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06. Oktober 2015Georges Waser
Neue Zürcher Zeitung

Markenname mit Kunsttempel

Als Vorreiter der YBA hatte er das Establishment einst gegeisselt. Anders jetzt, mit der imposanten Newport Street Gallery. Ob aber Damien Hirst nicht doch noch einige Tricks im Hut stecken hat?

Als Vorreiter der YBA hatte er das Establishment einst gegeisselt. Anders jetzt, mit der imposanten Newport Street Gallery. Ob aber Damien Hirst nicht doch noch einige Tricks im Hut stecken hat?

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verknüpfte Bauwerke
Newport Street Gallery

27. Dezember 2008Georges Waser
Neue Zürcher Zeitung

Palladio und die Finanzkrise

Architekten retten eine Londoner Schau

Architekten retten eine Londoner Schau

Ein englischer Tribut zum 500. Geburtstag von Andrea Palladio ist ein Muss. Palladios Einfluss auf die Architektur Grossbritanniens begann, als Inigo Jones im Jahr 1614 mit Zeichnungen des Meisters aus Vicenza nach London zurückkehrte und in Greenwich das Queen's House errichtete. Beispiele sind aber auch Ragley Hall in Warwickshire oder – unweit davon – Hagley Hall: grandiose Landhäuser, die ihre Besitzer im Stil Palladios umwandeln liessen. Ebenso Chiswick House und Burlington House am Londoner Piccadilly, mit denen der dritte Earl of Burlington zum «Palladian Revival» den Auftakt gab. Im Burlington House, dem heutigen Domizil der Royal Academy of Arts, wird nun vom 31. Januar bis zum 13. April die grosse, zuvor in Vicenza zelebrierte Palladio-Ausstellung (NZZ 7. 11. 08) gastieren, nachdem das Ganze im letzten Moment fast gescheitert wäre.

Dass sich in Grossbritannien die Finanzkrise auch auf Museen auswirken würde, war voraussehbar, sind doch diese Institutionen – zumindest im Falle teurer Ausstellungen – oft auf Sponsoren angewiesen. Zudem kam das Sponsoring bis anhin meist aus der Londoner City. Da sie keine staatliche Subvention empfängt, ist die Royal Academy im gegenwärtigen Klima besonders verwundbar. Unerwartet schnell kam nun die Hiobsbotschaft: Für ihre Palladio-Ausstellung konnte die Royal Academy keinen Sponsor anziehen. Übrigens war bereits im November an der nationalen Konferenz der Museumsdirektoren ein Rückgang an Zuschüssen aus der Businesswelt festgestellt worden. Doch nun folgte auf die schlechte Nachricht aus der Royal Academy eine gute Kunde: Eine Gruppe von Royal Academicians habe in die eigene Tasche gegriffen und die Palladio-Schau gerettet – allen voran die Architekten Richard Rogers und Norman Foster.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Royal Academy keine Probleme hatte, für ihre dreimonatige, der Gegenwartskunst gewidmete «Saison» den Sponsor zu halten. Nach diesem, GlaxoSmithKline, ist das Ereignis nämlich mit «GSK Contemporary» benannt. Allerdings weist sich ein Unternehmen durch das Sponsoring eines solchen Anlasses eben als «cool» aus. Und mit einem solchen Etikett lässt sich in einer modischen Trends ergebenen Gesellschaft für die eigene Sache leichter Werbung treiben als mit dem Namen eines grossen Klassizisten! Insbesondere wenn dieser, wie Palladio in Grossbritannien, als «the architects' architect» gilt – was sich im glücklichen Umstand spiegelt, dass der Royal Academy für ihre Ausstellung jetzt gerade zwei Stararchitekten zu Hilfe kamen.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2008.12.27

31. Oktober 2008Georges Waser
Neue Zürcher Zeitung

Mekka für ein neues Publikum?

Das neue Kulturzentrum Kings Place in London setzt bemerkenswerte Akzente

Das neue Kulturzentrum Kings Place in London setzt bemerkenswerte Akzente

Erstmals seit der Eröffnung des Barbican Centre, seit über 25 Jahren also, hat London wieder ein zweckgebautes Konzertgebäude erhalten. Mit ihrem Domizil, Kings Place, wurde ein für die Themsestadt neues Konzept realisiert: unter dem Erdgeschoss ein Kulturzentrum und in den oberen sieben Stockwerken ein gigantischer Bürokomplex. Dieser – bereits sind hier die Zeitungen «The Guardian» und «The Observer» sowie die Gesellschaft Network Rail eingezogen – erbringt den finanziellen Rückhalt, erhält das Kulturzentrum doch keine öffentliche Subvention. Neun Jahre Bauzeit und 100 Millionen Pfund hat Kings Place beansprucht, doch das Resultat kann sich sehen lassen: als erster Eindruck für die Eintretenden ein beim Blick nach oben geradezu atemberaubendes Atrium, und in den Untergeschossen ein Layout mit unerwarteten architektonischen Perspektiven. Viel Licht, zum Teil sogar natürliches, sorgt dafür, dass man sich hier schon vor dem musikalischen Auftakt beschwingt statt – wie zum Beispiel im Barbican – erdrückt fühlt. Mit Kings Place haben sich die Architekten Dixon Jones einmal mehr Lob verdient; ihr Gespür für Stätten der Kultur bewiesen sie in London bereits mit baulichen Veränderungen im Royal Opera House, in der National Portrait Gallery sowie der National Gallery.

Quartier im Aufwind

Der Gegend nördlich der Bahnhöfe King's Cross und St Pancras, jahrzehntelang das öde Revier von Tramps und Prostituierten, kann ein Kulturzentrum nur gut anstehen. Schon als neues Domizil der British Library hat das Quartier vor wenigen Jahren einen Aufschwung erfahren; mit der kürzlichen Verlegung des Eurostar-Bahnhofs von Waterloo nach St Pancras ist das Viertel für im Zug von Kontinentaleuropa anreisende Touristen gar zum Eingangstor Grossbritanniens geworden. Zwar ist, was zwischen St Pancras und Kings Place liegt, als Teil eines der grössten urbanen Regenerierungsprojekte in Europa gegenwärtig noch eine Baustelle. Hinter Kings Place allerdings ist diese Regenerierung bereits Tatsache geworden: Hier, im dem Kulturzentrum anliegenden Battlebridge Basin, liegen wunderschöne Kanalboote vor Anker, und ringsum sind aus alten Warenlagern begehrte Mietobjekte geworden. Aus dem Atrium des Kings Place führen Türen auf eine Terrasse dicht am Wasser.

Kings Place soll auch mehr oder weniger zufälligen Besuchern etwas bieten – sei es in der Mittagspause oder am frühen Abend. So beherbergt der Bau zwei Kunstgalerien, wovon sich die eine mit stets wechselnden Ausstellungen als ein Schaufenster sowohl für international bekannte Künstler wie auch für junge Talente versteht. Die Pangolin Gallery gleich beim Eingang hingegen ist ein Zweig der gleichnamigen, unter britischen Bildhauern zum Begriff gewordenen Giesserei in Gloucestershire; sie wird nicht nur Plastiken ausstellen, sondern auch regelmässig einzelnen Bildhauern «Residenz» gewähren – dem Zentrum soll damit wohl die Aura einer «Werkstätte» verliehen werden. Dies dürfte dem Initianten und Direktor Peter Millican im Bereich Musik bereits gelungen sein, haben doch das Orchestra of the Age of Enlightenment und die London Sinfonietta im Kings Place ihr neues permanentes Domizil gefunden. Indem sich beide Klangkörper für erzieherische Projekte in lokalen Schulen und Vereinen zur Verfügung stellen, wird dem viktorianischen Ideal des kulturellen Einbezugs unterprivilegierter Bevölkerungsgruppen Rechnung getragen.
Zwei Säle, viele Stile

Kings Place beherbergt zwei Konzertsäle, wobei Hall Two mit 220 Sitz- oder 330 Stehplätzen eher als Studio gelten kann. Anders Hall One: Diese, wunderschön mit hellem Eichenholz getäfelt und überraschend hoch bei 420 Sitzen, darf man mit Fug und Recht als Prunkstück bezeichnen. Kantige Pfeiler über einer ringsum laufenden Galerie scheinen die Decke zu tragen, und mit Vorhängen zwischen diesen Pfeilern und den Wänden lässt sich die Akustik je nach Darbietung – man denke an das Rezitieren von Lyrik oder elektronisch verstärkte Musik – modifizieren. Zwar fällt das Beurteilen eines neuen Konzertsaals beim ersten Besuch selten leicht; aber den Zuhörern des Orion String Quartet mochte am Ton die einer Aufnahme auf CD ähnliche Ausgeglichenheit, ja Feinheit auffallen. Während dreier Streichquartette Beethovens, ob langsam oder bei gesteigertem Tempo, ob ruhig oder anschwellend, fehlte es der Musik in diesem tief in den Erdboden versenkten Raum nie an Klarheit und Wärme. Und obgleich in diesen Konzertsälen insbesondere die klassische Musik zu Hause ist, fehlen auch Jazz, Blues, Flamenco und Rock nicht im Programm.

Zwar hat Peter Millican dem mächtigen South Bank Centre zwei dort residierende Klangkörper weggenommen – aber gibt das den etablierten Londoner Musikhochburgen Grund zu Eifersucht? Nicht unbedingt. Vor allem nicht, wenn in Kings Place das Programm, bisher ähnlich beeindruckend wie der Bau, weiterhin eklektisch sein sollte; so eben, wie es zum Beispiel in der altehrwürdigen – und exzellenten – Wigmore Hall nicht denkbar wäre. Also könnte Kings Place durchaus zum Mekka für ein neues Publikum werden; damit wäre auch der langen Zeitspanne ein Ende gesetzt, in welcher die Musik im Norden Londons nicht Fuss zu fassen vermochte. So blieb in den sechziger Jahren ein Aufenthalt des Royal Philharmonic Orchestra in der – wohlverstanden: begüterten – Gegend von Swiss Cottage äusserst befristet.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2008.10.31

15. August 2008Georges Waser
Neue Zürcher Zeitung

Von roher Schönheit

Endlich hat der mit dem Guggenheim Museum in Bilbao und der Disney Concert Hall in Los Angeles berühmt gewordene Frank Gehry auch in England einen Bau...

Endlich hat der mit dem Guggenheim Museum in Bilbao und der Disney Concert Hall in Los Angeles berühmt gewordene Frank Gehry auch in England einen Bau...

Endlich hat der mit dem Guggenheim Museum in Bilbao und der Disney Concert Hall in Los Angeles berühmt gewordene Frank Gehry auch in England einen Bau stehen. Aus seinem Siedlungsprojekt mit Sportzentrum für den Küstenort Hove wurde nichts, und sein Maggie's Centre Dundee - ein Haus für Krebskranke - steht in Schottland. Wohlgemerkt, Gehrys erste in England entstandene Struktur wird nur gerade einen Sommer überdauern: Es ist der Ende Juli eingeweihte Serpentine Gallery Pavilion, dessen Standort die an den Londoner Hyde Park grenzenden Kensington Gardens sind. Übrigens entsprang das Konzept der erstmaligen Zusammenarbeit Gehrys mit seinem Sohn Samuel.

Schaufenster für Baukunst

Die Serpentine Gallery, 1934 als Teestube erbaut, ist in London seit geraumer Zeit eines der vorrangigen Ausstellungslokale für Kunst der Moderne und der Gegenwart - Louise Bourgeois, Damien Hirst, Piero Manzoni, Man Ray, Cindy Sherman, Cy Twombly und Andy Warhol, sie alle wurden seit 1970 hier gezeigt. Seit dem Jahr 2000 aber versteht sich die Galerie auch als Schaufenster für Grössen, die der Baukunst neue Wege weisen. Genauer noch: für Stararchitekten aus der ganzen Welt, die - wie eben Gehry - in England noch nie gebaut haben. Der für drei Monate auf dem die Gallery umgebenden Grasland zu errichtende Pavillon, mit dem jedes Jahr ein anderer Architekt beauftragt wird, soll tagsüber als Café und nachts als Forum für Debatten und Unterhaltungszwecke genutzt werden können. Ein Budget für dieses Unternehmen hat die Serpentine Gallery nicht; das Geld für den Pavillon kommt von Sponsoren und aus dem Verkauf der jeweiligen Struktur, die nach rund drei Monaten ihren Dienst erfüllt hat.

Obschon sie relativ wenig Geld kosten dürfen, seien die Pavillons unglaublich gut - dieses Kompliment kommt von keinem Geringeren als Richard Rogers. Und wer sind die Vorgänger von Gehry, dem diesjährigen Architekten? Sie heissen Olafur Eliasson und Kjetil Thorsen (2007), Rem Koolhaas (2006), Álvaro Siza und Eduardo Souto de Moura (2005), Oscar Niemeyer (2003), Toyo Ito (2002), Daniel Libeskind (2001) sowie Zaha Hadid (2000). Bereits siebenmal war übrigens die Ingenieurfirma Arup mitbeteiligt. Einzig ein Pavillon in der Form eines Berges, für den 2004 das niederländische Architekturbüro MVRDV den Auftrag bekommen hatte, kam nicht zustande.

Laut Gehry sollen ihm bei der Konzeption seines Pavillons Leonardo da Vincis Zeichnungen für riesige Katapulte eine Anregung gewesen sein - und in der Tat denkt, wer sich der Struktur nähert, an einen gewaltigen, zur Belagerung einer Stadt dienenden Mechanismus. Die Konstruktion besteht aus kolossalen, in bizarren Winkeln aufragenden Holzbalken, aus stachelig anmutenden Stahlelementen und grossen, sich überschneidenden Glasplatten - Letztere ein Schutz gegen Regen und Wind und zugleich eine Art Lichtfilter. Obschon scheinbar zufällig, ist die Struktur geometrisch komplex. So sind denn die beiden Zugänge auch nach der Kuppel der Serpentine Gallery ausgerichtet. Um diejenigen, welche hindurchpromenieren, greift der Pavillon wie ein Amphitheater aus: Die Sitzgelegenheiten steigen in Terrassen an, und über diese erheben sich zwei kleine, eigentlichen Aussichtspunkten ähnliche Podien, die von den beiden Längsseiten des Baus her zugänglich sind. Gehrys Pavillon wohnen sowohl eine rohe Schönheit als auch verspielte Einfälle inne - dank denen er als Aufführungsort für Shakespeares «Sommernachtstraum» gut denkbar wäre.

Langgehegte Idee

An der Pressekonferenz in der Serpentine Gallery bemerkte Gehry, er habe nichts zu sagen; was er habe sagen wollen, stehe draussen vor der Galerie. Einem Journalisten hatte er allerdings gestanden, mit derart bizarr aneinandergefügten Holzbalken habe er einst für sich selbst ein Haus bauen wollen. Aus der Idee sei nichts geworden - und vielleicht sei eben jetzt der Serpentine Gallery Pavilion dieses Haus. Jedenfalls hat damit Frank Gehry einmal mehr bewiesen, wie sehr die Einheit von Form und Funktion seine ikonischen Bauten auszeichnet. Der Reihe der Serpentine Gallery Pavilions steht der seine gut an - als ein vortreffliches Glied in der von der Gallery begründeten Tradition kurzlebiger Londoner Wahrzeichen.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2008.08.15

03. März 2008Georges Waser
Neue Zürcher Zeitung

Feindbild Hochhaus

Das alte London, welches Künstler wie Canaletto und Monet inspirierte, kannte keine Hochhäuser. Diese Bilderbuch-Silhouette der Themse-Metropole wünscht sich Prinz Charles zurück. Jüngst holte er zu einem weiteren Angriff gegen neu geplante Glastürme aus.

Das alte London, welches Künstler wie Canaletto und Monet inspirierte, kannte keine Hochhäuser. Diese Bilderbuch-Silhouette der Themse-Metropole wünscht sich Prinz Charles zurück. Jüngst holte er zu einem weiteren Angriff gegen neu geplante Glastürme aus.

«Charles does it again», verkündete im Februar eine Schlagzeile der englischen Tageszeitung «The Guardian» – und gemeint war damit, dass sich der Kronprinz einmal mehr mit Schimpfwörtern zur modernen Architektur geäussert hatte. In einer Rede im St James's Palace, so vernahm man, warnte Charles vor einem der Londoner City, aber auch historischen Städten wie Edinburg und Bath drohenden «Überhandnehmen der Eiterbeulen». Anders gesagt: Ein Dorn im Auge sind Charles die Wolkenkratzer, zum Beispiel das 44-stöckige, 240 Meter hohe und bereits unter dem Übernamen «Käseraffel» bekannte Leadenhall Building, das in der City of London als Nachbar von Norman Fosters «Gurke» entstehen soll. Ausser Richard Rogers – von dem die Pläne für die «Käseraffel» stammen – dürfte insbesondere der Londoner Bürgermeister Ken Livingstone aufgehorcht haben, war er es doch, der dem Wolkenkratzer-Boom, welcher London mit mindestens zwölf weiteren markanten Türmen bereichern soll, den Segen erteilt hatte.

Londons langsame Verwandlung

Charles' Kreuzzug gegen die zeitgenössische Architektur begann 1984, als er den zur Erweiterung der englischen Nationalgalerie geplanten Neubau als «monströsen Karbunkel» abtat. Einige Jahre später brachte er es mit beleidigenden Worten zustande, dass das Arup-Projekt zur Umgestaltung des Paternoster Square verworfen wurde und sein Günstling John Simpson den Auftrag für neue Pläne bekam (die dann allerdings auch scheitern sollten). Später verglich der Kronprinz die neue British Library in London mit einem einzig der Geheimpolizei würdigen Domizil. Zudem erschien ihm Birminghams neue Zentralbibliothek mehr zur Verbrennung als zum Aufbewahren von Büchern geeignet. Und jetzt, nur zwei Wochen nach seinem Angriff auf die Wolkenkratzer, hat er einen fensterlosen Neubau auf dem Campus der University of Essex mit einem Abfalleimer verglichen! Kein Wunder, dass einmal mehr auch an ihm Kritik geübt wird. Eine Stimme im Internet nannte Charles einen alten Possenreisser, der in den Tagen des grossen Wren sogar dessen St Paul's Cathedral abgelehnt hätte, und im «Observer» wurde das nach des Prinzen Vision entstandene Modelldorf Poundbury als lebloser Pastiche, ja ungesundes Hirngespinst gegeisselt.

Fast dreihundert Jahre lang, seit dem Grossen Feuer von 1666, baute man in London bis in eine gewisse Höhe und nicht darüber hinaus. In der Silhouette, wie sie Canaletto malte, dominierten die Domkuppeln und Türme von Wren, Hawksmoor und Thomas Archer – und um so hoch bauen zu dürfen, musste ein Architekt ausnehmend gut und wohl auch eher mit Gott als dem Mammon im Bunde sein. Als 1999 an der Themse das 135 Meter hohe «London Eye» bereitstand, gewahrte man von diesem Riesenrad aus Cesar Pellis Turm in der fernen Canary Wharf in einsamer Grösse – das Nest von Hochhäusern, das ihn heute umgibt, war erst am Entstehen. Fosters «Gurke» wartete auf die Baubewilligung, und auch von der heute schief am südlichen Themseufer stehenden City Hall fehlte noch jede Spur. Für diese und andere inzwischen verwirklichte Bauten war das auch als Millennium Wheel bezeichnete Riesenrad eine Art Schrittmacher; erst geschmäht und dann ein Erfolg, schien es der Beweis, dass sich die Bevölkerung für radikale Strukturen im englischen Stadtbild zu erwärmen begann.

Sowohl in Liverpool, Manchester und Birmingham als auch in Glasgow, Newcastle und Leeds hat sich das Interesse an Wolkenkratzern geregt. In London aber ist unter Investoren und Stararchitekten der Traum von einer schönen neuen und vertikalen Welt am intensivsten. Zu dieser Welt sollen in der City sowohl Richard Rogers' «Käseraffel» als auch ein 64-stöckiger Bau von Kohn Pedersen Fox sowie auf der South Bank ein 52-stöckiger Turm von Ian Simpson gehören – und ebenfalls auf der South Bank der London Bridge Tower von Renzo Piano, der – nach Verzögerungen modifiziert – jetzt mit 72 Stockwerken «nur noch» 310 Meter hoch werden soll. Tatsächlich hat Charles allen Grund, sich über das Erscheinen dieser phallischen «Geld-ist-Macht-Türme» zu sorgen. Kommen zwei bei der Victoria Station geplante Hochhäuser zustande, könnten diese über den Garten des Buckingham Palace hinauswachsen und ihm die Sicht von Osten auf diesen verderben.

Meist neigt Prinz Charles, wenn es um Architektur geht, zu einem unglücklichen Vokabular. Indem er neuerdings aber darauf beharrt, dass Hochbauten in Gruppen dastehen und nicht einzeln dem «Alte-Welt-Bild» historischer Quartiere und Städte aufgepfropft werden sollten, ist er jetzt besser als auch schon angekommen. Dies nicht zuletzt, weil in der Londoner City mit ihrem Gewirr von Strassen, engen Lanes und Alleys die Wind und Schatten verursachenden Hochbauten seit je auf Gegner stiessen. Kommt zudem ein Wolkenkratzer wie der London Bridge Tower an einem Verkehrsknotenpunkt zu stehen, genügt dort die gegebene Infrastruktur nicht. Richtig war diesbezüglich in der «Financial Times» der Fingerzeig auf das sinnlose Gedränge aus Betonklötzen und Betonflächen, aus dem der Centrepoint bei der Tottenham Court Road Station emporragt. Geht es Prinz Charles vor allem um «menschliche Dimensionen», so verlangt der «Guardian» für London nach qualitativ besseren Hochbauten – und ähnlich auch ein anderes Blatt, laut welchem Übernamen wie «Helter Skelter», «Walkie-Talkie» und eben auch «Scherbe» sowie «Käseraffel» für geplante Wolkenkratzer von deren Mangel an intellektuellem Gehalt zeugen.

Bessere Standorte denkbar

Wenn aber nicht in der City: Wo denn in London sollen Wolkenkratzer wie die obigen gebaut werden? Nun, sogar für Fosters immerhin bereits zum Wahrzeichen avancierte «Gurke» wären bessere Standorte denkbar. Architekturkritiker, die sich Charles' Klage zum Anlass für eigene Äusserungen nahmen, deuten in Richtung Docklands, Whitechapel oder Bow – nach East London jedenfalls. Aber warum nicht noch ein klein wenig weiter östlich? Wer in der jüngst zum internationalen Bahnhof erhobenen St Pancras Station den Eurostar besteigt, sieht sich unterwegs nach Ebbsfleet schon nach wenigen Minuten von Ödland umgeben. Warum also nicht hier, an der schnellsten Bahnlinie des Landes, eine Wolkenkratzer-Stadt bauen? Aber wo immer Hochhäuser wie die «Käseraffel», die «Scherbe» oder das «Walkie-Talkie» in der Themse-Metropole schliesslich auch zu stehen kommen: Ebenso wie für andere historische Städte ist es auch für London wichtig, dass die Meinungen von Neuerern, aber auch von Traditionalisten wie dem Kronprinzen angehört und diskutiert werden.

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2008.03.03

28. Juli 2007Georges Waser
Neue Zürcher Zeitung

Linien und skulpturale Formen

Die Irakerin Zaha Hadid zählt zu den Architektenstars unserer Zeit. In ihrer britischen Wahlheimat kam sie bis anhin aber kaum zum Zug. Nun widmet ihr das Design Museum London eine Megaschau.

Die Irakerin Zaha Hadid zählt zu den Architektenstars unserer Zeit. In ihrer britischen Wahlheimat kam sie bis anhin aber kaum zum Zug. Nun widmet ihr das Design Museum London eine Megaschau.

Zwar wurden sowohl Hearst's Castle im kalifornischen San Simeon als auch das Shakespeare Memorial Theatre in Stratford-on-Avon von Frauen erbaut. Nebst deren Namen – Julia Morgan und Elizabeth Scott – haben in der Architekturgeschichte auch diejenigen von Aino Aalto oder Lilly Reich sowie, in unserer Zeit, von Kazuyo Sejima oder Benedetta Tagliabue ihren Platz. Dennoch ist ihre Profession – eine der ältesten – noch immer ein ausgesprochener Männerberuf. Umso erfreulicher daher, dass jetzt die bisher wohl aufwendigste Ausstellung des Design Museum in London einer Architektin gilt: der Wahllondonerin Zaha Hadid. Der Moment ist gut gewählt, schloss doch Hadid vor genau dreissig Jahren ihr Studium an der Londoner Architectural Association ab. Diesem waren eine Kindheit in Bagdad – «im Banne von Perserteppichen und deren kniffligen Mustern», wie sich Hadid erinnert – sowie ein Mathematikstudium an der Amerikanischen Universität in Beirut vorausgegangen. Kein Zweifel, Hadid reifte in einem ebenso privilegierten wie kosmopolitischen Milieu heran. Und doch war sie alles andere als eine Senkrechtstarterin. Noch im Jahr 2004, als sie als erste Frau den begehrten Pritzker Prize gewonnen hatte, kam von ihr das Geständnis, sie erwäge mit ihrem in London domizilierten Büro – das damals immerhin schon rund 60 Leute beschäftigte – den Auszug in ein anderes, ihrem Schaffen gegenüber offeneres Land.

Zwischen Kunst und Technik

Ist das, was der Besucher in der Londoner Schau zu sehen bekommt, eine Story der gewonnenen Wettbewerbe und der daraufhin nicht realisierten Projekte? So fragt man sich im ersten Grossraum – und folgert dann, dass Hadid in der bizarren britischen Tradition des Berühmtseins von Architekten für das, was sie nicht gebaut haben, lange Zeit einzig das jüngste Glied war. Vorgänger lassen sich insbesondere unter den einstigen Protagonisten der Architectural Association finden: Cedric Price zum Beispiel, weiter auch die Gruppe Archigram. Und in der Tat ist mit Modellen, Plänen und Gemälden aus Hadids Hand die Liste des Unrealisierten lang. Das längst legendäre Peak-Projekt für Hongkong, ein Wohnkomplex mit Klub, gehört dazu und ebenso das Cardiff Bay Opera House sowie eine bewohnbare Themsebrücke. Mit dieser Brücke – sie wäre seit der von Robert Adam erbauten Pulteney Bridge in Bath die erste Wohnbrücke in Grossbritannien gewesen – wird auch schon klar, weshalb Hadid Grossbritannien vor kurzem noch verlassen wollte. Ihr Durchbruch hier, sieht man von Schottland ab, kam erst vor zwei Jahren mit dem Auftrag, für die Architecture Foundation in London ein permanentes Zuhause zu bauen. Allerdings, wenn auch aus vielen von Preisgerichten gutgeheissenen Projekten nichts wurde: mit den dabei getesteten Ideen und Methoden schuf sich Hadid die Basis für ihren heutigen Höhenflug.

Zum Kern von Hadids bisherigem Schaffen gehören neben dem früh realisierten Vitra-Feuerwehrhaus in Weil am Rhein das Rosenthal Centre for Contemporary Art im amerikanischen Cincinnati, das Phæno-Wissenschaftsmuseum in Wolfsburg sowie das Zentralgebäude des BMW-Werks in Leipzig, und diese Arbeiten werden in der Londoner Ausstellung denn auch besonders gewürdigt. Erlauben einem die Modelle – im Gegensatz zum fertiggestellten Bau – stets auch den Blick von oben, sorgt auf einer die gesamte Galerie begrenzenden Wand ein Videofilm für visuelle Spaziergänge durch das Innere der jeweiligen Architektur. Dann, im zweiten Grossraum, folgt das, was von Hadid demnächst kommen wird – darunter ein Opernhaus in China, ein Museum in Rom, ein Büroturm und ein Opernhaus in Dubai, ein Schifffahrts-Terminal in Salerno und das Aquatics Centre für die Londoner Olympics im Jahr 2012. Augenfällig an allem ist die starke physische Präsenz – der einst hartnäckige Vorwurf, Hadid sei mehr eine Malerin denn eine Architektin, ist damit wohl ein für alle Mal entkräftet. Hadids Bauten erlebt nur jener wirklich, der sich ihnen voll hingibt – der sich hineinsinken lässt in skulpturale Formen und Linien.

Kaum führten Hadid ihre Aufträge vom einen Ende der Welt ans andere, kam aus dem Lager der modernen britischen Klassizisten ein neuer Vorwurf: Die Irakerin beliefere ihre Klientel mit «globalen Statusobjekten», und ihren Bauten fehle ein Zusammenhang mit dem jeweiligen Standort. Blosser Neid? Denkt man daran, dass Zaha Hadids Entwurf für die Londoner Architectural Foundation gerade deshalb gutgeheissen wurde, weil er nicht nur funktionell überzeugte, sondern im Dialog mit den hohen Bauten der Umgebung den richtigen Ton traf, erscheint die Kritik jedenfalls fragwürdig. Hadid hatte schon früher bewiesen, dass sie für ihre Projekte Formen aus dem dafür bestimmten landschaftlichen Rahmen zu schöpfen vermochte. Was jetzt in der Londoner Schau ins Auge springt, ist ein – verglichen mit den linearen und zackigen Elementen früher Arbeiten – schwungvollerer Stil. Sei es der für Hochgeschwindigkeitszüge bestimmte Bahnhof Napoli Afragola, seien es das Projekt der Innsbrucker Nordkettenbahn oder die Signature Towers von Dubai. Man mag im sinnlich anmutenden Ineinanderfliessen der Formen einen Ausdruck von Hadids Weiblichkeit sehen. Dies umso mehr, als es auch der vorherrschende Aspekt in Hadids malerischem Werk ist.

Zaha Hadids Universum

Das Œuvre von Zaha Hadid, die heute in ihrem Architekturbüro rund 250 Leute beschäftigt, reicht vom Hochhaus bis zum Haushaltgegenstand und vom Möbelstück bis zum «Konzept-Auto». All dem zollen die Londoner Aussteller im letzten Sektor ihrer Show Tribut. Zu sehen sind vornehmlich Hadids Stühle: Experimente, so scheint es, mit architektonischen Formeln, Einfälle im Grenzgebiet zwischen Design und Kunst. Und damit ist auch schon ein Stichwort gegeben, das den Besucher zurückführt zum Eingang der Ausstellung. Hier hängt Hadids «Swarm Chandelier»: ein für die Firma Established & Sons konzipierter Leuchter, der aus über 16 000 schwarzen, von Hand aneinandergeknüpften Kristallen besteht. Diese Arbeit hat auf die Bezeichnung Kunst mehr Anspruch als das meiste von dem, was man in London alljährlich von den Anwärtern auf den Turner Prize vorgesetzt bekommt.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2007.07.28

15. Juni 2007Georges Waser
Neue Zürcher Zeitung

Modernismus mit romantischem Touch

Die Royal Festival Hall in London hat Architektur- und Musikgeschichte geschrieben. Nun wurde das von Leslie Martin entworfene Gebäude nach aufwendiger Restaurierung wiedereröffnet.

Die Royal Festival Hall in London hat Architektur- und Musikgeschichte geschrieben. Nun wurde das von Leslie Martin entworfene Gebäude nach aufwendiger Restaurierung wiedereröffnet.

Eigentlich hätte Richard Rogers das Londoner South Bank Centre umgestalten sollen, gewann er doch 1994 einen dafür ausgeschriebenen Architekturwettbewerb. Gemäss Rogers' Plänen sollten die zum Centre gehörenden Bauten - Royal Festival Hall, Queen Elizabeth Hall, Purcell Room und Hayward Gallery - verbessert und der ganze Komplex mit einer kuppelähnlichen Glasstruktur umhüllt werden. Was immer man von diesem Projekt hielt: Ein Facelifting hatte das nach dem südlichen Themseufer benannte Zentrum bitter nötig. Dort, in einer Betonwüste mit versperrten Zugängen, fand sich kaum mehr jemand zurecht. Und dabei war gerade die Royal Festival Hall ein Symbol: der erste wirklich bedeutende öffentliche Bau seit dem Krieg. Weil schliesslich vom Arts Council kein Geld kam, scheiterte 1998 Rogers' Projekt. Danach wurde lange mehr geredet als getan - bis vor zwei Jahren das Architekturbüro Allies and Morrison mit der Renovierung der längst unter Denkmalschutz gestellten Royal Festival Hall beginnen konnte.
Das Ei in der Schachtel

Zwar hatte Grossbritannien nach dem Krieg weder einen Le Corbusier noch einen Frank Lloyd Wright - und Edwin Lutyens, der immerhin als «eminent» gegolten hatte, war bereits gestorben. Doch junge Talente waren da: Leslie Martin, dem Alvar Aalto und Gunnar Asplund als Ansporn dienten, und Peter Moro, der in Bexhill unter Mendelsohn und Chermayeff sowie später mit Lubetkin gearbeitet hatte. Die von Martin und Moro gestaltete Royal Festival Hall enthüllte sich folglich auch als eine wahre Sinfonie von Ideen. Unverkennbar eine Hommage auf eine Seefahrernation waren nautische Elemente; und genial im Kern der Struktur war die wie ein riesiges, in der Gebäudeschachtel schwebendes Ei anmutende Konzerthalle. Die von einer Eisenbahnbrücke sowie von der unter dem Bau durchführenden U-Bahn verursachten akustischen Probleme hatten den Architekten einen besonderen Einfall abverlangt. Was aber ist von diesem ursprünglichen Bau jetzt, nach der 111 Millionen Pfund teuren Renovierung, geblieben - und wie gut funktioniert die renovierte Royal Festival Hall?

Zunächst einmal wurde von Allies and Morrison im Inneren der Konzerthalle die Akustik verbessert, hatten die dort Auftretenden doch oft geklagt, sie könnten ihre eigenen Instrumente nicht hören. Nun wird, wie in einem Gespräch der Dirigent Vladimir Jurowski bestätigte, der Ton weniger absorbiert. Und weiter wurden rings um das «Ei in der Schachtel» nahezu 35 Prozent mehr Raum gewonnen: dies, indem Läden und Administration in einem neuen, der benachbarten Eisenbahnbrücke einverleibten Bau untergebracht sind. Damit steht die Royal Festival Hall wieder als die transparente, von Licht durchflutete Struktur da, die sie einst hatte sein sollen. Wie früher denkt man heute wieder an die grossen Ozeandampfer - zumal auf der wieder zugänglichen Dachterrasse, wo sich der Blick über die Themse hinweg weitet. Nicht radikal, sondern vielmehr diskret, sind diese und andere von Allies and Morrison vorgenommenen Korrekturen ein wohltuendes Understatement. Allerdings sahen sich die Architekten «mehr als Kustoden denn als Neuerer». Zweifelsohne fiel dabei ins Gewicht, dass Graham Morrison in Cambridge beim 1999 gestorbenen Leslie Martin studiert hatte.
Haus mit Geschichte

Allein die Namen der Künstler, die in den ersten zwei Jahren in der Royal Festival Hall auftraten, lesen sich wie eine Ehrentafel: Elisabeth Schwarzkopf, Wilhelm Furtwängler, Karajan, Klemperer, Menuhin, Fischer-Dieskau sowie, nebst vielen anderen, Rudolf Serkin und Claudio Arrau. Später dann kamen Maria Callas und Jacqueline du Pré, aber auch Grössen des Jazz und des Rock wie Count Basie, Frank Sinatra, Errol Garner, Bob Dylan sowie Jimi Hendrix. Und im Juni 2005, unmittelbar vor der Renovierung, sorgte Alfred Brendel für einen stilvollen Ausklang. Jetzt, zur Wiedereröffnung der Royal Festival Hall, spielten am 11. Juni erstmals alle vier im South Bank Centre residierenden Orchester gemeinsam auf: das London Philharmonic Orchestra, das Philharmonia Orchestra, das Orchestra of the Age of Enlightenment sowie die London Sinfonietta. Demnächst soll auch die 1954 von Harrison & Harrison gebaute Orgel wieder in die Hall zurückkehren - allerdings um gut einen Meter nach hinten versetzt. Auch mit wenig lässt sich akustisch viel gewinnen.

Interessant ist, dass zwar in Grossbritannien die Architektur der fünfziger Jahre vielenorts geschmäht wird, dass aber das Volk der Royal Festival Hall stets besonders zugeneigt war. Vom Architekturkritiker des «Observer» wurde sie neulich sogar als «der romantischste vom Modernismus hervorgebrachte Bau im Lande» gelobt. Dies nicht zuletzt deswegen, weil die Royal Festival Hall an eine Zeit des unschuldigen Optimismus erinnert. Was Disraeli schon 1851 von der damaligen Great Exhibition gesagt hatte, galt ein Jahrhundert später auch für das Festival of Britain: dass dieses - und mit ihm die Royal Festival Hall - das Volk die Sünden der Regierung vergessen machte. Wer aber hätte so etwas in jüngster Zeit zu der törichten Millennium Experience und zu deren Denkmal, dem Dome von Greenwich, sagen können?

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2007.06.15

12. August 2006Georges Waser
Neue Zürcher Zeitung

Ein Gegenstück zur Gurke?

Es wurde bereits kurz mitgeteilt: In London soll die auf dem südlichen Themseufer ansässige Tate Gallery of Modern Art erweitert werden. Wie schon in den...

Es wurde bereits kurz mitgeteilt: In London soll die auf dem südlichen Themseufer ansässige Tate Gallery of Modern Art erweitert werden. Wie schon in den...

Es wurde bereits kurz mitgeteilt: In London soll die auf dem südlichen Themseufer ansässige Tate Gallery of Modern Art erweitert werden. Wie schon in den neunziger Jahren, als bekannt wurde, dass die Sammlung in der alten Tate Gallery wegen Platznot aufgeteilt werden würde, liess die Kontroverse nicht auf sich warten. Damals hatte der «Observer» gefordert, statt Geld an den Umbau eines verrosteten, als Ruine dastehenden Kraftwerks zu verschwenden, sollte man gleich ein neues Museum bauen - während der «Daily Telegraph» schrieb, das neue Domizil, eben die Bankside Power Station, sei für ein Museum für moderne Kunst zu gross.

Notwendige Erweiterung

Nun, statt der erhofften 1,8 Millionen Besucher im Jahr kamen seit der Eröffnung der Tate Modern regelmässig weit mehr; letztes Jahr zum Beispiel zählte man 4,1 Millionen Eintritte. Allein deshalb ist eine Erweiterung notwendig geworden. Und dieses Mal ist das Projekt, wie es eben der «Observer» ursprünglich gefordert hatte, ein moderner Bau - er soll im Jahr 2012 bereitstehen und wurde, wie schon die Umwandlung des Kraftwerks, dem Basler Architekturbüro Herzog & de Meuron in Auftrag gegeben.

Dass die von Herzog & de Meuron vorgesehene, an eine babylonische Zikkurat erinnernde und 215 Millionen Pfund teure Glasstruktur nicht jedermann behagen würde, war vorauszusehen - nicht zuletzt deshalb auch, weil ein diesem leicht ähnliches Projekt, von Daniel Libeskind zur Erweiterung des Victoria & Albert Museum geplant, jahrelang umstritten und schliesslich gescheitert war. Konkret bemängelte am neuen Tate-Projekt zum Beispiel die Twentieth Century Society, eine Denkmalschutzorganisation, dass dieses die bestehende Tate Modern weit überragen und nicht zu deren dominantem horizontalem Gepräge passen würde. Man befürchtet also, dass die verschachtelt anmutende Glaspyramide, obschon sie auf der der Themse abgewandten Seite der Tate Modern entstehe, die bauliche Silhouette der Londoner Bankside verunstalten würde.

Kühnes Gegenstück

Allerdings gibt es auch Befürworter, wie eine Umfrage der Rundfunkorganisation BBC bewies. So eine Stimme aus dem Volk, die das bereits als «Tate Modern 2» bekannte Projekt als Vermächtnis an die Gegenwartskunst pries, beispielhaft insbesondere, wenn man daran denke, wie viel Geld in London für die Olympischen Spiele, also für temporäre Strukturen, vorgesehen sei. Was, ob einer das «Tate Modern 2»-Projekt nun mag oder nicht, gewiss ist: Mit der Glaspyramide hätte die Bankside ein kühnes Gegenstück zu der aus der City über die Themse hinweg grüssenden «Gurke» des Architekten Norman Foster.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2006.08.12

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Presseschau 12

06. Oktober 2015Georges Waser
Neue Zürcher Zeitung

Markenname mit Kunsttempel

Als Vorreiter der YBA hatte er das Establishment einst gegeisselt. Anders jetzt, mit der imposanten Newport Street Gallery. Ob aber Damien Hirst nicht doch noch einige Tricks im Hut stecken hat?

Als Vorreiter der YBA hatte er das Establishment einst gegeisselt. Anders jetzt, mit der imposanten Newport Street Gallery. Ob aber Damien Hirst nicht doch noch einige Tricks im Hut stecken hat?

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verknüpfte Bauwerke
Newport Street Gallery

27. Dezember 2008Georges Waser
Neue Zürcher Zeitung

Palladio und die Finanzkrise

Architekten retten eine Londoner Schau

Architekten retten eine Londoner Schau

Ein englischer Tribut zum 500. Geburtstag von Andrea Palladio ist ein Muss. Palladios Einfluss auf die Architektur Grossbritanniens begann, als Inigo Jones im Jahr 1614 mit Zeichnungen des Meisters aus Vicenza nach London zurückkehrte und in Greenwich das Queen's House errichtete. Beispiele sind aber auch Ragley Hall in Warwickshire oder – unweit davon – Hagley Hall: grandiose Landhäuser, die ihre Besitzer im Stil Palladios umwandeln liessen. Ebenso Chiswick House und Burlington House am Londoner Piccadilly, mit denen der dritte Earl of Burlington zum «Palladian Revival» den Auftakt gab. Im Burlington House, dem heutigen Domizil der Royal Academy of Arts, wird nun vom 31. Januar bis zum 13. April die grosse, zuvor in Vicenza zelebrierte Palladio-Ausstellung (NZZ 7. 11. 08) gastieren, nachdem das Ganze im letzten Moment fast gescheitert wäre.

Dass sich in Grossbritannien die Finanzkrise auch auf Museen auswirken würde, war voraussehbar, sind doch diese Institutionen – zumindest im Falle teurer Ausstellungen – oft auf Sponsoren angewiesen. Zudem kam das Sponsoring bis anhin meist aus der Londoner City. Da sie keine staatliche Subvention empfängt, ist die Royal Academy im gegenwärtigen Klima besonders verwundbar. Unerwartet schnell kam nun die Hiobsbotschaft: Für ihre Palladio-Ausstellung konnte die Royal Academy keinen Sponsor anziehen. Übrigens war bereits im November an der nationalen Konferenz der Museumsdirektoren ein Rückgang an Zuschüssen aus der Businesswelt festgestellt worden. Doch nun folgte auf die schlechte Nachricht aus der Royal Academy eine gute Kunde: Eine Gruppe von Royal Academicians habe in die eigene Tasche gegriffen und die Palladio-Schau gerettet – allen voran die Architekten Richard Rogers und Norman Foster.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Royal Academy keine Probleme hatte, für ihre dreimonatige, der Gegenwartskunst gewidmete «Saison» den Sponsor zu halten. Nach diesem, GlaxoSmithKline, ist das Ereignis nämlich mit «GSK Contemporary» benannt. Allerdings weist sich ein Unternehmen durch das Sponsoring eines solchen Anlasses eben als «cool» aus. Und mit einem solchen Etikett lässt sich in einer modischen Trends ergebenen Gesellschaft für die eigene Sache leichter Werbung treiben als mit dem Namen eines grossen Klassizisten! Insbesondere wenn dieser, wie Palladio in Grossbritannien, als «the architects' architect» gilt – was sich im glücklichen Umstand spiegelt, dass der Royal Academy für ihre Ausstellung jetzt gerade zwei Stararchitekten zu Hilfe kamen.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2008.12.27

31. Oktober 2008Georges Waser
Neue Zürcher Zeitung

Mekka für ein neues Publikum?

Das neue Kulturzentrum Kings Place in London setzt bemerkenswerte Akzente

Das neue Kulturzentrum Kings Place in London setzt bemerkenswerte Akzente

Erstmals seit der Eröffnung des Barbican Centre, seit über 25 Jahren also, hat London wieder ein zweckgebautes Konzertgebäude erhalten. Mit ihrem Domizil, Kings Place, wurde ein für die Themsestadt neues Konzept realisiert: unter dem Erdgeschoss ein Kulturzentrum und in den oberen sieben Stockwerken ein gigantischer Bürokomplex. Dieser – bereits sind hier die Zeitungen «The Guardian» und «The Observer» sowie die Gesellschaft Network Rail eingezogen – erbringt den finanziellen Rückhalt, erhält das Kulturzentrum doch keine öffentliche Subvention. Neun Jahre Bauzeit und 100 Millionen Pfund hat Kings Place beansprucht, doch das Resultat kann sich sehen lassen: als erster Eindruck für die Eintretenden ein beim Blick nach oben geradezu atemberaubendes Atrium, und in den Untergeschossen ein Layout mit unerwarteten architektonischen Perspektiven. Viel Licht, zum Teil sogar natürliches, sorgt dafür, dass man sich hier schon vor dem musikalischen Auftakt beschwingt statt – wie zum Beispiel im Barbican – erdrückt fühlt. Mit Kings Place haben sich die Architekten Dixon Jones einmal mehr Lob verdient; ihr Gespür für Stätten der Kultur bewiesen sie in London bereits mit baulichen Veränderungen im Royal Opera House, in der National Portrait Gallery sowie der National Gallery.

Quartier im Aufwind

Der Gegend nördlich der Bahnhöfe King's Cross und St Pancras, jahrzehntelang das öde Revier von Tramps und Prostituierten, kann ein Kulturzentrum nur gut anstehen. Schon als neues Domizil der British Library hat das Quartier vor wenigen Jahren einen Aufschwung erfahren; mit der kürzlichen Verlegung des Eurostar-Bahnhofs von Waterloo nach St Pancras ist das Viertel für im Zug von Kontinentaleuropa anreisende Touristen gar zum Eingangstor Grossbritanniens geworden. Zwar ist, was zwischen St Pancras und Kings Place liegt, als Teil eines der grössten urbanen Regenerierungsprojekte in Europa gegenwärtig noch eine Baustelle. Hinter Kings Place allerdings ist diese Regenerierung bereits Tatsache geworden: Hier, im dem Kulturzentrum anliegenden Battlebridge Basin, liegen wunderschöne Kanalboote vor Anker, und ringsum sind aus alten Warenlagern begehrte Mietobjekte geworden. Aus dem Atrium des Kings Place führen Türen auf eine Terrasse dicht am Wasser.

Kings Place soll auch mehr oder weniger zufälligen Besuchern etwas bieten – sei es in der Mittagspause oder am frühen Abend. So beherbergt der Bau zwei Kunstgalerien, wovon sich die eine mit stets wechselnden Ausstellungen als ein Schaufenster sowohl für international bekannte Künstler wie auch für junge Talente versteht. Die Pangolin Gallery gleich beim Eingang hingegen ist ein Zweig der gleichnamigen, unter britischen Bildhauern zum Begriff gewordenen Giesserei in Gloucestershire; sie wird nicht nur Plastiken ausstellen, sondern auch regelmässig einzelnen Bildhauern «Residenz» gewähren – dem Zentrum soll damit wohl die Aura einer «Werkstätte» verliehen werden. Dies dürfte dem Initianten und Direktor Peter Millican im Bereich Musik bereits gelungen sein, haben doch das Orchestra of the Age of Enlightenment und die London Sinfonietta im Kings Place ihr neues permanentes Domizil gefunden. Indem sich beide Klangkörper für erzieherische Projekte in lokalen Schulen und Vereinen zur Verfügung stellen, wird dem viktorianischen Ideal des kulturellen Einbezugs unterprivilegierter Bevölkerungsgruppen Rechnung getragen.
Zwei Säle, viele Stile

Kings Place beherbergt zwei Konzertsäle, wobei Hall Two mit 220 Sitz- oder 330 Stehplätzen eher als Studio gelten kann. Anders Hall One: Diese, wunderschön mit hellem Eichenholz getäfelt und überraschend hoch bei 420 Sitzen, darf man mit Fug und Recht als Prunkstück bezeichnen. Kantige Pfeiler über einer ringsum laufenden Galerie scheinen die Decke zu tragen, und mit Vorhängen zwischen diesen Pfeilern und den Wänden lässt sich die Akustik je nach Darbietung – man denke an das Rezitieren von Lyrik oder elektronisch verstärkte Musik – modifizieren. Zwar fällt das Beurteilen eines neuen Konzertsaals beim ersten Besuch selten leicht; aber den Zuhörern des Orion String Quartet mochte am Ton die einer Aufnahme auf CD ähnliche Ausgeglichenheit, ja Feinheit auffallen. Während dreier Streichquartette Beethovens, ob langsam oder bei gesteigertem Tempo, ob ruhig oder anschwellend, fehlte es der Musik in diesem tief in den Erdboden versenkten Raum nie an Klarheit und Wärme. Und obgleich in diesen Konzertsälen insbesondere die klassische Musik zu Hause ist, fehlen auch Jazz, Blues, Flamenco und Rock nicht im Programm.

Zwar hat Peter Millican dem mächtigen South Bank Centre zwei dort residierende Klangkörper weggenommen – aber gibt das den etablierten Londoner Musikhochburgen Grund zu Eifersucht? Nicht unbedingt. Vor allem nicht, wenn in Kings Place das Programm, bisher ähnlich beeindruckend wie der Bau, weiterhin eklektisch sein sollte; so eben, wie es zum Beispiel in der altehrwürdigen – und exzellenten – Wigmore Hall nicht denkbar wäre. Also könnte Kings Place durchaus zum Mekka für ein neues Publikum werden; damit wäre auch der langen Zeitspanne ein Ende gesetzt, in welcher die Musik im Norden Londons nicht Fuss zu fassen vermochte. So blieb in den sechziger Jahren ein Aufenthalt des Royal Philharmonic Orchestra in der – wohlverstanden: begüterten – Gegend von Swiss Cottage äusserst befristet.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2008.10.31

15. August 2008Georges Waser
Neue Zürcher Zeitung

Von roher Schönheit

Endlich hat der mit dem Guggenheim Museum in Bilbao und der Disney Concert Hall in Los Angeles berühmt gewordene Frank Gehry auch in England einen Bau...

Endlich hat der mit dem Guggenheim Museum in Bilbao und der Disney Concert Hall in Los Angeles berühmt gewordene Frank Gehry auch in England einen Bau...

Endlich hat der mit dem Guggenheim Museum in Bilbao und der Disney Concert Hall in Los Angeles berühmt gewordene Frank Gehry auch in England einen Bau stehen. Aus seinem Siedlungsprojekt mit Sportzentrum für den Küstenort Hove wurde nichts, und sein Maggie's Centre Dundee - ein Haus für Krebskranke - steht in Schottland. Wohlgemerkt, Gehrys erste in England entstandene Struktur wird nur gerade einen Sommer überdauern: Es ist der Ende Juli eingeweihte Serpentine Gallery Pavilion, dessen Standort die an den Londoner Hyde Park grenzenden Kensington Gardens sind. Übrigens entsprang das Konzept der erstmaligen Zusammenarbeit Gehrys mit seinem Sohn Samuel.

Schaufenster für Baukunst

Die Serpentine Gallery, 1934 als Teestube erbaut, ist in London seit geraumer Zeit eines der vorrangigen Ausstellungslokale für Kunst der Moderne und der Gegenwart - Louise Bourgeois, Damien Hirst, Piero Manzoni, Man Ray, Cindy Sherman, Cy Twombly und Andy Warhol, sie alle wurden seit 1970 hier gezeigt. Seit dem Jahr 2000 aber versteht sich die Galerie auch als Schaufenster für Grössen, die der Baukunst neue Wege weisen. Genauer noch: für Stararchitekten aus der ganzen Welt, die - wie eben Gehry - in England noch nie gebaut haben. Der für drei Monate auf dem die Gallery umgebenden Grasland zu errichtende Pavillon, mit dem jedes Jahr ein anderer Architekt beauftragt wird, soll tagsüber als Café und nachts als Forum für Debatten und Unterhaltungszwecke genutzt werden können. Ein Budget für dieses Unternehmen hat die Serpentine Gallery nicht; das Geld für den Pavillon kommt von Sponsoren und aus dem Verkauf der jeweiligen Struktur, die nach rund drei Monaten ihren Dienst erfüllt hat.

Obschon sie relativ wenig Geld kosten dürfen, seien die Pavillons unglaublich gut - dieses Kompliment kommt von keinem Geringeren als Richard Rogers. Und wer sind die Vorgänger von Gehry, dem diesjährigen Architekten? Sie heissen Olafur Eliasson und Kjetil Thorsen (2007), Rem Koolhaas (2006), Álvaro Siza und Eduardo Souto de Moura (2005), Oscar Niemeyer (2003), Toyo Ito (2002), Daniel Libeskind (2001) sowie Zaha Hadid (2000). Bereits siebenmal war übrigens die Ingenieurfirma Arup mitbeteiligt. Einzig ein Pavillon in der Form eines Berges, für den 2004 das niederländische Architekturbüro MVRDV den Auftrag bekommen hatte, kam nicht zustande.

Laut Gehry sollen ihm bei der Konzeption seines Pavillons Leonardo da Vincis Zeichnungen für riesige Katapulte eine Anregung gewesen sein - und in der Tat denkt, wer sich der Struktur nähert, an einen gewaltigen, zur Belagerung einer Stadt dienenden Mechanismus. Die Konstruktion besteht aus kolossalen, in bizarren Winkeln aufragenden Holzbalken, aus stachelig anmutenden Stahlelementen und grossen, sich überschneidenden Glasplatten - Letztere ein Schutz gegen Regen und Wind und zugleich eine Art Lichtfilter. Obschon scheinbar zufällig, ist die Struktur geometrisch komplex. So sind denn die beiden Zugänge auch nach der Kuppel der Serpentine Gallery ausgerichtet. Um diejenigen, welche hindurchpromenieren, greift der Pavillon wie ein Amphitheater aus: Die Sitzgelegenheiten steigen in Terrassen an, und über diese erheben sich zwei kleine, eigentlichen Aussichtspunkten ähnliche Podien, die von den beiden Längsseiten des Baus her zugänglich sind. Gehrys Pavillon wohnen sowohl eine rohe Schönheit als auch verspielte Einfälle inne - dank denen er als Aufführungsort für Shakespeares «Sommernachtstraum» gut denkbar wäre.

Langgehegte Idee

An der Pressekonferenz in der Serpentine Gallery bemerkte Gehry, er habe nichts zu sagen; was er habe sagen wollen, stehe draussen vor der Galerie. Einem Journalisten hatte er allerdings gestanden, mit derart bizarr aneinandergefügten Holzbalken habe er einst für sich selbst ein Haus bauen wollen. Aus der Idee sei nichts geworden - und vielleicht sei eben jetzt der Serpentine Gallery Pavilion dieses Haus. Jedenfalls hat damit Frank Gehry einmal mehr bewiesen, wie sehr die Einheit von Form und Funktion seine ikonischen Bauten auszeichnet. Der Reihe der Serpentine Gallery Pavilions steht der seine gut an - als ein vortreffliches Glied in der von der Gallery begründeten Tradition kurzlebiger Londoner Wahrzeichen.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2008.08.15

03. März 2008Georges Waser
Neue Zürcher Zeitung

Feindbild Hochhaus

Das alte London, welches Künstler wie Canaletto und Monet inspirierte, kannte keine Hochhäuser. Diese Bilderbuch-Silhouette der Themse-Metropole wünscht sich Prinz Charles zurück. Jüngst holte er zu einem weiteren Angriff gegen neu geplante Glastürme aus.

Das alte London, welches Künstler wie Canaletto und Monet inspirierte, kannte keine Hochhäuser. Diese Bilderbuch-Silhouette der Themse-Metropole wünscht sich Prinz Charles zurück. Jüngst holte er zu einem weiteren Angriff gegen neu geplante Glastürme aus.

«Charles does it again», verkündete im Februar eine Schlagzeile der englischen Tageszeitung «The Guardian» – und gemeint war damit, dass sich der Kronprinz einmal mehr mit Schimpfwörtern zur modernen Architektur geäussert hatte. In einer Rede im St James's Palace, so vernahm man, warnte Charles vor einem der Londoner City, aber auch historischen Städten wie Edinburg und Bath drohenden «Überhandnehmen der Eiterbeulen». Anders gesagt: Ein Dorn im Auge sind Charles die Wolkenkratzer, zum Beispiel das 44-stöckige, 240 Meter hohe und bereits unter dem Übernamen «Käseraffel» bekannte Leadenhall Building, das in der City of London als Nachbar von Norman Fosters «Gurke» entstehen soll. Ausser Richard Rogers – von dem die Pläne für die «Käseraffel» stammen – dürfte insbesondere der Londoner Bürgermeister Ken Livingstone aufgehorcht haben, war er es doch, der dem Wolkenkratzer-Boom, welcher London mit mindestens zwölf weiteren markanten Türmen bereichern soll, den Segen erteilt hatte.

Londons langsame Verwandlung

Charles' Kreuzzug gegen die zeitgenössische Architektur begann 1984, als er den zur Erweiterung der englischen Nationalgalerie geplanten Neubau als «monströsen Karbunkel» abtat. Einige Jahre später brachte er es mit beleidigenden Worten zustande, dass das Arup-Projekt zur Umgestaltung des Paternoster Square verworfen wurde und sein Günstling John Simpson den Auftrag für neue Pläne bekam (die dann allerdings auch scheitern sollten). Später verglich der Kronprinz die neue British Library in London mit einem einzig der Geheimpolizei würdigen Domizil. Zudem erschien ihm Birminghams neue Zentralbibliothek mehr zur Verbrennung als zum Aufbewahren von Büchern geeignet. Und jetzt, nur zwei Wochen nach seinem Angriff auf die Wolkenkratzer, hat er einen fensterlosen Neubau auf dem Campus der University of Essex mit einem Abfalleimer verglichen! Kein Wunder, dass einmal mehr auch an ihm Kritik geübt wird. Eine Stimme im Internet nannte Charles einen alten Possenreisser, der in den Tagen des grossen Wren sogar dessen St Paul's Cathedral abgelehnt hätte, und im «Observer» wurde das nach des Prinzen Vision entstandene Modelldorf Poundbury als lebloser Pastiche, ja ungesundes Hirngespinst gegeisselt.

Fast dreihundert Jahre lang, seit dem Grossen Feuer von 1666, baute man in London bis in eine gewisse Höhe und nicht darüber hinaus. In der Silhouette, wie sie Canaletto malte, dominierten die Domkuppeln und Türme von Wren, Hawksmoor und Thomas Archer – und um so hoch bauen zu dürfen, musste ein Architekt ausnehmend gut und wohl auch eher mit Gott als dem Mammon im Bunde sein. Als 1999 an der Themse das 135 Meter hohe «London Eye» bereitstand, gewahrte man von diesem Riesenrad aus Cesar Pellis Turm in der fernen Canary Wharf in einsamer Grösse – das Nest von Hochhäusern, das ihn heute umgibt, war erst am Entstehen. Fosters «Gurke» wartete auf die Baubewilligung, und auch von der heute schief am südlichen Themseufer stehenden City Hall fehlte noch jede Spur. Für diese und andere inzwischen verwirklichte Bauten war das auch als Millennium Wheel bezeichnete Riesenrad eine Art Schrittmacher; erst geschmäht und dann ein Erfolg, schien es der Beweis, dass sich die Bevölkerung für radikale Strukturen im englischen Stadtbild zu erwärmen begann.

Sowohl in Liverpool, Manchester und Birmingham als auch in Glasgow, Newcastle und Leeds hat sich das Interesse an Wolkenkratzern geregt. In London aber ist unter Investoren und Stararchitekten der Traum von einer schönen neuen und vertikalen Welt am intensivsten. Zu dieser Welt sollen in der City sowohl Richard Rogers' «Käseraffel» als auch ein 64-stöckiger Bau von Kohn Pedersen Fox sowie auf der South Bank ein 52-stöckiger Turm von Ian Simpson gehören – und ebenfalls auf der South Bank der London Bridge Tower von Renzo Piano, der – nach Verzögerungen modifiziert – jetzt mit 72 Stockwerken «nur noch» 310 Meter hoch werden soll. Tatsächlich hat Charles allen Grund, sich über das Erscheinen dieser phallischen «Geld-ist-Macht-Türme» zu sorgen. Kommen zwei bei der Victoria Station geplante Hochhäuser zustande, könnten diese über den Garten des Buckingham Palace hinauswachsen und ihm die Sicht von Osten auf diesen verderben.

Meist neigt Prinz Charles, wenn es um Architektur geht, zu einem unglücklichen Vokabular. Indem er neuerdings aber darauf beharrt, dass Hochbauten in Gruppen dastehen und nicht einzeln dem «Alte-Welt-Bild» historischer Quartiere und Städte aufgepfropft werden sollten, ist er jetzt besser als auch schon angekommen. Dies nicht zuletzt, weil in der Londoner City mit ihrem Gewirr von Strassen, engen Lanes und Alleys die Wind und Schatten verursachenden Hochbauten seit je auf Gegner stiessen. Kommt zudem ein Wolkenkratzer wie der London Bridge Tower an einem Verkehrsknotenpunkt zu stehen, genügt dort die gegebene Infrastruktur nicht. Richtig war diesbezüglich in der «Financial Times» der Fingerzeig auf das sinnlose Gedränge aus Betonklötzen und Betonflächen, aus dem der Centrepoint bei der Tottenham Court Road Station emporragt. Geht es Prinz Charles vor allem um «menschliche Dimensionen», so verlangt der «Guardian» für London nach qualitativ besseren Hochbauten – und ähnlich auch ein anderes Blatt, laut welchem Übernamen wie «Helter Skelter», «Walkie-Talkie» und eben auch «Scherbe» sowie «Käseraffel» für geplante Wolkenkratzer von deren Mangel an intellektuellem Gehalt zeugen.

Bessere Standorte denkbar

Wenn aber nicht in der City: Wo denn in London sollen Wolkenkratzer wie die obigen gebaut werden? Nun, sogar für Fosters immerhin bereits zum Wahrzeichen avancierte «Gurke» wären bessere Standorte denkbar. Architekturkritiker, die sich Charles' Klage zum Anlass für eigene Äusserungen nahmen, deuten in Richtung Docklands, Whitechapel oder Bow – nach East London jedenfalls. Aber warum nicht noch ein klein wenig weiter östlich? Wer in der jüngst zum internationalen Bahnhof erhobenen St Pancras Station den Eurostar besteigt, sieht sich unterwegs nach Ebbsfleet schon nach wenigen Minuten von Ödland umgeben. Warum also nicht hier, an der schnellsten Bahnlinie des Landes, eine Wolkenkratzer-Stadt bauen? Aber wo immer Hochhäuser wie die «Käseraffel», die «Scherbe» oder das «Walkie-Talkie» in der Themse-Metropole schliesslich auch zu stehen kommen: Ebenso wie für andere historische Städte ist es auch für London wichtig, dass die Meinungen von Neuerern, aber auch von Traditionalisten wie dem Kronprinzen angehört und diskutiert werden.

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2008.03.03

28. Juli 2007Georges Waser
Neue Zürcher Zeitung

Linien und skulpturale Formen

Die Irakerin Zaha Hadid zählt zu den Architektenstars unserer Zeit. In ihrer britischen Wahlheimat kam sie bis anhin aber kaum zum Zug. Nun widmet ihr das Design Museum London eine Megaschau.

Die Irakerin Zaha Hadid zählt zu den Architektenstars unserer Zeit. In ihrer britischen Wahlheimat kam sie bis anhin aber kaum zum Zug. Nun widmet ihr das Design Museum London eine Megaschau.

Zwar wurden sowohl Hearst's Castle im kalifornischen San Simeon als auch das Shakespeare Memorial Theatre in Stratford-on-Avon von Frauen erbaut. Nebst deren Namen – Julia Morgan und Elizabeth Scott – haben in der Architekturgeschichte auch diejenigen von Aino Aalto oder Lilly Reich sowie, in unserer Zeit, von Kazuyo Sejima oder Benedetta Tagliabue ihren Platz. Dennoch ist ihre Profession – eine der ältesten – noch immer ein ausgesprochener Männerberuf. Umso erfreulicher daher, dass jetzt die bisher wohl aufwendigste Ausstellung des Design Museum in London einer Architektin gilt: der Wahllondonerin Zaha Hadid. Der Moment ist gut gewählt, schloss doch Hadid vor genau dreissig Jahren ihr Studium an der Londoner Architectural Association ab. Diesem waren eine Kindheit in Bagdad – «im Banne von Perserteppichen und deren kniffligen Mustern», wie sich Hadid erinnert – sowie ein Mathematikstudium an der Amerikanischen Universität in Beirut vorausgegangen. Kein Zweifel, Hadid reifte in einem ebenso privilegierten wie kosmopolitischen Milieu heran. Und doch war sie alles andere als eine Senkrechtstarterin. Noch im Jahr 2004, als sie als erste Frau den begehrten Pritzker Prize gewonnen hatte, kam von ihr das Geständnis, sie erwäge mit ihrem in London domizilierten Büro – das damals immerhin schon rund 60 Leute beschäftigte – den Auszug in ein anderes, ihrem Schaffen gegenüber offeneres Land.

Zwischen Kunst und Technik

Ist das, was der Besucher in der Londoner Schau zu sehen bekommt, eine Story der gewonnenen Wettbewerbe und der daraufhin nicht realisierten Projekte? So fragt man sich im ersten Grossraum – und folgert dann, dass Hadid in der bizarren britischen Tradition des Berühmtseins von Architekten für das, was sie nicht gebaut haben, lange Zeit einzig das jüngste Glied war. Vorgänger lassen sich insbesondere unter den einstigen Protagonisten der Architectural Association finden: Cedric Price zum Beispiel, weiter auch die Gruppe Archigram. Und in der Tat ist mit Modellen, Plänen und Gemälden aus Hadids Hand die Liste des Unrealisierten lang. Das längst legendäre Peak-Projekt für Hongkong, ein Wohnkomplex mit Klub, gehört dazu und ebenso das Cardiff Bay Opera House sowie eine bewohnbare Themsebrücke. Mit dieser Brücke – sie wäre seit der von Robert Adam erbauten Pulteney Bridge in Bath die erste Wohnbrücke in Grossbritannien gewesen – wird auch schon klar, weshalb Hadid Grossbritannien vor kurzem noch verlassen wollte. Ihr Durchbruch hier, sieht man von Schottland ab, kam erst vor zwei Jahren mit dem Auftrag, für die Architecture Foundation in London ein permanentes Zuhause zu bauen. Allerdings, wenn auch aus vielen von Preisgerichten gutgeheissenen Projekten nichts wurde: mit den dabei getesteten Ideen und Methoden schuf sich Hadid die Basis für ihren heutigen Höhenflug.

Zum Kern von Hadids bisherigem Schaffen gehören neben dem früh realisierten Vitra-Feuerwehrhaus in Weil am Rhein das Rosenthal Centre for Contemporary Art im amerikanischen Cincinnati, das Phæno-Wissenschaftsmuseum in Wolfsburg sowie das Zentralgebäude des BMW-Werks in Leipzig, und diese Arbeiten werden in der Londoner Ausstellung denn auch besonders gewürdigt. Erlauben einem die Modelle – im Gegensatz zum fertiggestellten Bau – stets auch den Blick von oben, sorgt auf einer die gesamte Galerie begrenzenden Wand ein Videofilm für visuelle Spaziergänge durch das Innere der jeweiligen Architektur. Dann, im zweiten Grossraum, folgt das, was von Hadid demnächst kommen wird – darunter ein Opernhaus in China, ein Museum in Rom, ein Büroturm und ein Opernhaus in Dubai, ein Schifffahrts-Terminal in Salerno und das Aquatics Centre für die Londoner Olympics im Jahr 2012. Augenfällig an allem ist die starke physische Präsenz – der einst hartnäckige Vorwurf, Hadid sei mehr eine Malerin denn eine Architektin, ist damit wohl ein für alle Mal entkräftet. Hadids Bauten erlebt nur jener wirklich, der sich ihnen voll hingibt – der sich hineinsinken lässt in skulpturale Formen und Linien.

Kaum führten Hadid ihre Aufträge vom einen Ende der Welt ans andere, kam aus dem Lager der modernen britischen Klassizisten ein neuer Vorwurf: Die Irakerin beliefere ihre Klientel mit «globalen Statusobjekten», und ihren Bauten fehle ein Zusammenhang mit dem jeweiligen Standort. Blosser Neid? Denkt man daran, dass Zaha Hadids Entwurf für die Londoner Architectural Foundation gerade deshalb gutgeheissen wurde, weil er nicht nur funktionell überzeugte, sondern im Dialog mit den hohen Bauten der Umgebung den richtigen Ton traf, erscheint die Kritik jedenfalls fragwürdig. Hadid hatte schon früher bewiesen, dass sie für ihre Projekte Formen aus dem dafür bestimmten landschaftlichen Rahmen zu schöpfen vermochte. Was jetzt in der Londoner Schau ins Auge springt, ist ein – verglichen mit den linearen und zackigen Elementen früher Arbeiten – schwungvollerer Stil. Sei es der für Hochgeschwindigkeitszüge bestimmte Bahnhof Napoli Afragola, seien es das Projekt der Innsbrucker Nordkettenbahn oder die Signature Towers von Dubai. Man mag im sinnlich anmutenden Ineinanderfliessen der Formen einen Ausdruck von Hadids Weiblichkeit sehen. Dies umso mehr, als es auch der vorherrschende Aspekt in Hadids malerischem Werk ist.

Zaha Hadids Universum

Das Œuvre von Zaha Hadid, die heute in ihrem Architekturbüro rund 250 Leute beschäftigt, reicht vom Hochhaus bis zum Haushaltgegenstand und vom Möbelstück bis zum «Konzept-Auto». All dem zollen die Londoner Aussteller im letzten Sektor ihrer Show Tribut. Zu sehen sind vornehmlich Hadids Stühle: Experimente, so scheint es, mit architektonischen Formeln, Einfälle im Grenzgebiet zwischen Design und Kunst. Und damit ist auch schon ein Stichwort gegeben, das den Besucher zurückführt zum Eingang der Ausstellung. Hier hängt Hadids «Swarm Chandelier»: ein für die Firma Established & Sons konzipierter Leuchter, der aus über 16 000 schwarzen, von Hand aneinandergeknüpften Kristallen besteht. Diese Arbeit hat auf die Bezeichnung Kunst mehr Anspruch als das meiste von dem, was man in London alljährlich von den Anwärtern auf den Turner Prize vorgesetzt bekommt.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2007.07.28

15. Juni 2007Georges Waser
Neue Zürcher Zeitung

Modernismus mit romantischem Touch

Die Royal Festival Hall in London hat Architektur- und Musikgeschichte geschrieben. Nun wurde das von Leslie Martin entworfene Gebäude nach aufwendiger Restaurierung wiedereröffnet.

Die Royal Festival Hall in London hat Architektur- und Musikgeschichte geschrieben. Nun wurde das von Leslie Martin entworfene Gebäude nach aufwendiger Restaurierung wiedereröffnet.

Eigentlich hätte Richard Rogers das Londoner South Bank Centre umgestalten sollen, gewann er doch 1994 einen dafür ausgeschriebenen Architekturwettbewerb. Gemäss Rogers' Plänen sollten die zum Centre gehörenden Bauten - Royal Festival Hall, Queen Elizabeth Hall, Purcell Room und Hayward Gallery - verbessert und der ganze Komplex mit einer kuppelähnlichen Glasstruktur umhüllt werden. Was immer man von diesem Projekt hielt: Ein Facelifting hatte das nach dem südlichen Themseufer benannte Zentrum bitter nötig. Dort, in einer Betonwüste mit versperrten Zugängen, fand sich kaum mehr jemand zurecht. Und dabei war gerade die Royal Festival Hall ein Symbol: der erste wirklich bedeutende öffentliche Bau seit dem Krieg. Weil schliesslich vom Arts Council kein Geld kam, scheiterte 1998 Rogers' Projekt. Danach wurde lange mehr geredet als getan - bis vor zwei Jahren das Architekturbüro Allies and Morrison mit der Renovierung der längst unter Denkmalschutz gestellten Royal Festival Hall beginnen konnte.
Das Ei in der Schachtel

Zwar hatte Grossbritannien nach dem Krieg weder einen Le Corbusier noch einen Frank Lloyd Wright - und Edwin Lutyens, der immerhin als «eminent» gegolten hatte, war bereits gestorben. Doch junge Talente waren da: Leslie Martin, dem Alvar Aalto und Gunnar Asplund als Ansporn dienten, und Peter Moro, der in Bexhill unter Mendelsohn und Chermayeff sowie später mit Lubetkin gearbeitet hatte. Die von Martin und Moro gestaltete Royal Festival Hall enthüllte sich folglich auch als eine wahre Sinfonie von Ideen. Unverkennbar eine Hommage auf eine Seefahrernation waren nautische Elemente; und genial im Kern der Struktur war die wie ein riesiges, in der Gebäudeschachtel schwebendes Ei anmutende Konzerthalle. Die von einer Eisenbahnbrücke sowie von der unter dem Bau durchführenden U-Bahn verursachten akustischen Probleme hatten den Architekten einen besonderen Einfall abverlangt. Was aber ist von diesem ursprünglichen Bau jetzt, nach der 111 Millionen Pfund teuren Renovierung, geblieben - und wie gut funktioniert die renovierte Royal Festival Hall?

Zunächst einmal wurde von Allies and Morrison im Inneren der Konzerthalle die Akustik verbessert, hatten die dort Auftretenden doch oft geklagt, sie könnten ihre eigenen Instrumente nicht hören. Nun wird, wie in einem Gespräch der Dirigent Vladimir Jurowski bestätigte, der Ton weniger absorbiert. Und weiter wurden rings um das «Ei in der Schachtel» nahezu 35 Prozent mehr Raum gewonnen: dies, indem Läden und Administration in einem neuen, der benachbarten Eisenbahnbrücke einverleibten Bau untergebracht sind. Damit steht die Royal Festival Hall wieder als die transparente, von Licht durchflutete Struktur da, die sie einst hatte sein sollen. Wie früher denkt man heute wieder an die grossen Ozeandampfer - zumal auf der wieder zugänglichen Dachterrasse, wo sich der Blick über die Themse hinweg weitet. Nicht radikal, sondern vielmehr diskret, sind diese und andere von Allies and Morrison vorgenommenen Korrekturen ein wohltuendes Understatement. Allerdings sahen sich die Architekten «mehr als Kustoden denn als Neuerer». Zweifelsohne fiel dabei ins Gewicht, dass Graham Morrison in Cambridge beim 1999 gestorbenen Leslie Martin studiert hatte.
Haus mit Geschichte

Allein die Namen der Künstler, die in den ersten zwei Jahren in der Royal Festival Hall auftraten, lesen sich wie eine Ehrentafel: Elisabeth Schwarzkopf, Wilhelm Furtwängler, Karajan, Klemperer, Menuhin, Fischer-Dieskau sowie, nebst vielen anderen, Rudolf Serkin und Claudio Arrau. Später dann kamen Maria Callas und Jacqueline du Pré, aber auch Grössen des Jazz und des Rock wie Count Basie, Frank Sinatra, Errol Garner, Bob Dylan sowie Jimi Hendrix. Und im Juni 2005, unmittelbar vor der Renovierung, sorgte Alfred Brendel für einen stilvollen Ausklang. Jetzt, zur Wiedereröffnung der Royal Festival Hall, spielten am 11. Juni erstmals alle vier im South Bank Centre residierenden Orchester gemeinsam auf: das London Philharmonic Orchestra, das Philharmonia Orchestra, das Orchestra of the Age of Enlightenment sowie die London Sinfonietta. Demnächst soll auch die 1954 von Harrison & Harrison gebaute Orgel wieder in die Hall zurückkehren - allerdings um gut einen Meter nach hinten versetzt. Auch mit wenig lässt sich akustisch viel gewinnen.

Interessant ist, dass zwar in Grossbritannien die Architektur der fünfziger Jahre vielenorts geschmäht wird, dass aber das Volk der Royal Festival Hall stets besonders zugeneigt war. Vom Architekturkritiker des «Observer» wurde sie neulich sogar als «der romantischste vom Modernismus hervorgebrachte Bau im Lande» gelobt. Dies nicht zuletzt deswegen, weil die Royal Festival Hall an eine Zeit des unschuldigen Optimismus erinnert. Was Disraeli schon 1851 von der damaligen Great Exhibition gesagt hatte, galt ein Jahrhundert später auch für das Festival of Britain: dass dieses - und mit ihm die Royal Festival Hall - das Volk die Sünden der Regierung vergessen machte. Wer aber hätte so etwas in jüngster Zeit zu der törichten Millennium Experience und zu deren Denkmal, dem Dome von Greenwich, sagen können?

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2007.06.15

12. August 2006Georges Waser
Neue Zürcher Zeitung

Ein Gegenstück zur Gurke?

Es wurde bereits kurz mitgeteilt: In London soll die auf dem südlichen Themseufer ansässige Tate Gallery of Modern Art erweitert werden. Wie schon in den...

Es wurde bereits kurz mitgeteilt: In London soll die auf dem südlichen Themseufer ansässige Tate Gallery of Modern Art erweitert werden. Wie schon in den...

Es wurde bereits kurz mitgeteilt: In London soll die auf dem südlichen Themseufer ansässige Tate Gallery of Modern Art erweitert werden. Wie schon in den neunziger Jahren, als bekannt wurde, dass die Sammlung in der alten Tate Gallery wegen Platznot aufgeteilt werden würde, liess die Kontroverse nicht auf sich warten. Damals hatte der «Observer» gefordert, statt Geld an den Umbau eines verrosteten, als Ruine dastehenden Kraftwerks zu verschwenden, sollte man gleich ein neues Museum bauen - während der «Daily Telegraph» schrieb, das neue Domizil, eben die Bankside Power Station, sei für ein Museum für moderne Kunst zu gross.

Notwendige Erweiterung

Nun, statt der erhofften 1,8 Millionen Besucher im Jahr kamen seit der Eröffnung der Tate Modern regelmässig weit mehr; letztes Jahr zum Beispiel zählte man 4,1 Millionen Eintritte. Allein deshalb ist eine Erweiterung notwendig geworden. Und dieses Mal ist das Projekt, wie es eben der «Observer» ursprünglich gefordert hatte, ein moderner Bau - er soll im Jahr 2012 bereitstehen und wurde, wie schon die Umwandlung des Kraftwerks, dem Basler Architekturbüro Herzog & de Meuron in Auftrag gegeben.

Dass die von Herzog & de Meuron vorgesehene, an eine babylonische Zikkurat erinnernde und 215 Millionen Pfund teure Glasstruktur nicht jedermann behagen würde, war vorauszusehen - nicht zuletzt deshalb auch, weil ein diesem leicht ähnliches Projekt, von Daniel Libeskind zur Erweiterung des Victoria & Albert Museum geplant, jahrelang umstritten und schliesslich gescheitert war. Konkret bemängelte am neuen Tate-Projekt zum Beispiel die Twentieth Century Society, eine Denkmalschutzorganisation, dass dieses die bestehende Tate Modern weit überragen und nicht zu deren dominantem horizontalem Gepräge passen würde. Man befürchtet also, dass die verschachtelt anmutende Glaspyramide, obschon sie auf der der Themse abgewandten Seite der Tate Modern entstehe, die bauliche Silhouette der Londoner Bankside verunstalten würde.

Kühnes Gegenstück

Allerdings gibt es auch Befürworter, wie eine Umfrage der Rundfunkorganisation BBC bewies. So eine Stimme aus dem Volk, die das bereits als «Tate Modern 2» bekannte Projekt als Vermächtnis an die Gegenwartskunst pries, beispielhaft insbesondere, wenn man daran denke, wie viel Geld in London für die Olympischen Spiele, also für temporäre Strukturen, vorgesehen sei. Was, ob einer das «Tate Modern 2»-Projekt nun mag oder nicht, gewiss ist: Mit der Glaspyramide hätte die Bankside ein kühnes Gegenstück zu der aus der City über die Themse hinweg grüssenden «Gurke» des Architekten Norman Foster.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2006.08.12

26. April 2006Georges Waser
Neue Zürcher Zeitung

Beschwingtes Statement am Wasser

Die Kohlenindustrie machte Cardiff berühmt; dann kam der Niedergang. In jüngster Zeit wandelte sich die walisische Hauptstadt zu einem High-Tech-Zentrum. An den alten Docks steht jetzt der neue Sitz der Welsh Assembly.

Die Kohlenindustrie machte Cardiff berühmt; dann kam der Niedergang. In jüngster Zeit wandelte sich die walisische Hauptstadt zu einem High-Tech-Zentrum. An den alten Docks steht jetzt der neue Sitz der Welsh Assembly.

Dass die Selbstverwaltung nicht ohne einen Preis kommt, haben die Waliser ebenso wie die Schotten einsehen müssen. Kaum war 1997 ihre politische Autonomie Tatsache geworden, entschloss man sich in beiden Landesteilen, dem wiedererwachten nationalen Selbstbewusstsein ein Monument zu setzen. Ein bauliches Symbol drängte sich auf, war doch sowohl in Edinburg als auch in Cardiff ein permanentes Zuhause für die neue Regierung notwendig. In Edinburg war für den Bau der Parliament Buildings mit etwa 40 Millionen Pfund gerechnet worden - doch als diese Parlamentsgebäude im Herbst 2004 bereitstanden, hatten sie 431 Millionen Pfund gekostet. In Cardiff sollte man zwar zurückhaltender sein; als aber dort die ursprünglich mit 26,6 Millionen Pfund veranschlagten Kosten für das Assembly Building im Sommer 2001 bereits auf 47 Millionen geschätzt wurden - und zugleich aus Schottland die Kunde von astronomischen Mehrauslagen kam -, verlor man die Nerven und entliess nach lediglich vier Monaten Bauarbeit den Architekten Richard Rogers. Später wurde Rogers wieder eingestellt. Und nun ist das walisische Regierungsgebäude in Betrieb. Es kostete (Mehrwertsteuer inbegriffen, wie die Politiker betonen) 65,8 Millionen Pfund.

Verwandlung des Inneren Hafens

Auf Wunsch der walisischen Assembly - sie soll dem Volk zugänglich erscheinen - musste ihr Regierungsgebäude transparent und einladend wirken. Es sei denn auch gleich vorweggenommen: Das einer Skulptur ähnlich auf einem niedrigen, terrassenartig gestalteten Sockel sitzende Assembly Building ist in seinem gläsernen Gewand und mit dem leicht gewellten, weit ausgreifenden Dach ein Bau, welcher der Promenade am Wasser einen beschwingten Akzent verleiht. Im Rahmen des 1987, also lange vor der politischen Autonomie des Landesteils, gestarteten «Cardiff Bay Development» ist Rogers' Gebäude im Inneren Hafen der Stadt vorläufig wohl das letzte grosse Statement. Ziel der Initianten dieses Projekts war es gewesen, Cardiff «einen Platz auf der Weltkarte» zu sichern - und zwar «as a superlative maritime city, which will stand comparison with any such city in the world». Was heisst: Man hatte gelobt, die alten Docks der Küstenstadt (die flächenmässig nahezu der City of London entsprachen) mit neuen Bauten in ein «Covent Garden on the waterfront» zu verwandeln.

Diese Verwandlung liess allerdings auf sich warten. Erstmals geriet sie in Stocken, als im Frühjahr 1996 politische Intrigen den Bau eines Opernhauses nach Plänen von Zaha Hadid vereitelten. Als dann im Herbst 1998 Richard Rogers' siegreiches Wettbewerbsprojekt für das Parlamentsgebäude in den Himmel gehoben wurde, schien der Elan wiederhergestellt. Doch mit der Entlassung von Rogers kam erneut ein Stillstand. Als dann Rogers zurückgeholt wurde, schloss der neue Auftrag die Konstruktionsfirma Taylor Woodrow mit ein. Warum? Auf diese Anfang April bei einer Besichtigung des Assembly Building gestellte Frage antwortet der walisische Regierungschef Rhodri Morgan, man habe vor dem Weitermachen einen absolut verbindlichen Kostenvoranschlag gewünscht; Taylor Woodrow habe diesen geliefert, und in der Folge seien die Kosten nicht weiter gestiegen. Der Architekt sei einverstanden gewesen - und jetzt, mit einem vortrefflichen Bau, habe auch Rogers' Karriere wieder Auftrieb erhalten. Dazu eine Randbemerkung: An den ursprünglichen Verteuerungen trug nicht Rogers die Schuld - hatten doch nationalistische Politiker darauf bestanden, dass, zu welchem Preis auch immer, walisisches Material und walisische Unternehmen beschäftigt wurden.

Transparent und umweltfreundlich

Wie von aussen wirkt das Regierungsgebäude auch im Innern, auf zwei weiten Ebenen, «durchschaubar». Schieferböden und Holz sorgen für eine schlichte Note, das viele Glas wirkt befreiend und da und dort eine Tür eher zufällig. Die ihm vorbestimmte Funktion offenbart der Bau diskret, und zwar auf der höheren Ebene, in deren Zentrum sich das Dach trichterförmig senkt und durch den Boden verschwindet. Hier ist es auch, am Rande des Trichters, wo wie durch ein Guckloch der Blick nach unten frei wird und sich der Bau einem inneren Organ ähnlich vor dem Besucher auftut. Was man sieht, ist die unter der ersten Ebene angelegte, also ins Innere der Erde eingebettete Debating Chamber. Besser allerdings lässt sich die kreisrunde Debattierkammer aus der mit 130 Sitzen ausgestatteten Besuchergalerie, die hinter der Eingangshalle liegt, überblicken. Fasziniert stellt man hier fest, wie sich der durch die Decke kommende Trichter einer umgekehrten Trompete ähnlich auftut und der Kammer Tageslicht zuführt. Übrigens dürfen sich die 60 Mitglieder der Welsh Assembly bei der Debatte sowohl der englischen als auch der walisischen Sprache bedienen, wird die letztere doch von 21 Prozent des Volkes gesprochen.

Rings um die Debattierkammer befinden sich im Untergeschoss nebst weiteren Räumlichkeiten auch drei Committee Rooms, die ebenfalls über Besuchergalerien verfügen. Tageslicht kommt hier teils aus einem anliegenden «inneren Hofraum» durch verglaste Wände, teils durch Oberlichter. Während sowohl in diesen Räumen als auch in der Debattierkammer nebst einem natürlichen Ventilationssystem eine Klimaanlage verfügbar ist, konnte in den Büros und der Eingangshalle auf die letztere Einrichtung verzichtet werden. Unter dem Bau sorgt ein geothermales System dafür, dass dem ganzen Gebäude im Winter aus hundert Metern Tiefe Wärme zugeführt, im Sommer aber die Wärme von oben in die Tiefe transferiert wird. Last, but not least: Auch an das «Recycling» von Regenwasser hat man gedacht, wird dieses doch gesammelt und im Gebäude Brauchwasser verwendet. Dem Assembly Building geben die walisischen Politiker und der Architekt eine Lebensdauer von hundert Jahren.

Europäischer «Touch»

Wie aber wirkt neben dem Welsh Assembly Building die in jüngster Zeit verwandelte Nachbarschaft? Wer den Bau verlässt, auf den wartet ein spektakuläres Panorama. Silbern das Wasser und weit der Himmel - und gleich neben dem Regierungsgebäude das sorgfältig restaurierte Pierhead Building, ein monumentaler, spätviktorianischer Backsteinbau, in dem seit kurzem ein Visitor and Education Centre untergebracht ist. Dahinter erhebt sich das Wales Millennium Centre: ein vor eineinhalb Jahren eingeweihter Mehrzweckbau, in welchem sowohl die Welsh National Opera als auch die Dance Company of Wales und andere kulturelle Institutionen untergebracht sind. Das mit Schiefer verkleidete Gebäude liegt wie ein gestrandeter Wal am Ufer und verwandelt sich - scheint plötzlich die Sonne - in einen riesigen Goldklumpen. Ebenfalls zu dieser Nachbarschaft gehören die norwegische Seefahrerkirche, in der der Autor Roald Dahl getauft wurde, und zahlreiche Bars, Shops und Restaurants, die wie das Millennium Centre und das Regierungsgebäude erst in jüngsten Jahren aus dem Boden geschossen sind. Eines davon, auf Pfeilern im Wasser stehend, trägt den Namen Bosporus und bietet türkische Spezialitäten an. Was davon zu zeugen scheint, dass man im politisch autonomen Wales heute gar nicht mehr ausgesprochen nationalistisch, sondern gerne auch international denkt.

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2006.04.26



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Parlamentsgebäude für Wales

26. August 2005Georges Waser
Neue Zürcher Zeitung

Bauboom an der Themse

Einen Moment lang weckte Anfang Juli die Nachricht, dass London im Jahr 2012 die Olympischen Spiele beherbergen wird, in der Themse- Metropole ein Hochgefühl....

Einen Moment lang weckte Anfang Juli die Nachricht, dass London im Jahr 2012 die Olympischen Spiele beherbergen wird, in der Themse- Metropole ein Hochgefühl....

Einen Moment lang weckte Anfang Juli die Nachricht, dass London im Jahr 2012 die Olympischen Spiele beherbergen wird, in der Themse- Metropole ein Hochgefühl. Doch bald schon machten sich nüchterne, ja gar sarkastische Stimmen vernehmbar. Warum 5 Milliarden Pfund auslegen für ein Ereignis, das nur zwei Wochen dauern wird? Und warum sollten dafür alle Londoner bezahlen müssen - auch solche, die für Sport nichts übrig haben? Nicht überraschend versäumten diese Stimmen auch nicht den Hinweis auf den Millennium Dome von Greenwich: auf jenes über 750 Millionen Pfund teure Zelt, mit dem New Labour unter Tony Blair vor fünf Jahren der eigenen Torheit ein Denkmal gesetzt hatte. Jene, die in der Presse Zweifel anmeldeten, haben Angst vor einem weiteren «weissen Elefanten» wie es eben der Dome gewesen war. Man verweist auch auf frühere «Olympic cities» wie Athen und Montreal - auf heruntergekommene Stadien in der einen und auf seit 1976 immer noch nicht getilgte Schulden in der anderen Stadt.

Rettung für Newham

Wer überhaupt wird sich, vor oder nach den Olympischen Spielen, nach Newham begeben? Mit dem Fingerzeig auf einen der fünf Stadtbezirke von Ostlondon, die als Gastgeber der «Olympics» in einem neuen Gewand dastehen sollen, wird die soziale Kritik laut. Nicht nur leben in Newham mehr arme Kinder als irgendwo in England: Auch die Sterberate liegt 20 Prozent über dem nationalen Durchschnitt. Zudem gewahrt hier, wer einen Londoner Stadtplan zur Hand nimmt, mehr weisse Flecken als anderswo - es ist vergiftete, von Grundstückspekulanten bisher stets ignorierte Erde. Londons Abwässer fliessen hier durch, brechen hervor, vermischen sich mit Bächen und umspülen kaputte Autos. Hier wurde auch, als in den neunziger Jahren der Eurotunnel gegraben wurde, Schlamm aus dem Ärmelkanal abgelagert. Eine weitere Frage stellt sich damit von selbst: Welche urbane Öde bedarf schon so dringend der Rettung wie die Londoner Stadtgemeinde von Newham?

Zwei Vorteile des Projekts 2012 sind unübersehbar. Zum einen soll das sich für die Olympischen Spiele rüstende London 12 000 neue Arbeitsplätze gewinnen - zum andern im Osten der Stadt, wo dem Volk ein «Venedig mit sauberen Kanälen» und 9000 neuen Heimen versprochen wird, ein effizienteres Transportsystem erhalten. Wie die neue Docklands Light Railway wird auch die alte East London Line, die Ostlondon versorgende Bahnlinie, verlängert. Weiter soll ein spektakulärer Park - der grösste in Europa - angelegt und schliesslich die schon lange zur Diskussion stehende Gateway Bridge zwischen Thamesmead und Beckton gebaut werden. Wie sehr die Themse für Ostlondon bisher eine Schranke war, zeigt ein Vergleich: So führen zwischen Wapping und dem flussaufwärts gelegenen Westen der Stadt zwölf Brücken über die Themse - während das östliche London unterhalb von Wapping gegenwärtig nur durch zwei Tunnels, eine Einwegbrücke und die Fähre von Woolwich verbunden ist.

Zerlegbare Stadien

Eingedenk einiger vorwiegend der Konservativen Partei angehörender Schwarzmaler, die auf den Dome von Greenwich deuten, gehen gegenwärtig die Planer mit Umsicht vor: Stadien, Schwimmbäder und andere sportlichen Anlässen dienende Strukturen werden aus zerlegbaren Elementen entstehen, so dass sie sich nach 2012 leicht anderswohin - das heisst: in irgendeine britische Stadt, besteht dort Bedarf - verlegen lassen. Bereits sind auch Spekulanten aktiv, die Geldanlegern in dem zur olympischen Zone aufsteigenden Ostlondon dort entstehende «waterfront apartments» anbieten. Doch was für Preise sind dafür zu erwarten? Als Gradmesser dient wohl am ehesten die bis vor kurzem noch heruntergekommene Gegend von Southwark. In diesem Stadtbezirk Südostlondons, der in jüngsten Jahren mit der Tate Modern, der Millennium Bridge, dem Borough Market und der City Hall ein Facelifting erhielt, wird gegenwärtig ein neuer Square und daneben ein Wohnturm gebaut, in dem die billigsten Zweizimmerwohnungen ab 320 000 Pfund zu haben sind. Nur: Der Stadtbezirk Southwark wird von der U-Bahn bedient, und vier Brücken führen direkt in die City of London. Das zur olympischen Zone gehörende Newham hingegen liegt abseits.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2005.08.26

04. März 2005Georges Waser
Neue Zürcher Zeitung

Langersehntes Heimspiel

Obschon die im Irak geborene Zaha Hadid britische Staatsbürgerin ist und ihr Architekturbüro in London hat, bekam sie bisher in der Themsestadt - ausser...

Obschon die im Irak geborene Zaha Hadid britische Staatsbürgerin ist und ihr Architekturbüro in London hat, bekam sie bisher in der Themsestadt - ausser...

Obschon die im Irak geborene Zaha Hadid britische Staatsbürgerin ist und ihr Architekturbüro in London hat, bekam sie bisher in der Themsestadt - ausser einer kleinen Ausstellungsinstallation im Millennium Dome - noch nie einen Auftrag. Auch anderswo in Grossbritannien scheinen die Projekte der jüngst auch in Basel für ihren Stadtcasino-Entwurf gefeierten Architektin wenig gefragt. Eine Ausnahme bildet einzig Schottland mit dem Zentrum für Krebskranke in Kilmarnock sowie dem Transportmuseum in Glasgow. Jetzt allerdings ist Hadid in London der Durchbruch gelungen. Soll sie doch auf dem südlichen Themseufer und in unmittelbarer Nachbarschaft der Tate Modern für die 1991 gegründete Architecture Foundation ein permanentes Zuhause bauen. Hadid, deren Projekt als «Betonstreifen um einen hohen Glaskern» beschrieben wird, ging aus einem Wettbewerb mit 208 Teilnehmern als Siegerin hervor. Unter den acht engsten Anwärtern waren ausser ihr auch Caruso St John, Bernard Tschumi sowie die Büros MVRDV und Foreign Office Architects.

Die Architecture Foundation will mit ihren Aktivitäten das britische Publikum mit den Arbeiten der besten und einfallsreichsten Architekten und Stadtplaner der Gegenwart - und zwar aus der ganzen Welt - vertraut machen. Den Vorsitz führt Will Alsop, und als Direktor amtiert Rowan Moore. Den Vorsätzen der Foundation entsprechend, soll das Zaha Hadid in Auftrag gegebene Centre «als eine Art Kabelkasten» funktionieren. Der Bau soll also nicht eine abgesonderte Institution sein, sondern zu einem Ort für Ideen und gutes Design sowie zu einer Kontaktstelle für Fachleute und interessierte Laien werden.

Hadids Projekt sieht denn nebst Büros auch eine Bar sowie Räumlichkeiten für Ausstellungen und öffentliche Anlässe vor. Der Bau soll zweieinviertel Millionen Pfund kosten und im Laufe des Jahres 2006 bezugsbereit sein. Übrigens war ein solches Zentrum seit rund zehn Jahren diskutiert worden, doch wiederholt auf Einwände von staatlicher Seite gestossen; dies, weil den zuständigen Unterabteilungen der Regierung dafür ein Domizil in den Regionen und nicht in der Metropole London wünschenswert schien. - Laut dem Direktor der Architecture Foundation hätte jedes der acht in die engere Wahl gekommenen Projekte die Realisierung verdient - doch sei Hadid bevorzugt worden, weil ihr Entwurf nicht nur visuell und funktionell überzeugt, sondern auch im Dialog mit den hohen Bauten in der Umgebung den richtigen Ton getroffen habe. Noch vor kurzem hätte sich Hadid solche Lorbeeren in London kaum erträumt, gestand sie doch, als sie vor einem Jahr als erste Frau den unter Architekten begehrten Pritzker Prize gewonnen hatte, sie denke daran, mit ihrem Büro - das immerhin rund sechzig Leute beschäftigt - anderswohin zu ziehen. Der Bau der Architecture Foundation ist für Hadid zweifellos ein wichtiger Auftrag. Dieser kommt in einem Moment, in welchem sie sich mit dem Bau einer Dépendance des Guggenheim- Museums in Taiwan beschäftigt und darüber hinaus in ihrer einstigen Heimat im Gespräch ist. In Bagdad soll nämlich ein neues islamisches Museum entstehen, für welches man sich - so ist aus dem Irak zu vernehmen - von Zaha Hadid die Pläne erhofft.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2005.03.04



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Architecture Foundation

29. Januar 2005Georges Waser
Neue Zürcher Zeitung

Von Bramante bis Le Corbusier

Ihr Entstehen verdankt die neue, vor kurzem eröffnete Londoner Architecture Gallery sowohl dem Victoria and Albert Museum (V & A), wo sie ihr Domizil hat,...

Ihr Entstehen verdankt die neue, vor kurzem eröffnete Londoner Architecture Gallery sowohl dem Victoria and Albert Museum (V & A), wo sie ihr Domizil hat,...

Ihr Entstehen verdankt die neue, vor kurzem eröffnete Londoner Architecture Gallery sowohl dem Victoria and Albert Museum (V & A), wo sie ihr Domizil hat, als auch dem Royal Institute of British Architects (RIBA). Was in der Galerie zu sehen ist - Pläne, Modelle und bauliche Fragmente - kommt aus den weltweit einzigartigen Sammlungen beider Institutionen und soll nicht nur wie bisher eine Inspirationsquelle für Architekten und Studenten sein, sondern auch einem breiten Publikum die Baukunst näher bringen. Neben der permanenten Schau mit ihren 180 Exponaten steht ein separater Raum für temporäre Ausstellungen zur Verfügung; solche sind dreimal im Jahr vorgesehen. Die erste trägt den Titel «Great Buildings». Wer seine Kenntnisse auf dem Gebiet der Architektur vertiefen will, dem stehen jetzt im Henry-Cole-Flügel des Museums sogar Studienräume offen. Diese beherbergen nicht nur den gesamten bisherigen Bestand der Architekturarchive des V & A, sondern auch über eine Million Zeichnungen und Manuskripte aus dem Hauptquartier des RIBA.

Verzicht auf Chronologie

Die Galerie mit der Dauerausstellung bietet drei thematische Schwerpunkte; der Rundgang beginnt im Sektor, welcher mit «The Art of Architecture» überschrieben und der Analyse verschiedener Baustile gewidmet ist. Doch Besucher seien gleich gewarnt: Wer nach chronologischen oder geographischen Anhaltspunkten sucht, wird enttäuscht. Was diese Schau zeigen will, sind Ideen und nicht eine strenge Ordnung. So widmet sich «The Art of Architecture» der Entwicklung und Bedeutung verschiedener Stile, indem zum Beispiel die Neugotik der Gotik und der Neoklassizismus dem Altertum gegenübergestellt werden. Am übersichtlichsten - weil einem zumindest hier die Daten zu Hilfe kommen - sind die Exponate, die den «Classical Revival» dokumentieren. Den Anfang macht ein Modell von Bramantes um 1502-1512 in Rom erbautem Tempietto. Dieser dient als Wegweiser bis ins England des 19. Jahrhunderts, wo der neoklassizistische Stil, wie es das Modell von James Bunstone Bunnings 1847 in London entstandenem Coal Exchange verdeutlicht, besonderen Anklang als ein Statussymbol kommerzieller Bauten fand. Schön sind im selben Sektor auch Modelle und Fragmente maurischer und fernöstlicher Architektur. Nur ihre Positionierung zwischen Neoklassizismus und Modernismus, Postmoderne und Hightech irritiert.

Der zweite Sektor soll unter dem Titel «The Function of Buildings» Aufschlüsse darüber vermitteln, wie der Zweck eines Gebäudes dessen Design beeinflusst. Wiederum werden Gegensätze hervorgehoben: So stehen sich zum Beispiel das Modell einer Moschee in Ahamabad, Indien, und dasjenige für Eric Kuhnes Bluewater-Einkaufszentrum in der englischen Grafschaft Kent gegenüber. Dass ein solcher Vergleich dem Laien wenig bringt, veranschaulichen die ratlosen Gesichter der Besucher. Es hätte hier der Erklärung bedurft, dass nicht nur die Funktion der Bauten das Design beeinflusste, sondern ebenso der Umstand, wo, unter welchen kulturellen Voraussetzungen und wann sie entstanden (die Moschee um 1465, das Shopping Centre 1996-99). Richtigerweise empfiehlt das als Begleitband zu der Eröffnung der Galerie herausgegebene Buch «Exploring Architecture» jenem, der vor den Modellen die Funktion eines Gebäudes verstehen will, die Zuhilfenahme eines Grundrisses oder ersten Entwurfs. Doch auch dazu sind, wie es insbesondere die englischen Kirchen erkennen lassen, oft weitere Hinweise erforderlich. Was das Design der vor und nach der Reformation entstandenen Sakralbauten betrifft, gab schon Christopher Wren einen Fingerzeig: Gemäss dem Erbauer der St.-Pauls-Kathedrale hatten katholischen Kirchgängern einst der Weihrauch und das Gemurmel eines Priesters genügt - während in den protestantischen Kirchen ein jeder deutlich sehen und hören wollte, weshalb die Gotteshäuser mehr und mehr wie offene Hallen gebaut wurden.

Im dritten Sektor schliesslich geht es unter dem Stichwort «Architects and Architecture» um den dem Bauen vorangehenden Prozess des Planens. Hier sind denn auch einige der bedeutendsten Zeichnungen aus den Archiven des V & A und des RIBA ausgestellt - Pläne zum Beispiel von Palladio (Villa Pisani, 1539-40), von Vanbrugh (eine frühe Skizze für Castle Howard, 1695) sowie von Frank Lloyd Wright (All-Steel House, 1937), Eric Mendelson (De La Warr Pavilion) und Mies van der Rohe (IIT-Bibliothek, Chicago). Unter den Modellen finden sich Alt und Neu wiederum Seite an Seite; so eine Reproduktion von Brunelleschis Holzmodell für die Laterne der Florentiner Domkuppel neben Daniel Libeskinds Erweiterungsbau für das V & A (den, wie bereits mitgeteilt, der Aufsichtsrat des Museums vor kurzem ablehnte). Dennoch wird in diesem Sektor ein Zusammenhang leichter als zuvor erkennbar, ist doch das Entstehen eines Projekts im Kopf des Architekten schrittweise - von ersten Entwürfen bis hin zum endgültigen Plan und Auftrag an die Bauhandwerker - dokumentiert.

Als vor rund 250 Jahren im Londoner Vorort Richmond die Kew Gardens entstanden, wurden dort inmitten einer üppigen Pflanzenwelt mehrere Tempel im klassischen Stil, eine «Alhambra», eine «Moschee» sowie eine «gotische Kathedrale», gebaut. Diese eklektische Anlage sollte zeigen, dass die unterschiedlichsten Bauten bezüglich Stil und Zweckbestimmung nebeneinander existieren können. Ob dieser Gedanke etwa auch die Auslese in der «Architecture Gallery» des V & A inspirierte?

Ungezügelte Vielfalt

Ebenso eklektisch zusammengestellt wie die Exponate in der Galerie wirken übrigens auch die Arbeiten, die nebenan in der temporären Schau «Great Buildings» gezeigt werden - darunter beispielsweise Christopher Wrens zeichnerische Rekonstruktion des Mausoleums von Halikarnassos, Le Corbusiers 1947 für eine Vorlesung angefertigtes Diagramm seiner Unité d'Habitation in Marseille, Pläne für William Morris' «Red House» in Bexleyheath, ein vermutlich um 1470 von Moritz Ensinger angefertigter Entwurf für den Westturm der Kathedrale von Ulm sowie Souvenir-Modelle des Empire State Building und des Opernhauses von Sydney. Kein Zweifel, die Exponate sowohl in der permanenten als auch der temporären Ausstellung sind sehenswert. Ihren Ambitionen allerdings hätten die Verantwortlichen Zügel anlegen sollen - die Vielfalt, mit der sie die Eröffnung der Architecture Gallery zelebrieren wollten, mutet auf engem Raum zu sehr wie ein Architektur- Schnellkurs an.

[ Die Eröffnungsausstellung «Great Buildings» dauert bis zum 13. Februar. Begleitbuch: Exploring Architecture - Buildings, Meaning and Making. Hrsg. Eleanor Gawne und Michael Snowdin. V & A Publications, London 2004. 192 S., £ 30.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2005.01.29

17. November 2004Georges Waser
Neue Zürcher Zeitung

Ausstellung Daniel Libeskind in London

Mit einer grossen Retrospektive würdigt das Barbican Arts Centre in London das Schaffen des für seine exzentrischen Bauten bekannten Architekten Daniel Libeskind. Wie sehr Libeskind Architektur als Bewegung versteht, die weit über Baumaterial und Form hinausgeht, zeigen realisierte Bauten und gescheiterte Projekte gleichermassen.

Mit einer grossen Retrospektive würdigt das Barbican Arts Centre in London das Schaffen des für seine exzentrischen Bauten bekannten Architekten Daniel Libeskind. Wie sehr Libeskind Architektur als Bewegung versteht, die weit über Baumaterial und Form hinausgeht, zeigen realisierte Bauten und gescheiterte Projekte gleichermassen.

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verknüpfte Publikationen
The Space of Encounter

07. Oktober 2004Georges Waser
Neue Zürcher Zeitung

Exzentrisches Monument

Jüngst konnten die von Enric Miralles entworfenen und von Benedetta Tagliabue realisierten neuen schottischen Parlamentsgebäude in Edinburg von ihren Baugerüsten befreit werden. Königin Elizabeth II. wird das exzentrische Bauwerk, in welchem vor einem Monat erstmals die Parlamentsmitglieder debattierten, am 9. Oktober einweihen.

Jüngst konnten die von Enric Miralles entworfenen und von Benedetta Tagliabue realisierten neuen schottischen Parlamentsgebäude in Edinburg von ihren Baugerüsten befreit werden. Königin Elizabeth II. wird das exzentrische Bauwerk, in welchem vor einem Monat erstmals die Parlamentsmitglieder debattierten, am 9. Oktober einweihen.

Im Jahr 452 bauten die Pikten in Edinburg die erste Festung - und als von dieser eine Siedlung hügelabwärts auszugreifen und eine zweite Siedlung sich von der Holyrood Abbey nach oben gegen das Schloss hin zu schieben begann, entstand im frühen 12. Jahrhundert die mittelalterliche Old Town. Die im Spätmittelalter zunehmende Platznot führte zunächst zu turmhohen, eng aneinander stehenden Häusern im abfallenden Gelände längs der High Street oder Royal Mile und schliesslich - im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert - zum Bau der neoklassizistischen New Town. Kein Wunder, sah der hier geborene Schriftsteller Robert Louis Stevenson die Stadt als einen Inbegriff der Gegensätze, einen «Traum von Fachwerk und lebendigem Fels». Heute gehört der Stadtteil um die Royal Mile zum Unesco-Weltkulturerbe, und so erstaunt es denn nicht, dass die Schotten, als 1997 ihre politische Autonomie Tatsache geworden war, dem nationalen Selbstbewusstsein gerade hier mit den Parliament Buildings ein Monument setzen wollten. Den Auftrag zum Bau erhielten Enric Miralles.

Mit der Nominierung Miralles' hatte in Schottland auch schon die Kontroverse begonnen, war doch der Spanier erst nachträglich in die Endrunde des Architekturwettbewerbs aufgenommen worden - und zwar, weil Miralles' poetische Vision eines Projekts, zu dem der bergige «Sitz des Artus» den Hintergrund abgab, beim Preisgericht Anklang fand. Dass aber Selbstverwaltung nicht umsonst kommt, mussten bald die Jury und die Politiker erkennen: Waren die Kosten für die Parlamentsgebäude in einem Diskussionspapier vom 24. Juli 1997 noch mit «zwischen 10 und 40 Millionen Pfund» veranschlagt worden, betragen sie jetzt 431 Millionen Pfund. Dass man sich in Edinburg deswegen gelegentlich noch zankt - nicht zuletzt, weil als Parlamentsgebäude die grandiose alte Royal High School zu haben gewesen wäre -, ist verständlich. Allerdings sei festgehalten, dass die Parlamentsgebäude in Schottland der wichtigste Neubau seit rund 200 Jahren sind. Genauer noch: Vergleichbare Ambitionen beflügelten bisher wohl einzig den Bau der gesamten Edinburger New Town.
Exzentrische Aussichten

«En masse» verkörpert das Scottish Parliament 25 000 Kubikmeter Beton, 6000 Quadratmeter Granit für die Aussen- und 2500 Quadratmeter für die Innenmauern sowie einige tausend Tonnen Stahl. Eine «respektvolle» Architektur hatten die schottischen Politiker von Enric Miralles verlangt - und wer vor den neuen Bauten steht, begreift, wie der Architekt diesem Wunsch entsprach. Durch ein «Zurechtbiegen» der einzelnen Gebäude erwirkte er, dass aus dem Komplex ein organischer Bestandteil der unmittelbar zum Berg anwachsenden Landschaft wurde. Zehn Gebäude, das höchste davon mit sechs Stockwerken, schliessen das im 17. Jahrhundert als Adelsresidenz im schottischen «baronial style» entstandene Queensberry House mit ein. Dieses war übrigens einer der Gründe für die Verzögerung, hatte doch seinen desolaten Zustand lange niemand vollständig erkannt. Mit dem Queensberry House lebt in den neuen schottischen Parlamentsgebäuden aber auch die Geschichte weiter. Hier war 1707 in derselben Nacht, in der die Act of Union zwischen England und Schottland unterzeichnet wurde, der wahnsinnige Sohn des Herzogs von Queensberry in die Küche entwichen - wo er einen Küchenjungen ins Feuer warf und diesen danach zu verzehren begann. Die Feuerstelle ist immer noch zu sehen.

Laut Benedetta Tagliabue, die nach dem frühen Tod ihres Mannes Enric Miralles im Juli vor vier Jahren dessen Arbeit fortführte, war das für die neuen Bauten zur Verfügung stehende Grundstück zu klein und musste deshalb dem Garten des Queensberry House Land abgerungen werden - «dadurch hat alles an Zusammenhang gewonnen». Was bei einem Rundgang auffällt, ist denn auch, wie die einzelnen Gebäude wellenähnlich ineinander übergehen. In den Korridoren bieten sich beim Blick durch grossflächiges Fensterglas exzentrische Aussichten: da ein Gewebe aus Stahl und Aluminium, dort Gebäudestützen aus Beton, wie die Mastbäume eines Schiffes in den wolkigen schottischen Himmel ragend. Der Kern des Komplexes ist gleichzeitig der Kern der schottischen Demokratie. Hier, in der Debating Chamber, tagt das Parlament. «Das Grundprinzip hinter dem schottischen Parlament», sagt ein Abgeordneter, «war, nicht wie Westminster zu werden.» Mit anderen Worten: Man wolle diskutieren können und nicht wie in einem Gentlemen's Club zusammensitzen und sich bespitzeln - deshalb sei die Kammer hufeisenförmig angelegt. Jedenfalls kann man atmen in diesem theaterähnlichen Raum, in dem viel natürliches Licht und Holz den Look bestimmen. Wie in anderen Räumen wurde auch in der Debattierkammer ausschliesslich Eichen- und Platanenholz verwendet.
Kostspielige Design-Elemente

Sei es in den sechs Committee Rooms, ein jeder mit einem grossen, in der Form vage an ein Ei erinnernden Tisch im Zentrum, sei es anderswo: Aufwendige Details springen einem buchstäblich auf Schritt und Tritt ins Auge. Meist faszinieren sie, wie die hier und da in eine Decke eingemeisselten Motive, gelegentlich aber empfindet man sie als überschwänglich. So zieren nicht nur jedes Pult zahlreiche Design-Elemente: Sogar jedem Mikrofon wurde die Form des Halms einer Pflanze gegeben. Gespart wurde übrigens auch nicht im Block, in dem jedes Parlamentsmitglied seinen Arbeitsraum mit einem integrierten Abteil für einen Assistenten hat.

Diese Räume erhielten mit sogenannten «Think Pods» eine Zutat. Es sind Erker, deren unterschiedliche Form nur der im Freien Stehende richtig aufnimmt. Wie Mönchsklausen muten sie an, die «Think Pods» - und vorgesehen sind sie eben auch für Parlamentsmitglieder, die in einer stillen Ecke nachdenken wollen. Diese Details sind es auch, die mithalfen, dass der Preis für die Parlamentsgebäude auf astronomische 431 Millionen Pfund stieg. Man denke nur, allein der vom Designer David Colwell entworfene, 36 Fuss lange Empfangstisch in der öffentlichen Eingangshalle verschlang 88 000 Pfund.

Doch steht man nach dem Besuch wieder in der Royal Mile, kommt einem der Gedanke, dass wohl vielen Schotten für einmal ein Statement wichtiger als das Sparen war. Schliesslich stehen ihre neuen Parlamentsgebäude neben dem Holyroodhouse Palace - was heisst: neben der offiziellen schottischen Residenz der englischen Königin. Also geziemte sich ein ansehnlicher Bau. Ähnlich sieht es Frank McAveety, der schottische Kulturminister. Laut ihm werden die Parlamentsgebäude ein massiver Magnet für Touristen sein. Weiter argumentiert McAveety, dass man dem Ganzen eine Lebensdauer von hundert Jahren gibt; «also kosten uns die Gebäude rund 4 Millionen Pfund im Jahr, was ja nicht übermässig teuer ist». Als Fazit hielt ein Kolumnist der Tageszeitung «The Herald» fest: Die schottischen Parlamentsgebäude seien bereit - es bleibe die Frage, ob dies für die schottischen Politiker auch gelte.

Neue Zürcher Zeitung, Do., 2004.10.07



verknüpfte Bauwerke
Parlamentsgebäude

10. Februar 2004Georges Waser
Neue Zürcher Zeitung

Im Schatten von Christopher Wren

Ende des Architekturstreits um den Paternoster Square

Ende des Architekturstreits um den Paternoster Square

Bevor sie im Jahr 2008 ihren dreihundertsten Geburtstag feiert, soll die Londoner St.- Pauls-Kathedrale eine aufwendige Restaurierung erfahren. Einen neuen Look erhielt bereits jetzt der anliegende Paternoster Square - allerdings erst nach einer Kontroverse, zu der Prinz Charles vor sechzehn Jahren den Anstoss gegeben hatte, indem er moderne Architekten der Vergewaltigung britischer Stadtzentren beschuldigte.

Zwar wurde 1666, nachdem das Grosse Feuer die Londoner City in einen Aschenhaufen verwandelt hatte, der grandiose Plan des Architekten Christopher Wren zum Wiederaufbau der Stadt nicht ausgeführt. Doch mit 51 unter seiner Aufsicht neu entstandenen Kirchen sollte Wren das Weichbild Londons dann trotzdem prägen - insbesondere mit seinem Hauptwerk, der mit St. Peter in Rom wetteifernden St.-Pauls-Kathedrale. Drei Jahrhunderte lang dominierte die gewaltige Kuppel des 1708 vollendeten Sakralbaus die Silhouette der City: Jahrhunderte, in denen ein Baustil den andern ablöste, von Queen Anne über Georgian und Regency bis hin zu Victorian und Edwardian. Auch als London von der deutschen Luftwaffe bombardiert wurde, blieb die Kirche das Wahrzeichen in einem Trümmerfeld. Auf der Höhe von Ludgate Hill wirkt sie heute noch imposant. Ihr Hintergrund allerdings, die City mit ihren neuzeitlichen Betonklötzen, ist längst über die Kathedrale hinausgewachsen.


Der Kreuzzug von Prinz Charles

Mit einem Architekturwettbewerb zur Umgestaltung des auf der Nordseite der Kathedrale liegenden Paternoster Square begann 1987 eine Debatte, die in den neunziger Jahren zur Leidensgeschichte werden sollte. Als Sieger des Wettbewerbs, an dem sich unter anderen Richard Rogers, Norman Foster, James Stirling und Richard MacCormac beteiligt hatten, waren Arup Associates mit Plänen für Bürobauten und Geschäfte hervorgegangen. Kaum waren die Entwürfe in der St.-Pauls-Kathedrale dem Publikum zugänglich, schwang sich Prinz Charles zum «Kreuzritter in Sachen Architektur» auf: Er äusserte sich beleidigend zum Arup-Projekt und brachte es zustande, dass dieses verworfen und bei John Simpson - einem Günstling des Prinzen - neue Pläne in Auftrag gegeben wurden. Doch auch diese Entwürfe stiessen auf Widerstand, entsprachen sie doch, wie es die Presse formulierte, mit ihrem Disneyland-Look der von Charles über alles geliebten «Bimbo-Architecture».

So scheiterten schliesslich auch Simpson und Charles trotz Versuchen, ihr Projekt durch Änderungen zu retten. Wie Simpson aber sollten noch andere Architekten kommen und gehen. Bis William Whitfield mit neuen Plänen beauftragt und diese jetzt endlich verwirklicht wurden, standen der Paternoster Square mit seinen schäbigen Bauten aus den sechziger Jahren und mit ihm die unmittelbare Nachbarschaft der St.-Pauls-Kathedrale zum Schandfleck verurteilt da. Erschwerend hatte sich übrigens auch ausgewirkt, dass das Gelände seit 1985 sozusagen im Eiltempo immer wieder den Besitzer wechselte - erst hiess dieser Stanhope, dann Mountleigh, dann Cisneros, dann Greycoat und letztlich Mitsubishi, woraus hervorgeht, dass am Paternoster Square neben einheimischen auch eine venezolanische und eine japanische Organisation spekulierten. Der bei jedem Verkauf höher werdende Preis bedeutete aber auch, dass es den jeweiligen neuen Besitzer, dachte dieser an einen Profit, nach Plänen mit grösseren Bauten verlangen musste.

Zu der Verwandlung des Paternoster Square haben schliesslich neben William Whitfield auch die Architekten MacCormac, Eric Parry & Allies sowie Morrison beigetragen. Und wenn auch die Architekturbeilagen der englischen Zeitungen das Resultat bisher mehrheitlich negativ kommentierten: Der Square, das heisst der freie Raum ebenso wie der bauliche Rahmen, beeindruckt sowohl durch das verwendete Material - Portland-Stein, Granit, Marmor, Schiefer sowie Bronze - als auch durch die farbliche Komposition. Die Arkaden, Sitzgelegenheiten, ja das auf eine korinthische Säule hinlaufende Muster der Gehfläche wirken gefällig, und gelegentlich vermag eine Sicht auf die St.-Pauls-Kathedrale zu überraschen, bedienten sich die Architekten doch theatralischer Tricks. Und dennoch, wo immer sich der Betrachter hinstellt: Es bleibt der erste Eindruck, dass nicht alles stimmt. Dieser Eindruck hat mit dem Massstab zu tun; indem rings um den Paternoster Square zu gedrängt gebaut wurde, ging das Gefühl für den richtigen Abstand zu der gewaltigen Kathedrale verloren. Weiter ist es auch unglücklich, dass sich über der wohl schönsten Arkade der ganzen Anlage ein Gebäude erhebt, das an die Architektur im faschistischen Italien erinnert.


Gefällig - und doch nicht ganz richtig

Einst hatten in der anliegenden Paternoster Row der Dramatiker William Shakespeare und nach ihm der Dichter John Milton mit Manuskripten in der Hand herumgestanden. Der daraus entstandenen Tradition des Buchhandels war der Paternoster Square bis ins 20. Jahrhundert hinein verpflichtet geblieben: In vielen der hier domizilierten kleinen Läden arbeiteten Buchhändler - so waren denn unter dem, was im Zweiten Weltkrieg die Luftwaffe auf der Nordseite der St.-Pauls-Kathedrale zerstörte, auch fünf Millionen Bücher gewesen. Doch wenn auch der neue Paternoster Square mit engen Strässchen ringsum ein Tribut an die Vergangenheit darstellen soll, so ist er dies einzig in der Form und nicht mit dem Gehalt, sind doch in den jetzigen Bauten Finanzinstitute einquartiert, wie sie sich allenthalben in der City of London finden. Und was andere Traditionen anbetrifft, so schlägt in der St.-Pauls- Kathedrale der anglikanische Kult nicht mehr die Wellen von einst, und sogar königliche Hochzeiten sind seltener geworden. Beständig blieb, wie es sich der Architekt mit seiner Grabinschrift wünschte, mit dem monumentalen Bauwerk das Andenken an Christopher Wren. Si monumentum requiris, circumspice - im übertragenen Sinne: «Wenn du sein Andenken suchst, schau um dich.» Hätte diese Inschrift Prinz Charles bei seinem «Kreuzzug in Sachen Architektur» zu motivieren vermocht, wäre dem Paternoster Square wohl die Leidensgeschichte erspart geblieben.

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2004.02.10



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Paternoster Square - Umgestaltung

15. Juli 2003Georges Waser
Neue Zürcher Zeitung

Himmelstürmende Gebäude

Obwohl sie sich im Stadtbild oft gefährlich exponieren, vermögen Wolkenkratzer nach wie vor zu faszinieren. Die spektakuläre, von Norman Foster im Rahmen der sonst jeweils eher zahmen Sommerausstellung der Royal Academy of Arts inszenierte Präsentation von zwei utopischen Hochhausstädten erregt zurzeit in London die Gemüter.

Obwohl sie sich im Stadtbild oft gefährlich exponieren, vermögen Wolkenkratzer nach wie vor zu faszinieren. Die spektakuläre, von Norman Foster im Rahmen der sonst jeweils eher zahmen Sommerausstellung der Royal Academy of Arts inszenierte Präsentation von zwei utopischen Hochhausstädten erregt zurzeit in London die Gemüter.

Zu den Nachwirkungen der Katastrophe vom 11. September 2001 gehört die Diskussion, wie sinnvoll das fortgesetzte Bauen von gigantischen Wohn- und Bürotürmen in einer von Terroranschlägen geprägten Zeit überhaupt ist. Einen Beitrag zu diesem Thema liefert gegenwärtig in London die in die traditionelle Sommerausstellung der Royal Academy of Arts eingebettete Show «Sky High: Vertical Architecture». Als Kurator amtiert kein Geringerer als der international gefeierte Architekt Norman Foster. Und wie es von ihm zu erwarten war, huldigt Foster mit «Sky High» dem Spektakel: In einem dunklen Raum, auf einem riesigen, entzweigeschnittenen Podium - in dessen Mitte sich der Besucher wie beim Durchschreiten eines Cañons vorkommt - ragen die beleuchteten Modelle von fünfzig Hochbauten aus aller Welt empor. Geordnet sind diese Modelle lose, das heisst einzig nach dem Kriterium Ost und West. Auf der einen Seite stehen Bauten aus Sydney, Seoul und Schanghai dicht nebeneinander, auf der anderen solche aus Europa und Amerika, so dass man, wie es Foster wohl wollte, vorübergehend dem Eindruck erliegt, mit «East» und «West» zwei Phantasiestädte vor sich zu haben.

Foster weist darauf hin, der Umstand, dass von den einzelnen Architekten Modelle in den verschiedensten Massstäben geliefert wurden, habe ihn zuerst irritiert. Schliesslich aber nutzte er dieses Dilemma, liess sich doch damit der surrealistische Effekt der Ausstellung steigern. So ragen hier die Kanchanjunga Apartments von Bombay, in Wirklichkeit nur 84 Meter hoch, über das 321 Meter hohe Hotel «Burj al Arab» bei Dubai hinaus, weil das erstere Modell im Massstab 1:50, das letztere hingegen im Massstab 1:250 ausgeführt wurde. Interessant ist auch, dass Cesar Pellis vor sechs Jahren vollendete Petronas Towers von Kuala Lumpur - mit 452 Metern noch immer die höchsten Türme der Welt - sich neben den sie umgebenden, aus Singapur und Tokio kommenden Modellen schon fast wie ein nostalgischer Tribut an das goldene Zeitalter der New Yorker Wolkenkratzer ausnehmen. Andere, durch Grünflächen aufgelockerte Bauten wie zum Beispiel der «Verbena Heights»-Wohnkomplex aus Hongkong gehören hingegen einer apokalyptischen Vision an: Der Besucher versucht sie sich ohne menschliches Leben, einer ausser Rand und Band geratenen Natur ausgeliefert, vorzustellen - das Resultat ist traumbildähnlich, fast wie die Landschaft in Tarkowskis Film «Stalker».

In Fosters Worten sind hohe Gebäude «a vital component of the future city». Der Besucher der Ausstellung stellt denn auch schnell einmal fest, dass es wenig bringt, für oder gegen Wolkenkratzer zu sein - die entscheidende Frage ist letztlich einzig, ob ein solcher Bau gut oder schlecht ist und ob er am richtigen Ort steht. Diese Frage provozieren in der Show nicht zuletzt vier Modelle für das neue World Trade Center (es fehlt leider das Siegerprojekt von Libeskind) sowie, zum Vergleich, das Modell von Minoru Yamasakis ursprünglichen Zwillingstürmen. Im Sektor «West» ist es auch, wo Foster den Besuchern sein Argument, ein guter Wolkenkratzer müsse einfallsreich sein, eindrücklich vor Augen führt, und zwar mit den Modellen für Frank Lloyd Wrights nie verwirklichte «city-in-the-sky», die eine Meile hoch hätte werden müssen, sowie für das 1930 fertig gestellte Chrysler Building. Als eines der schönsten Bauwerke New Yorks stellt es noch heute in Manhattan einen Blickfang dar.

Zweifellos wird die «Sky High»-Show in London noch lang diskutiert werden, ist doch hier das Für und Wider bezüglich Hochhäusern in jüngster Zeit zu einer regelrechten Schlacht ausgeartet. Man denke nur: Norman Fosters Swiss Re Tower - auch dieser bereichert die Ausstellung - ist der einzige in den letzten zwanzig Jahren in Central London entstandene Wolkenkratzer. Können dereinst «vertikale Städte», wie Foster glaubt, die zu ihrer Versorgung notwendige Energie selbst erzeugen, werden solche Citys irgendwann nicht mehr nur eine Vision sein wie in der Ausstellung die arbiträr zum urbanen Organismus geordneten Metropolen «East» und «West». An Gebäuden, die den Wind nutzen, sei es in vertikalen Schächten, sei es mittels Propellern in schwindelnder Höhe, fehlt es unter den Modellen in der Londoner Show jedenfalls nicht. Unmittelbar denkt man daran, wie sich das Kino der dreissiger Jahre von der damaligen Architektur inspirieren liess - und folgert, dass in Hollywood wohl auch der eine oder andere Designer die jetzt von der Londoner Ausstellung unterstrichene Attraktivität vertikaler Städte zu nutzen weiss.


[Bis zum 10. August. Begleitpublikation: Sky High: Vertical Architecture. Hrsg. Chris Abel. Mit einer Einleitung von Norman Foster. RA Publications, London 2003. 120 S., £ 12.95.]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2003.07.15

10. März 2003Georges Waser
Neue Zürcher Zeitung

Wales und die moderne Architektur

Grünes Licht für Richard Rogers' Parlamentsgebäude

Grünes Licht für Richard Rogers' Parlamentsgebäude

Im Herbst 1998, nachdem Richard Rogers den zum Bau eines walisischen Parlaments ausgeschriebenen Wettbewerb gewonnen hatte, wurde sein Projekt vom Vorsitzenden des Preisgerichts bis in den Himmel gehoben. Die Superlative spiegelten die damalige Euphorie; im Jahr zuvor waren die Waliser politisch autonom geworden, und so sollte dem wiedererwachten nationalen Selbstbewusstsein ein Monument gesetzt werden - ein von einem Stararchitekten entworfenes Parlamentsgebäude, das im Jahr 2003 fertiggestellt sein würde. Nur eindreiviertel Jahre später, nachdem Zänkereien bereits den Beginn der Bauarbeiten verzögert hatten und die budgetierten Auslagen von 26,6 auf voraussichtlich 47 Millionen Pfund gestiegen waren, verlor die walisische Regierung die Nerven: Rogers wurde entlassen. Einmal mehr kam damit die Verwandlung des inneren Hafens der Cardiff Bay - den man mit neuen Bauten in ein «Covent Garden on the Waterfront» zu verwandeln gelobt hatte - zum Stillstand. Jetzt aber, seit wenigen Wochen, zeichnet sich eine Wende ab, ist doch Rogers erneut als Architekt für das Parlamentsgebäude bestätigt worden. Der neue Auftrag schliesst allerdings die Konstruktionsfirma Taylor Woodrow mit ein.

Diese triste Vorgeschichte des Parlamentsgebäudes lässt einen unwillkürlich daran denken, wie in Cardiff politische Intrigen vor wenigen Jahren bereits den Bau eines Opernhauses nach Plänen von Zaha Hadid vereitelt hatten. Oder wie in Swansea die vorzüglichen Pläne des Architekturbüros Alsop & Stormer für das nationale Literaturzentrum zur Seite gewischt wurden. In der Tat scheint Wales für die besten britischen Architekten eine Art «No go»-Bereich zu sein. Was übrigens das Ansteigen der budgetierten Kosten für das von Rogers entworfene Parlamentsgebäude anbetrifft, war daran nicht der Architekt schuld - hatten doch nationalistische Politiker darauf bestanden, dass, wie teuer auch immer, walisisches Material verwendet und walisische Baufirmen beauftragt werden sollten. Rogers hatte wiederholt gewarnt; dass man ihn nicht anhörte, überrascht nicht, sieht doch die walisische Finanzministerin Edwina Hart in eigenen Worten zwischen ihm und irgendeinem Gewerbetreibenden oder Bauarbeiter keinen Unterschied. Sie, die ihn entliess, hat nun Rogers wieder eingestellt - es wird angenommen, dass sein Parlamentsgebäude im Jahr 2005 bezugsbereit ist.

Kehrtwendung und plötzliche Hast der walisischen Regierung haben einen Grund: Cardiff bewirbt sich gegenwärtig darum, für das Jahr 2008 zur europäischen Kulturhauptstadt ausgerufen zu werden. Und nicht nur haben Richard Rogers und seine Partner immer wieder bewiesen, dass sie Aufträge rechtzeitig auszuführen und dabei hohen Ansprüchen zu genügen vermochten: Wie es die Pläne suggerieren, erhält Wales mit dem Neubau von Rogers ein Parlamentsgebäude, das jeder Promenade am Wasser einen beschwingten Akzent aufsetzen würde. Also wäre Cardiff damit um eine Touristenattraktion reicher. Ursprünglich war es auch das, was die Stadtväter sowie andere walisische Politiker wollten; unter die grossen Worte der späten neunziger Jahre gehörte die Aussage, schon bald werde die verwandelte Cardiff Bay dank ihrer neuen Architektur als «Gateway» zwischen dem restlichen Wales, England und dem Ausland dastehen.

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2003.03.10



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Parlamentsgebäude für Wales

02. August 2002Georges Waser
Neue Zürcher Zeitung

Regeneration durch Kunst

Im 19. Jahrhundert zeugte die Architektur der Stadt Manchester von Grösse, im letzten Jahrhundert dann bewirkten die Bombardierungen des Zweiten Weltkriegs, der Terrorismus und viele bauliche Verirrungen das Gegenteil. Heute überrascht die nordenglische Metropole mit einem neuen Image. Dieses verdankt sie wiederum der Baukunst.

Im 19. Jahrhundert zeugte die Architektur der Stadt Manchester von Grösse, im letzten Jahrhundert dann bewirkten die Bombardierungen des Zweiten Weltkriegs, der Terrorismus und viele bauliche Verirrungen das Gegenteil. Heute überrascht die nordenglische Metropole mit einem neuen Image. Dieses verdankt sie wiederum der Baukunst.

Manchester, einst die Wiege der industriellen Revolution in Grossbritannien, ist einmal mehr vom Geist der Innovation beseelt. Hier mehr als anderswo in England - sieht man vom widersprüchlichen urbanen Ungetüm London ab - resultierten jüngste Anstrengungen zum Wiederaufbau im grandiosen Statement. Steht gegenwärtig mit den noch bis zum 4. August dauernden Commonwealth Games der neue, 126 Millionen Pfund teure Sportcity-Komplex im Rampenlicht, wurden in den vorangehenden zwei Monaten gleich drei architektonische Attraktionen eingeweiht: zuerst, nach einem vier Jahre dauernden Umbau, die Manchester Art Gallery, dann das, wie es sein Name andeuten soll, ganz allgemein als Tribut an die moderne Grossstadt gedachte Museum Urbis und schliesslich das Imperial War Museum North. Letzteres steht an den Salford Quays, dem Lowry Centre for Visual and Performing Arts gegenüber. Mit dem vor zwei Jahren fertiggestellten Lowry läuteten in Manchester die Stadtväter ihre Idee einer «Regeneration durch Kunst» ein. Dies, notabene, in einer Stadt, die früher einmal als der Fluch des Gesundheitsministeriums gegolten hatte.


Vom Millennium Quarter nach Trafford

Wer vom Urbis-Museum Fotos sieht, stellt sich diesen im einstigen industriellen Kern von Manchester gelegenen Bau als Wolkenkratzer vor. Steht man dann aber in der jetzt Millennium Quarter heissenden Gegend davor, erkennt man einen nur sechsstöckigen Bau. Der Irrtum erklärt sich leicht: Das dem Urbis-Museum vom Architekten Ian Simpson umgelegte Gewand besteht einzig aus Glasscheiben. Diese umschliessen den Bau horizontal wie Gürtel und scheinen somit übereinander liegende Stockwerke zu definieren. Kein Wunder also, täuschen Bilder von Urbis eine viel höhere Struktur vor. Mit Tricks arbeiten übrigens auch die Aussteller, dies wohl im Gedanken, dass die Funktion von Grossstädten und das dortige Leben bisher zu sehr ein Thema akademischer Studien blieben; so sucht man denn im Innern das Publikum durch eine Vielzahl sogenannter Interactive Displays zu involvieren. Erklärt bleibt allerdings zu wenig. Mag sein, dass die Verantwortlichen noch etwas Zeit brauchen - für ein inspiriertes Schaufenster für urbanes Design hat der einheimische Architekt Simpson mit seinem Bau jedenfalls beste Vorarbeit geleistet.

Bei der Fahrt durch den Stadtteil Trafford, heute vor allem durch den Fussballklub Manchester United bekannt, regt sich die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg - an die deutschen Bomben, die hier ausgiebig fielen. Als Standort für das von Daniel Libeskind gebaute Imperial War Museum North, wie es der Name andeutet, ein Zweig des Londoner Museums, war die Gegend demzufolge prädestiniert. Libeskind gibt mit seinem Bau denn auch den Fingerzeig auf eine Welt in extremis: Hier, am Ufer des Manchester Ship Canal, mutet sein Museum an wie ein in gleissende Scherben zerschlagener Globus, ja schiebt es sich beim Näherkommen zusammen zu einer Art expressionistischer Festung oder Kriegsmaschine aus Aluminium. Der Bau ist auch ohne Zahlen bewundernswert - insbesondere aber, wenn man daran denkt, dass er statt 40 schliesslich nur knapp 30 Millionen Pfund kosten durfte und dass er in Windeseile (wurde das Projekt doch erst 1999 vom britischen Kulturminister angesagt) entstanden ist. Was den Besucher in diesem Museum erwartet, ist eine unorthodoxe - weil die menschliche «Software» ins Zentrum stellende - Analyse der Konflikte, in welche die Armeen Grossbritanniens und des Commonwealth seit 1914 verwickelt waren.

Einige der Ideen, die das Äussere prägen, sind auch im Innern des Imperial War Museum North vorhanden. Die Wände und der Boden sind nicht eben; soll der Besucher desorientiert werden, ist ihm vom Architekten gar eine Rolle zugedacht? Im Gespräch, an einem Julitag in Manchester, bejaht Daniel Libeskind beides; er habe eine Struktur geplant, die zu überraschen vermöge - und zudem seien seine Bauten stets «co-created by the people», denn er schreibe beim Planen den Benutzern oder Besuchern eine aktive Funktion zu. Libeskind, für den in eigenen Worten die Architektur ohne Musik nicht auskommt, setzt gelegentlich auch ein Fortissimo: im Museum in Manchester zum Beispiel, indem der unregelmässige grössere Ausstellungsraum einem Silo ähnliche Kammern enthält, eine jede mit einem thematischen Schwerpunkt. Nicht zuletzt beruht die traumähnliche Erfahrung des Besuchers auf dem durchwegs schwachen Licht. Aus diesem Zustand wird er herausgerissen im Moment, in dem er zurück in jenen vertikalen Gebäudeteil tritt, der den Eingang markiert. Hier, mit einem skelettartigen Liftschacht, hat Libeskind einen Akzent gesetzt, der Fritz Langs «Metropolis» oder dem Kabinett des Dr. Cagliari zu entstammen scheint.


Wie eine Skulptur

Beim Gang über die neue Lowry Footbridge - eine imposante Fussgängerbrücke, die sich, um Schiffe durchzulassen, anheben lässt und für deren Bau die spanische Ingenieurfirma Carlos Casado hinzugezogen wurde - empfiehlt sich ein Blick zurück. Was Daniel Libeskind sagte, wird dabei offensichtlich: Sein Imperial War Museum North passt sich wie eine Skulptur der Kanallandschaft an. Anders das Ende der neunziger Jahre als englisches Architekturereignis gepriesene Lowry Centre von Michael Wilford, mit dem hier die zu Gross-Manchester gehörende Stadt Salford beginnt: Dieses wirkt baulich konfus, ja im Vergleich zu seinem Gegenüber bereits veraltet. Doch was hatte Salford zuvor schon - mit der Ausnahme von Hafenanlagen, Armut und Verbrechen? Der 1976 verstorbene Maler L. S. Lowry, dem dieses Kulturzentrum den Namen dankt, würde die ihm einst vertraute Gegend beim Blick von der Footbridge kaum wiedererkennen.

Im Innern dann gewinnt das Lowry Centre an Gewicht. Zwar fragt es sich, ob das Publikum der Farbigkeit nicht überdrüssig werde, denn nie mehr seit Verner Panton und den psychedelischen siebziger Jahren hat man in Grossbritannien derart starke Farben gesehen. Allerdings, mit zwei Theatern (von denen eines die grösste Bühne ausserhalb Londons beherbergt) sowie verschiedenen Ausstellungsflächen und Bars ist das Lowry ein kultureller Moloch, und so strömt denn gegenwärtig auch das Volk herbei - als es im Jahr 2000 eröffnet wurde, zählte das Lowry zu den zehn meistbesuchten eintrittsfreien Museen und Galerien des Vereinigten Königreichs. Wilford, dem einstigen Partner von James Stirling, muss gutgeschrieben werden, dass er dem Layout eine theatralische Note zu geben und damit Vorfreude zu wecken wusste; insbesondere sein Walkway, eine Art Promenade, kreisähnlich zwischen den verschiedenen Attraktionen angelegt, ist gelungen. Der Kern und Stolz des Zentrums ist aber die Lowry Collection, die hier domizilierte Sammlung von Bildern des auf Grund seiner industriellen Landschaften untrennbar mit Nordengland verbundenen, für seine Zündholzmännchen berühmt gewordenen Lowry.

Das Metrolink genannte Tram, auch dieses noch nicht lange in Betrieb, bringt einen zurück ins Stadtzentrum von Manchester. Und dort ist vor kurzem die Manchester Art Gallery neu eröffnet worden. Diese besteht aus der früheren City Art Gallery sowie dem einst als Klub dienenden Athenaeum: aus zwei 1837 und 1839 fertiggestellten Bauten, für die sich der Architekt Charles Barry von klassischen griechischen Vorbildern und italienischen Palazzi inspirieren liess. Diese wurden nun von Michael Hopkins nicht nur durch eine diskrete, zweistöckige Glashalle vereint. Mit einem neuen Flügel auf einem schon 1898 zu diesem Zweck bereitgestellten Landstück hat er das Ganze in einen organischen Gebäudeblock innerhalb der City verwandelt. Hopkins' Umbau kostete 35 Millionen Pfund und verdoppelte die Ausstellungsfläche, was diesem Kunstmuseum, dessen sechs Jahrhunderte umfassende Sammlung zu den besten in Grossbritannien gehört, besonders zustatten kommt. Spätestens wenn man von hier zur Piccadilly Station zurückkehrt, gelangt man zum Schluss, dass Manchester wieder als eine grosse internationale Metropole gelten will; sogar der Bahnhof, für den Ankömmling lange Zeit ein abstossendes Zugangstor in die Stadt, erhält ein Facelifting.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2002.08.02

24. Mai 2002Georges Waser
Neue Zürcher Zeitung

Königliches Kuriositätenkabinett

Die Queen's Gallery in London nach dem Umbau

Die Queen's Gallery in London nach dem Umbau

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Queen's Gallery - Neubau

20. November 2001Georges Waser
Neue Zürcher Zeitung

Von Hockney bis Füssli

Die erweiterte Tate Britain zeigt ihre Schätze

Die erweiterte Tate Britain zeigt ihre Schätze

Nach einem Facelifting scheint die Tate Britain, das Zuhause der weltweit grössten Sammlung britischer Kunst, wieder auf Erfolgskurs zu sein. Die bisher grösste bauliche Veränderung seit der Gründung dieses Museums kostete 32 Millionen Pfund; mehr als die Hälfte des Geldes kam aus den Kassen der National Lottery.

Seit die Tate Modern vor eineinhalb Jahren mit einem grossen Spektakel eröffnet wurde, schien die gute alte Tate Gallery - die Tate Britain, wie sie seither heisst - zu einem Schattendasein verurteilt. Kamen im April 2000 noch 162 000 Besucher in die Tate Britain, so fiel das Total der Eintritte im Mai auf 99 000 und im Juni gar auf nur 62 000. Die Tate Modern hingegen meldete Rekordzahlen: fünf Millionen Besucher allein im ersten Jahr! War dies etwa ein Beweis dafür, dass sich die Briten unmerklich zu einer modernen europäischen Nation gewandelt hatten?

Die Tageszeitung «The Guardian», die so fragte, verwies darauf, wie schnell doch in jüngsten Jahren viele Briten ihren geliebten, schlecht gelüfteten Pubs den Rücken kehrten und zur «clientèle» neuer Cafés im kontinentalen Stil geworden seien - und eben, ähnlich habe das Inselvolk jetzt offenbar auch von Hogarth, Turner, den Präraffaeliten sowie der Bloomsbury Group genug und begehre nach der kosmopolitischen Kunst in der Tate Modern.

Schuld an dieser Entwicklung war allerdings, sieht man einmal von der als Magnet wirkenden Tate Modern ab, nicht die in der Tate Britain übrig gebliebene Sammlung, sondern vielmehr ein kleiner Bestandteil davon: nämlich eine neue, im Frühjahr 2000 vorgestellte beständige Schau. Statt chronologisch oder nach Schule waren die Werke in dieser permanenten Ausstellung nach Themen geordnet. Solche Themen, denen jeweils ein Raum gewidmet war, hiessen zum Beispiel «Private and Public», «Visionary Art», «Home and Abroad» und «City Life». Doch was hatten Bilder wie Füsslis «Titania and Bottom» und Kitais «Cecil Court» (1983/84) schon gemeinsam - ja welche neue Einsicht gewann der Besucher aus dem Hinweis, es handle sich bei diesen nebeneinander hängenden Werken ebenso um solche «urbaner» Künstler wie Gilbert und George beziehungsweise L. S. Lowry im selben Raum? Indem sie plötzlich ebenso «sexy» - wie die Tate Modern - sein wollte, erlitt die Tate Britain eine Identitätskrise; die «Sunday Times» erkor sie schliesslich, weil so schlecht besucht, zum beklagenswertesten Museum Londons.


Subtile neue Architektur

Jetzt aber lässt dieses Kunstmuseum wieder aufhorchen. Nachdem der Architekt John Miller tief in die Fundamente des alten Millbank-Gefängnisses, über denen der Komplex angelegt ist, hinuntergrub, steht die Tate Britain seit Anfang November in neuem Glanz da. Erstmals ist für Ausstellungen auch im Untergeschoss Platz vorhanden: hier, in den aus sechs Räumen bestehenden «Linbury Galleries», werden fortan temporäre Ausstellungen gezeigt. Diesen Galerien, wie auch vier neuen Räumen im darüber liegenden Stockwerk, hatte ein verborgener Innenhof weichen müssen. Weitere fünf Räume im bisherigen Nordwestflügel haben ein ihrem ursprünglichen Design angepasstes Facelifting erhalten. Völlig neu sind auf der westlichen Seite des Museums ein von der Strasse ins Untergeschoss führender Eingang sowie dahinter ein grosszügiges Foyer mit Bookshop. Last, but not least: Neu ist auch ein in seiner Schlichtheit grossartiges, von Tageslicht erhelltes Treppenhaus aus Kalkstein, das die Linbury Galleries mit dem oberen Stock verbindet; mit diesem Treppenhaus und dem Eingang - d. h. mit zwei westwärts in den Komplex schneidenden Schwerpunkten - ist es Miller gelungen, eine bisher unwandelbar wirkende Anlage auf subtile Weise neu zu orientieren.

Wohlverstanden: Weder war die Tate Britain je noch ist sie jetzt strukturell eine geschlossene Einheit. Zum Architekten Sidney Smith, nach dessen Plänen sie erbaut und 1897 als The National Gallery of British Art eröffnet wurde, lässt sich nicht viel mehr sagen, als dass er in der Gunst des Zucker-Tycoons und Kunstsammlers Henry Tate stand. Bald einmal nach diesem benannt, wurde die Tate immer dann, wenn sich neue Gönner einstellten, erweitert. So vor dem Ersten Weltkrieg für die Turner-Sammlung nach Plänen von Romaine Walker und zwanzig Jahre später, als John Russell Pope aus New York dem Bau die zentrale Kuppel aufsetzte und den Skulpturen-Galerien einen neuen Look verlieh. Dann, in den achtziger Jahren, kam mit der Clore Gallery ein Anbau von James Stirling. Doch während die Clore Gallery anders sein wollte und dies mit ihrer Fassade laut verkündet, reden jetzt die von John Miller vorgenommenen Erweiterungen im Flüsterton von der Absicht des Architekten, sich anzupassen. Miller hat seine Absicht so konsequent realisiert, dass viele Besucher kaum merken werden, wo Neu und Alt aufeinander stossen.


Chronologie, gestärkte Identität

Wie es ihr erster Name verkündete, war der Tate Britain ursprünglich eine grosse Rolle zugedacht: Hier sollte die Geschichte der britischen Kunst erzählt und zelebriert werden. Genau darauf scheinen sich jetzt die für das Museum Verantwortlichen wieder besonnen zu haben - denn was der Besucher nebst neuer Architektur zu sehen bekommt, ist unter dem Motto Collections 2002-1500 die weltweit grösste permanente Ausstellung britischer Kunst. Die unsägliche Idee von einer nach Themen geordneten Schau wurde fallengelassen, und so ist denn das, was jetzt statt die Lager die dem Publikum zugänglichen Räume füllt, chronologisch geordnet. Seit der Eröffnung der Tate Modern und jetzt mit dem Facelifting vergrösserte sich in der Tate Britain die Ausstellungsfläche um insgesamt 35 Prozent - was heisst, dass Schlüsselfiguren in der Sammlung, darunter Hogarth, Gainsborough, Blake, Constable, die Präraffaeliten, Moore, Hepworth, Bacon und Hockney, umfänglicher gezeigt werden können. Die erste, soeben eröffnete temporäre Ausstellung in den Linbury Galleries hat die viktorianische Aktmalerei zum Thema.

Wohl wundert man sich in der permanenten Ausstellung noch gelegentlich, so im achten Raum, wo Nashs «Totes Meer» in der Gesellschaft von Blake hängt, doch grossenteils verdienen die arbiträren Einfälle ein Lob. Solche Einfälle sind eine der viktorianischen Photographie eingeräumte Sektion sowie, bei der Kunst des 18. Jahrhunderts, ein mit «Britain and Italy» betitelter Raum. Die vorübergehend vorhandenen Leihgaben füllen Lücken in der Sammlung, was - will diese doch zu der Geschichte der britischen Kunst «the full picture» vermitteln - ebenfalls positiv beurteilt werden muss. Zum Beispiel hat die Tate Britain keinen Holbein, doch sind von diesem hier gegenwärtig zwei grossartige Bilder - «Lady with a Squirrel» und «Sir Henry Guildford» - zu sehen. In der Tat bedarf die Sammlung der Tate Britain der Ergänzung; wohl ist sie stark an Bildern von Turner, Blake, Stubbs und den Präraffaeliten - doch fehlt zum Beispiel irgendein vor 1816 entstandenes bildhauerisches Werk. Ebenso ist weder van Dyck noch die schottische Kunst gross vertreten.

Es ist also jetzt mit den «extraterritorialen» Holbein und van Dyck, ja mit «Britain and Italy» auch die für die Geschichte der britischen Kunst unerlässliche internationale Dimension gegeben. Die Frage ist, ob die Tate Britain nicht vielleicht Stanley Spencer - oder Sickert - einen mehr oder weniger permanenten Raum widmen sollte. Sickert zum Beispiel findet sich gegenwärtig zusammen mit der Camden Town Group, Whistler sowie anderen unter dem Motto «British Art and France 1870-1914» auf dieselben vier Wände gedrängt. Doch zu viele Fragen zu der nach dem Facelifting in ihrer Identität neu gestärkten Tate Britain würden wohl höchstens eine weitere Frage anregen - ob nämlich dieses Museum für seine Sammlung nicht noch mehr Platz hätte brauchen können.

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2001.11.20



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Tate Gallery of Modern Art

11. August 2001Georges Waser
Neue Zürcher Zeitung

New Britain - und ein Architekt

Ausstellung Norman Foster im Londoner British Museum

Ausstellung Norman Foster im Londoner British Museum

Für den englischen Stararchitekten Norman Foster hat sich der Londoner Sommer gut angelassen. Nicht nur soll seine «schwankende» Fussgängerbrücke über die Themse, derentwegen er von der Presse seines Landes stark kritisiert worden war, bald begehbar sein: Gegenwärtig würdigt ihn das British Museum sogar mit einer grossen Show. Diese, «Exploring the City: The Foster Studio», ist mit Modellen, Plänen, ja Stücken des jeweils verwendeten Baumaterials ein anschaulicher Katalog jener Arbeiten, denen Foster seine internationale Reputation dankt - also spielen in der Ausstellung die Commerzbank in Frankfurt, der Chek-Lap-Kok-Flughafen in Hongkong, das Carré d'Art in Nîmes, der Berliner Reichstag, aber auch die Chesa Futura in St. Moritz eine Rolle.

Ebenso wie übrigens verschiedene Projekte, will doch Foster - sein Ehrgeiz ist ebenso gross wie sein architektonischer Output - als ein Baukünstler mit Visionen verstanden werden. - Mit der Ausstellung in der Wellcome Gallery des British Museum ist der Architekt denkbar gut bedient: Der Weg des Besuchers führt nämlich direkt durch den von Foster spektakulär verwandelten Innenhof (NZZ 9. 12. 00). «Si monumentum requiris, circumspice», heisst es auf dem Grab des grossen Christopher Wren. Ähnlich wie Wren, der London nach dem Feuer von 1666 ganze 51 neue Kirchen bescherte, darunter die St.-Pauls-Kathedrale, möchte sich auch Norman Foster verewigt sehen - dass also, wer Fosters Andenken sucht, sich in der Themsestadt eines Tages einzig umzusehen braucht. Deshalb wohl auch liebt Foster den Ausspruch, seine Architektur sei «all about the city» - und deshalb wohl auch der Titel der gegenwärtigen Ausstellung: «Exploring the City». In der Tat ist Foster im Begriff, die Londoner Skyline mehr zu verändern als irgendein Architekt seit Wren. Interessant ist diesbezüglich eine Parallele zu der Regierung Blair. Diese beansprucht für sich das Image jener dynamischen modernen Welt, der sich Foster verschrieb, als er vor 35 Jahren zu arbeiten begann. In Fosters Architektur spiegelt sich der Traum von New Labour: New Britain. Festzuhalten bleibt, dass die Regierung Blair sich Fosters Vision aneignete - und nicht umgekehrt.

Die Projekte in der Wellcome Gallery veranschaulichen die, wie es ein britischer Journalist formulierte, «Fosterification» Londons. Da ist, vornehmlich, Fosters Vision für den Trafalgar Square: Das Projekt sieht vor, dass dieser Platz auf der Nordseite verkehrsfrei werden soll und somit die von der National Gallery hinunterführenden Stufen direkt in einer zur Promenade einladenden Piazza enden. Ein anderes, von der Fosterification «bedrohtes» nationales Heiligtum ist das Wembley Stadium. Wie ein Eisberg dehnt sich Fosters Modell für ein neues Stadion grossenteils unter der Oberfläche aus - was heisst, dass ein Star wie Michael Jackson seinen Fans künftig leicht, also ohne Helikopter, zu entrinnen vermöchte. Und dennoch wäre dieses in einem Vorort der Stadt gelegene Stadion von der Kuppel der St.-Pauls-Kathedrale aus sichtbar. Foster liebt es eben, Akzente zu setzen. Ein solcher Akzent, vielmehr ein Symbol, ist sein in der Londoner City als Hauptquartier der Swiss Reinsurance Company entstehender Bau in der Form eines riesigen Tannzapfens - inspiriert, wie die Ausstellung verdeutlicht, an Fosters für den Hafen von Tokio geplantem Millennium Tower.

Seit Foster Mitglied des britischen Oberhauses wurde, insistiert er auf die ihm dadurch zustehende Anrede: Lord Foster of Thames Side. Der Titel verpflichtet - und nachdem Foster mit seiner unsicheren Brücke den Beweis für eine Verbundenheit mit der Londoner Flusslandschaft vorerst schuldig geblieben ist, doppelt er jetzt mit Projekten von Battersea im Westen bis zum Tower of London im Osten nach. Zwar überzeugt das erstere, das Albion Riverside Project, nicht vollständig - man denkt vor dem Modell an den gelegentlich gehörten Vorwurf, Fosters Bauten bekomme die Präsenz menschlicher Wesen nicht. Sein Tower-Place-Projekt hingegen gefällt: Nicht nur werden durch dieses, indem es einen 16-stöckigen Bau ersetzt, die historischen Zugänge zum Tower und gar die Sicht auf die St.-Pauls-Kathedrale von den flussabwärts gelegenen Vororten frei - wie ein zärtlicher Arm fast lehnt es sich an die Kirche All Hallows mit ihrer auf das römische Londinium zurückgehenden Krypta. Last, but not least: Das Symbol für die Metropole eines New Britain ist Fosters Modell für das lang erwartete Hauptquartier der Greater London Authority: jener einem Auge ähnliche, der Sonneneinstrahlung wegen nach hinten lehnende Glaspalast, aus dem Londons Bürgermeister über Themse und Stadt hinweg blicken wird. Fosters Pläne und Modelle reden von Offenheit und Energie - es ist zu hoffen, dass dies Eigenschaften der neuen Greater London Authority sind.


[Bis 7. Oktober. Kein Katalog.]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2001.08.11

30. Juni 2000Georges Waser
Neue Zürcher Zeitung

Kathedralen unter der Erde

Die 1993 begonnene «Jubilee Line Extension» gilt als das grösste europäische Tiefbauprojekt des Jahrzehnts. Seit den Anfängen der London Underground im späten 19. Jahrhundert hatte die Themsestadt nie mehr Ausgrabungen dieses Ausmasses erlebt. Die zehn Meilen lange Erweiterung wirkt seit ihrer Eröffnung auf Architekturpreise wie ein Magnet. North Greenwich und Stratford wurden mit einem RIBA-Award ausgezeichnet, und eben erst ist die verlängerte Linie von der Royal Fine Art Commission zum Millennium Building of the Year erklärt worden.

Die 1993 begonnene «Jubilee Line Extension» gilt als das grösste europäische Tiefbauprojekt des Jahrzehnts. Seit den Anfängen der London Underground im späten 19. Jahrhundert hatte die Themsestadt nie mehr Ausgrabungen dieses Ausmasses erlebt. Die zehn Meilen lange Erweiterung wirkt seit ihrer Eröffnung auf Architekturpreise wie ein Magnet. North Greenwich und Stratford wurden mit einem RIBA-Award ausgezeichnet, und eben erst ist die verlängerte Linie von der Royal Fine Art Commission zum Millennium Building of the Year erklärt worden.

Sechs vollständig neue und fünf von bereits bestehenden Linien benutzte, jetzt radikal umgestaltete Bahnhöfe: Dies ist das architektonische Total der «Jubilee Line Extension», die sich von Westminster nach Stratford im Londoner East End erstreckt und dabei viermal unter der Themse hinweg verläuft. Kein Wunder, plädierte der mit der Oberaufsicht beauftragte Roland Romano Paoletti für einen «engineering-based approach», denn tief unter dem Boden setze formale Vollkommenheit bei den Architekten viel technisches Verständnis voraus. Paoletti, dem bereits Hongkong die dortige Metro dankt, erhob ein «logisches» Layout zur einzigen Voraussetzung: Reisende sollten Ausgänge und Bahnsteige instinktiv finden können. Das Resultat sind elf im Aussehen individuelle, zum Teil grandiose Stationen. Wer sie benutzt, erliegt dem Gedanken an Trajans Forum und Piranesis Raumphantasien ebenso wie der Erinnerung an Brunels Pionierwerke. Und auch der Geist von John Soane sowie Charles Holden - Letzterer der «Vater» der in den frühen dreissiger Jahren entstandenen Stationen der verlängerten Piccadilly Line - scheint diesen unterirdischen Gewölben und Passagen aus Aluminium, Beton, Stahl, Glas und Licht innezuwohnen. Das Ganze besticht durch gleissende Reinheit. Wie lange wohl? Nicht nur zur Architektur- Wallfahrt empfiehlt sich die Jubilee Line; auch Hooligans und andere Vandalen werden hierher finden.


Unterirdische Metamorphose

Noch für spätere Jahrzehnte galt die London Underground der dreissiger Jahre als das effizienteste, in Sachen Design führende urbane Transportsystem der Welt. Zugegeben, da waren die Stationen von Charles Holden, darunter das Prunkstück Gants Hill - doch unter der Erde waren die Londoner U-Bahnhöfe, für die die staatlichen Zuschüsse schon bald einmal versiegten, nie viel mehr als ein Labyrinth oder ein Kaninchenbau. Schon 1943 empfahl der London County Council, dass mittels einer Erweiterung der Underground der Südosten der Stadt zugänglicher gemacht werde. Doch auch andere von Bomben verwüstete Stadtteile bedurften des Pendelverkehrs, und so wurde dann in den sechziger Jahren erst einmal die Victoria Line gebaut. 1971 schliesslich begann man mit dem Bau der damals noch Fleet Line geheissenen Jubilee Line. Angelegt wurde davon vorerst die westliche, von Charing Cross nach Stanmore führende Strecke. Doch dann, als die Linie 1977 umbenannt wurde, ging dafür langsam das Geld aus.

Zwar machte im April 1978 Sir Horace Cutler, der oberste Mann der Stadtverwaltung, im dunklen Anzug und Schlips eigenhändig den ersten Spatenstich für einen nach Osten führenden Tunnel. Doch dann kam Margaret Thatcher, und die hasste Bahnlinien und Züge. Bis der symbolische Akt des beispielhaften Sir Horace fortgesetzt wurde, sollten noch rund 15 Jahre vergehen. Was schon im 19. Jahrhundert für Brunel galt - der von ihm im Beisein von schaulustigen Scharen begonnene erste Tunnel unter der Themse sollte erst zwei Jahrzehnte später beendet sein -, gilt auch noch heute: Jenen, die in London verkehrstechnischen Problemen auf schnelle und logische Art beizukommen hoffen, steht mit dieser Stadt ein zu grosses Durcheinander im Weg. Oft sind die Hindernisse eine Fundgrube für Archäologen. Und oft ist es allein die Beschaffenheit des Bodens; so ist Nordlondon auf Lehm gebaut, Südlondon hingegen grossenteils auf Kies und Sand, was den Tiefbau erschwert - in Bermondsey zum Beispiel rutschte beim Bau der neuen Station ein ganzer Friedhof in die Tiefe.

Und doch ist man des Durcheinanders jetzt auch hier Meister geworden. Was heisst: Das Viertel Bermondsey, dessen einzige Attraktion bisher der legendäre, am Freitagmorgen auf offener Strasse stattfindende Antiquitätenmarkt war, liegt plötzlich sozusagen auf der Schwelle zum West End. Ähnliches gilt auch für die weiter östlich gelegenen Vororte Greenwich und Canning Town, die nunmehr aus dem Zentrum in gut 15 Minuten erreichbar sind. Kein Wunder, schossen hier die Preise für Grundstücke und Wohneigentum fast über Nacht in die Höhe - und zwar bevor sich in den neuen Stationen der Jubilee Line überhaupt nur die ersten Schranken öffneten.


One-way Ticket to East London

Für den einen Architekturkritiker sind es «Temples to travel», für den anderen «Vast, subterranean, airy cathedrals of commuting» - diese Stationen eben, die nicht zuletzt deshalb luftig anmuten, weil den Passagieren das gefilterte Tageslicht so tief hinab wie nur möglich folgt oder entgegenkommt. Im Vergleich zu den oft wie ein Gewirr von Spaghetti anmutenden Stationen älterer Linien - etwa Oxford Circus oder Leicester Square - wirken die neuen Jubilee Line Stations denn auch wie helle, mehrstöckige Boxen. Doch bergen sie Überraschungen. Westminster zum Beispiel, wo die Rolltreppen irgendwo unter den Houses of Parliament, der Westminster Abbey und der District Line in die Tiefe führen, sah der Architekt Michael Hopkins wohl mit dem Vorstellungsvermögen eines dem Sublimen verfallenen Romantikers. Hier Aufgänge, die irgendwo ins Leere zu laufen scheinen, dort gewaltige Säulen und Träger: das Auge macht eine Erfahrung wie beim Betrachten von Piranesis «Carceri».

Von Waterloo, wo die weiten, von Paoletti selbst entworfenen Passagen bestechen, verläuft die Fahrt nach Southwark, der kleinsten Station. Im Gegensatz zu Westminster und Waterloo ist Southwark vollständig neu. Dieses von Richard MacCormac gebaute Juwel hat auf das Etikett «abstraktes Kunstwerk» ebenso viel Anspruch wie die Exponate in der nahe gelegenen Tate Modern. Mit der trommelförmigen Ticket Hall ist ein Tribut an die Stationen Holdens gegeben; ein Stockwerk tiefer aber beginnt mit einer gewölbten, über den röhrenförmigen Rolltreppen wie der Nachthimmel anmutenden Wand des Glaskünstlers Beleschenko ein von MacCormac virtuos gehandhabtes Spiel - seine Station ist eine unterirdische Landschaft, die von Kontrasten lebt, in der räumliche Enge und Weite sowie natürliches und künstliches Licht sich ergänzen wie in einem Orchester die Stimmen einzelner Instrumente.

In Canada Water, nach Plänen von Ron Heron gebaut, prägen sich die den niedrigen Decks von Schiffen vergleichbaren Flächen in der Erinnerung des Betrachters ein. Canary Wharf hingegen überrascht mit einem den Flügeln eines Riesenvogels ähnlichen Glasdach, das in der Mitte von Säulen getragen wird. Zu der von Norman Foster erbauten Canary Wharf Station bleibt zu sagen, dass an dieser Elemente des Stadion- und Flugplatzbaus erkennbar sind - eine Hommage an Pierluigi Nervi? Es folgt North Greenwich und damit nochmals - soll es doch die grösste U-Bahn-Station in Europa sein - ein Ungetüm. Hier, wo Will Alsop der Architekt war, empfängt einen eine Welt in Blau à la Yves Klein. Oder ist es die Welt von Indiana Jones? Die Galerie nämlich, über die es hinwegzuschreiten gilt, ruht nicht etwa auf Mauern oder Pfeilern, sondern hängt im Raum. Nach diesem Abenteuer geht die Fahrt weiter ins alte East London und endet dort schliesslich in Stratford, wo die Jubilee Line auf die Geschichte stiess; auf dieses faszinierende Durcheinander eben, das London heisst. Hunderte von Mönchen mussten hier der U-Bahn weichen: Skelette nämlich, die man beim Bau entlang der Linie fand - die Zeugen des grossen, seit langem spurlos verschwunden geglaubten Zisterzienserklosters zu Stratford.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2000.06.30

25. Januar 2000Georges Waser
Neue Zürcher Zeitung

Wie (Mickey-)Mäuse Berge gebären

Der Millennium Dome im Londoner Vorort Greenwich, der laut Premierminister Blair zum Symbol für den Geist Grossbritanniens und die globale Zukunft hätte...

Der Millennium Dome im Londoner Vorort Greenwich, der laut Premierminister Blair zum Symbol für den Geist Grossbritanniens und die globale Zukunft hätte...

Der Millennium Dome im Londoner Vorort Greenwich, der laut Premierminister Blair zum Symbol für den Geist Grossbritanniens und die globale Zukunft hätte geraten sollen, steht endlich zum Besuch offen. Wie an dieser Stelle bereits berichtet: in ihren Dimensionen übertrifft diese gigantische, 758 Millionen Pfund teure Konstruktion sowohl den Georgia Dome im amerikanischen Atlanta als auch den Astrodome in Houston - das Londoner Wembley-Stadion hätte zweimal, die Albert Hall gar dreizehnmal darin Platz. Erinnert sei auch daran, dass das Projekt 1995 von der damaligen konservativen Regierung ins Auge gefasst wurde und dass dann 1997 das Schatzamt der neuen Labourregierung darauf drängte, die Sache fallenzulassen: ein Rückzieher hätte ungefähr 25 Millionen Pfund gekostet.

Tony Blair allerdings hatte andere Absichten, und mit ihm auch bald schon sein zum «Minister für den Dome» gemachter Günstling Peter Mandelson. Was genau diese Absichten waren, wollte zwar lange niemand sagen: vorgesehen war - zum Schrecken der von der Regierung herbeigezogenen Werbeleute -, dass der Dome als «das bestgehütete Geheimnis der Welt» entstehen würde. Immerhin, da war die eingangs zitierte Aussage des begeisterten Premierministers; und dazu sein Versprechen, die Welt werde die Briten um ihr neues Symbol beneiden.


«Labour Gulag»

Dass jetzt der Dome seit der Silvesternacht von der englischen Presse tagtäglich abgeschlachtet wird, hat nur zum Teil mit den Unzulänglichkeiten bei der Eröffnung zu tun - damit, dass Zeitungsvertreter, und damit 3000 von 10 500 Gästen, stundenlang in der nächtlichen Kälte Schlange stehen mussten, weil es die Dome-Organisatoren verpasst hatten, die Einladungen auszusenden, und weil überdies amateurhafte Sicherheitsmassnahmen alles verzögerten. Schliesslich war es schon längst in die Redaktionsstuben durchgesickert, dass die Entstehungsgeschichte des Dome viel mehr nicht ist als ein Katalog solcher Pannen. Schwerer wiegt, dass sich mit der Eröffnung die Dome-Rhetorik der Regierung Blair als Seifenblase und blosse Selbstgefälligkeit herausgestellt hat - so stellte die «Times» fest, dass sich die «box of dark tricks» der offiziösen Schönredner als leer erwiesen habe. Noch schärfer ging im Magazin der «Sunday Times» der Kolumnist und Schriftsteller A. A. Gill mit dem Dome ins Gericht. Er - mit seinem jüngsten Roman immerhin Gewinner des in London alljährlich verliehenen «Bad Sex Prize» und folglich kaum ein Purist - schildert potentiellen Besuchern den Dome als «ein Vielfaches der scheusslichsten Erfahrung, für die Sie je bezahlt haben». Vielleicht sollte darin zum ungehinderten Genuss ihres kulturellen Placebos die gesamte Labourpartei ein Jahr lang eingeschlossen werden? Jedenfalls, so Gill, wäre für dieses Ungetüm der Name «Labour Gulag» angebracht.

Als scheussliche Erfahrung beginnt der Dome- Besuch in der Tat für jene, die im Auto, Bus oder Taxi von Greenwich her kommen: der Dome ist auf einer halbinselförmigen Öde ohne Infrastruktur errichtet worden, und folglich führt die Fahrt an morastigem Niemandsland sowie gelegentlich einem verrosteten Zaun und dahinter Abfallbergen vorbei. Kein Wunder, reden die Dome- Organisatoren einem zu, die Züge der neuen Jubilee Line zu benutzen: man reist so unter der Erde an und sieht vom darüberliegenden Jammertal nichts. Und dann, aus der vom vortrefflichen Architekten Will Alsop erbauten U-Bahn-Station North Greenwich von funkelnagelneuen Rolltreppen ans Tageslicht getragen, steht man vor dem Dome, einer zeltartigen Konstruktion mit einem Dach aus Glaswolle, von zwölf je hundert Meter hohen Masten getragen. Und wenn man auch mit unguten Gefühlen hergekommen ist: an einem sonnigen Tag, von einem blauen Himmel umrahmt, wirkt diese Struktur überraschend effektvoll und keineswegs unproportioniert.

Im Innern allerdings folgt dann die Ernüchterung. Was als das «bestgehütete Geheimnis» zum Symbol Grossbritanniens hätte werden sollen - in anderen Worten: was einem jetzt hier zu einem Eintrittsgeld von 20 Pfund beschert wird -, ist eine Beschreibung nicht wert. Das heisst, es genügen dafür die drei Worte banal, billig und überflüssig. Mit seinen «Themenzonen» ist der Dome nichts anderes als ein monumentaler Lunapark - und warum sollen wir schon bezahlen dafür, uns mit Tennisbällen bewerfen zu lassen oder gar «mittels Betäubung» in eine ältere Person verwandelt zu werden? Jenen, die den Dome als Erlebnis für Kinder empfehlen, sei eher zum Besuch des Britischen Museums oder von Madame Tussaud's geraten: dort - viel mehr jedenfalls als im Dome, wo eine der lehrhaften Zonen sogar zum Einatmen der für Schulhaus und Klassenzimmer typischen Gerüche einlädt - erlebt man staunende und begeisterte Kinder.


Disneyworld als Inspirationsquelle

Auch das Design des Inneren entbehrt insgesamt jeglicher Harmonie, glaubte man doch, auf die Einsetzung eines künstlerischen Leiters verzichten zu können - zuständig war einzig der unsägliche Mandelson, der sich (wer hat es nicht längst erraten?) von Mickey Mouse, das heisst einem Besuch in Disneyworld, inspirieren liess. Zu empfehlen ist einzig eine Ruhepause auf der hinter dem Dome angelegten Terrasse, von wo sich ein spektakulärer Ausblick über die Themse hinweg auf Docklands und den Turm von Cesare Pelli anbietet. Fast wünscht man sich hier, auf einer Bank sitzend, den Rückweg durch den Dome nicht mehr antreten zu müssen.

Was die englische Presse in Rage versetzt, ist die gönnerhafte Art, mit der die Labourregierung den Dome dem Volk vorschrieb - und wie jetzt die wortverdrehenden «spin doctors» dieser Regierung, trotz den ungenügenden Besucherzahlen, weiter von einem Triumph sprechen. Man stellt es tatsächlich mit Bedauern fest: Tony Blair predigt die Vorzüge des Dome mit einem Starrsinn und Fanatismus, wie man sie zuvor nur an der konservativen Premierministerin Margaret Thatcher kannte. Und auch Mandelson, seiner Pflicht längst enthoben und heute Nordirland- Minister, stösst unklugerweise weiter in dasselbe Horn.

Im Dome, angesichts der Torheiten von Ausstellern, die nichts auszustellen haben, erinnert man sich unwillkürlich daran, wie Peter Mandelson für sein Lieblingsprojekt einst mit den Worten plädierte, zu viele Leute in Grossbritannien hätten vergessen, was es bedeute, wirklich gross zu sein. Vielleicht sollten statt des Volkes vielmehr er selbst und Premierminister Blair etwas mehr über das «Who are we?» nachdenken, das im Dome das Motto zu einer Themenzone ist.

Georges Waser

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2000.01.25

29. November 1999Georges Waser
Neue Zürcher Zeitung

Funktion und Look

Mit der gegenwärtigen Ausstellung «Design: Process, Progress, Practice» stellt das Londoner Design Museum die wohl wichtigste Frage in seiner mittlerweile...

Mit der gegenwärtigen Ausstellung «Design: Process, Progress, Practice» stellt das Londoner Design Museum die wohl wichtigste Frage in seiner mittlerweile...

Mit der gegenwärtigen Ausstellung «Design: Process, Progress, Practice» stellt das Londoner Design Museum die wohl wichtigste Frage in seiner mittlerweile zehnjährigen Geschichte: «What is Design?» Im Mittelpunkt stehen zwanzig der mit ihrem Look zu Symbolen dieses Jahrhunderts gewordenen Kreationen, das heisst: sowohl Pläne und Entwürfe dazu als auch Modelle und - erlaubten es die Dimensionen - das Endprodukt.

Untersucht wird also, wie eine Kreation im Kopf des Designers zustande kommt, und schliesslich auch, wie sich diese Kreation im Denken des Publikums als Begriff verankert. Unter der Lupe der Aussteller ist der Eiffelturm ebenso wie der VW Käfer und der Dyson-Staubsauger; dazu erfährt der Besucher unter anderem, wie sich das Pariser Wahrzeichen von einer temporären zu einer permanenten Struktur wandelte und wie das legendär gewordene Haushaltsgerät das Resultat eines katastrophalen Samstagmorgens, das heisst einer Panne James Dysons mit einem konventionellen Staubsauger, war: «Design is not about how something looks, but how it works.»

Unter den interessantesten Objekten sind denn auch jene, bei deren Herstellung die Eigenschaft «user-friendly» - gebraucherfreundlich - erstes Gebot war: Bestecke und Haushaltgegenstände etwa, die sich wie die von der amerikanischen Smart Design Agency entworfenen von Leuten mit Arthritis leicht handhaben lassen. Es fehlt übrigens auch nicht der «Moti chair»; von diesem Rollstuhl für zerebral gelähmte Kinder ist sowohl der erste russische Prototyp als auch der in Rumänien entworfene Moti II und schliesslich der erste Moti UK ausgestellt. Weiter, nämlich mit dem vom Russen Kalaschnikow entworfenen Gewehr AK47, will die Ausstellung aber auch daran erinnern, dass gutes Design nicht immer einen guten Endzweck erfüllt. Wie dem auch sei: mehrheitlich regt die Show im Londoner Design Museum zu beschaulichen Gedanken an; so mit Valentine Olivettis tragbarer Schreibmaschine, deren Look die Aussteller sinnigerweise mit einem «styled not for the office, but for writing poetry on Sunday afternoons» kommentieren.

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 1999.11.29

10. November 1999Georges Waser
Neue Zürcher Zeitung

Geschichte im natürlichen Licht

Das vom Architekturbüro Benson & Forsyth realisierte Museum of Scotland in Edinburg hat in den Schlössern der Gaeltachd seine Vorbilder und verblüfft mit überraschenden Bezügen zur Geschichte und zur Stadt.

Das vom Architekturbüro Benson & Forsyth realisierte Museum of Scotland in Edinburg hat in den Schlössern der Gaeltachd seine Vorbilder und verblüfft mit überraschenden Bezügen zur Geschichte und zur Stadt.

Erst hatte ein schmollender Prinz Charles sein Amt als Präsident der «Schutzherren» des geplanten Museum of Scotland niedergelegt, war er doch bei der Wahl der Architekten nicht zum Schiedsrichter berufen worden - dann verglich Charles' Vater, der Herzog von Edinburg, ein Modell des vom Architekturbüro Benson & Forsyth zu erbauenden Museums mit einem Gasometer. Heute, sieben Jahre später, steht dieses Museum in der schottischen Hauptstadt vollendet da und sind dazu die Meinungen der genannten «Royals» längst abgetan. Nicht nur wurde der Ende 1998 eröffnete Bau von der Presse in den höchsten Tönen gelobt: vor kurzem gewann das Museum den begehrten «Building of the Year Award» für Schottland (in England ging derselbe Preis an das in Henley von David Chipperfield erbaute River and Rowing Museum). Mit dem Museum of Scotland - es kostete 52 Millionen Pfund - wird die Geschichte von eben diesem Land und seinem Volk erstmals unter einem einzigen Dach gezeigt.


Bezüge zur Geschichte und zur Stadt

In der Chambers Street neben dem 1861 von Fowkes mit einer Renaissance-Fassade versehenen Royal Scottish Museum stehend und mit diesem durch eine Passage verbunden, wirkt das Museum of Scotland auf den ersten Blick zugleich ausgefallen und anziehend. Hier eine Art trommelförmige Bastion, gegen die Strasse hin drängend, dort ein Vorbau, wie eine halboffene Schublade oder Türe aus dem Mauerwerk springend. Alles ist in ein warmfarbiges Gewand aus Sandstein gekleidet. Und alles ist unregelmässig, die Fenster gelegentlich blossen Gucklöchern oder Schiessscharten ähnlich. Dieser Ausdruck soll ein Fingerzeig sein: Der Bau - dessen bergfriedartiger Kern von aussen kaum wahrnehmbar ist - hat in den Schlössern der Gaeltachd mit ihrem «Mauervorhang» seine historischen Vorbilder. Auch dem Edinburger Kontext haben die Architekten Rechnung getragen: dem «Half-Moon Tower» der Burg zum Beispiel und den ineinandergeschachtelten Wohnhäusern der Altstadt, die hier allesamt anspielungsweise im einen oder anderen baulichen Detail ein Äquivalent haben.

Und was beherbergt das Museum of Scotland? Eine Sammlung, die vom Steinzeug der Pikten zu der für die Krönung von Charles I. angefertigten Goldampulle, von dem aus dem 9. Jahrhundert stammenden Dupplin Cross - das für die Ankunft Schottlands in der Geschichte steht - bis hin zu Möbelstücken von Mackintosh und zu Erzeugnissen des späteren 20. Jahrhunderts reicht. Diese Sammlung war zuvor an verschiedenen Orten untergebracht. So kommen ausgestopfte Tiere und Dampfmaschinen aus dem benachbarten Royal Scottish Museum, die zum schottischen Mythos gehörenden Objekte - darunter das angeblich von Robert Bruce in die Schlacht von Bannockburn getragene Mony Musk Reliquary - hingegen aus dem Edinburger Museum of Antiquities. Anderes wieder lag Jahrzehnte verborgen in einem Lagerhaus in Granton.

Äusserlich den baulichen Traditionen des Landes verbündet, ist das Museum of Scotland mit seinen Lichtquellen im Innern ein Tribut an Le Corbusier und Ronchamp. Im zentralen Block - die Sammlung ist von unten nach oben chronologisch auf sechs Ebenen ausgelegt - fällt natürliches Licht vom Dach bis hinab ins Untergeschoss; das Licht soll an den Orientierungssinn der Besucher appellieren, soll also eine Art Wegweiser sein. Dieser Absicht der Architekten Gordon Benson und Alan Forsyth kommt das verwendete Material entgegen: weisser Verputz und helles Furnierholz für die Wände, französischer Kalkstein oder Holz für die Fussböden. Was nicht heissen soll, dass es der Innenarchitektur des Museums an Abwechslung fehlt. Im Gegenteil: in dem von vertikalen Schnitten aufgeteilten Bau sorgen eine Vielzahl von Passagen und Treppen - gelegentlich muten sie wie ein Zufall an - sowie Ausblicke von schwindelerregenden Balkonen fast auf Schritt und Tritt für Überraschungen.


Politisches und kulturelles Statement

Dass das Museum of Scotland fast gleichzeitig mit dem schottischen Parlament Tatsache wurde, entsprang - war doch ein solches Museum von der britischen Regierung schon 1956 bewilligt worden - keiner Absicht. Dennoch ist aus dem Museum jetzt ein politisches ebenso wie ein kulturelles Statement geworden. Seit der Act of Union im Jahr 1707 haben sich Schotten darüber gestritten, ob ihr Land, wäre es von England unabhängig geblieben, dem Zeitalter der Aufklärung überhaupt offengestanden und ein Jahrhundert später aus der Industrialisierung einen Nutzen - wie vornehmlich die Stadt Glasgow - gezogen hätte. Unter jenen, die dies bezweifelten, war vor noch nicht langen Jahren ein schottischer Staatssekretär namens Malcolm Rifkind. Zu dieser Ansicht liefert jetzt das neue Museum of Scotland ein Gegenargument mit seiner Sammlung. Sie ist unter anderem der Beweis für die enge Verbundenheit Schottlands mit Europa - nicht zuletzt durch das Geschlecht der Stuart, das immerhin dreihundert Jahre herrschte.

Wer auf der offenen Dachterrasse des Museums steht, sieht vor sich ein Spektakel ausgebreitet. Ringsum Giebel, Strassenschluchten, Türme, schwarzer Fels, das Schloss. Zu diesem Blick nach aussen fordern die Architekten Benson & Forsyth allerdings schon im Innern ihres Baus auf: so im Sektor, der dem 17. Jahrhundert vorbehalten ist, mit einem Fenster gegenüber der Greyfriars Kirk, in der 1638 der National Covenant unterzeichnet worden war. Kommt der Besucher danach ins 18. Jahrhundert und zu den Jakobiten, gewahrt er, wiederum durchs Fensterglas, den Arthur's Seat; den kegelförmigen Berg, unter dem - im Jahr 1745 - Bonnie Prince Charlie die Stadt betreten hatte. So wollten die Architekten ihren Bau: dass er nämlich das, was er beherbergt, belebt. Die schottische Geschichte also. Ihr Vorhaben ist ihnen derart gut gelungen, dass der Bau streckenweise mehr zu verblüffen vermag als die Sammlung.

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 1999.11.10



verknüpfte Bauwerke
Museum of Scotland

05. Oktober 1999Georges Waser
Neue Zürcher Zeitung

Sonnenaufgang am Clyde?

Nach Jahrzehnten der wirtschaftlichen Rezession besinnt sich Glasgow auf seine Vergangenheit. Gleichzeitig sucht die Stadt, die für das Jahr 1999 vom britischen Arts Council zur «UK City of Architecture and Design» erkoren wurde, den Anschluss an die Zukunft. Dass hier Architektur und Design blühen, versucht man mit einem dichten Veranstaltungskalender zu beweisen.

Nach Jahrzehnten der wirtschaftlichen Rezession besinnt sich Glasgow auf seine Vergangenheit. Gleichzeitig sucht die Stadt, die für das Jahr 1999 vom britischen Arts Council zur «UK City of Architecture and Design» erkoren wurde, den Anschluss an die Zukunft. Dass hier Architektur und Design blühen, versucht man mit einem dichten Veranstaltungskalender zu beweisen.

Einst Hochburg des Lokomotiven- und Schiffsbaus sowie der Textilindustrie, gewann Glasgow das Image einer «big city» - nicht zuletzt auch, weil Architektur und Design hier den jeweiligen Entwicklungen das Geleit gaben. Mit der grossen Depression der dreissiger Jahre und der Nachkriegszeit kam allerdings ein Stillstand; das Abwandern der Aufträge für Schiffe und Lokomotiven bedeutete für die Stadt am Clyde gar einen Sonnenuntergang. Dennoch, auf die Vergangenheit ihrer «big city» sind waschechte «Glaswegians» stolz. Jetzt aber sucht die Stadt, ist sie doch für das Jahr 1999 vom britischen Arts Council zur «UK City of Architecture and Design» erkoren worden, energisch den Anschluss an die Zukunft - und dass Glasgow auf den Gebieten Architektur und Design eine Zukunft hat, will man seit Januar mit einem vollgepackten Veranstaltungskalender beweisen. Aber genügen für ein derartiges Festival allein Ausstellungen und Konferenzen? Sollte man einem solchen einjährigen Bekenntnis an die Zukunft nicht vielmehr mit neuen Bauten ein Denkmal setzen?


Edinburg im Vorteil

In der bereits zu Ende gegangenen Ausstellung «Architecture and Democracy» in den McLellan Galleries war vom spanischen Architekten Enric Miralles das Modell für das neue schottische Parlamentsgebäude zu sehen (NZZ 30. 6. 99). Doch dieses Gebäude kommt nicht in Glasgow, sondern in Edinburg zu stehen - in jener Stadt also, die, als vor fünf Jahren die «UK City of Architecture and Design 1999» ausgerufen wurde, der Rivalin Glasgow unterlegen war. Und darin liegt auch die Ironie: Während man sich jahrelang darauf verlassen konnte, dass in Edinburg nichts geschehen, sich in Glasgow hingegen mit renovierten oder neuen Bauten ein Vorwärtsdrang manifestieren würde, scheinen jetzt die Rollen plötzlich vertauscht. So ist denn in Edinburg der Ort, für den Miralles sein in Glasgow gezeigtes Modell anfertigte, auch bereits ein geschäftiger Bauplatz.

An anderen Beispielen fehlt es nicht. So hat Edinburg sein neues, von der Firma Benson & Forsyth erbautes und bereits mit einem Architekturpreis ausgezeichnetes Museum of Scotland erhalten, während in Glasgow das Vorhaben, in der 1875-78 von Robert Matheson erbauten Hauptpost ein Museum für schottische Kunst und Design einzurichten, gescheitert ist und dieser Bau weiter leer dasteht. Und so steht in Edinburg, wenngleich klein, auch eine neue Scottish Poetry Library da - erbaut von Malcom Fraser, der überdies für das am Grassmarket entstehende National Centre for Dance verantwortlich ist. Schliesslich ist, wiederum in Edinburg, das im Juli eröffnete Dynamic Earth-Museum zu nennen - von Michael Hopkins für 34 Millionen Pfund gebaut und bereits ein Wahrzeichen geworden.

All dem hat die «UK City of Architecture and Design» immerhin mitten in der Stadt ein neues Museum entgegenzusetzen: nämlich das einst von Mackintosh gestaltete, jetzt in ein Zentrum für Architektur und Design umgewandelte frühere Druckereigebäude des «Glasgow Herald». Was nebst diesem Museum, «Lighthouse» genannt, in Glasgow vom einjährigen Festival bleiben wird, ist ein Berg von Katalogen und Büchern zu den verschiedenen Ausstellungen - Ausstellungen, in denen Mies van der Rohe, Frank Lloyd Wright, Alvar Aalto und Alexander Thomson, er wie Mackintosh mehr als ein «Lokalheld», die Vorreiter spielten. Und was sonst? Dass die Buchanan Street, die man schon vor vier Jahren in «eine der grossen Strassen Europas» zu verwandeln versprach, gerade 1999 aufgerissen und somit im Stadtzentrum ein Chaos angerichtet werden musste, zeugt nicht von besonderer Weitsicht. Allerdings war dafür nur noch bis Ende Jahr Geld von der EU verfügbar. Und eben, nicht nur versteht sich Glasgow - wohl mehr als jede andere Stadt in Grossbritannien - als europäisch: im Laufe ihrer Geschichte hat sich die Stadt am Clyde auch immer wieder in neuen Inkarnationen zu bestätigen vermocht. Einen Schritt in Richtung Wiedergeburt hat sie jetzt mit der Ausstellung «Homes for the Future» (bis zum 24. Oktober) auch bereits getan.


Heime für die Zukunft

Zugegeben, als «Housing Expo» ist «Homes for the Future» ein den europäischen Modernisten abgegucktes Experiment; in Glasgow allerdings war ein solches Experiment bisher einzig 1938 zu sehen. Am Rande von Glasgow Green, auf dem brachen Gelände einer einst vornehmen, dann aber heruntergekommenen Gegend, ist das Ganze mehr ein urban village als eine Ausstellung: hundert neue Heime von unterschiedlicher Grösse nämlich, gebaut von sowohl schottischen als auch ausländischen Architekturfirmen. Doch nicht allein ihnen - darunter RMJM Scotland, Ushida Findlay Partnership, McKeown Alexander sowie Wren & Rutherford -, sondern auch einer Gruppe von Designern dient «Homes for the Future» als Schaufenster, haben doch zum Beispiel Anne McKevitt sowie Anusas & Anwyl für einzelne Heime vollständige Interieurs geschaffen.

Wollen Glaswegians tatsächlich so leben: in einer einfallsreichen, an Farb- und Tastsinn appellierenden Umgebung, wo bereits den Vorgarten eine Note der Sinnlichkeit auszeichnet und schliesslich auch die Dachterrasse noch visuelle Überraschungen bereithält? Allem Anschein nach schon - dass heisst: wenn an einem trüben Augusttag die Gesichter der Besucher, darunter auch ältere Semester, ein Massstab waren. Laut Deyan Sudjic, dem über die Veranstaltungen des laufenden Jahres waltenden Direktor, waren Ende August denn auch bereit 85 Prozent der «Heime für die Zukunft» verkauft und stammen die Käufer grossenteils aus Glasgow. Übrigens ist auch dafür gesorgt, dass nach der Ausstellung dieses «village» am Glasgow Green wachsen kann; hier soll sich nämlich die Zahl der Heime bis ins Jahr 2005 verdreifachen.


Grosse Stadt, arme Stadt

Das eingangs erwähnte Image der «big city» ist Glasgow mit dem Gittermuster der Stadtanlage - was auch heisst: mit einer amerikanischen Note - erhalten geblieben. Diesem Image entspricht zudem die Vielzahl der schönen Bars und Restaurants, die in jüngster Zeit in den Palästen der Versicherungsgesellschaften rund um die St. Vincent Street Einzug hielten. Und dennoch: die «big city» ist zugleich eine arme Stadt. Zu dieser Einsicht kommt, wer der desolaten Aussenquartiere mit ihren stadteigenen Wohnhäusern oder der einige Viertel brutal zerschneidenden Motorways ansichtig wird, die heute - ein gutes Vierteljahrhundert nachdem die Stadtväter die Idee dazu aus Los Angeles zurückgebracht haben - am Einknicken und Auseinanderbrechen sind. Glasgow hat eine Vitaminspritze dringend nötig. Als eine solche sollte sich für die «UK City of Architecture and Design» eigentlich das Jahr 1999 erweisen. Dass sie die Gelegenheit finanziell zu nutzen weiss, hat die Stadt bereits bewiesen. Ursprünglich wurden ihr nämlich für die Veranstaltungen in diesem Jahr vom Arts Council nur 400 000 Pfund bewilligt; Glasgow allerdings verstand es dann derart gut, die Lotterie, die EU sowie Subventionen von anderswoher für sich zu gewinnen, dass schliesslich zum Zelebrieren der «UK City of Architecture and Design» um die 40 Millionen Pfund bereitstanden.

Neue Zürcher Zeitung, Di., 1999.10.05

24. September 1999Georges Waser
Neue Zürcher Zeitung

Ein Meister von Raum und Licht

John Soane (1753-1837) war einer der ersten Architekten, die an der Royal Academy of Arts studierten. Nun widmet ihm diese Londoner Institution eine grosse Retrospektive, die neben Zeichnungen und Modellen auch die berühmten, von Joseph Michael Gandy gemalten Architekturvisionen des Meisters zeigt. Im Zentrum der Schau steht die monumentale Bank of England.

John Soane (1753-1837) war einer der ersten Architekten, die an der Royal Academy of Arts studierten. Nun widmet ihm diese Londoner Institution eine grosse Retrospektive, die neben Zeichnungen und Modellen auch die berühmten, von Joseph Michael Gandy gemalten Architekturvisionen des Meisters zeigt. Im Zentrum der Schau steht die monumentale Bank of England.

Laut Roger Fry war, wie er 1923 in einer Vorlesung am Royal Institute of British Architects betonte, John Soane eine Ausnahme - einer von bestenfalls zwei oder drei «akzeptablen» Architekten, die Grossbritannien seit dem späten 18. Jahrhundert hervorgebracht hatte. Für Soane, von den ins Ornament verliebten Viktorianern missverstanden, kam mit diesem Verdikt eines Fürsprechers der Modernisten die Wende; sein als Museum offenstehendes Haus in den Londoner Lincoln's Inn Fields ist für Architekten seither längst zum Wallfahrtsort geworden und zieht heute jährlich um die 100 000 Besucher an. In diesem Haus entwickelte Soane seine Ideen für anscheinend schwebende Decken, spielte er mit Licht, Farbe und Spiegeln und manipulierte so die Effekte von wirklichem und vorgetäuschtem Raum.

Unter den Bauten der Neuzeit, die Soanes Einfluss erkennen lassen, ist das Portland Museum of Art von Henry Cobb ebenso wie der Sainsbury Wing der Londoner National Gallery von Robert Venturi und Denise Scott Brown. Und wie Philip Johnson, der Nestor der amerikanischen Architektur, bekennt sich auch der Spanier Rafael Moneo - etwa mit dem Atocha-Bahnhof in Madrid und der eben erst entstandenen Bibliothek in Badajoz - als Anhänger. Nun steht Soanes Welt in der Londoner Royal Academy of Arts in einer ebenso grossen wie gewichtigen Ausstellung dem breiten Publikum offen. Zu sehen sind neben erstmals gezeigten Plänen auch Modelle und Nachbildungen seiner Bauten.


Mit der Leidenschaft eines Spielers

John Soane wurde 1753 in der Nähe von Reading geboren. Als der jüngste von sieben Söhnen eines Maurers nur dürftig ausgebildet, verdiente der Fünfzehnjährige bereits sein Brot als Arbeiter auf einer Baustelle. Einem Londoner Architekten fielen seine Talente auf - und hätte dieser den Jungen nicht mit sich in die Hauptstadt genommen und dort gefördert, wäre die Architekturgeschichte (bis in die Gegenwart hinein) wohl etwas anders zu schreiben.

Soane war einer der ersten Architekten, die an der Royal Academy studierten. Dort gewann er 1776 mit dem Modell für eine Triumphbrücke die Goldmedaille und damit ein Stipendium für eine Italienreise. Diese Reise, zu der er am Morgen des 18. März 1778 aufbrach, sollte die wichtigste Erfahrung seines Lebens sein - spätestens in Rom beim Zeichnen oder Ausmessen, sei es auf dem Forum Romanum oder vor dem Colosseum, begann Soanes manischer Hang zur Architektur, eine Leidenschaft, wie er später sagte, «. . . as difficult to extinguish as a passion for play in the mind of a professional gambler». Zwei Jahre später, wieder in England, überraschte Soane mit einem klaren, geradlinigen Stil. Bei seinen ersten Entwürfen handelte es sich, wie man in der Londoner Ausstellung mit Überraschung feststellt, um Pläne für schlichte Farmgebäude und kleine Landhäuser.

Ganz im Gegensatz dazu steht das, womit sich in der Royal Academy der grösste Ausstellungsraum befasst: die monumentale Bank of England, die, nicht zu Unrecht - wurde sie doch im frühen 20. Jahrhundert demoliert -, auch «London's lost city» genannt wird. Soane war 35, als er zum Architekten für die Bank of England ernannt wurde. Der Bau sollte ihn 45 Jahre lang in Anspruch nehmen. Und in der Tat wurde die in der Londoner City entstehende Bank eine Stadt inmitten einer Stadt: mit Räumen, denen Kuppeln als Lichtquellen dienten und deren Ausstattung an die Bäder im alten Rom erinnerte, mit Innenhöfen, Gärten, Triumphbögen und - last, but not least, sollte doch das Gold der Nation sicher sein - festungsähnlichen Mauern. Wen wundert es beim Anblick der mehr als zwanzig von Soane selbst angefertigten Modelle noch, dass der Kunsthistoriker Nikolaus Pevsner, als die Bank abgebrochen wurde, vom «grössten von London in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlittenen baugeschichtlichen Verlust» sprach? Glücklicherweise hatte damals immerhin Frank Yerbury den Auftrag erhalten, Soanes Bank photographisch zu verewigen. Genau diese Photos waren es übrigens auch, die - als er ein Exemplar des Bandes von Yerbury in der Universitätsbibliothek von Harvard entdeckte - Moneos Begeisterung für Soane weckten.


Visionäre Architektur

Aus Soanes wohl ehrgeizigster Idee, nämlich für George IV eine grandiose, aus neoklassizistischer Architektur bestehende «Processional Route» anzulegen, wurde nichts. Denn im Parlament von Westminster huldigten zu viele Köpfe der Neugotik. Also sind in der Royal Academy Joseph Michael Gandys Aquarelle dieser Route der einzige Zeuge von dem, was hätte sein können. Weiter faszinieren hier Soanes Interieurs zu Wimpole Hall, die Pläne zu seinem Landhaus, Pitshanger Manor, sowie Pläne auch zur Dulwich Picture Gallery. Diese war im Jahr 1817 Grossbritanniens erstes öffentliches Kunstmuseum. Obschon der fertiggestellte Bau nicht durchwegs den Vorstellungen des Architekten entsprach, steht die Dulwich Picture Gallery mit ihrem Minimalismus, den Lichtquellen und Perspektiven im Innern als einer der einflussreichsten Bauten Soanes da.

Die Tatsache, dass Soane, den Meister des Lichts, das Dunkel ebenso beschäftigte wie das Helle, beweist sowohl in Dulwich ein Mausoleum als auch das eigene, in der gegenwärtigen Londoner Ausstellung in Originalgrösse nachgebildete Familiengrab. Damals - Soane starb 1837 - war dieses mit seinen Säulen, Ziergiebeln und der Kuppel das kühnste Grabmal in London; heute steht es unter Denkmalschutz und gehört, wie in der Hauptstadt unter den Gräbern einzig noch dasjenige von Karl Marx, in die exklusive Kategorie «Grade 1». (Bis 2. Dezember)


[ John Soane Architect. Hrsg. Margaret Richardson und Mary Anne Stevens. Royal Academy, London 1999. 302 S., £ 22.50. ]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 1999.09.24

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