, als 1993 Vertreter des Radiosenders VPRO sich bei ihnen meldeten, um sie mit dem Entwurf ihrer neuen Zentrale in Hilversum zu beauftragen. Die daraufhin hastig angemieteten Räume in einem Lagerhaus im Hafen von Rotterdam dienten dazu, langjährige Praxis vorzutäuschen. Die Verhandlungen bestritten die Jungarchitekten mit Tage zuvor eingekauften Kaffeetassen und grossen Hoffnungen. Den Auftrag erhielten sie umgehend. Mittlerweile hat sich das Büro über die gesamte Etage des Lagerhauses ausgedehnt. Der Blick aus Ländern, in denen ein solch taschenspielertrickartig beschleunigter Start in die eigene Karriere allenfalls aus finsteren Gangsterfilmen bekannt ist, lässt das vitale Gründerfieber der niederländischen Architekturszene nur umso heller erstrahlen.

Nicht lange ist es her, da war Koolhaas der Prophet dieser bedingungslosen Jugendlichkeit. 1978 schrieb er «Delirious New York», ein Manifest für den Aufbruch in ein neues architektonisches Zeitalter. Als begeisterter Verfechter metropolitaner Lebenslust feierte er die wuchernden Vergnügungsparks von Coney Island als den Ort, an dem an der Ablösung des in Manhattan etablierten Beaux-Arts-Stils laboriert wurde. Heute ist es kein anderer als Koolhaas, der die Jugend in den Niederlanden zur Besonnenheit aufruft: Zu schematisch gehe sie an ihre Aufgabe, verkenne die kritische Substanz der Moderne und ergehe sich im gefühligen Formalismus, so seine Kritik. Zeichen einer bevorstehenden Revolution wie damals auf Coney Island?

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.09.07



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europa1 Niederlande

31. August 2001Johann Christoph Reidemeister
Neue Zürcher Zeitung

Im Glashaus wohnen

Ein Stuttgarter Neubau beflügelt die deutsche Architekturszene

Ein Stuttgarter Neubau beflügelt die deutsche Architekturszene

Die Partys werden immer länger. Die Gäste wollen einfach nicht mehr gehen. Stattdessen geniessen sie die Aussicht, versuchen Füchse oder Eichhörnchen zu erspähen und würden das Naturschauspiel des wechselnden Lichts über den Hügeln nach einem Sonnenuntergang am liebsten bis zur Morgendämmerung verfolgen. - Hoch über dem Stuttgarter Talkessel hat der Architekt und Ingenieur Werner Sobek ein Wohnhaus gebaut, das er zusammen mit seiner Frau und seinem Sohn bewohnt. Wie die Case-Study-Häuser, die ab 1945 in den Hängen um Los Angeles entstanden, hat dieses Haus das Potenzial, eine «modernere Moderne» einzuleiten, die auf neuen Möglichkeiten im Bauen und einem freiheitlichen Menschen- und Gesellschaftsbild basiert.


Intelligenter Glaskubus

In einer Bergfalte in Stuttgart-Degerloch erhebt sich der viergeschossige Glaskubus wie eine Aussichtskanzel über der Stadt. Vollständig verglast und ohne Wände im Innern steht er nackt inmitten eines Naturschutzgebiets. Der dichte Baumbestand des weitläufigen Hanggrundstücks schirmt das Haus vor fremden Blicken ab. Gut zu sehen ist dagegen das geschraubte Stahlskelett, das die gläserne Hülle zusammenhält. Diese besteht aus einer Dreifachverglasung, deren mit Edelgas und Kunststofffolien aus der Raumfahrt gefüllte Zwischenräume das Licht ungehindert passieren lassen, Wärme wie Kälte dagegen abweisen. Beschichtete Holzplatten unterteilen das Raumkontinuum in vier Geschosse. In die Deckenelemente wurden Kupferrohrschlangen integriert, durch die Wasser zum Heizen oder Kühlen der Räume läuft. Sie sind Teil des wegweisenden Energieprogramms: Das Haus produziert die benötigte Elektrizität über Solarzellen auf dem Dach zum grossen Teil selbst und kommt auf Grund eines Wärmetauschers ohne zusätzliche Beheizung aus. Abgerundet wird das intelligente System durch einen Computer, über den sich das Klima regulieren lässt und der es beispielsweise ermöglicht, vom unteren Geschoss aus die Fenster im obersten zu schliessen. Den Rest regeln Sensoren: Schranktüren, Wasserhähne und Toilettenspülung lassen sich ebenso berührungslos wie hygienisch per Handbewegung dirigieren.

Das Haus wurde komplett aus vorgefertigten Teilen hergestellt. Die Bauzeit ist rekordverdächtig: In nur vier Tagen stand das Stahlgerüst, nicht mehr als zehn Wochen waren nötig, um das Haus komplett zu installieren. Mit einer Präzision wurde hier geplant und gebaut, die Toleranzen von nur fünf Millimetern über die vier Geschosse ergeben hat - Werte, die eher im Maschinen- als beim Rohbau üblich sind. Dieser Anspruch an die Detailgenauigkeit hat Sobek zum begehrten Partner von Architekten wie Helmut Jahn, Christoph Ingenhoven oder Renzo Piano werden lassen.

So zukunftsweisend die Technik auch ist, das Glashaus selbst ist eine 50 Jahre alte Erfindung der Moderne. Das berühmteste, das Farnsworth-Haus auf einem waldigen Grundstück unweit von Chicago, entwarf Ludwig Mies van der Rohe 1946 als einen lichtdurchfluteten Kasten, kunstvoll proportioniert und ebenso feinfühlig auf die ihn umgebende Auenlandschaft bezogen. Drei Jahre später errichtete Philip Johnson mit seinem gläsernen Wohnhaus in New Canaan einen weiteren programmatischen Bau für das Wohnen im modernen Amerika - und eine Hommage an Mies van der Rohe. Doch die Verwendung industriell hergestellter Materialien bereitete diesen Baumeistern und den Bewohnern bald Sorgen: Die Häuser waren im Sommer überhitzt, und im Winter überzogen sich die Fenster mit Eisblumen. Die damals neuen Werkstoffe wie grossflächige Glastafeln, Stahlprofile und anodiertes Aluminium hielten nicht, was sie versprachen. Das Programm des Funktionalismus war eine Vision, keine Realität - und so musste die Prophezeiung erst nach und nach durch eine unter Zugzwang geratene Bauindustrie erfüllt werden. Sobek geht es bei seinem Haus nicht um die technisch perfekte Umsetzung von Mies' Ideen. So deutlich es in der Tradition von moderner Ästhetik und technischem Innovationsdrang steht, so sehr will es in dieser Entwicklung weiter voranschreiten: Die minimale Form vermag es nur zu zitieren; die Technik aber revolutioniert es.


Blick in die Zukunft

Sobeks Haus ist seine ganz persönliche Vision des heutigen Wohnens. Manch einem Besucher wird der gläserne Schrein voll technischer Sensationen einen Blick in die Zukunft offenbaren. Doch der Hausherr ist längst einen Schritt weiter und experimentiert derzeit mit Fasertechnologie, um einen Ersatz für Beton zu finden, einen nach Sobeks Ansicht völlig veralteten Baustoff, der immer wieder Probleme bei der Verschalung verursacht. «Viele denken, das muss so sein. Ich aber bin der Meinung, dass das nicht so sein muss», gibt sich Sobek kämpferisch. Erstmals will er nun gefaltete Stoffe für die Fassade eines Pavillons verwenden, der sich in seinem futuristischen Kleid auf der Expo 02 in Biel präsentieren wird.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.08.31



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Glashaus «R 128»

17. August 2001Johann Christoph Reidemeister
Neue Zürcher Zeitung

Herausgeputzt

Das IG-Farbenhaus von Hans Poelzig

Das IG-Farbenhaus von Hans Poelzig

Der 1869 geborene Architekt Hans Poelzig liebte die grosse Form. Gewaltige Volumina türmte er in klaren Geometrien auf. Manchmal milderte er sie in einem orientalischen oder gotischen Stil etwas ab, doch meistens liess er sie in aller Reinheit hervortreten. Mit Kuben, Würfeln, Zylindern und Oktogonen deklinierte er Bauaufgaben vor allem für Industrie, Handel und Verwaltung durch. Ein wegweisendes frühmodernes Werk hat er mit ihnen geschaffen. Alle seine Häuser wirken robust und irgendwie zeitlos. Die soeben abgeschlossene Restaurierung des denkmalgeschützten IG-Farbenhauses in Frankfurt am Main macht jetzt Qualitäten und Grenzen dieser Architektur erneut erfahrbar. Von 1928 bis 1930 entstand die Zentrale des damals grössten Wirtschaftskonzerns Europas im Stahlskelettbau mit vorgehängten Travertinplatten. Der in einem langen Bogen durch den Grüneburgpark gezogene Riegel bot 2500 Menschen einen Arbeitsplatz. Das Haus streckt sich der Sonne entgegen. Alle Räume sind nach Süden orientiert, die 250 Meter langen Flure und die Treppenhäuser der Quertrakte nach Norden.

Nach vollendeter Tat sind nun die brünierten Bronzetüren zu den Treppenhäusern wiederhergestellt und ebenso die schweren Aufzugstüren in goldgelber Bronze. Die mit Holzfurnieren komplett ausgelegten Konferenzräume wurden sorgsam renoviert. Die Wände des Vestibüls, das von zwei breiten Treppen in leichter Bewegung umfasst wird, ziert der originale rosafarbene Marmor. Darüber schimmert eine Decke aus Aluminium. Es besteht kein Zweifel: Hier hat eine vorbildliche Restaurierung stattgefunden mit Wissen um die Historie des Ortes und Einfallsreichtum in der Angleichung alter Ziele an heutige Standards. Ende Oktober soll der Bau von Bundespräsident Johannes Rau offiziell eingeweiht werden. Seine Nutzerin, die Johann-Wolfgang-Goethe-Universität, ist schon eingezogen.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.08.17

04. Mai 2001Johann Christoph Reidemeister
Neue Zürcher Zeitung

Bewohnbare Mutanten

Eine Ausstellung in Berlin

Eine Ausstellung in Berlin

NOX ist kein reguläres Architekturbüro. Es ist ein Medienlabor. Die Architektur ist nur ein Ausdrucksmittel. Dazu kommen Videos, Zeitschriften, Websites und Installationen. Das lässt sich gegenwärtig in der Berliner Galerie Aedes West erleben. Zu sehen sind dort nämlich bis zum 23. Mai fünf Projekte des niederländischen NOX-Gründers Lars Spuybroek. Eine eindrucksvolle Demonstration konzeptueller Entwurfspraxis auf der Höhe des aktuellen Architekturdiskurses ist das. Etwa der «D-Tower», eine an einen Fragebogen im Internet gekoppelte Konstruktion, die sich entsprechend den Gefühlen der Befragten wandelt. Oder die geschwungenen Formen der Wohnhäuser in «Off the Road - 5 speed», die sich aus der Schallentwicklung der angrenzenden Autobahn ergeben. Spuybroek hat hier Bewegung in Architektur übersetzt. Eine Entwurfstechnik, die die Nähe zum Dekonstruktivismus offenbart. Doch wo dieser bisher unreflektierte Dynamik aus einer schal gewordenen Ordnungslogik herausfilterte und sie in Formexplosionen zelebrierte, schwellen Spuybroeks Gebäude ungebremst entlang computersimulierter Kräfte. Spuybroek versucht den alten Gegensatz zwischen Natur und Kultur aufzuweichen. Der Computer als demiurgischer Automat, der die ihm eingegebenen Daten in einer Endlosschleife permutiert, ersetzt den zeichnenden Architekten als Formfinder. Die quellenden Formphantasien von NOX sind wohl für das Gen-Zeitalter das, was Le Corbusiers «Wohnmaschinen» für das mechanisch-technische Zeitalter waren: eine Symbolform, in der sich Technik, Träume und Traumata der Gegenwart abbilden.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.05.04

05. Januar 2001Johann Christoph Reidemeister
Neue Zürcher Zeitung

Wohnen in Zwischenräumen

Wie soll Architektur aussehen, wenn die Stadt immer weiter wächst und Raum immer knapper wird? In den unüberschaubaren Stadtagglomerationen Japans hat eine junge Generation von Architekten zu beeindruckenden Lösungen gefunden, deren Entstehung gegenwärtig im Bauhaus-Musterhaus von Georg Muche in Weimar präsentiert wird.

Wie soll Architektur aussehen, wenn die Stadt immer weiter wächst und Raum immer knapper wird? In den unüberschaubaren Stadtagglomerationen Japans hat eine junge Generation von Architekten zu beeindruckenden Lösungen gefunden, deren Entstehung gegenwärtig im Bauhaus-Musterhaus von Georg Muche in Weimar präsentiert wird.

Anfang September war es wieder so weit: Die Tokioter Strassen und Plätze füllten sich mit Menschen. In den Schulen krochen die Kinder unter die Tische oder verschwanden unter viel zu grossen Brandschutzhüten. Die alljährliche Probe des Ernstfalles führt den Bewohnern Tokios vor Augen, dass schon morgen das eigene Haus, die Wohnung und die Stadt drumherum in Schutt und Asche liegen könnten. Die Übung findet immer am 1. September statt, denn im Jahr 1923 erschütterte an diesem Tag ein Erdbeben der Stärke 7,9 auf der Richter-Skala die japanische Hauptstadt. 145 000 Menschen kamen in ihren Häusern ums Leben. Es war die verheerendste Erdbebenkatastrophe in der japanischen Geschichte. Doch niemand weiss, wann das nächste grosse Beben kommt. Nur dass es kommt, gilt als sicher.

Bauen in den erdbebengefährdeten urbanen Zentren Japans heisst, Architektur auf unsicherem Boden zu errichten. Es heisst aber auch, eine architektonische Antwort auf einen nach europäischen Standards völlig unstrukturierten Stadtraum ohne Mittelpunkt formulieren zu müssen, auf ein dichtes Gestrüpp aus blinkenden Reklametafeln, Symbolen und Überlandkabeln. Wie eine solche Architektur aussehen könnte, zeigt derzeit eine kleine, aber sehenswerte Ausstellung im Bauhaus-Musterhaus von Georg Muche in Weimar. Sie gibt einen Überblick über die jüngsten Beispiele kleiner Einfamilienhäuser in Japan. Der Münchner Architekt Hannes Rössler hat hier sechs Modelle von Minihäusern aufgestellt. Sie dokumentieren gebaute Ideen zum Wohnen in der Enge - das kleinste Haus erhebt sich über einer Fläche von nur 30 Quadratmetern! Das städtische Umfeld und die innere Gestaltung dieser Häuser kann der Besucher per Computeranimation erkunden.

Das von der Architektengruppe FOBA errichtete Haus «Aura» füllt zum Beispiel den Platz einer drei Meter breiten und zwanzig Meter tiefen Gasse. Zu beiden Seiten des Grundstücks wurden Stahlbetonwände errichtet und dazwischen zwei Etagen eingehängt. Um Tageslicht in die Mitte des Hauses zu bringen, wurde das Dach transparent gehalten. Eine milchig-trübe Fiberglasmembran haben die Architekten an der Fassade von Wand zu Wand gespannt. Sie setzt so das Gebäudeinnere rund um die Uhr den wechselnden Lichtverhältnissen aus. Nachts glüht das Haus von innen heraus, beleuchtet die Strasse und unterhält die Passanten durch die sich auf der Fassade abzeichnenden Körper der Bewohner. Ein Schattenspiel des Alltags ist da im Gange, das selbst Intimitäten nach aussen projiziert. Andersherum erzählt die Stadt mit ihren Lichtern die Geschichte vom metropolitanen Leben noch im letzten Winkel des Hauses, sobald in ihm das Licht ausgeht.

Das junge Team definiert mit dieser ungewöhnlichen Fassade die Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit neu, indem es ein weiches Verschmelzen beider Pole, eine eher soziale denn architektonische Grenzziehung zwischen Innen und Aussen vorschlägt. Mit derselben fliessenden Offenheit erschliesst Jun Tamaki das Innere seines «Hakama»-Hauses. Was nach aussen an einen epigonenhaften Verschnitt der blendend weissen Kisten der Moderne gemahnt, stellt sich im Inneren als eine stille Raumkomposition heraus. Um eine zentrale Halle sind alle Räume angeordnet und von ihr nur durch Vorhänge aus Stoff getrennt. Eine sinnliche Architektur ist das, die sich dem weichen Fluss von Licht und Geräuschen nicht in den Weg stellt. Zur Aussenwelt hin herrscht dagegen wehrhafte Abschottung: Die wenigen in Trichterform tief in die Mauer gegrabenen Fensteröffnungen wechseln mit schmalen schiessschartenartigen Schlitzen. Das Ausblenden der Umgebung ist ein Moment, das oft neben der programmatischen Offenheit existiert. Diese architektonische Geste will mit aller Deutlichkeit zeigen, dass der der Stadt abgerungene kleine Raum für das Wohnen erhalten bleiben soll.

Der Nicht-Ort, an dem entlang alle diese Häuser ihren Platz gefunden haben, heisst Sukima. Sukima steht für «Spalte» oder «Ritze». Durch die japanische Bauverordnung hat dieser kleine Zwischenraum eine ungeheure Dimension bekommen: Um zu verhindern, dass bei Erdbeben einstürzende Baumassen benachbarte Häuser mitreissen, lässt man zwischen allen Häusern einen Spalt unbebaut. Die neuen Minihäuser bemächtigen sich dieser weissen Flecken auf der Stadtkarte. Etwa das «Moca»-Haus des Ateliers Bow-Wow, dessen obere Etagen nur über die in der Spalte aufsteigende Treppe zu erreichen sind. Sukima - das Bauen in der Ritze - könnte zum Schlagwort für ein neues metropolitanes Lebensgefühl werden, für ein Wohnen, das sich im 21. Jahrhundert einzurichten versucht. Sukima als gesuchter neuer Lebensraum überall dort, wo es vorher keinen Platz mehr zu geben schien.


[Bis 21. Januar. Katalog: Minihäuser in Japan. Verlag Anton Pustet, Salzburg 2000. 64 S., DM 30.- in der Ausstellung. ]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.01.05

01. Dezember 2000Johann Christoph Reidemeister
Neue Zürcher Zeitung

Die dekorierte Platte

Nach einem schwierigen Start in den zwanziger Jahren und einem Boom in der Nachkriegszeit rangierte sich der Plattenbau in den letzten Dezennien aufs Abstellgleis. Doch heute erlebt das Bauen mit grossen Fertigteilen eine neue Blüte. Zwei exzentrische Projekte veranschaulichen das baukünstlerische Potenzial des Plattenbaus.

Nach einem schwierigen Start in den zwanziger Jahren und einem Boom in der Nachkriegszeit rangierte sich der Plattenbau in den letzten Dezennien aufs Abstellgleis. Doch heute erlebt das Bauen mit grossen Fertigteilen eine neue Blüte. Zwei exzentrische Projekte veranschaulichen das baukünstlerische Potenzial des Plattenbaus.

In seiner beruflichen Anfangszeit habe die Architektenschaft immer noch geglaubt, die bautechnischen Realitäten mit verniedlichenden Fassaden retuschieren zu müssen. Verschlafen habe sie die Entwicklung des industriellen Bauens, verschlafen die Chance, der Vorfabrikation einen frühen, vom Architekten gelenkten Start zu verschaffen. Zu fein sei man sich gewesen, gegen das visuelle Analphabetentum der Massen vorzugehen, und habe es vorgezogen, sich auf Kulturinseln zu flüchten. Solche Kurzsichtigkeit sei nun mit «dem hässlichen Anblick schäbiger Minimal-Behausungen der Spekulanten» belohnt worden und der Einstieg in eine architektonisch wertvolle Vorfabrikation verpasst, polterte Walter Gropius vor 35 Jahren in «Tradition und Kontinuität in der Architektur».

Gropius ist nur ein Beispiel unter den Modernen, die in der Vorfabrikation ein Mittel sahen, weite Kreise mit den Ideen vom Neuen Bauen in Kontakt zu bringen. Gedacht war sie von Anfang an als ein wesentlicher Beitrag zur sozialen Utopie. In der Aufbruchstimmung nach dem Ersten Weltkrieg wurde fieberhaft daran gearbeitet, das drängende Problem der Wohnungsnot zu lösen. Experimentiert wurde mit neuen Werkstoffen wie dem Beton. Viel versprach man sich von der rationalen Baustelle, auf der effektiver montiert und organisiert werden sollte. Schnelleres, billigeres Bauen war das Ziel. Der Traum vom Haus aus der Fabrik, wie ihn Le Corbusier hegte, war der Traum aller Modernen. Als eine Spielart industrieller Vorfabrikation etablierte sich früh die Plattenbauweise, bei dem ein Gebäude per Definition aus grossen, transportfähigen und montagefertigen Elementen meist aus Beton zusammengefügt wird.


Verkannt und verstossen

Trotz drängenden Aufgaben im Massenwohnungsbau lesen sich die frühen Versuche, dem Plattenbau auf die Beine zu helfen, wie eine Kette verunglückter Gutmütigkeiten. Letztlich scheiterten alle an der Unwirtschaftlichkeit zu geringer Bauvolumen oder zu hoher Transport- und Montagekosten. Hinzu kamen eine ablehnende Öffentlichkeit, die um ihr individuell gestaltetes Heim fürchtete, sowie alarmierte konservative Kreise, die der soziale Hintergedanke erschreckte. Der Segen über dem Projekt Plattenbau war ein dünner und es selbst ein ungeliebtes Kind, obwohl es doch nur allen das Allerbeste wollte.

Das endgültige Aus kam mit dem im Osten staatlich angeordneten Plattenbau im grossen Massstab, der die immanenten Gefahren dieses Bautypus ins Monströse steigerte. Die DDR etwa entwickelte mit dem WBS 70 ein einheitliches nationales Baukastensystem. Zweifellos hätten sich aus dem umfangreichen Teilekatalog einigermassen variable Lösungen entwickeln lassen, doch dem standen städtische Sparmassnahmen entgegen. Zudem wurden die meisten Plattenbauten als Trabantenquartiere an den Stadträndern errichtet, da die Kranmontage und die Anlieferung sperriger Elemente grosse Bauplätze erforderte. Resultat waren Bausünden übelster Sorte, mit deren sozialen Folgen noch heute gerungen wird. Aus technokratischen Architekturküchen brodelte ein neuer Superfunktionalismus empor, der die maximale Entmythologisierung der Welt und die totale Abstumpfung des Menschen generierte. Alle Vorbehalte gegenüber standardisiertem Bauen waren hier Wirklichkeit geworden, das Projekt Fertighaus gründlichst desavouiert.

In dieser Wüste der zu feinem Schutt gemahlenen Hoffnungen keimt neuerdings wieder Unbefangenheit im Umgang mit Plattenbauelementen, als hätte deren desaströse Vorgeschichte nie stattgefunden. Fast scheint es, als kämen ihre Vorzüge unter der wesensgerechteren Behandlung, die sie kürzlich in einigen Projekten erfahren haben, nun erstmals zu voller Geltung. Die wohl entschiedenste Neuerung besteht darin, dass nicht auf einen reduzierten Formenkatalog einer vorab registrierten, gestapelten und versandfertig gemachten Platte zurückgegriffen wird, sondern den frei entwickelten Entwürfen individuelle Fertigbauteile nachträglich angepasst werden. Spektakulärstes Beispiel für diesen Paradigmenwechsel ist der kürzlich fertiggestellte Neue Zollhof von Frank O. Gehry in Düsseldorf (NZZ 20. 5. 99). Dessen mittlerer Turm ist ein konstruktiver Zwitter aus Ortbeton- und Fertigteilbauweise. Während Decken und Stützen aus Stahlbeton in Ortbetonbauweise errichtet wurden, entschied man sich bei den Aussenwänden für Stahlbeton in Fertigteilbauweise. Nach aussen wird das nicht sichtbar, denn um den Bau wirbelt ein glitzerndes Fassadenkleid aus polierten Edelstahlpaneelen. Sie sind den 355 unterschiedlich geformten, geschosshohen und vorgefertigten Bauelementen vorgeblendet. Mit diesen Plattenbauteilen wurden die weich modellierten Wellen nachgebildet, die der kalifornische Architekt über die Aussenhaut seines Bauwerks fliessen lässt. Das Unikat Betonfertigteil war die wirtschaftlichste Lösung, diese Freiformflächen zu realisieren.

Eine gekrümmte Stahlkonstruktion hinter der Fassade wie bei Gehrys Guggenheim-Museum in Bilbao wäre hier aus bauphysikalischen Gründen gescheitert. Die Ausführung in Massivbauweise blieb der einzig gangbare Weg. Um die Fassadenelemente herzustellen, wurde ein neues, mittlerweile zum Patent angemeldetes Verfahren entwickelt: Zuerst wird die Wand im Computer modelliert, in einem zweiten Schritt berechnet er die Negativform, um diese anschliessend mit einer computergesteuerten Fräse aus einem Styroporblock herauszuschneiden. Die Schalform wird mit Bewehrung versehen und mit Beton ausgegossen. Das fertige Element wird zum Bauplatz transportiert und dort an der vorgesehenen Stelle montiert. Auch wenn überschwängliche Kritiker jubilieren, mit dieser Technik sei der Fordismus in der Architektur ebenso überholt worden wie der Irrglaube, ein Gebäude würde mit zunehmender Standardisierung immer billiger, und obwohl dem Computer tatsächlich egal ist, ob er kantige oder geschwungene Formen aus dem Styropor fräst: Die Kosten differieren ganz erheblich. Extravaganz hat auch weiterhin ihren Preis, und wieso sollte es überhaupt anders sein?


Hängende Gärten

Seinen neu errichteten Wohnungsbau Château Le Lez in Montpellier nennt der französische Architekt Edouard François «das spriessende Gebäude». Dessen Fassade besteht aus der wohl ungewöhnlichsten Plattenbauweise, die sich denken lässt: der sich selbst begrünenden Felsplatte. Mit seiner Idee schlägt der junge Architekt den Weg zurück in eine Zeit ein, in der noch in Höhlen gehaust wurde. Der Weg dorthin führt über das auf der Baustelle vorgefertigte grosse Fertigbauteil. Dieses besteht bei François neben der üblichen Betonwand aus einem mit ihr verflochtenen Drahtkorb voller Bruchsteine der Region. Durch dieses Fassadengeröll wachsen spärliche Pflänzchen aus der Familie der Sukkulenten. So jedenfalls will es die Baubeschreibung. Das bisschen Wasser, das sie zum Leben brauchen, ziehen sie aus eingeschlossenen Filzlappen und hydrophilem türkischen Lavakies. Ziel ist, das Apartmenthaus in üppiger Vegetation einwachsen zu lassen.

Der neueste Umgang mit der Platte zeugt von Phantasie. Ausgangspunkt des Bauens mit grossen Fertigbauteilen ist nicht mehr der verbissene Versuch, ein modulares System zu entwickeln, das beliebig jeder Situation übergestülpt wird. Die Platte wird vielmehr nur partiell zur Fassadengestaltung eingesetzt. Das übrige Gebäude wird im Ortbetonbau errichtet. Nicht mehr konstruktive Überlegungen leiten das Interesse am Fertigbauteil, sondern ästhetische. Denn der Griff nach der Platte steht jetzt erst am Ende eines individuellen Architekturentwurfs, der sich nur zu oft mit der bohrenden Kostenfrage konfrontiert sieht und künstlerische Ansprüche per Plattenvorfabrikation in das gebaute Resultat hinüberrettet. Verblüffend sind die neusten Versuche in ihrer unerwarteten Formvielfalt. Gänzlich unterschiedlich sind die erzielten Effekte an den Fassaden, die von felsiger Grobheit bis hin zu einem ephemeren Hauch aus Stahl reichen. Einer jedenfalls wäre überrascht: Denn dass sich der Moderne-Prophet Gropius an Platten hängende Gärten vorstellte, als er das architektonische Publikum beschimpfte, die ästhetischen Möglichkeiten des pre-fab nicht einmal vermutet zu haben, ist so gut wie ausgeschlossen.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2000.12.01

07. September 2000Johann Christoph Reidemeister
Neue Zürcher Zeitung

Strahlende Konstrukte

Nachdem das Bauhaus 1933 von den Nazis geschlossen worden war, machten sich seine Protagonisten auf die Suche nach einer neuen Heimat. Amerikanische Förderer wie der MoMA-Direktor Alfred Barr oder der Kunsthistoriker und heutige Architekt Philip Johnson verhalfen den Bauhäuslern zu einem neuen Start in ihrem Land. Die Resultate ihres Schaffens zeigt jetzt eine Ausstellung im Essener Folkwang-Museum.

Nachdem das Bauhaus 1933 von den Nazis geschlossen worden war, machten sich seine Protagonisten auf die Suche nach einer neuen Heimat. Amerikanische Förderer wie der MoMA-Direktor Alfred Barr oder der Kunsthistoriker und heutige Architekt Philip Johnson verhalfen den Bauhäuslern zu einem neuen Start in ihrem Land. Die Resultate ihres Schaffens zeigt jetzt eine Ausstellung im Essener Folkwang-Museum.

Plötzlich waren sie da. Standen oben an den Hängen Neuenglands, sahen fremd, streng und strahlend weiss aus, als hätte man sie irgendwo im calvinistischen Holland oder in den Kiefernwäldern um Dessau aus ihrer Verankerung gerissen und hierher verfrachtet. Man muss sich die Verwunderung der Bewohner von Lincoln, Massachusetts, vorstellen, die damals auf den lehmigen Wegen am Ufer des Walden Pond entlang fuhren und plötzlich vor den neuen Villen von Walter Gropius standen: keine Holzverkleidung, keine Giebel mehr, sondern blendend weisse Kisten, so karg, als seien sie Haus gewordene Ideen, utopische Traumgebilde. Die ersten Angriffe auf den Baumeister dieser futuristischen Visionen liessen nicht lange auf sich warten: Eine Harvard-Professur habe der Mann, und dennoch sei ihm nicht über den Weg zu trauen. Er bewohne ein «ultramodernes Haus», in dessen Keller Munition, Maschinengewehre und Bomben gelagert seien. Und überhaupt: Man habe gerade den Film «Confessions of a Nazi Spy» gesehen, und da schliesse sich doch wohl jeder Zweifel von selbst aus! So steht es jedenfalls in seiner Akte.

Der Mann, Walter Gropius, war Gründer des Bauhauses in Weimar und ab 1937 Emigrant in den USA. Unter Spionageverdacht geriet er wie andere Deutsche auf der Flucht. Erst wurde er als Nazi bespitzelt, dann als Kommunist. Das FBI führte seine Akte 20 Jahre lang. Ihm und den anderen Bauhäuslern schlug in Amerika eine antideutsche Stimmung entgegen. Als «alien» wurde von vielen aber auch die von ihnen mitgebrachte Architektur ausgegrenzt, die die Bautraditionen des Landes mit Füssen trat. Fremdartigkeit und Extremismus warf man ihr vor.

Dass das Bauhaus trotz diesen Hindernissen zu einer amerikanischen Erfolgsstory wurde, zeigt derzeit eine Ausstellung im Essener Folkwang-Museum. Sie hat zusammengetragen, was von den Bauhauskünstlern bis in die späten sechziger Jahre hinein geschaffen wurde. Architektur, Möbel, Gewebe, graphische Entwürfe und Gemälde werden als gleichberechtigte Elemente einer auch in Amerika unverändert ganzheitlichen Bauhauskosmologie vorgestellt. Strahlendes Signet dieses Kunstverbundes im Exil bleiben etwa die Villen Marcel Breuers, vor allem aber die Hochhäuser Ludwig Mies van der Rohes, die sich in die Skylines von Chicago bis New York so unübersehbar eingereiht haben und dort so folgenreich Schule machten, dass selbst noch in den achtziger Jahren ein Autor wie Tom Wolfe dagegen anschreiben zu müssen glaubte.

Den interkulturellen Austausch zwischen den Bauhausmeistern und ihren amerikanischen Schülern nachzuzeichnen, den Kulturtransfer von Deutschland nach Amerika und wieder zurück, hat sich die New Yorker Kuratorin der Schau, Margarita Tupitsyn, vorgenommen. Doch es gelingt ihr nicht ganz. Mit 350 ausgestellten Objekten verliert sich die Ausstellung zwischen museologischer Megalomanie und konzeptueller Kurzatmigkeit. So begegnet man etwas überraschend auch Robert Rauschenberg, der ein Jahr bei Josef Albers am Black Mountain College Quadrate malte, nur um dann doch zu machen, was er wollte: in ein Auto einsteigen und damit Reifenspuren auf das am Boden weitflächig ausgelegte Papier zu setzen. Ausdruck einer in den fünfziger Jahren schon nicht mehr ganz neuen Maschinenästhetik? Die Schau gibt darauf keine Antwort.


[Bis zum 12. November im Folkwang-Museum Essen. Katalog: Bauhaus. Dessau - Chicago - New York. DuMont-Verlag, Köln 2000. 300 S., DM 49.80 in der Ausstellung.]

Neue Zürcher Zeitung, Do., 2000.09.07

04. April 2000Johann Christoph Reidemeister
Neue Zürcher Zeitung

Eine Stadt stockt auf

Nach dem Krieg bemühte sich Frankfurt vergeblich, Hauptstadt der Bundesrepublik zu werden. Statt dessen entwickelte sich die Stadt zum wichtigsten Finanzplatz auf dem europäischen Festland. Zum architektonischen Signet wurde das Hochhaus. Nun sollen 18 neue Wolkenkratzer die bisher eher isolierten Einzeltürme zu einer Skyline nach amerikanischem Vorbild verdichten.

Nach dem Krieg bemühte sich Frankfurt vergeblich, Hauptstadt der Bundesrepublik zu werden. Statt dessen entwickelte sich die Stadt zum wichtigsten Finanzplatz auf dem europäischen Festland. Zum architektonischen Signet wurde das Hochhaus. Nun sollen 18 neue Wolkenkratzer die bisher eher isolierten Einzeltürme zu einer Skyline nach amerikanischem Vorbild verdichten.

Als Frankfurt 1923 sein erstes Hochhaus bekam, da war es Siegfried Kracauer, der in nicht weniger als sechs Artikeln gegen Bedenken der Öffentlichkeit anschrieb. Der von Fritz Voggenberger im damals gängigen expressionistischen Stil als kantiger Keil konzipierte rote Backsteinbau, der in Hans Kollhoffs Hochhaus am Potsdamer Platz weiterzuleben scheint, wurde in den achtziger Jahren gesprengt. Mit zurückgesetzter, stumpfwinklig geknickter Schaufassade und abgetrepptem Übergang zu den umliegenden Häusern markierte der Turm das Ende einer Sichtachse. Gleichzeitig war er städtebaulich geschickt in die Blockrandbebauung integriert. Einwände gegen die ungewohnten Dimensionen versuchte Kracauer mit dem Hinweis auf diese urbanistischen Qualitäten zu zerstreuen: Ein neues Wahrzeichen sei das, eine künstlerische Bereicherung, ein Gewinn für die Stadt in jeder Hinsicht.

Die Zeiten, in denen ein Hochhaus aus städtebaulichen Gründen ausdrücklich gewünscht wurde, sind am Main schon lange vorbei. Zu laut hallen noch die Sprechchöre feministischer Hochhausgegnerinnen («Da ist schon wieder so ein Pimmel, der verdunkelt unsern Himmel!») in den Ohren der Frankfurter; und zu unangenehm sind noch die Erinnerungen der Stadtväter an Hausbesetzer und Demonstranten im Westend der sechziger Jahre. Die Stadtplanung jedenfalls sieht sich immer noch in Erklärungsnöten, wenn erneut Investoren und Architekten die 200-Meter-Marke im Frankfurter Himmel anpeilen, und das besonders dann, wenn - wie jetzt im Falle des 1957 von Udo von Schauroth entworfenen Zürich-Hochhauses (NZZ 30. 6. 98) - Hochhäuser der ersten Generation für neue Projekte geopfert werden. Mangelndes Geschichtsbewusstsein und kalkulatorische Bedingungslosigkeit der bauenden Privatwirtschaft zeigen sich daran, dass selbst dem Denkmalschutz die Hände gebunden sind.


Öko-Hochhäuser

Mitten hinein in diesen Interessenstreit landete Norman Foster einen Coup, indem er 1997 mit seiner Commerzbank den «ersten ökologischen Wolkenkratzer der Welt» präsentierte. Schlagartig war nun alles anders: Bei Foster bekam jeder ein Fenster, eines, das sich dank doppelter Fassade auch im 60. Stock öffnen lässt. Die Kosten für Licht oder Klimatisierung reduzierte er um 30 Prozent. Solche ökologischen Aspekte des in allen Details aufeinander abgestimmten Hauses veranlassten die Kritik, die Geburt eines neuen Bautypus zu proklamieren: die des europäischen Wolkenkratzers.

Die noch junge Tradition des Öko-Hochhauses schreibt nun die Landesbank Hessen-Thüringen mit ihrem kürzlich eingeweihten «Main Tower» fort. Im runden, 200 Meter oder 55 Geschosse hohen Glaskolben des Hamburger Architekten Peter Schweger sollen alle zu einem Platz mit Panoramablick kommen. Im egalitären Rund verbinden sich Programm und Ästhetik: alle Büros sind gleich geschnitten, die in Amerika zum Sport gewordene Angeberei mit den Eckbüros muss hier genauso entfallen wie die der Grundrissoptimierung geschuldeten fensterlosen Flurbüros. Fast scheint es, als ob hier der Wolkenkratzer als «sozialer Kondensator», wie ihn Alexander Pasternak 1926 visionierte, Wahrheit geworden wäre. Dafür sprechen das öffentlich zugängliche Restaurant im 53. Stock und die Aussichtsplattform darüber. Damit haben die Frankfurter nun endlich das so lang ersehnte «Portal zum Himmel» erhalten. Mit diesem ersten teilöffentlichen Wolkenkratzer Frankfurts beraubt Schweger ganz nebenbei die Hochfinanz eines ihrer Privilegien: den exklusiven Blick auf die weit unten flirrende Stadtkulisse. Der eigentliche Triumph des Architekten aber besteht in der baulichen Innovation der parallel zur Fassade aufklappbaren Fenster. Auch in 200 Meter Höhe kann mit dieser Technik jedes Büro individuell gelüftet werden. Die Nähe zu Natur und Stadt ist hier um eine Glashaut direkter gelungen als bei der Commerzbank.

Durch solche Bemühungen kann das Image des Wolkenkratzers aufpoliert und seine Umweltverträglichkeit vergrössert werden. Die Tatsache, dass das Wort vom Öko-Skyscraper ein Oxymoron der Marke Augenwischerei ist, vermögen sie aber nicht zu kaschieren. Jedes Hochhaus bietet auskühlenden Winden viel Angriffsfläche. Bei der Beheizung der Hochhäuser muss daher mit um 30 Prozent höheren Betriebskosten gerechnet werden. Zudem vergrössert ihr diffiziles Fundament die Aufwendungen um denselben Faktor. Ein Negativsaldo ist jedem Hochhaus somit gewiss. Man muss die Türme also wollen, denn trotz Öko-Label sind sie keine Niedrigenergiehäuser.


Gesinnungswandel

Der sich am Main abzeichnende Gesinnungswandel lässt sich schon an den Namen ablesen, mit denen die Riesen aus Stahl und Beton verniedlichend tituliert werden. Taufte man die verspiegelten Zwillingstürme der Deutschen Bank noch «Soll» und «Haben», so verspricht sich derselbe Konzern nun von «Max» ein lukratives Investment. Verspielt und selbstbewusst kommt dieses jüngste Hochhausprojekt Frankfurts daher. Es soll zwischen Junghofstrasse, Grosser Gallusstrasse und Neuer Mainzer Strasse die Wolken in 200 Meter Höhe kratzen. Der Hochhausentwicklungsplan «Frankfurt 2000», den die Stadt 1998 - angesichts von 18 Bauvorhaben privater Investoren - beim Frankfurter Büro Jourdan & Müller in Auftrag gab, markiert denn auch an der Junghofstrasse «Wolkenkratzerpotential». Das wird die Deutsche Bank nach den Plänen des Büros Murphy Jahn umsetzen. Mit einem öffentlich ausgeschriebenen Wettbewerb wollte man Verantwortungsbewusstsein demonstrieren und dokumentierte doch nur privaten Machtanspruch: In der ersten Runde ausgeschieden, gelangte Jahns Entwurf mit offenkundigem Wohlwollen der Bauherrin doch noch auf das Siegerpodest. In der über organisch geschwungenem Grundriss ondulierenden Glassäule, die vor einem Monat im Modell präsentiert wurde, geht es kosteneffizient und möglicherweise auch «teilöffentlich» zu. Dieses Projekt wird das Seine zum Skyline-Effekt beitragen, der Frankfurts Erscheinungsbild immer mehr in die Nähe des amerikanischen Modells der konkurrierenden Marktteilnehmer rücken lässt.

Der Hochhausentwicklungsplan gibt sich da kryptisch: «Die Skyline muss auch die horizontale Wahrnehmung der Stadt positiv beeinflussen.» Ein Satz, der schwierig zu interpretieren ist. Mit hohlem Wortgeklingel wird versucht, über die Tatsache hinwegzureden, dass der Wolkenkratzer jede Stadtplanung negiert, weil er selber Stadt ist. Da wird nachhaltig Stadtentwicklung und innerstädtische Nachverdichtung betrieben und die Aufgabe darin gesehen, zu bündeln und zu streuen. Sicher, nur was denn und wohin? Mit gutgemeinten Vorschlägen und Appellen soll offensichtlich das Beste für die ohnehin abgeschriebene Stadtplanung herausgeholt werden. Dabei beginnt sich mit den neuen Resultaten privater Bauwut nun etwas einzustellen, das nicht herbeigeplant oder weggeredet werden kann: die Stadt erbaut sich eine Identität, setzt eine urbane Landmarke. Als metropolitanes Aushängeschild gedacht, betonierten die im Stadtraum verstreuten Hochhaussolitäre bisher nur die Lächerlichkeit des Misslingens. Doch mit der an Kontur gewinnenden Skyline über dem Main gibt sich jetzt die Grossstadt eine Fassade, die bald als das wirken könnte, was Alexander Mitscherlich mit Blick auf die von New York als «Psychotop» bezeichnete. Als seelischer Ruhepunkt stellt sie ein Stück der Selbstvergewisserung für den dar, der dieser Stadt mit verdankt, was er ist. Frankfurt ist auf seinem Weg in den Himmel ein gutes Stück weitergekommen.

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2000.04.04

15. März 2000Johann Christoph Reidemeister
Neue Zürcher Zeitung

Vorherrschaft des Plans

Innerhalb der niederländischen Nachkriegsarchitektur nehmen J. H. Van den Broek und J. B. Bakema eine zentrale Position ein. Zusammen leiteten sie in Rotterdam ein international einflussreiches Architekturbüro. Ihrer Entwurfsarbeit, die sich zwischen Architektur und Urbanismus bewegte, widmet das Nederlands Architectuur Instituut in Rotterdam eine grosse Ausstellung.

Innerhalb der niederländischen Nachkriegsarchitektur nehmen J. H. Van den Broek und J. B. Bakema eine zentrale Position ein. Zusammen leiteten sie in Rotterdam ein international einflussreiches Architekturbüro. Ihrer Entwurfsarbeit, die sich zwischen Architektur und Urbanismus bewegte, widmet das Nederlands Architectuur Instituut in Rotterdam eine grosse Ausstellung.

Vom Wilhelmina-Pier im Rotterdamer Hafen liefen einst die Schiffe der Holland Amerika Lijn (HAL) in Richtung Amerika aus. Der ganze Pier war bebaut mit Hallen und Verwaltungshäusern; und seit 1937 arbeitete das Architekturbüro Van den Broek und Bakema an den Plänen für einen neuen Passagierterminal. Doch das Projekt erfuhr durch den Krieg eine Verzögerung, so dass sich der zweigeschossige Sichtbetonbau mit den sechs markant geschwungenen, auf die Wogen des Meers anspielenden Dachwellen erst 1949 über dem Ufer der Maas erhob. Seither durchliefen die Reisenden eine fordistisch durchorganisierte Abfertigungsmaschinerie, die noch vor dem Ablegen auf die Modernität und Effizienz Amerikas einstimmte und die ersehnte Ferne gewissermassen schon hier stattfinden liess.

Die Architekten bildeten die Richtung der Passagierströme vom Land zum Wasser in quergelegten Hallen nach. Zu beiden Seiten füllt ein quadratisches Fensterraster die 18 Meter weiten Betonbögen. Die zwei Geschosse sind gegeneinander versetzt und lassen an den Längsseiten Arkaden oder einen als Reling geschmückten Vorsprung entstehen. Nach aussen bilden sie die funktionale Trennung ab: Im unteren Geschoss drehte ein Gepäckband seine Kreise, während die Passagierzone in den Hallen im ersten Stock untergebracht war, zu der eine freischwebende Betontreppe in pointierter Leichtigkeit hinaufführt. Der Purismus der weiss getünchten Wände, die Transparenz der Verglasung und die Stahlbetonkonstruktion lassen keinen Zweifel daran, dass dies kein Ort des Ankommens, sondern des Aufbruchs sein wollte.

Aufbruch in die Nachkriegsmoderne
Den Architekten dieses gebauten Sprungbretts in die Nachkriegsmoderne widmet derzeit das Nederlands Architectuur Instituut (NAI) in Rotterdam eine erste umfassende Retrospektive. Das Bild dieser Stadt haben Van den Broek und Bakema massgeblich mitgeprägt, besonders in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Das Bombardement durch die deutsche Luftwaffe im Mai 1940 zerstörte den Stadtkern Rotterdams bis auf wenige Gebäude. Im Rahmen des Wiederaufbaus entlud sich die seit dem Beginn des Jahrhunderts gewachsene Faszination für eine durchorganisierte moderne Welt, wie sie in J. J. P. Ouds Siedlungen schon in den zwanziger Jahren realisiert worden war, mit aller Wucht. Doch Wesen und Dimension der Planungen der Nachkriegszeit unterschieden sich deutlich von den ambitionierten frühen Projekten, bei denen architektonischer Gestaltungswille Hand in Hand mit sozialreformerischen Anliegen ganz neue Formen hervorbrachte.

Bei den Strukturplänen Van den Broeks und Bakemas schwebt dagegen fast immer ein organisatorischer Furor über einer Agglomeration von Betonbauten. Funktionalität und Sachzwänge wie Wohnungsnot und knappe Mittel führten zu einer Nüchternheit im architektonischen Anspruch, der bald schon zu seelenlosen Bettenburgen führte. Zuflucht vor der Bewältigung der drängenden Aufgaben suchten Van den Broek und Bakema nicht zuletzt im planerischen Schematismus. Ihre Baukörper gruppierten sie gemäss imaginierter geometrischer Gesetze zu abstrakten Beziehungskompositionen. Hohe und niedrige Häuser im Wechsel garantierten die kontrollierte Strukturierung der Bauaufgabe ebenso wie der Dialog zwischen bebauten und freien Flächen. Eine Art Piet Mondrian in Stahlbeton war das Resultat. Doch die Rechnung ging nicht immer auf, denn der Betrachter stand nicht vor einem Gemälde, sondern ging auf vorgezeichneten Wegen. Die feinen Balancen wandelten sich zu drückender Starre.

Der ab 1946 geltende Rotterdamer Stadtbebauungsplan von Van Traa ermöglichte es Van den Broek und Bakema, erstmals ihre Konzepte umzusetzen. Die von ihnen erbaute und schnell zu einer Ikone der Fünfziger-Jahre-Architektur avancierte Geschäftspassage entlang der «Lijnbaan» genannten Fussgängerzone stellte das neue Herz einer Zukunftsstadt dar und zugleich ein Modell für andere Städte Europas. Standardisierung und Vorfabrikation waren die Schlagworte einer Nachkriegsmoderne, die einer neuen Gesellschaft ihre Form geben wollte. Zweigeschossige Pavillons nehmen die 65 Geschäfte auf, die sich den Raum hinter den Fassaden aus vorgefertigten Betonelementen mittels variabel einziehbarer Backsteinmauern aufteilen. Arkaden, eingefasste Blumenbeete und eine gezielte Pflästerung bestimmen den Gesamteindruck. Büro- und Wohnraum erhalten ihre eigenen Gebäude, die sich hinter der Geschäftsstrasse auftürmen.

Den stadtstrukturierenden Wiederaufbau propagierten Van den Broek und Bakema in gross angelegten Projekten auch noch in den siebziger Jahren. Als «Stadtreparaturen» verliessen Vorschläge das Büro, die mit durchgehenden Superblocks entlang der Hauptverkehrsachse eine Spange in das Stadtgewühl warfen, die aber wie eine Mauer teilte, statt wie beabsichtigt zu einen. Die gigantischen Apartmentriegel waren Kerngedanke der an den Metabolismus erinnernden Kraftvisionen Bakemas, der mit ihnen im Gepäck umherreiste. Doch sie fielen alle durch, ob in Amsterdam, Berlin, Frankfurt, Tel Aviv oder Zürich. Niemand war mehr mit diesem Konzept zu beglücken. Der Vergleich mit dem HAL-Terminal oder den frühen Privathäusern, zumeist von Van den Broek, verdeutlicht die Trendwende innerhalb des Büros. Die architektonische Gestaltung individueller Bauaufgaben wurde zugunsten der Planung ganzer Städte aufgegeben.

Hermetische Ausstellung
Die Ausstellung konzentriert sich nicht immer zu ihrem Vorteil auf Arbeiten und Denken Bakemas. Das Werk Van den Broeks steht ebenso im Hintergrund, wie die Historie des Büros überhaupt unterschlagen wird. Nicht zwei gleichgesinnte Baumeister haben über dem Zeichenbrett zusammengefunden, sondern eine Abfolge wechselnder Partnerkonstellationen ergibt in Wirklichkeit eine Generationengeschichte höchster Brisanz. Die Rollen der Architekten-Paare besetzten nacheinander Brinkman, Brinkman & Van der Vlugt, Brinkman & Van den Broek, Van den Broek & Bakema. Die Chance, mit einer Betrachtung der vier Architekten zusammen nicht nur eine Chronik des Bauens in Rotterdam seit den zwanziger Jahren und den dominierenden Einfluss dieses Büros entwerfen zu können, sondern den Weg der Architektur des vergangenen Jahrhunderts von individueller Gestaltung zu zunehmend standardisierten Massenkonzeptionen nachzeichnen und daran den Konflikt zwischen architekturimmanenten Ansprüchen und gesellschaftlich bedingten Umständen erfahrbar machen zu können, wurde nicht wahrgenommen.

Statt dessen dokumentiert die Schau Entwürfe und Modelle, ohne sie in Problematik und Wollen der Zeit einzuordnen, so dass das ungeübte Auge an der Sparsamkeit vieler Arbeiten in Unverständnis und Desinteresse abzurutschen droht. Wer nicht bereit ist, sich der vielen offenen Fragen selbst anzunehmen, läuft Gefahr, ohne grossen Gewinn den Parcours durch die in erläuternden Gitterkäfigen untergebrachten und über luftige Rampen verknüpften Periodenräume wieder zu verlassen.

Johann Reidemeister

Die Ausstellung im NAI dauert bis zum 24. April. Der Katalog: Van den Broek en Bakema. 1948-1988. Architectuur en stedenbouw. Hrsg. Hans Ibelings. NAI Publishers, Rotterdam 2000. 203 S., hfl. 49.50.

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2000.03.15

29. September 1999Johann Christoph Reidemeister
Neue Zürcher Zeitung

Der Architekt als Plastiker

Die gebauten Formphantasien des kalifornischen Architekten Frank O. Gehry werden weltweit viel beachtet. Die Arbeitsweise seines Büros in Santa Monica ist dagegen kaum bekannt. Das Nederlands Architectuur Instituut in Rotterdam widmet sich zurzeit in einer Studioschau dem Entstehungsprozess dieser Architektur und dem Geheimnis ihrer schulbildenden Kraft.

Die gebauten Formphantasien des kalifornischen Architekten Frank O. Gehry werden weltweit viel beachtet. Die Arbeitsweise seines Büros in Santa Monica ist dagegen kaum bekannt. Das Nederlands Architectuur Instituut in Rotterdam widmet sich zurzeit in einer Studioschau dem Entstehungsprozess dieser Architektur und dem Geheimnis ihrer schulbildenden Kraft.

Nach den spektakulären Erfolgen, die der Architekt Frank O. Gehry mit seiner Baukunst in den letzten Jahren feiern konnte, liess die Frage nach den Anfängen nicht lange auf sich warten. In Rotterdam stellt das Nederlands Architectuur Instituut (NAI) mit einer Studioschau Gehrys Entwurfsstrategien im Kontext von Los Angeles vor - der Stadt, «in der die Freeways immer verstopft und alle Menschen im Showbusiness tätig sind». Dass sich über die Angelenos und ihre Stadt problemlos Hunderte von Seiten mit Sankt- Andreas-Graben-Katastrophen, Buschbränden und sozialen Unruhen füllen lassen, hat Mike Davis mit seiner Analyse «Ökologie der Angst» (NZZ 7. 9. 99) unlängst bewiesen.

In dieser Stadt der Engel genannten Hölle begann Gehry als Lastwagenfahrer, entschied sich für ihr Leben und ihre architektonische Anarchie. Nach abgeschlossenem Architekturstudium erkor er einen schlichten Backsteinkasten im Industriegebiet von Santa Monica zum Atelier. Dort entwarf er bald Gebäude, die nicht nur in seinen Augen aussahen «wie ein Rauschenberg»: Collagen aus Billigmaterial vom Baumarkt um die Ecke. Diese Architektur der Instabilität kam einer Ohrfeige gleich, die all jene traf, die mit weiss strahlenden Bungalows und niedlichen Walmdachhäuschen die Illusion einer geordneten Gesellschaft aufrechterhalten wollten. Sie trug Gehry das Etikett «Dekonstruktivist» ein und wurde für junge Talente zum Auslöser, nach Los Angeles zu gehen, um dort Architektur zu machen. Deshalb aber Gehry die Vaterschaft einer solchermassen zusammengewürfelten «LA School» zusprechen zu wollen, ist nicht zuletzt deshalb problematisch, weil sich Gehry von seinen Ursprüngen weit in eine vom Pop inspirierte Formensprache vorgewagt hat, um sich anschliessend zu einer organischen Expressivität zu steigern. Die Rotterdamer Gegenüberstellung mit den Arbeiten des Büros Morphosis als eines der wichtigsten Exponenten der «LA School» unterstreicht weniger die Seelenverwandtschaft als vielmehr Gehrys baukünstlerische Singularität.


Denken in Pappmodellen

Angesichts der Überfülle von Modellen, die im NAI auf Regalen scheinbar zufällig abgestellt sind und zwischen die aus Gründen der Authentizität rollenweise milchig trübes Zeichenpapier als Insignie des schöpferischen Chaos gestopft wurde, mag man sich fragen, ob hier nicht ein allzu nostalgisches Bild von Gehrys Entwurfsarbeit gezeichnet wird. Dessen fulminant ineinandergewirbelte Formexplosionen sind jedenfalls längst nicht mehr ohne spezielle Software zu planen, geschweige denn zu realisieren. Was, so mag der fragen, der sich inmitten der Pappexperimente nur schwer zurechtfindet und dem das geschäftige Rascheln in den für Besucher ausgelegten technischen Zeichnungen nichts erzählt, hat das alles mit dem architektonischen Entwurfsprozess heute zu tun? Hat nicht der Computer Zeichnen und Basteln aus den Büros verdrängt?

Nicht bei Gehry. Nach der für ihn so wichtigen Kontaktaufnahme mit dem Bauherrn und dem Ort hält er erste Ideen zeichnerisch fest. Schnell füllen Linien das Blatt. Mit seinem Stift scheint Gehry über das Papier zu hetzen, als gelte es, eine fliehende Idee einzuholen. Fast immer wird nicht mehr als die Atmosphäre festgehalten, in ungezählten Varianten allerdings. Hoffnungslos, hier mit ungeübtem Auge Gewichtverlagerungen erkennen zu wollen. Während die Zeichnungen die Gebäude von aussen zeigen, entwikkelt Gehry am Modell das Gebäude von innen heraus. Mittels Fragmentierung des Modells werden die räumlichen Beziehungen erforscht und in einer wahren Modellflut durchgespielt. Anhand der Modelle trifft Gehry seine Entscheidung, und erst dann werden technische Zeichnungen und Computeranimationen erstellt.

Je nach Stadium des Entwurfsprozesses bestimmt so jeweils ein Medium die Formfindung. Gehry selbst meidet jede Arbeit vor dem Bildschirm und bezeichnet sich als technologisch ungebildet. Dass er den Schwerpunkt auf das Modellieren von Architektur legt, beweisen die 90 Modellbauer in seinem 120 Mitarbeiter zählenden Team. Gedacht wird vorzugsweise in Pappe. Deren Qualitäten erfährt der Besucher, wenn er auf dem «Wiggle Side Chair» Platz nimmt, einem Kartonmöbel aus dem Jahr 1972. Natürlich ist auch dieser Sessel wie alles, was Gehry aus seiner Gestaltungswut heraus erzeugt, eine Grenzerfahrung. Das vermeintlich weiche Material ist zu einem massiven Klumpen Stabilität zusammengeleimt. Die aufgeschnittene und geknickte Wellpappe verbreitet ein Gefühl der Rastlosigkeit - als würde man in einem staubigen Umzugskarton sitzen. Damit vermittelt Gehry dem Platznehmenden das genaue Gegenteil dessen, was er gemeinhin mit Sitzen verbindet: Aufbruch statt des wohligen Gefühls, angekommen zu sein.


Tanz der Formen

Was aus der Arbeit an Geländemodellen hervorgegangen ist, kann als Sinnbild von Gehrys Genialität gelten. Ein Weg, Kontakt mit seinen Ideen aufzunehmen, ist der, den Tanz der Formen über Tische und Regale zu verfolgen. In der Schau von Kuratorin Kirsten Kiser ist zu sehen, was Gehrys Atelier noch nie verlassen hat. Selbst Entwürfe zu noch nicht beendeten Projekten wie der DG Bank am Pariser Platz in Berlin hat der Baumeister herausgegeben. Mit diesem unverstellten Blick in die Kreativküche des Studios vermittelt sich eine Auffassung vom Modellieren als der eigentlichen Tätigkeit des Architekten. Nur selten findet sich ein funkelnd glattes Präsentationsstück wie das in einer Plexiglasvitrine eingesargte Modell des Düsseldorfer Neuen Zollhofs. Statt dessen überwiegen Arbeitsmodelle, die ausnahmslos dem Suchen nach der Form und dem Experiment Gebäude dienen. Gezeichnet vom bildhauerischen Drang, alles zu verformen, stellen sie mehrmals auseinandergerissene und wieder geflickte Etappen auf dem Weg zum endgültigen Haus dar. Die Aufstellung solcher Arbeitsmodelle erzählt die Geschichte von Gehrys Formfindungsprozess, rückt sie in den Mittelpunkt und verweist die gebauten Resultate an den Rand einer tagtäglichen Emanation von Pappskulpturen.

«Wenn ich darüber nachdenke, wird mir klar, dass es die Entstehungszeit der Bauten ist, die mir wirklich Spass macht», meint Gehry. Durch all seine Projekte hindurch ist er an einer oft stürmisch-spielerischen Zusammenarbeit mit seinen Bauherren gewachsen. Vom Geschäftsmann Peter Lewis ist behauptet worden, dass er Gehrys Entwurfsarbeit über fünf Jahre hinweg finanzierte, nicht um ein Haus zu bekommen, sondern um eine Beziehung zu Gehry zu haben. Die Faszination Bauen steigert dieser um die spannungsreiche Interaktion mit seinen Auftraggebern. Im Falle Lewis sind so zwischen 1989 und 1995 Konzeptionen entstanden, die die Grundlage für Gehrys spätere Erfolge bildeten. Der zentrale Konferenzsaal der Berliner DG Bank ist ein solcher Direktimport aus den Überlegungen für Lewis. Durch die Konzentration der Rotterdamer Ausstellung auf die Entwurfsarbeit werden diese Zusammenhänge sichtbar. Unsichtbar aber bleiben die den Ideenfluss speisende Intuition und der labile Gleichgewichtssinn, auf den aufbauend ein solches Werk errichtet ist. (Bis 14. November)


[ Begleitpublikationen: Frank O. Gehry. The Architect's Studio: Hrsg. Kirsten Degel. Louisiana Museum of Modern Art, Humlebaek 1998. 128 S., hfl. 39.50. - Morphosis. Building and Projects. 1993-1997. Rizzoli-Verlag, New York 1999. Ohne Seitenzählung, hfl. 199.90. Die Morphosis-Ausstellung dauert noch bis zum 16. Januar 2000. ]

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 1999.09.29

17. Juni 1999Johann Christoph Reidemeister
Neue Zürcher Zeitung

New York im Delirium?

Zwei Wolkenkratzer räkeln sich im Bett. Die Bettdecke ist hinuntergestrampelt, die Nachttischlampe ist der Arm der Freiheitsstatue, und der Blick hinaus...

Zwei Wolkenkratzer räkeln sich im Bett. Die Bettdecke ist hinuntergestrampelt, die Nachttischlampe ist der Arm der Freiheitsstatue, und der Blick hinaus...

Zwei Wolkenkratzer räkeln sich im Bett. Die Bettdecke ist hinuntergestrampelt, die Nachttischlampe ist der Arm der Freiheitsstatue, und der Blick hinaus geht auf das Häusermeer Manhattans. So sieht das Logo zu einem Klassiker der Architekturtheorie aus: dem 1978 veröffentlichten «retroaktiven» Manifest «Delirious New York» von Rem Koolhaas, in dem der Einfluss metropolitaner Kultur auf die Architektur analysiert wird. Die erste Auflage von 15 000 Exemplaren war schnell vergriffen. Weil sie nicht wieder aufgelegt wurde, avancierte die holländische Raubkopie langsam zum Kultbuch. Nach 16 dürren Jahren ohne geregelten Lesenachschub hob die zweite Auflage im komplett neuen Layout, aber mit unangetastetem Text das Buch 1994 erneut ins Bewusstsein der interessierten Öffentlichkeit. Nun liegt es auch auf deutsch vor.

«Delirious New York» war das erste Buch, das Zugriff zu bekommen suchte auf eine urbane Gesellschaft mit den Eckpfeilern Konsum, Technologie, Instabilität und Verdichtung. Grundlegend neu war die Bejahung dieser dramatischen Veränderungen, die mit einer sich verdichtenden Stadt einhergehen. Letztlich aber war diese Bejahung eine programmatische: Denn die Verdichtung der Städte war nicht die Regel. Vielmehr verödeten die Stadtzentren zugunsten der Peripherie. In dieser Situation rief Koolhaas mit seinem Buch das Ideal der kompakten Stadt aus. Es markiert einen kritischen Punkt: die Emanzipation der Architektur und der Stadtplanung von dem gescheiterten Projekt der Moderne. Nicht mehr die staatlich gesteuerten sozialen Planziele, sondern marktorientierter Individualismus bildete nun die treibende Kraft. Koolhaas lässt sich von seiner Faszination gegenüber kraftvoller Urbanität treiben. Für jemanden, der der Metropole als einer «süchtig machenden Maschine» verfallen ist, drängt sich das New Yorker Hochhausdickicht geradezu auf. Es ist Resultat und Produzent von Dichte zugleich. Und so schillert das Faszinosum Manhattan in «Delirious New York» zwischen aufgetürmter Evidenz für eine «Kultur der Dichte» und einem Ort, an dem an neuen Lebensformen herumlaboriert wird. Das «nackt Austern essen mit Boxhandschuhen auf der n-ten Etage» ist dafür das berühmteste Beispiel.


Manifest

Koolhaas tritt an, um Manhattans Architektur als Paradigma für die Ausbeutung von Dichte vorzustellen. Vor dieser Kulisse handelt er Themen wie Städteplanung, Transport und Architektur ohne Architekten ab. Der Leser merkt schnell: Der Verweis zurück auf die gebaute Realität wie auch der geistreiche Versuch einer rückwirkenden Theorie ist nur historisierendes Verwirrspiel. Das eigentliche Manifest ist woanders zu suchen. Es liegt in der Zukunft, in unserer eigenen Gesellschaft mit ihren Problemen, für die New York nur der Anfang ist. 1811: der Entwurf für Manhattans Raster; 1853: die Erfindung des Fahrstuhls; 1865: die erste Bahn nach Coney Island. All das sind Wege, auf denen die metropolitanen Massen in ihrem Ausdehnungsdrang gelenkt werden. Das hat Folgen nicht zuletzt für die Architektur. Beim Wolkenkratzer treten Fragen der Komposition, der Proportion oder des Details in den Hintergrund. Die Fassadengestaltung kann nicht länger dem Inhalt des Gebäudes Ausdruck verleihen, weil dieser zu vielseitig geworden ist und sich ständig verändert. Die Kontrolle mittels der architektonischen Geste geht verloren. Nicht nur der Architekt ist hier machtlos, auch von der Stadt verabschieden sich solche Gebäude und machen sich unabhängig vom urbanen Gewebe.

Die herausragende, noch heute faszinierende Qualität des Buches liegt in der gekonnten Verknüpfung mehrerer Ebenen. Nur implizit verweist Koolhaas auf die Folgen seiner Entdeckungen. Im Vordergrund steht eine Sprache, die ihr Tempo mittels Verkürzung immer weiter zu steigern weiss und in einer rasanten Achterbahnfahrt Themen nur anreisst. Die Fülle der Eindrücke lässt den Leser taumelnd die Verdichtung der Themen zu einer These selbst erfahren. Auf diese Weise brennt Koolhaas ein propagandistisches Feuerwerk der Extraklasse ab. Der einstige Drehbuchautor und Filmer benutzt die Bühne Manhattan, um virtuos mit Sprache, Dramaturgie und Inszenierung herumzuwirbeln. Auch seine journalistischen Erfahrungen kommen dem Buch in den knappen und pointierten Situationsbeschreibungen zugute. Es besteht letztlich aus nichts anderem als einer Aneinanderreihung von Zeitungsmeldungen. Von reichlich Bildmaterial begleitet und ohne einen Gedanken, der mehr als zwei Seiten beansprucht, lädt das Buch - im Einklang mit der Formel «form follows function» - zum Zappen ein. Hier wird vorgemacht, was im Nachfolgewerk «S, M, L, XL» von extra engagierten Layoutspezialisten professionalisiert und von Eleven wie MVRDV in ihren Theoriestücken gierig kopiert wurde. Die Neubestimmung des Mediums Buch als Ort ineinandergreifender Bild- und Textgeschichten.


Drangvolle Dichte

Ein solches Gewebe von Sprachraffinement ins störrische Deutsch giessen zu wollen, ist von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Wer alle Ebenen des Buches geniessen will, muss also bei der englischen Fassung bleiben. Treffsicher wurde allerdings Berlin als redaktioneller Sitz der langjährigen und holprig verlaufenen Übersetzungsarbeit gewählt. Denn hier sind die Anfänge Koolhaasschen Theoretisierens zu lokalisieren. Der 27jährige Student der Londoner Architectural Association wählte für seine Abschlussarbeit nicht so angenehme Themen wie die Villen Palladios oder das griechische Bergdorf, sondern machte sich auf den Weg in die geteilte Stadt. Die vermauerte Topographie Berlins gab ihm Gelegenheit, mit der Nachkriegsbauweise abzurechnen. Die Mauer selbst wurde ihr Sinnbild: Grausam und ausgebrannt, rief sie nichts als Verzweiflung, Hass und Frustration hervor. Nur die Resignation der Zurückgelassenen blieb übrig.

Koolhaas liess Berlin gern hinter sich und verschwendete sein Augenmerk nicht länger auf die Benennung der Trennung in der Architektur, sondern holte zu seiner Propagierung drangvoller Dichte aus. Dieser konsequente Wandel im Denken wurde durch das Koolhaas umgebende geistige Klima gestützt: Der absolute Hot spot der Architekturtheorie war Anfang der siebziger Jahre Peter Eisenmans Institute of Architecture and Urban Studies in New York. Koolhaas erhielt dort eines der begehrten Stipendien und wusste sich dafür bei der Architektenzunft mit «Delirious New York» zu revanchieren. Von der Kritik wurde das Buch nicht ernst genommen. Zwar war das Interesse an der Beschreibung amerikanischer Stadtzustände mit Jane Jacobs «The Death and Life of Great American Cities» (1961) sowie Robert Venturis und Denise Scott Browns «Learning from Las Vegas» (1968) längst etabliert; und auch den Topos vom Eintauchen in das harte Leben der Grossstadt hatte John Dos Passos schon in den zwanziger Jahren zum Thema von «Manhattan Transfer» gemacht. Dennoch waren die Augen der Kritik noch nicht scharf genug, die Andeutungen Koolhaas' zu erspähen.

Dass bis heute Koolhaas' Thesen Gültigkeit behalten haben, ist an der gegenwärtigen Debatte zur «zweiten Moderne» unschwer zu erkennen: Sie ist über seine Einsichten kaum hinausgekommen. Und so bleibt zu hoffen, dass die Rechnung des Verlags aufgeht, laut welcher zufolge es eine besitzende Mehrheit zwar zum Buch gebracht hat, nicht aber zur Aneignung des in trickreichem Kunstenglisch formulierten Inhalts. Sicher ist schon jetzt: Eine breitere Diskussion der in «Delirious New York» gewonnenen Einsichten im deutschen Sprachraum wäre sowohl dem Buch als auch der Architektur zu wünschen. Verfrüht käme sie jedenfalls nicht.


[ Rem Koolhaas: Delirious New York. Ein retroaktives Manifest für Manhattan. Deutsch von Fritz Schneider. Arch+ Verlag, Aachen 1999. 320 S., Fr. 73.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Do., 1999.06.17

12. Juni 1999Johann Christoph Reidemeister
Neue Zürcher Zeitung

Das Raumschiff Erde als urbane Landschaft

Wir kriegen Probleme. Ernste Probleme. Platzprobleme. Wie bei einem Sehtest schieben sich rote und grüne Kreise ineinander. Die Diagnose stimmt bedenklich:...

Wir kriegen Probleme. Ernste Probleme. Platzprobleme. Wie bei einem Sehtest schieben sich rote und grüne Kreise ineinander. Die Diagnose stimmt bedenklich:...

Wir kriegen Probleme. Ernste Probleme. Platzprobleme. Wie bei einem Sehtest schieben sich rote und grüne Kreise ineinander. Die Diagnose stimmt bedenklich: Die Weltbevölkerung wächst explosionsartig, und die bebaubare Erdoberfläche verringert sich dramatisch. Zwei Züge rasen aufeinander zu, und wenn es kracht, wird die Menschheit zwischen ihnen zerquetscht. So oder ähnlich fühlt sich, wer den Prolog zum neuen Theoriestück «Metacity/Datatown» des jungen Rotterdamer Architekturbüros MVRDV gelesen hat. Mit ihm beschreibt der Chefanalytiker der dreiköpfigen Architektencrew, Winy Maas, die Zukunft unserer Städte, mehr noch: das Raumschiff Erde als eine einzige urbane Landschaft.

Maas gibt es selbst zu: Er kann nicht anders, ist besessen: vom Drang zu drücken. Etwas zusammenzudrücken, vornehmlich die Stadt oder auch die menschliche Gesellschaft mit ihrem Platzbedürfnis, ist seine Obsession. Er drückt so lange, bis der Punkt des Widerstands kommt, mit dem die verborgenen Ordnungen herausspritzen. Es outet sich hier der Autor als ein Dekonstruktivist im ursprünglichen Sinne: Denn damit war keineswegs die furiose Chaos-Ästhetik zusammenstürzender Formen gemeint, sondern eine Denkhaltung: die kritische Demontage repressiver Ordnungen. Maas hebt unsere Gewohnheiten auf den Prüfstand. In «Metacity/Datatown» rechnet er uns die zukünftige Stadt mit 240 Millionen Einwohnern und Ausmassen von 60 000 km2 vor. Was passierte, wenn wir den jährlich anfallenden Müll dieser Stadt auf einen Haufen würfen? «Metacity/Datatown» kennt die Antwort: Es entstünde ein Berg, über einen halben Kilometer hoch und mit einem Volumen von 500 Millionen Kubikmetern! Giftgrün und von einem Schleier ungesunder Dämpfe umhüllt, ragte er über die Stadt. Ebenso monströs, giftgrün und bedrohlich sind Maas' CO2-Maschinen. Will man den gesamten CO2 -Ausstoss der Stadt kompensieren, würde ein Hochhaus mit Wald auf 250 Geschossen benötigt, das 6 Kilometer in die Höhe schiessen und eine Fläche von 11 717 km2 bieten würde. Ein ökologisches Ungeheuer, eine monumentale Gedenkstätte für die Abgase der Industrie.

Die Trilogie «Metacity/Datatown» baut auf drei Prophetien auf: 1. Die Metacity ist die weltumspannende Stadt, die das globale Dorf von heute ablösen wird. 2. Die Datatown ist eine Zwischenstufe auf dem Weg vom globalen Dorf zur Metacity. 3. Der Weg dahin führt über eine Kultur der Zahlen. Während der letzte Punkt schon heute Relevanz hat, bleiben die beiden anderen reine Zukunftsmusik: «You are entering Sector Living». So technoid-futuristisch werden die revolutionären Vorschläge zu einer radikalen Verdichtung unserer Städte eingeleitet. Städte, die sich mit der Globalisierung unserem Zugriff entziehen. Die Konsequenzen für Architektur und Urbanismus will dieses Manifest behandeln. Systematisch berauben MVRDV die Baukünstler und Städteplaner ihrer Besessenheit von Einzigartigkeit und Individualität: nicht das gezielte Gestaltenwollen, sondern das trockene Faktensammeln tritt angesichts des Bauens für neue Massen in den Vordergrund.

Wie schon in ihrer Theoriebibel «Farmax» bestechen die Gedanken von MVRDV in «Metacity/Datatown» durch die bildliche Aufbereitung. Für das eindrucksvolle Layout des Buches zeichnet Paul Ouwerkerk verantwortlich. Unverkennbar ist die Ähnlichkeit der Bücher von MVRDV mit Rem Koolhaas' Kultbuch «S,M,L,XL». Bei Koolhaas hat Maas drei Jahre lang gearbeitet und gelernt, dass eine reichhaltige Bebilderung die Theorie griffiger macht und sie den visuell, nicht sprachlich ausgerichteten (und daher lesefaulen) Architekten näherzubringen vermag. Doch auch inhaltlich lässt sich das neue Manifest von MVRDV nicht ohne den Koolhaasschen Vorläufer denken. Dessen «Kultur der Dichte» bildet die Basis für «Metacity/Datatown», auch wenn sie hier zu einer «Kultur der Zahlen» mutiert.

Mit Statistiken, Diagrammen und Computersimulationen führen MVRDV ihrem Publikum vor, was es heisst, heute Architektur zu machen. Will man der im Zahlenwust veranschaulichten Komplexität der Zwänge nicht verbittert unterliegen, muss es darum gehen, die Herausforderung mit Optimismus anzugehen. Deshalb schlagen die jungen Baumeister den Weg einer Managerarchitektur ein, deren Entwurf nicht von Raumvorstellungen seinen Ausgang nimmt, sondern von Verordnungen, Gesetzen und Bauherrenwünschen. Von Wirtschaftlichkeitsgedanken wie der Konsolidierung und der Synergieeffekte ist die Forderung durchdrungen, jeder Funktion ihr spezialisiertes Areal zuzuweisen. Von einer unüberschaubaren Durchmischung von Wohnen, Arbeiten, Industrie und Freizeit will Maas nichts wissen, und von städtischer Atmosphäre spricht er erst gar nicht. Entscheidend ist vielmehr ein optimales Funktionieren des zukünftigen Kolosses Stadtapparat.

Scharf oder unscharf? Daran entscheidet sich, ob dem Patienten eine Brille verpasst wird oder nicht. Der Optiker von Maas darf sich freuen. Denn Maas zeigt deutliche Sehschwächen oder guckt eben zu weit in eine verschwimmende Ferne. Sicher ist: Maas hat in «Metacity/Datatown» etwas zu grob gerastert, die Schubladen etwas zu gross gewählt, die Probleme nicht wirklich der Realität entnommen, sondern sich selbst eine Aufgabe gestellt. Wer das neue Genre der Architecture Fiction schätzt, muss das Buch haben. Es gibt bisher kein anderes. Alle übrigen brauchen nur zu wissen: Es wird für sie weitergedacht, in die Zukunft, mit ungewissem Ende.



[ MVRDV: Metacity/Datatown. 010 Publishers, Rotterdam 1999. 224 S., Fr. 35.-. Bereits im vergangenen Jahr erschienen ist: MVRDV: Farmax. Excursions on Density. 010 Publishers, Rotterdam 1998, 736 S., SFr. 65.-. Zu «Metacity/Datatown» ist noch bis zum 19. Juni in der MU Art Foundation in Eindhoven eine Videoinstallation zu sehen. ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 1999.06.12

20. Mai 1999Johann Christoph Reidemeister
Neue Zürcher Zeitung

Die gefaltete Platte

Im Düsseldorfer «Medienhafen» hat Frank O. Gehry einen bautechnischen Meilenstein gesetzt. Mit seinem Neuen Zollhof präsentiert er nicht nur das «signature building» der sogenannten Meile für Medien und Kreative. Vielmehr demonstriert der siebzigjährige Kalifornier mit diesem Neubau, dass seine exaltierten Formen auch für wenig Geld in Plattenbauweise zu haben sind.

Im Düsseldorfer «Medienhafen» hat Frank O. Gehry einen bautechnischen Meilenstein gesetzt. Mit seinem Neuen Zollhof präsentiert er nicht nur das «signature building» der sogenannten Meile für Medien und Kreative. Vielmehr demonstriert der siebzigjährige Kalifornier mit diesem Neubau, dass seine exaltierten Formen auch für wenig Geld in Plattenbauweise zu haben sind.

Auf der Dachterrasse mit Blick über den Düsseldorfer Hafen kriegen Thomas Rempens Worte Gewicht. Als Designer müsse er von der Form verlangen können, dass sie sich auf die Funktion beziehe, so wie zum Beispiel der Apfel, den er gerade isst, durch seine handlich-runde Form überzeugt. «Eine Birne ist schon fragwürdig. So waren wir auf der Suche nach dem Apfel.» Rempen ist nicht der Mann, der nicht bekäme, was er will. Und so müssen diese Bauherrenworte - so ungewöhnlich das auch erscheinen mag - als pointierte Beschreibung der Baukunst von Frank O. Gehry in die Architekturkritik Eingang finden. Denn von nichts weniger als dessen Neuem Zollhof im umgenutzten Düsseldorfer Hafen ist die Rede. Er füllt eine der letzten Baulücken des Gewerbeparks für Kreative, der derzeit anstelle ehemaliger Hafenspeicher im Süden der Stadt entsteht.


«Vater, Kind und Mutter»

Als Werber muss Rempen von Natur aus neugierig, muss immer auf der Suche nach verwertbaren Ideen sein. So kam er auch zu Gehry. Der erhielt einen Direktauftrag für den Bau von dessen Agentur. Für das an der Kaimauer gelegene Grundstück hat Gehry ein Ensemble aus drei Bürogebäuden erdacht, das seinen Charme aus dem Spiel mit einer Dreieinigkeit der Gegensätze bezieht. In Form und Fassade unterscheiden sich die einzelnen Teile grundsätzlich: Der kantige Bau mit hermetischer Backsteintapete wird konterkariert durch einen mittleren Bau, dessen gewellte Edelstahlhülle die Umgebung reflektiert. Gelassen überragt das Ganze ein weiss verputzter Bau mit voluminösen Rundungen. «Vater, Kind und Mutter» hat Gehry seinen Entwurf getauft, dessen verspielte Signalwirkung auch ohne diese Bezeichnung unmittelbar erfahrbar ist. Die einzelnen Bauvolumen sind nicht so spektakulär ineinandergewirbelt wie beim Guggenheim Museum in Bilbao und in ihren Proportionen nicht so sorgfältig aufeinander abgestimmt wie beim Vitra- Design-Museum in Weil. Wer den Neubau an diesem Formvokabular misst, wird enttäuscht sein.

Dennoch urteilt vorschnell, wer die glitzernde Hülle nur als Blendwerk sieht und den Bürobau dahinter für unspektakulär hält. Denn dass die Typologie des Bürobaus zu den spannenderen zählt, lässt sich ja nun wirklich nicht behaupten. Dennoch hat Gehry das Maximum aus dieser Bauaufgabe herausgeholt: Im Innern bietet sein Bau flexible Räume und funktionale Grundstrukturen, nach aussen wurde mehr als ein blosser Blickfang geschaffen. Die Gebäude stehen so weit voneinander entfernt, dass sie sich in ihrer skulpturalen Qualität frei entwickeln können. Als Nebenprodukt fallen zwischen den kurvig ausgebuchteten Gebäuden und dem Wasser öffentliche Platzsituationen ab, die zu den schönsten der Stadt zählen. Sie geben den Blick frei auf die Wasserstrassen des Hafens mit den klobigen Industriearchitekturen der Nachkriegszeit.

Um Gehrys Quantensprung in der von spiegelnden Edelstahlplatten belebten Fassadengestaltung zu erkennen, bedarf es nur eines kurzen Blicks auf die gebaute Umgebung. Aufgepinselte Rauten oder Kornähren zieren dort schlichte Putzfassaden in Grau- und Schlammtönen. Gehrys Trias ist dagegen von einer sonnigen Extrovertiertheit, die einen Hauch von Kalifornien an den Rhein bringt. Die maschinenpolierten Edelstahlpaneele geben dem Mittelbau mit jeder Lichtveränderung ein wechselndes Gesicht.

Mit demonstrativer Nachlässigkeit begegnet der Architekt dieser edlen Hülle. Sie stösst am Boden nicht auf, sondern ein unterschiedlich breiter Spalt zeigt deutlich an, dass es sich nur um einen hinterlüfteten Vorhang handelt. Das Material ist so dünn, dass es nicht nur den Gebäuderundungen nachgeformt werden konnte, sondern bereits mit unzähligen Beulen übersät ist. Die Leichtigkeit dieser Fassade besteht nicht so sehr in ihrer reflektierenden Eigenschaft, sondern darin, dass Gehry mit ihr wie mit einem Wegwerfartikel umspringt. Perforiert wird sie von Fenstern, die - angeschrägt und weit vorstehend - um die Ecke zu schauen scheinen. Das Motiv der vorstehenden Fensterbox wurde Gehrys Prager Bürogebäude «Ginger and Fred» entlehnt. Tanzten sie dort in unterschiedlichen Höhen über die Fassade, so sind sie diesmal als verbindendes Moment wie hartnäckige Pockennarben gleichmässig über die drei Gebäude verteilt.

Nachdem der Strukturwandel im Düsseldorfer Hafen bereits Erfolge zeitigt, gerät in Vergessenheit, dass es sich bei diesem Gebiet noch bis vor kurzem um einen urbanistischen Notfall handelte. Man schaute einfach nicht hin, überliess ihn sich selbst. Hier gammelten verlassene Speicherhäuser und stillgelegte Ladekräne vor sich hin. Dieses Niemandsland als eine «Meile für Medien und Kreative» neu zu beleben war - wie erwähnt - Rempens Idee. Die Stadt erkannte die Chance, mit den Namen internationaler Architektenstars das Image der Provinzialität abzulegen. Dazu trägt David Chipperfields Sichtbetonbau bei, der ein altes Silogebäude ersetzt und es dennoch in seiner Massivität und der rauhen Betonhülle wiederaufleben lässt. Auch Steven Holl plante eine Synthese aus alt und neu, so wie es sich die Stadtplaner für das ganze Gebiet wünschten. Vom ursprünglichen Entwurf blieb aber nur ein Turm übrig, der in seiner Sterilität kaum zu überzeugen vermag. Stadteinwärts steht das funkelndste Beispiel für den neuen metropolitanen Anspruch im sonst eher beschaulichen Düsseldorf: Nach dem Vorbild der Mitterrandschen «Grand Projets» hat man sich in der Landeshauptstadt eine Kleinversion der Grande Arche gegönnt. Mit scharfen Kanten schneidet sich das Glasparallelogramm 70 Meter hoch in den Himmel. Vor allem das lichtdurchflutete Innere des Bürohauses trug diesem Stadttor von Petzinka und Pink den Titel des besten Gebäudes auf der Immobilienmesse in Cannes ein.


Bautechnische Revolution

Den Projektentwicklungsfirmen im Düsseldorfer Hafen geht es primär um Objekte mit satter Rendite. Vor diesem Hintergrund muss die Architektur bewertet werden. Auch hier erhält der Neue Zollhof die Höchstnote: In Zusammenarbeit mit dem Baukonzern Philipp Holzmann hat Gehry eine kleine bautechnische Revolution zustande gebracht, die Folgen haben wird: Erstmals ist es gelungen, stark gekrümmte Freiformflächen unmittelbar in Fertigbauteilen nachzubilden. Damit ist ein kostengünstiges Verfahren gefunden, mit dem selbst die jeder Standardisierung spottenden Entwürfe Gehrys problemlos umgesetzt werden können. «Catia», eine Software aus dem Automobil- und Flugzeugbau, erlaubt es, die Modelle Gehrys mit dem Computer darzustellen. Mit ihr lassen sich auch die einzelne Wand und ihre Negativform berechnen. Letztere wird mit einer computergesteuerten Fräse aus einem Styroporblock herausgeschnitten. Anschliessend wird diese Schalform mit Beton ausgegossen. So entstehen individuelle Wandplatten, die zum Bauplatz transportiert und dort an der vorgesehenen Stelle montiert werden. Mit diesem Verfahren sind neue Wege aufgetan, Bauten unabhängig von ihrer Gestalt im Fertigbau zu realisieren. Nicht zuletzt deswegen beurteilte Philip Johnson das Gebäude als eines der besten Gehrys. Dieser Bau habe das Zeug, eine Box der Pandora zu öffnen: «Jetzt weiss jeder, dass es geht!»

Was die Form des Apfels als praktisch-handliches Vorbild angeht, hat der Bauherr bekommen, was er wollte. Wenn ihm Gehry auch ein poppiges Entrée wie bei seinem «Chiat-Day Building» im kalifornischen Venice vorenthielt, so zauberte er dennoch aus knappsten Mitteln eine einprägsame Form. Gerade diese Reduktion unterscheidet das Gebäude in Düsseldorf von den vielen «Birnen» im Werk Gehrys. Am Rhein darf man sich um eine architektonische Besonderheit bereichert fühlen.

Neue Zürcher Zeitung, Do., 1999.05.20



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