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19. Januar 2022Daniel Kalt
Spectrum

Villa Rezek: Wie restauriert man seriös?

Jahrzehntelang fristete die Villa Rezek von Architekt Hans Glas in Wien-Währing ein Dornröschendasein – nun wird sie sorgfältig restauriert. Dabei wird auch die Bauhistorie untersucht.

Jahrzehntelang fristete die Villa Rezek von Architekt Hans Glas in Wien-Währing ein Dornröschendasein – nun wird sie sorgfältig restauriert. Dabei wird auch die Bauhistorie untersucht.

Die Villa Rezek, ein Hauptwerk von Architekt Hans Glas, hatte Glück: 2010 wurde das atemberaubend großzügige, lichtdurchflutete Terrassenhaus des Baujahres 1933 unter Denkmalschutz gestellt. Erstaunlich spät, könnte man meinen. Früh genug, um es für die Nachwelt zu retten. „Ein Abbruch wäre für einen Investor sehr reizvoll gewesen, das erforderte eine rasche Unterschutzstellung“, so Wolfgang Salcher, stellvertretender Leiter der Abteilung Wien im Bundesdenkmalamt. Die Villa liegt sehr versteckt im vornehmen Wiener Bezirk Währing über Pötzleinsdorf. 229 Quadratmeter Baufläche, 975 Quadratmeter Garten. 2019 erwarb sie ein Bauherr, der sich ihres Wertes bewusst ist, und beauftragte Max Eisenköck mit einer Sanierung – wieder als Wohnhaus. Ein Glücksfall.

Jahrzehntelang hatte die Villa Rezek den Wahrnehmungsradius der einschlägigen Fachwelt nicht einmal tangiert. Friedrich Achleitner war sie aber bei seiner Feldforschung nach architekturhistorischen Kleinodien nicht entgangen: „Eines der bedeutendsten und wohl auch mysteriösesten Wiener Häuser der frühen Dreißigerjahre. Schon der Name des Architekten wirkt wie ein Pseudonym“, steht in seinem Standardwerk „Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert“. „Das Haus selbst zeigt in der inneren Wegführung und in der rigorosen Terrassierung des Baukörpers eine gewisse Nähe zu Adolf Loos, wirkt aber in der allgemeinen Gestik etwas freier. Interessant ist auch, dass die Terrassierung sowohl nach Osten (quer zum Hang) als auch nach Süden (mit dem Hang) durchgeführt wurde.“ Grundriss und Foto ergänzen den Text: ein Ritterschlag in dem komprimierten Werk.

Die Wiener Moderne war Forschungsschwerpunkt von Architekturhistorikerin und „Spectrum“-Autorin Iris Meder. Die Villa Rezek rezipierte den internationalen Stil sehr früh, Architekt und Bauherren bezeugen die immense Bedeutung des jüdischen Bürgertums für die Moderne in Wien – und dessen Ausrottung. Meder verfasste das Gutachten, das die Basis der Unterschutzstellung bildete. Seit 2020 wird die Villa als Best-Practice-Beispiel der Denkmalpflege restauriert. „Erstmals folgen wir hier einem Conservation Management Plan (CMP). Alle Stakeholder – Bundesdenkmalamt, Restauratorinnen, Eigentümer, Architekt – sind in die Lösungsfindung eingebunden“, so Salcher.

Die Rolle der Architektenteams ist essenziell, denn Parameter wie Barrierefreiheit, Fluchtwege, Statik, Haustechnik, Brandschutz sind kaum verhandelbar. Der CMP umfasst auch die künftige Erhaltung und Vermittlung des Denkmals, er ist quasi ein Wartungsbuch. Das Bundesdenkmalamt subventionierte ebenso die wissenschaftliche Untersuchung von Bauhistorie, Putz, Stein, Beton, Holz und Metall. Restauratorin Claudia Riff-Podgorschek befundete die Wandflächen: Der originale Putz war beige-sandfarben. Die Vorstellung einer „weißen Moderne“ ist vor allem der Schwarz-Weiß-Fotografie ihrer Zeit geschuldet, die Villa Rezek trägt nun wieder Ocker. „Wir brachten den Kratzputz auf Kalkbasis in historischer Technik auf“, sagt Eisenköck, „ohne Zement, ohne Kunstharz, diese Wand atmet.“ Vollwärmeschutz gibt es keinen – dafür schlanke Vordächer. „Man kann so ein Haus nicht komplett einpacken, ein Oldtimer wird mit einem E-Motor auch nicht nachhaltiger.“ Details sind in der reduzierten Formensprache der Moderne besonders wichtig. Eisenköck untersucht und rekonstruiert sie akribisch. Die Steinbrüstung der Treppe, die sich so hochelegant von der Halle – mit Blick in den Wohnsalon und einem Richtungswechsel in den ersten Stock – windet, ist rekonstruiert. „Wie saniert man solche Details seriös? Man kann sich über Fotos mit Beschreibungstext oder das Studium anderer Objekte der Bauzeit annähern und je nach Priorität Rückschlüsse ziehen.“ Eisenköck hat viele Bauten besucht und ist einschlägig belesen. „Bei dieser Brüstung haben wir zwei Marmorplatten im Fuchsbau des Gartens gefunden. Dank der Löcher der Schrauben, mit denen der Metallkorb für die Pflanzen befestigt war, konnten wir sie richtig zuordnen.“ Die Villa Rezek war oft publiziert: Die britische Kunstzeitschrift „The Studio“ brachte 1936 einen Beitrag mit Fotos von Franz Mayer, die auch das Innere zeigten. Materialien, Farben, Möbel, alles war genau beschrieben. So erfuhr man, dass Schmutzwäsche durch Rohre von den oberen Etagen in die Wäscherei befördert wurde und Sonnenterrassen mit Duschen ausgestattet waren.

Souverän nimmt die streng abgetreppte, aus mehreren gestapelten Quadern komponierte Villa mit vier Wohn- und einem Untergeschoß das Gelände so in Besitz, dass sich das Panorama über die sonnenbeschienene Stadt wie auf dem Serviertablett präsentiert. Jede Ebene hat eine Terrasse, seitlich treppen sich zwei kaskadenartige Außenstiegen den Hang hoch, für den es von Gartenarchitekt Albert Esch einen Bepflanzungsplan gab. Den Wintergarten kann man mit etwas gutem Willen als Variation des Wintergartens der Villa Tugendhat von Mies van der Rohe in Brünn (1929/30) interpretieren. Dort reicht er über die gesamte Schmalseite der Wohnebene, in Wien ist er am Eck eingeschnitten. Parallelen lassen sich finden. So waren auch die Fenster des Wintergartens der Villa Rezek zur Gänze im Boden zu versenken. Dass sich die Scheiben vor die Wände des darunterliegenden Dienstbotenzimmers schoben, störte keinen.

Wie die Familie Tugendhat kam auch das Ärztepaar Rezek aus dem assimilierten jüdischen Bürgertum. Philipp Rezek ordinierte in der Bibliothek mit angeschlossenem Laboratorium. Anna Rezek war Teilhaberin der Papierfabrik Bunzl & Biach, für Hugo Bunzl plante Josef Frank 1935 eine Villa. Einige Familienmitglieder kamen in Konzentrationslagern um, dem Ehepaar Rezek gelang mit ihren zwei Töchtern 1938 die Flucht, Architekt Glas ging nach Kalkutta.

Die Rollladenkästen der Fenster, die in den Parapeten des Wohn- und Esssalons verschwinden konnten, waren noch im Original vorhanden. Es sind „Nikolaus Patentschiebefenster“, wie es sie damals in vielen Lungenheilanstalten gab. Mit der Tischlerei Sadofsky arbeiteten Architekt und Restaurator an einer Rekonstruktion des Mechanismus. Beim dritten Prototyp klappte es.

Spectrum, Mi., 2022.01.19



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Villa Rezek, Restaurierung

06. August 2007Daniel Kalt
dérive

Stadt-Beschreibung. Notizen zu Text im urbanen Raum

Die Stadt als Text, ein Getöse der Worte, weitläufiges Wortgeflecht oder Überlappung von Textfetzen allerorts – über die Angelegenheit lässt sich auf viele...

Die Stadt als Text, ein Getöse der Worte, weitläufiges Wortgeflecht oder Überlappung von Textfetzen allerorts – über die Angelegenheit lässt sich auf viele...

Die Stadt als Text, ein Getöse der Worte, weitläufiges Wortgeflecht oder Überlappung von Textfetzen allerorts – über die Angelegenheit lässt sich auf viele Weisen nachdenken. Text jedenfalls ist in der Stadt allgegenwärtig. Freilich muss der Begriff hier insoferne präzisiert werden, als es nicht ausschließlich um tatsächlich syntagmatisch geordnete, narrativ-beschreibende Wortreihen gehen kann. Jedes einzelne Wort, das im öffentlichen Raum steht, soll vielmehr als Partikel eines großen Ganzen verstanden werden, welches dann den Stadt-Text darstellt. Ich möchte versuchen, ein paar Aspekte des Phänomens anhand einiger konkreter, von mir als originell und repräsentativ angesehener Beispiele zu thematisieren: Diese sollen so weit als möglich dem Bereich der Kunst im öffentlichen Raum (KöR) zuzählbar sein, wobei diese – ob der etwas vagen Gestalt, welche Text-Körper gemeinhin einnehmen – sich ein wenig von der massiven Präsenz dekorativer Kunst-Körper wegbewegt, wie sie noch zuletzt Gegenstand dieser Serie waren. Textbausteine gereichen in diesem Zusammenhang mitnichten zur Hinterlassung monumentaler Drop Sculptures, so dass die Herausforderung vielmehr – ob der Omnipräsenz von (nicht notwendigerweise als solchem wahrgenommenem) Text nämlich – darin besteht, das kritische Wahrnehmungs-Vermögen der StadtnutzerInnen zu überprüfen oder zu stimulieren bzw., wie Roland Schöny über KöR allgemein schreibt, „geeignete Repräsentationsmöglichkeiten ausfindig zu machen und eine urbane Praxis zu entwickeln, welche auf eine dem Spektakel abgewandte kontrapunktische Codierung von Orten, Flächen oder Objekten mit adäquaten Mitteln […] zur Erweiterung des Möglichkeitssinns ausgerichtet ist.“(1)

Ich möchte vorschlagen, folgende grobe Typologie der Bezugnahme von Text auf Stadt und Stadt auf Text zu umreißen: in der Stadt platzierter Text bzw. die kreativ-kritische Auseinandersetzung mit ihm // Text, der aus der Stadt extrahiert und verbildlicht wird // Text, in dem Stadt und Stadtleben konvertiert werden. Bei Letzterem handelt es sich, doch darauf soll hier nicht näher eingegangen werden, in etwa um das literarische Subgenre des Stadt-Romans, in welchem der urbane Raum als allerlei Handlungsstränge bestimmende Komponente herhält. Literaturgeschichtlich betrachtet verändert sich die Schilderung der Stadt nachhaltig ab der Herausbildung industrialisierter Großstädte mit deren vielfältiger Bevölkerungsstruktur, wie sie sich aus einer massiven Landflucht sowie transnationalen Migrationsbewegungen ergibt. Charakteristisch ist in der frühen Massenliteratur das Auftauchen eines die Lebensläufe aller AkteurInnen unerbittlich vorgebenden Kosmos, welcher sich als omnipräsente Folie über die Handlung stülpt. Ein aktueller Ableger solcher Stadt-Texte – gemeinhin von geringerem literarischem Wert – ist das Konvolut mehr oder minder origineller Stadtgeschichten, die nahezu jedes Printmedium mit urbaner Zielgruppe auf die eigenen Seiten presst: Unmittelbarer lässt sich das Transformieren von Stadtleben in Text kaum mehr zelebrieren; mitunter hat die/der Lesende gar den Eindruck, auch die unspektakulärste Busfahrt werde sogleich ohne großes Reflektieren als mittelprächtig unterhaltsames Episödchen städtischen Lebens verwurstet.

Text aus der Stadt gewinnen und verbildlichen

Von solchem in der Folge absehend, möchte ich vielmehr einer Sichtweise anhängen, welche aufmerksam auf die Verbildlichung von Text in der Stadt bzw. Auseinandersetzungen mit textuellen Präsenzen ebenda abzielt. Michel Butor, illustrer Vertreter der Nouveau Roman-LiteratInnen und darob Wortführer eines nach neutraler Objektivität strebenden Experimentalismus in der französischen Literatur ab den 1950er Jahren, regt an, die Stadt überhaupt als eine Text-Sorte wahrzunehmen; als ein auf Texten basierendes Spektakel: „Die Stadt mag als ein literarisches Werk gesehen werden, das non-verbale Teile miteinschließt – wie ein Theaterstück – und seine eigenen Regeln und Kompositionsprinzipien hat; welches seinerseits einem außergewöhnlich umfangreichen Genre angehört, da ja, über den Umweg von Bibliotheken, Buchhandlungen, Schulen usw., die gesamte Literatur von mindestens einer Sprache als eines seiner Kapitel, seiner Akte, seiner Abschnitte gelten mag.“(2) Das Stichwort des Theaters lässt unweigerlich an das gesprochene PassantInnenwort denken: Vor der massenweisen Vervielfältigung verschriftlichter Texte zirkulierte bekanntermaßen eine orale Literatur im öffentlichen Raum, und wenn sich auch die Dinge nachgerade verändert haben, sind doch die Straßen weiterhin erfüllt vom ständigen Gemurmel und Geraune der sprechenden StadtnutzerInnen. Ein möglicher Ansatzpunkt für Kunst, die den Text des öffentlichen Raumes in einen rein musealen Innenraum transportieren mag.

Andrea van der Straeten, die ihre Arbeiten gemeinhin nicht ungern mit dem öffentlichen Raum korrelieren lässt, beschäftigt sich in einer Werkserie aus dem Jahr 2004 mit Gerüchten über stadtplanerische Projekte für vier neuralgische Punkte in der Linzer Innenstadt. Was ich gehört habe, so der Titel, zeigt den öffentlichen Raum als Gegenstand des Gerüchtes zum Einen und als Austragungs Ort (die Matrix? Den Ort des Heran- und Nachreifens?) des Gerüchtes zum Anderen. Fünf Wandzeichnungen im Linzer O. K. Centrum für Gegenwartskunst verarbeiteten eine Auswahl von im öffentlichen Raum – auf der Agora, gewissermaßen – gesammelten Gerüchten. Im Zentrum des künstlerischen Interesses stand bei diesen großflächigen Wandtafeln (im Übrigen verzichtete die Künstlerin darauf, die Arbeiten auf Papier zu übertragen – und so bleibt das Dynamische des öffentlichen Raums in der temporären Natur der Innenraumarbeiten gewahrt) die unverbindliche Rede der PassantInnen, welche eine breite Palette abdeckte: von profundem Hintergrundwissen genährt, von kühnen Mutmaßungen getragen, ziemlich wahllos vorgebracht oder einfach „Klatsch & Tratsch“.(3) Van der Straeten setzte die Visualisierung der gesprochenen Rede auf eine für sie charakteristische Weise um: Wandskizzen des Stadtraumes wurden mit Post-Its überklebt, auf denen die von Hand transkribierten Gerüchte zu lesen waren, welche sich auf den jeweils dargestellten Stadtteil bezogen. Eine derartige Aufbereitung der charakteristischen Rede-Substanz des öffentlichen Raumes ist eine jedenfalls spannende Strategie, welche darüber hinaus einer profunden und lange anhaltenden Auseinandersetzung der Künstlerin mit diesem „Material“ entspringt. In einem Aufsatz aus dem Jahr 2001(4) präsentiert van der Straeten die Ergebnisse einer in Chicago angestellten Untersuchung zur Einrichtung so genannter Rumor Clinics, in welchen die ordnungshütende Obrigkeit versuchte, Massenaufständen durch das Entkräften (Entschärfen) von kursierenden Gerüchten entgegen zu treten. Stellten sich die Rumor Clinics circa 25 Jahre nach ihrem Verschwinden ihrerseits als gerüchtähnlich ungreifbare Institution dar, über die Informationen einzuholen sich als über die Maßen schwierig gestaltete, verdeutlicht die Wortwahl (die Klinik – also die Heilanstalt) einmal mehr, dass im öffentlichen Raum Kursierendes mitunter als von pathologisch-viraler Bedrohlichkeit wahrgenommen wird.

Löschung des Stadt-Textes

Für den – auch geschriebenen, zumeist kommerziell interessierten – Text im öffentlichen Raum trifft eine Metaphorik der wuchernden Ausbreitung schon deshalb ebenfalls zu, weil dieser nicht nur kein Einhalt zu bieten ist, sondern der Text sich im Konkreten einer bewussten Erfassbarkeit entzogen zu haben scheint. Mit ihrem Projekt Delete! , das sich 2005 in der Wiener Neubaugasse niederließ (einer Einkaufsstraße eher geruhsamen Ausmaßes, einer Seitenstraße der Mariahilfer Straße, Wiens Shopping-Meile par excellence allerdings), unternahmen Rainer Dempf und Christoph Steinbrener den Versuch, den öffentlichen Raum zu „entschriften“ und durch das Löschen jeglicher Schrift ein neues Bewusstsein für die kaum mehr wahrgenommene Omnipräsenz von Stadt-Text zu generieren. Und wohl auch für den Umstand, dass die unbeschriebene Fläche ein vergleichbar rares Brachland darstellt wie unbebaute inner-städtische Grundstücke. Von der harmlosesten Hinweistafel, die der Orientierung der PassantInnen dient, über das Geschäftsschild, die Auslagenbeschriftung und den Werbeslogan: Überall gibt es etwas zu lesen und Information zu verarbeiten. Die Redundanz eines Großteils von solchem Text wird erst offenbar, wenn die Information kurzzeitig verloren geht. Ob nämlich der Großstadtdschungel durch den Wegfall von (pseudo-)informativer Beschriftung tatsächlich an Unergründlichkeit gewinnt, ist zu bezweifeln. Vielmehr dürfte so in den Augen der Meisten der Stadt eines ihrer Charakteristika abhanden kommen. Immerhin: Eine palimpsestische Abdeckung urbanen Texts durch monochrome Planen schafft neue Oberflächen für die kommunikative Verwirklichung der City-User. Bzw. (siehe oben) die Niederschrift von Gerüchten – vielleicht ist eine Stadt ganz ohne Schrift einfach nicht auszuhalten?

Ganz ohne – nicht kommerziellen – Text ginge es darüber hinaus ja wohl auch nicht. Abgesehen von Gebots- und Verbotstafeln, wie sie gerne einmal von findigen Kommunikationsguerilleros persifliert werden(5), gibt es jene Textfragmente, ohne die kein Auskommen wäre: Orientierungshilfen, Pläne, Richtungsweiser, Sraßenschilder. Die jeweils gewählte Schriftart bestimmt die Corporate Identity der Stadt, welche das Verortungsbdürfnis der BewohnerInnen bedient. Ein Blick auf den U-Bahn-Plan oder das nächste Straßeneck genügt, um festzustellen, dass man sich noch immer „daheim“ befindet. Wiewohl im Zeitalter globalen Wirtschaftstreibens einem solchen ortsspezifischen Schriftbild durch die Gegenwart weltweit gleich lautender, gleich anzuschauender Werbe-Texte die Vorrangstellung deutlich abgelaufen wird.

Auflehnung und Verweigerung

Den zweifellos größten Anteil an Text im öffentlichen Raum macht wohl das Waren bewerbende Wort aus. An allen Ecken und Enden angebracht, auf fast jeder freien Fläche lesbar, ist es Teil eines ökonomisch interessierten Stadtapparates, der nicht darauf vergisst, jede mögliche Anbringungsstelle kommerziell nutzbar zu machen. Das Platzieren von Text im öffentlichen Raum gerät jedenfalls zum kostenintensiven Unterfangen. Dabei bleibt den StadtnutzerInnen kaum die Wahl, sich rezeptionsbereit oder – einverständig zu zeigen. Die Präsenz der Werbetexte ist ein nicht auszuschaltendes Faktum, dem gemeinhin mit dem Schutzmechanismus größtmöglicher Indifferenz begegnet wird – vielleicht auch, weil man ständig an die eigene Unzulänglichkeit erinnert werden soll, die es mit dem einen oder anderen „Gadget“ auszubessern gälte. Baudrillard äußert sich über den städtischen diskursiven Raum als einen kompetitiven Kontext wie folgt: „Die Dichte an Menschen [in der Stadt] ist faszinierend, aber vor allem ist der Diskurs der Stadt an sich ein Wetteifern: Motive, Wünsche, Treffen, Stimuli, unablässige Urteilsbildung durch die Anderen, kontinuierliche Erotisierung, Information, Beanspruchung durch die Werbung: Das alles ergibt eine Art abstrakten Schicksals kollektiver Partizipation vor dem realen Hintergrund eines allgemein gewordenen Wetteiferns.“(6)

Der Ansatzpunkt für engagierte BürgerInnen, ob antikapitalistisch motiviert oder um die neutrale Nutzbarkeit des öffentlichen Raumes bzw. sein Erscheinungsbild besorgt, besteht in einem Aufbegehren gegen die Verkaufbarkeit ihres visuellen Empfindens. Im Unterschied zu TV-Werbung oder den Einschaltungen in Printmedien, die sich auf eine bewusst getroffene Entscheidung potenzieller KonsumentInnen berufen können (umschalten, Seiten überblättern …), gibt es angesichts des immensen Ausmaßes plakatierter Flächen im öffentlichen Raum keine ernsthaft denkbare Alternative zum Hinschauen und Beglückt-Werden mit Text und Bild. Es sei denn, man wollte um jeden Preis dieser Text-Sorte und ihrer graphischen Aufbereitung auskommen und nähme also die Gefahr eines ständigen Anprallens gegen Hindernisse und PassantInnen in Kauf, weil man stets gesenkten Blickes die Straßen abschreiten müsste. Eine couragierte Organisation in Frankreich, die déboulonneurs(7), hat sich zum Ziel gesetzt, dieser Überfrachtung des öffentlichen Raumes Einhalt zu gebieten. Der klar formulierte Slogan: „objectif 50 x 70“. A1 somit als das maximal zulässige Plakatformat, und eine strikt durchgezogene proportionale Durchrechnung der höchstens beklebbaren Fläche eines besiedelten Raumes, abhängig von der Anzahl der EinwohnerInnen. Unablässig aktiv in zahlreichen großen Städten des Landes, berufen sich die déboulonneurs auf ihr Recht zivilen Ungehorsams, um medienwirksam tätig bleiben zu können und die gesetzgebende Instanz auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen. In ihren Aktionen überschreiben sie existierende Plakate und nutzen die vorhandenen Flächen zum Affichieren ihres Anliegens. Damit erfolgt eine Brechung des üblicherweise clean angelegten grafischen Codes: Der gesprayte Text überlagert den auf kommerziellen Erfolg ausgerichteten Ursprungstext und erfüllt ob seiner Unbeholfenheit eine eigene Appellfunktion.

Freilich schläft auch die Werbung nicht und reagiert auf solche unverblümten, ja krude anmutenden Adbusting-Strategien mit ihrer ureigensten Waffe: der Imitation und Adaptation für die eigenen Zwecke. Während man in Frankreich landesweit organisiert und anderswo etwas verstreuter einen Kampf gegen Windmühlen führt, zeigt zum Beispiel die Plakatkampagne eines österreichischen Mobilfunkunternehmes vom Herbst 2006, dass nicht einmal die Adbuster vor der Heimholung in den lauschigen Werbetümpel gefeit sind.(8)

Text, der die Stadt durquert – oder verschenkt

Im Grunde tragen freilich auch TrägerInnen von Markenware, die sich offenkundig selbst bewirbt, bzw. KonsumentInnen mit großzügig beschrifteten Einkaufstaschen zur Verstärkung der Gegenwart von Werbung im öffentlichen Raum bei. Paradoxerweise zahlen in diesem Fall die KonsumentInnen mitunter sogar einen Aufpreis, um als Werbefläche fungieren zu dürfen. Beschriftetes Textil mag freilich jenseits bloßer Markenschriftzüge oder Modetrends auch als Statement gelesen werden, wiewohl im Regelfall – also bei massenweise verbreiteter Ware – der Individualitätseffekt oder die tatsächliche Identifikation mit dem dekorativ-textilen Textteil ein wenig auf der Strecke bleiben. Erwähnenswert finde ich in diesem Zusammenhang ein Projekt an der Berliner Rütli-Schule, die nach Vorkomnissen im März 2006 als Austragungsort einer von den PädagogInnen nicht mehr bändigbaren Gewaltbereitschaft der SchülerInnen in die Schlagzeilen geraten war. Etwas später wurde im schulinternen Kunstunterricht das Projekt gestartet, dieser Verfemung durch selbstbewusst inszenierte Identifikation der Schulangehörigen mit ihrer Anstalt entgegen zu treten. Einfärbige T-Shirts wurden mit einem unübersehbaren RÜTLI-Schriftzug bedruckt und ließen keinen Zweifel darüber, dass die Text-TrägerInnen im öffentlichen Raum eine konkrete Aussage tätigen wollten.(9)

Zum Abschluss, und etwas weniger mobil den öffentlichen Raum durchquerend als eine Armada von T-Shirt-TrägerInnen, soll eine Initiative Erwähnung finden, die Weihnachten 2006 im Kleinraum des fünften Wiener Gemeindebezirkes fast unbemerkt stattfand: nidako verschenkt Margareten titelte die Aktion und bestand in der Anbringung von grellbunten Geschenksanhängern, bedacht mit Namen aus verschiedenen Sprachkontexten, an alltäglichen Objekten im Stadtraum(10): Stoppschilder, Parkbänke, Kinderschaukeln … Hintergrund eines solchen Tuns, wie auch die Mitorganisatorin und nidako-Mitglied Nina Ober heraus streicht, ist der spielerische Umgang mit der leidigen Frage, wem der öffentliche Raum zu gehören habe. Wenn nämlich alle ein Anrecht darauf haben, die von nidako verschenkten Gegenstände zu nutzen, dann kann für kurze Zeit wohl der eine oder andere davon ins Eigentum einer/s konkreten Stadtnutzerin/s übergehen. Im Pressetext lautet dies: „Und so überlegt sich nidako, dass freilich alle ein Besitzrecht an den öffentlichen Raum stellen dürfen. Dass aber kaum eineR ihn jemals so richtig bewusst als potenziell eigenes Besitztum wahrnimmt. Eine generöse Weihnachtsaktion schafft diesem Umstand Abhilfe: nidako verschenkt die Stadt. Im mittelgroß gehaltenen und – wacker den Temperaturen trotzend – öffentlich angesiedelten Rahmen verteilt nidako vielerlei Öffentliches. Altbekannte Geschenksanhänger verurkunden temporäre Besitzansprüche. Wer will, wird beschenkt und muss zu diesem Zwecke nur bei der Weihnachtsaktion anwesend sein. nidakos Gaben sind großartig und übertreffen den kühnsten Wunschzettel.“

Auf diese Weise ist sicher gestellt, dass es ein verbrieftes Anrecht auf öffentlich Zugängliches gibt. Eine willkommene Abwechslung zum bis auf den letzten Quadratzentimeter durchbudgetierten Regelfall. Und auch dies, wie denn sonst, lässt sich am besten durch das Anbringen von Text verdeutlichen. Der, wie das unsichtbare Gerücht, dazu beiträgt, Kommunikationsmuster aufrecht zu erhalten und demokratisierende Ahnungen zu festigen.


Daniel Kalt ist Kulturwissenschaftler,freiberuflicher Journalist und Übersetzer.

1 Schöny, Roland (2005): Kunstprojekte im Spannungsfeld des Öffentlichen. In: dérive, 21/22. S. 5 - 7
2 Butor, Michel (2006): La ville comme texte. In: Œuvres complètes de Michel Butor. Tome III. Paris, Éditions de la différence. S. 567 - 574. Hier S. 569. Übersetzung: Daniel Kalt
3 Die Liste der eingeholten Gerüchte, dazumal ausstellungsbegleitend im O. K. ausgelegt, wurde mir von der Künstlerin freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Besonders heiß brodelt es in der Gerüchteküche, meine ich, wenn aus der kolportierten Rede ihre Entstehungsgeschichte ablesbar ist. Beispielhaft: „Ich hab gehört, dass man in der letzten Zeit die Frau vom Dobusch zusammen mit der Frau vom Gneidinger so oft zusammen einkaufen gesehen hat. Aus so was entsteht in Linz auch schnell einmal was. Angeblich hat der Dobusch vor, mit dem Urfahraner Markt ein Zeichen gegen den Trend zu setzen und alles zu lassen, wie es ist. Aber dann hätte die Politik ja verstanden, dass eine unbebaute Fläche in der Stadt, die von vielen genutzt wird, kein Schandfleck ist, sondern ein sinnvoller Luxus.“
4 van der Straeten, Andrea (2001): Rumor Clinics. In: springerin ,4. Nachzulesen auch unter www.springerin.at/dyn/heft_text.php?textid=739〈=de
5 Man erinnere sich an die, andernorts besprochenen, Designated Graffiti Areas by Royal Appointment, die der illustre Street Artist Banksy im Stadtraum per kommunikationsguerilleristischem Text markiert oder ähnliche Interventionen desselben Künstlers. Kommunikationsguerilla und Adbusting möchte ich in diesem Zusammenhang allerdings nicht konkret besprechen, weil die Diskurslage ein über die Grenzen dieses Artikels hinaus gehendes Ausmaß erfordern würde und mein Interesse an dieser Stelle anders gelagerten Projekten gilt.
6 Baudrillard, Jean (2001): La société de consommation. Paris: Denoël. S. 25. Übersetzung: Daniel Kalt
7 Wörtlich: die HerunterreißerInnen. Vgl. www.deboulonneurs.org
8 Zunächst völlig unspektakuläre Plakate, die ein neues Tarifschema bewarben, änderten kurze Zeit nach ihrem ersten Auftauchen das Erscheinungsbild und wurden mit fetten, scheinbar gesprayten Protestschriftzügen überzogen, welche sich allerdings nur gegen die ungeheure Kostengünstigkeit richteten. Das Ganze war also relativ schnell durchschaubar. Aber es nötigte der/m FlaneurIn doch einen zweiten Blick ab. Und das ist ja schon fast mehr, als WerbekundInnen verlangen können...
9 Vgl. zum Beispiel: Kiffmeier, Jens (2006): Provokation in XXL. Süddeutsche Zeitung, 141/2006. S. 9
10 Vgl. die Homepage www.nidako.tv für eine Dokumentation des Projekts.

dérive, Mo., 2007.08.06



verknüpfte Zeitschriften
dérive 28 Sampler (Juli bis September 2007)

20. Juli 2006Daniel Kalt
dérive

.-:i:-. Space Invasion: Mit der Stadt und ihren BewohnerInnen spielen .-:i:-.

Eher als um die unvermeidbare Frage, wem der (urbane) öffentliche Raum denn nun eigentlich gehöre, kümmert sich eine bestimmte Variante von Stadt-Kunst...

Eher als um die unvermeidbare Frage, wem der (urbane) öffentliche Raum denn nun eigentlich gehöre, kümmert sich eine bestimmte Variante von Stadt-Kunst...

Eher als um die unvermeidbare Frage, wem der (urbane) öffentliche Raum denn nun eigentlich gehöre, kümmert sich eine bestimmte Variante von Stadt-Kunst um jene, wie man ihn, ganz wörtlich, zu bespielen habe. Und findet damit eine Antwort, die – weil sie nicht so unglaublich ernst genommen werden will – umso eindrücklicher auftritt. Dass an den Stadt-Raum die eine oder andere Frage gestellt werden muss, liegt auf der Hand. Wo sich ein immer dichteres Menschengewimmel tummelt, ist sicherzustellen, dass die kollektiven Ortschaften nicht zur seelenlos durchquerten Transitzone verkommen und damit „gültige“ Öffentlichkeit verschwindet. Um das Fortbestehen eines politisch-operationellen öffentlichen Raumes zu gewährleisten, ist es von Nöten, das vielgestaltige menschliche Bezugsnetz der StadtnutzerInnen für eben diese erfahrbar zu machen, ihnen Distinktionspraktiken und zugleich Integrationsmodelle anzubieten, mit deren Hilfe das urbane Laboratorium nutzbar wird.

Denn die Realisierungspraktiken der Stadt resultieren unmittelbar aus den Interaktionsmodi der StadtbenutzerInnen, das Stadt-Leben hängt untrennbar mit dem gemeinsamen Agieren und Tätig-Werden zusammen. Jenseits eines Gefüges von baulicher Substanz, conditio sine qua non freilich, ist die Pluralität der Individuen, ihr bewusstes, aktives Miteinander in einem frei zugänglichen öffentlichen Raum als erste Voraussetzung von politischem Leben bedeutsam. Darum muss es als Herausforderung gesehen werden, Praktiken zu schaffen, die dieses intersubjektive Bezugsnetz von miteinander Handeln und Sprechen begreifbar machen.

Spielerische Interaktion

Dass Kunst maßgeblich dazu beitragen kann, steht außer Frage. Dass es verschiedene Strategien mit unterschiedlichen Zielsetzungen gibt, Kunst im öffentlichen Raum anzusiedeln, auch. Eine besondere, nämlich im eigentlichen Sinn verspielte und das Spiel anregende Praxis eines in Paris ansässigen Künstlers soll nun näher vorgestellt werden. Um vorzuführen nämlich, wie neue Stimmlagen innerhalb der urbanen Polyphonie zu Gehör dringen können. Am ehesten als eine Möglichkeit, die StadtbewohnerInnen in ludischen Bezug zu ihrem urbanen Habitat zu setzen, lässt sich der „reality game“-Ansatz des Stadtkünstlers Space Invader zusammenfassen. Zwar dekorieren seine Mosaike den Stadtraum auch und sind als Kleckse farbiger Keramik durchaus schön anzusehen, sie erfüllen aber im Eigentlichen eine Funktion, welche durch erhöhte Interaktionsbereitschaft auf ein Erstarken des agonistischen Spielprinzips hinausläuft. Abgesehen von der Inauguration eines neuen Stadt-Erlebens birgt das groß angelegte Projekt die Option, das Gefühl eines, siehe oben, miteinander Handelns in den urbanen Beton einzugießen. Spiel ist ja, wie die Spieltheorie bedeutet, nicht nur Ornat und Dekorum, sondern unentbehrliche Stütze des Gemeinschaftssinnes, ohne welchen Gesellschaft nicht möglich ist. Mehr als um ein Sich-Messen geht es um die Veräußerlichung sozialer Gefüge, um das Verbriefen von Kulturwerten. Wenn öffentlich ausgetragen, involviert das Spiel die größtmögliche Zahl (unwillkürlicher) MitspielerInnen. Daraus ergibt sich im Falle von Space Invader ein besonders hübsches Modell von Stadtleben: die StädterInnen als eine riesige Truppe von miteinander Spielenden, die im Handeln und Sprechen aufeinander zugehen.

Space Invader, der, sein Name sagt alles, auf die extraterrestrischen Eindringlinge der ersten Videospielstunde als Gestaltungselemente zurückgreift, platziert seit gut sieben Jahren Mosaikunikate im öffentlichen Raum seiner Heimatstadt Paris, daneben aber auch in global cities wie London, New York, Los Angeles, Tokio und Hong Kong.(1) Diese rigoros durchnummerierten Elemente setzen sich aus monochromen Quadraten zusammen, welche den Pixeln der Computergrafik entsprechen und letztlich eine Armada aus Space Invaders bilden, die ausgezogen sind, den Stadtraum in Beschlag zu nehmen: urbane Invasion also, und zwar – weil diese Kunstpraxis äußerst transportabel und mobil ist – weltumspannend und damit dem Phänomen einer globalen Metropolenvernetzung entsprechend. Wenngleich Invader durchaus als street artist gelten könnte, besteht er doch darauf, ein Künstler tout court zu sein; einer, der sich aus Land Art und Situationismus inspiriert und nur a posteriori mit Sprayern und Taggern in Verbindung geriet. „Mein Leben ist eng mit Kunst verbunden, ich nehme es nur auf diese Art wahr, und das ist es, was mich zu den Space Invaders gebracht hat. Die Space Invaders ließen mich dann die Graffiti-Szene und –Kultur entdecken.“(2) Das Gebot zu bewahrender Anonymität freilich hat er mit letzterer gemeinsam, wenngleich er sich neben seinem unausgesetzten Monumentalprojekt der Space Invasion seit einer ersten Schau in der Pariser Galerie Magda Danysz 2003 auch zum Innenraumkünstler mausert, der allerdings sein primäres Wirkungsfeld unausgesetzt im kollektiv genutzten Außenraum sieht.(3) Indem er zusehends als Galeriekünstler auftritt, lässt sich aber wohl der Zeitpunkt absehen, an dem er seine Identität lüftet und das ihm schon seit Langem bereit gestellte konvertierbare symbolische Kapital wahrzunehmen beginnt. In Paris sind die Kunst und die Kunstfigur von Invader gern gesehen, ein Lieblingskind der hippen Kunst- und Stadtszene fast schon, und mit dem Aufheben des Anonymats hätte er keine repressiven Sanktionen zu befürchten.

Flanieren gegen die prozac city

Eine Stadtkunst wie die von Space Invader, welche auf langsam erwachende Neugierde setzt und sich nicht mit einem Mal zur Gänze erfassen lässt, sperrt sich gegen ein glossy Stadtkonzept der Postmoderne, welches auf die leicht verdauliche event city oder, in den Worten Giandomenico Amendolas, prozac city abzielt: „Die Stadt hat sich die Aufgabe aufgeladen, die Welt gemäß dem Kanon der zeitgenössischen medialen Kommunikation sichtbar zu machen; alles muss zugänglich, gleichzeitig, fesselnd sein. Die neue postmoderne Stadt bringt sich als Faktor und Spielwiese der Wiederverzauberung der postmodernen Gesellschaft ein.“(4) Dass allerdings hiermit die Gefahr eines drohenden Öffentlichkeitsverlustes einher geht, weil alles eben nur scheinbar zugänglich und kommunizierbar und publik ist, ist kein Geheimnis. Eine urbanistische und künstlerische Praxis wie die beschriebene veranlasst unweigerlich die Flanierenden, sich gegen das Unmittelbarkeitsprinzip aufzulehnen, die eigene Kuriosität wieder zu entdecken und ganz bewusst in jenen Raum hinaus zu treten, den sie mit den anderen teilen. Im Grunde ist es bloß eine Frage der Zeit, bis die/der mittelmäßig aufmerksame BewohnerIn einer „befallenen“ Stadt(5) auf die Idee gebracht wird, dass hier eine Einladung zu einem eigenwilligen Stadt-Parcours ausgesprochen wird. Es kann also losgezogen werden, mit Stadtplan und Stift in der Tasche womöglich, auf dass die ausfindig gemachten Koordinaten der Stadtinvasion als Anhaltspunkte eines flächendeckenden reality game minutiös verzeichnet werden mögen.

Invader selbst betont den kartografischen Impetus, der sich aus seiner Arbeit ergibt: Einerseits muss vor der Anbringung der einzelnen Mosaike die jeweilige Umgebung ausgekundschaftet und erfasst werden, andererseits hat er natürlich auch persönliches Interesse an der Dokumentation seines groß angelegten Projektes. „Die Karten erlauben mir, eine Verbindung zwischen dem unendlich Kleinen (das Pixel, der Space Invader) und dem unendlich Großen (die Stadt, der Planet) herzustellen. Sie repräsentieren auch die Idee des Umherirrens.“(6) Ganz dérive also. Auch für die BetrachterInnen seiner Kunst, die ähnlich SchatzsucherInnen den Stadtraum kreuz und quer abgrasen. Nicht nur das ästhetische Empfinden in der unmittelbaren Perzeption der Mosaike ist ausschlaggebend, sondern das Ausfindig-Machen und die Dekodierung im Umraum angesichts eines Balanceakts zwischen Sichtbarkeit und Unauffälligkeit.

Symbolische Besetzung von Räumen

Dass street art immer möglichen Eingriffen oder gar Zerstörungsversuchen ausgesetzt ist, weil sie als unrechtmäßiger Eingriff in das von öffentlicher Hand gestaltete Stadtbild wahrgenommen werden mag, liegt in der Natur der Sache. Das Risiko potenzieller Entfernung ist allerdings Teil des Spielgedankens, der in street art insgesamt ausgemacht werden kann und das ganze Unterfangen recht aufregend gestaltet. Die Herausforderung besteht darin – und das gilt für jede invasionsähnlich funktionierende Stadtkunst –, diesseits der Sichtbarkeitsgrenze zu bleiben, ohne sich dabei allzu sehr zu exponieren. Solche Projekte weisen darüber hinaus das Charakteristikum auf, nicht punktuell wirken zu wollen, sondern erst bei Betrachtung ihres vollen – eingangs kaum vermuteten – Ausmaßes die angestrebte Wirkung zu erlangen.

Die Bedeutung einer solchen Unternehmung – bei der künstlerischen Praxis von Invader parallel zu neu inaugurierten innerstädtischen Wahrnehmungs- und Bewegungsmustern – liegt jedenfalls darin, den StadtbewohnerInnen eine Option anzubieten, mit ihrem Umraum und allen Menschen, die ihn besiedeln, in eine neue, qualitativ hochwertige Beziehung zu treten. Schließlich geht es, wie Regina Bittner völlig richtig heraus streicht, um „neue Modi der Integration in die Stadt mittels der symbolischen Besetzung von Räumen, einer Besetzung, die angesichts der zunehmenden Enträumlichung sozialer Beziehungen nur umso dringender geboten ist.“(7) Den StadtbenutzerInnen den öffentlichen Raum zurück geben als etwas bewusst Erfahrbares, Bestaunbares, Gangbares; ihnen einen Ort der Manifestation und Interaktion zur Verfügung stellen und eine Plattform, die die Pluralität der Individuen erfahrbar macht.

Im Falle der space invasion könnte dies so funktionieren, dass die Menschen in Staunen vor dem einen oder anderen Invader-Mosaik aneinander geraten, sie auf ihre unvollständigen Kartenfragmente verweisen und darob in einen Diskurs geraten, der im öffentlichen Raum neue Öffentlichkeit schafft und verdeutlicht, dass auch die Straßen der eigenen Stadt nicht nur forsch und hektischen Schrittes abgelaufen werden müssen, sondern dass abseits der breit getretenen Spurrinnen noch ein paar denkbare Realisierungen von urbaner Zusammenkunft möglich sind. Oder, im Sinne politischer Theorien: Eine Gewährleistung, dass weiterhin gehandelt und gesprochen werde im öffentlichen Raum, der damit Austragungsort eines zwischenmenschlichen Beziehungsnetzes bleibt und seine Relevanz als Politikum nicht verliert.

Es darf nämlich ruhig ein bisschen spielerisch zugehen auf den Straßen der Städte, um die überindividualistische Gesellschaft auszutricksen. So bietet sich der öffentliche Raum als Alternative zur Isolation der/s Einzelnen an und stellt sich damit letztlich als wahrhaft zwischen-menschlich heraus.


1 Vor kurzem ist im Übrigen auch die österreichische Kapitale zu so illustren invasorischen Ehren gelangt, da Invader einen Monat lang Artist in Residence im Wiener Museumsquartier war. Wie der Künstler im E-Mail-Interview ankündigt, werde es sich wohl um eine groß angelegte Intervention handeln, da der für eine Invasion ordentlichen Ausmaßes üblicherweise notwendige Zeitraum von etwa 14 Tagen sogar überschritten werde. street art und city hopping kann Invader darüber hinaus ohnehin nicht mehr voneinander trennen: „Das Eine ohne das Andere ist für mich nicht mehr denkbar“
2 Interview von 2004 mit Pierre-Évariste Douaire auf www.paris-art.com/interv_detail-1876.html (Übersetzung durch den Autor)
3 2005 folgten Einzelausstellungen in der renommiert Pariser Galerie Patricia Dorfmann sowie in der Galerie Sixspace in Los Angeles. In diesem Rahmen entwickelte er einen eigenen –ismus, den so genannten Rubikcubism nämlich, für den er das Quadrat in die dritte Dimension bringt und auf Rubic's Magic Cubes zurückgreift, die er zu Skulpturen auf-, an- und ineinander montiert
4 Giandomenico Amendola, La Ciudad Postmoderna. Magia y miedo de la metrópolis contemporánea. Madrid, Celeste, 2000, S. 136 (Übersetzung durch den Autor)
5 Paris – als die Heimatstadt des Künstlers und seine dauernde Spielwiese – bringt es auf beachtliche 519 Invaders (Stand Dezember 2005). Andere Städte weisen naturgemäß eine geringere Dichte auf, da Invader dort nur als Kunst- und Spiel-Tourist tätig werden kann. Immerhin: Los Angeles 123 Invaders. New York 85 Invaders. Tokio 75 Invaders. Bei den elf für Berlin ausgewiesenen „Störenfrieden“ muss man wohl ein wenig Glück haben, um auf sie zu stoßen. Vgl. für diese Information die sehenswerte und auch amüsante – weil ihrerseits keineswegs unverspielte – Seite www.space-invaders.com
6 Space Invader im zitierten Interview
7 Regina Bittner, Die Stadt als Event, in: dies. [Hg.], Die Stadt als Event, Frankfurt am Main – New York, Campus Verlag, 2002, S. 23

dérive, Do., 2006.07.20



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Presseschau 12

19. Januar 2022Daniel Kalt
Spectrum

Villa Rezek: Wie restauriert man seriös?

Jahrzehntelang fristete die Villa Rezek von Architekt Hans Glas in Wien-Währing ein Dornröschendasein – nun wird sie sorgfältig restauriert. Dabei wird auch die Bauhistorie untersucht.

Jahrzehntelang fristete die Villa Rezek von Architekt Hans Glas in Wien-Währing ein Dornröschendasein – nun wird sie sorgfältig restauriert. Dabei wird auch die Bauhistorie untersucht.

Die Villa Rezek, ein Hauptwerk von Architekt Hans Glas, hatte Glück: 2010 wurde das atemberaubend großzügige, lichtdurchflutete Terrassenhaus des Baujahres 1933 unter Denkmalschutz gestellt. Erstaunlich spät, könnte man meinen. Früh genug, um es für die Nachwelt zu retten. „Ein Abbruch wäre für einen Investor sehr reizvoll gewesen, das erforderte eine rasche Unterschutzstellung“, so Wolfgang Salcher, stellvertretender Leiter der Abteilung Wien im Bundesdenkmalamt. Die Villa liegt sehr versteckt im vornehmen Wiener Bezirk Währing über Pötzleinsdorf. 229 Quadratmeter Baufläche, 975 Quadratmeter Garten. 2019 erwarb sie ein Bauherr, der sich ihres Wertes bewusst ist, und beauftragte Max Eisenköck mit einer Sanierung – wieder als Wohnhaus. Ein Glücksfall.

Jahrzehntelang hatte die Villa Rezek den Wahrnehmungsradius der einschlägigen Fachwelt nicht einmal tangiert. Friedrich Achleitner war sie aber bei seiner Feldforschung nach architekturhistorischen Kleinodien nicht entgangen: „Eines der bedeutendsten und wohl auch mysteriösesten Wiener Häuser der frühen Dreißigerjahre. Schon der Name des Architekten wirkt wie ein Pseudonym“, steht in seinem Standardwerk „Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert“. „Das Haus selbst zeigt in der inneren Wegführung und in der rigorosen Terrassierung des Baukörpers eine gewisse Nähe zu Adolf Loos, wirkt aber in der allgemeinen Gestik etwas freier. Interessant ist auch, dass die Terrassierung sowohl nach Osten (quer zum Hang) als auch nach Süden (mit dem Hang) durchgeführt wurde.“ Grundriss und Foto ergänzen den Text: ein Ritterschlag in dem komprimierten Werk.

Die Wiener Moderne war Forschungsschwerpunkt von Architekturhistorikerin und „Spectrum“-Autorin Iris Meder. Die Villa Rezek rezipierte den internationalen Stil sehr früh, Architekt und Bauherren bezeugen die immense Bedeutung des jüdischen Bürgertums für die Moderne in Wien – und dessen Ausrottung. Meder verfasste das Gutachten, das die Basis der Unterschutzstellung bildete. Seit 2020 wird die Villa als Best-Practice-Beispiel der Denkmalpflege restauriert. „Erstmals folgen wir hier einem Conservation Management Plan (CMP). Alle Stakeholder – Bundesdenkmalamt, Restauratorinnen, Eigentümer, Architekt – sind in die Lösungsfindung eingebunden“, so Salcher.

Die Rolle der Architektenteams ist essenziell, denn Parameter wie Barrierefreiheit, Fluchtwege, Statik, Haustechnik, Brandschutz sind kaum verhandelbar. Der CMP umfasst auch die künftige Erhaltung und Vermittlung des Denkmals, er ist quasi ein Wartungsbuch. Das Bundesdenkmalamt subventionierte ebenso die wissenschaftliche Untersuchung von Bauhistorie, Putz, Stein, Beton, Holz und Metall. Restauratorin Claudia Riff-Podgorschek befundete die Wandflächen: Der originale Putz war beige-sandfarben. Die Vorstellung einer „weißen Moderne“ ist vor allem der Schwarz-Weiß-Fotografie ihrer Zeit geschuldet, die Villa Rezek trägt nun wieder Ocker. „Wir brachten den Kratzputz auf Kalkbasis in historischer Technik auf“, sagt Eisenköck, „ohne Zement, ohne Kunstharz, diese Wand atmet.“ Vollwärmeschutz gibt es keinen – dafür schlanke Vordächer. „Man kann so ein Haus nicht komplett einpacken, ein Oldtimer wird mit einem E-Motor auch nicht nachhaltiger.“ Details sind in der reduzierten Formensprache der Moderne besonders wichtig. Eisenköck untersucht und rekonstruiert sie akribisch. Die Steinbrüstung der Treppe, die sich so hochelegant von der Halle – mit Blick in den Wohnsalon und einem Richtungswechsel in den ersten Stock – windet, ist rekonstruiert. „Wie saniert man solche Details seriös? Man kann sich über Fotos mit Beschreibungstext oder das Studium anderer Objekte der Bauzeit annähern und je nach Priorität Rückschlüsse ziehen.“ Eisenköck hat viele Bauten besucht und ist einschlägig belesen. „Bei dieser Brüstung haben wir zwei Marmorplatten im Fuchsbau des Gartens gefunden. Dank der Löcher der Schrauben, mit denen der Metallkorb für die Pflanzen befestigt war, konnten wir sie richtig zuordnen.“ Die Villa Rezek war oft publiziert: Die britische Kunstzeitschrift „The Studio“ brachte 1936 einen Beitrag mit Fotos von Franz Mayer, die auch das Innere zeigten. Materialien, Farben, Möbel, alles war genau beschrieben. So erfuhr man, dass Schmutzwäsche durch Rohre von den oberen Etagen in die Wäscherei befördert wurde und Sonnenterrassen mit Duschen ausgestattet waren.

Souverän nimmt die streng abgetreppte, aus mehreren gestapelten Quadern komponierte Villa mit vier Wohn- und einem Untergeschoß das Gelände so in Besitz, dass sich das Panorama über die sonnenbeschienene Stadt wie auf dem Serviertablett präsentiert. Jede Ebene hat eine Terrasse, seitlich treppen sich zwei kaskadenartige Außenstiegen den Hang hoch, für den es von Gartenarchitekt Albert Esch einen Bepflanzungsplan gab. Den Wintergarten kann man mit etwas gutem Willen als Variation des Wintergartens der Villa Tugendhat von Mies van der Rohe in Brünn (1929/30) interpretieren. Dort reicht er über die gesamte Schmalseite der Wohnebene, in Wien ist er am Eck eingeschnitten. Parallelen lassen sich finden. So waren auch die Fenster des Wintergartens der Villa Rezek zur Gänze im Boden zu versenken. Dass sich die Scheiben vor die Wände des darunterliegenden Dienstbotenzimmers schoben, störte keinen.

Wie die Familie Tugendhat kam auch das Ärztepaar Rezek aus dem assimilierten jüdischen Bürgertum. Philipp Rezek ordinierte in der Bibliothek mit angeschlossenem Laboratorium. Anna Rezek war Teilhaberin der Papierfabrik Bunzl & Biach, für Hugo Bunzl plante Josef Frank 1935 eine Villa. Einige Familienmitglieder kamen in Konzentrationslagern um, dem Ehepaar Rezek gelang mit ihren zwei Töchtern 1938 die Flucht, Architekt Glas ging nach Kalkutta.

Die Rollladenkästen der Fenster, die in den Parapeten des Wohn- und Esssalons verschwinden konnten, waren noch im Original vorhanden. Es sind „Nikolaus Patentschiebefenster“, wie es sie damals in vielen Lungenheilanstalten gab. Mit der Tischlerei Sadofsky arbeiteten Architekt und Restaurator an einer Rekonstruktion des Mechanismus. Beim dritten Prototyp klappte es.

Spectrum, Mi., 2022.01.19



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Villa Rezek, Restaurierung

06. August 2007Daniel Kalt
dérive

Stadt-Beschreibung. Notizen zu Text im urbanen Raum

Die Stadt als Text, ein Getöse der Worte, weitläufiges Wortgeflecht oder Überlappung von Textfetzen allerorts – über die Angelegenheit lässt sich auf viele...

Die Stadt als Text, ein Getöse der Worte, weitläufiges Wortgeflecht oder Überlappung von Textfetzen allerorts – über die Angelegenheit lässt sich auf viele...

Die Stadt als Text, ein Getöse der Worte, weitläufiges Wortgeflecht oder Überlappung von Textfetzen allerorts – über die Angelegenheit lässt sich auf viele Weisen nachdenken. Text jedenfalls ist in der Stadt allgegenwärtig. Freilich muss der Begriff hier insoferne präzisiert werden, als es nicht ausschließlich um tatsächlich syntagmatisch geordnete, narrativ-beschreibende Wortreihen gehen kann. Jedes einzelne Wort, das im öffentlichen Raum steht, soll vielmehr als Partikel eines großen Ganzen verstanden werden, welches dann den Stadt-Text darstellt. Ich möchte versuchen, ein paar Aspekte des Phänomens anhand einiger konkreter, von mir als originell und repräsentativ angesehener Beispiele zu thematisieren: Diese sollen so weit als möglich dem Bereich der Kunst im öffentlichen Raum (KöR) zuzählbar sein, wobei diese – ob der etwas vagen Gestalt, welche Text-Körper gemeinhin einnehmen – sich ein wenig von der massiven Präsenz dekorativer Kunst-Körper wegbewegt, wie sie noch zuletzt Gegenstand dieser Serie waren. Textbausteine gereichen in diesem Zusammenhang mitnichten zur Hinterlassung monumentaler Drop Sculptures, so dass die Herausforderung vielmehr – ob der Omnipräsenz von (nicht notwendigerweise als solchem wahrgenommenem) Text nämlich – darin besteht, das kritische Wahrnehmungs-Vermögen der StadtnutzerInnen zu überprüfen oder zu stimulieren bzw., wie Roland Schöny über KöR allgemein schreibt, „geeignete Repräsentationsmöglichkeiten ausfindig zu machen und eine urbane Praxis zu entwickeln, welche auf eine dem Spektakel abgewandte kontrapunktische Codierung von Orten, Flächen oder Objekten mit adäquaten Mitteln […] zur Erweiterung des Möglichkeitssinns ausgerichtet ist.“(1)

Ich möchte vorschlagen, folgende grobe Typologie der Bezugnahme von Text auf Stadt und Stadt auf Text zu umreißen: in der Stadt platzierter Text bzw. die kreativ-kritische Auseinandersetzung mit ihm // Text, der aus der Stadt extrahiert und verbildlicht wird // Text, in dem Stadt und Stadtleben konvertiert werden. Bei Letzterem handelt es sich, doch darauf soll hier nicht näher eingegangen werden, in etwa um das literarische Subgenre des Stadt-Romans, in welchem der urbane Raum als allerlei Handlungsstränge bestimmende Komponente herhält. Literaturgeschichtlich betrachtet verändert sich die Schilderung der Stadt nachhaltig ab der Herausbildung industrialisierter Großstädte mit deren vielfältiger Bevölkerungsstruktur, wie sie sich aus einer massiven Landflucht sowie transnationalen Migrationsbewegungen ergibt. Charakteristisch ist in der frühen Massenliteratur das Auftauchen eines die Lebensläufe aller AkteurInnen unerbittlich vorgebenden Kosmos, welcher sich als omnipräsente Folie über die Handlung stülpt. Ein aktueller Ableger solcher Stadt-Texte – gemeinhin von geringerem literarischem Wert – ist das Konvolut mehr oder minder origineller Stadtgeschichten, die nahezu jedes Printmedium mit urbaner Zielgruppe auf die eigenen Seiten presst: Unmittelbarer lässt sich das Transformieren von Stadtleben in Text kaum mehr zelebrieren; mitunter hat die/der Lesende gar den Eindruck, auch die unspektakulärste Busfahrt werde sogleich ohne großes Reflektieren als mittelprächtig unterhaltsames Episödchen städtischen Lebens verwurstet.

Text aus der Stadt gewinnen und verbildlichen

Von solchem in der Folge absehend, möchte ich vielmehr einer Sichtweise anhängen, welche aufmerksam auf die Verbildlichung von Text in der Stadt bzw. Auseinandersetzungen mit textuellen Präsenzen ebenda abzielt. Michel Butor, illustrer Vertreter der Nouveau Roman-LiteratInnen und darob Wortführer eines nach neutraler Objektivität strebenden Experimentalismus in der französischen Literatur ab den 1950er Jahren, regt an, die Stadt überhaupt als eine Text-Sorte wahrzunehmen; als ein auf Texten basierendes Spektakel: „Die Stadt mag als ein literarisches Werk gesehen werden, das non-verbale Teile miteinschließt – wie ein Theaterstück – und seine eigenen Regeln und Kompositionsprinzipien hat; welches seinerseits einem außergewöhnlich umfangreichen Genre angehört, da ja, über den Umweg von Bibliotheken, Buchhandlungen, Schulen usw., die gesamte Literatur von mindestens einer Sprache als eines seiner Kapitel, seiner Akte, seiner Abschnitte gelten mag.“(2) Das Stichwort des Theaters lässt unweigerlich an das gesprochene PassantInnenwort denken: Vor der massenweisen Vervielfältigung verschriftlichter Texte zirkulierte bekanntermaßen eine orale Literatur im öffentlichen Raum, und wenn sich auch die Dinge nachgerade verändert haben, sind doch die Straßen weiterhin erfüllt vom ständigen Gemurmel und Geraune der sprechenden StadtnutzerInnen. Ein möglicher Ansatzpunkt für Kunst, die den Text des öffentlichen Raumes in einen rein musealen Innenraum transportieren mag.

Andrea van der Straeten, die ihre Arbeiten gemeinhin nicht ungern mit dem öffentlichen Raum korrelieren lässt, beschäftigt sich in einer Werkserie aus dem Jahr 2004 mit Gerüchten über stadtplanerische Projekte für vier neuralgische Punkte in der Linzer Innenstadt. Was ich gehört habe, so der Titel, zeigt den öffentlichen Raum als Gegenstand des Gerüchtes zum Einen und als Austragungs Ort (die Matrix? Den Ort des Heran- und Nachreifens?) des Gerüchtes zum Anderen. Fünf Wandzeichnungen im Linzer O. K. Centrum für Gegenwartskunst verarbeiteten eine Auswahl von im öffentlichen Raum – auf der Agora, gewissermaßen – gesammelten Gerüchten. Im Zentrum des künstlerischen Interesses stand bei diesen großflächigen Wandtafeln (im Übrigen verzichtete die Künstlerin darauf, die Arbeiten auf Papier zu übertragen – und so bleibt das Dynamische des öffentlichen Raums in der temporären Natur der Innenraumarbeiten gewahrt) die unverbindliche Rede der PassantInnen, welche eine breite Palette abdeckte: von profundem Hintergrundwissen genährt, von kühnen Mutmaßungen getragen, ziemlich wahllos vorgebracht oder einfach „Klatsch & Tratsch“.(3) Van der Straeten setzte die Visualisierung der gesprochenen Rede auf eine für sie charakteristische Weise um: Wandskizzen des Stadtraumes wurden mit Post-Its überklebt, auf denen die von Hand transkribierten Gerüchte zu lesen waren, welche sich auf den jeweils dargestellten Stadtteil bezogen. Eine derartige Aufbereitung der charakteristischen Rede-Substanz des öffentlichen Raumes ist eine jedenfalls spannende Strategie, welche darüber hinaus einer profunden und lange anhaltenden Auseinandersetzung der Künstlerin mit diesem „Material“ entspringt. In einem Aufsatz aus dem Jahr 2001(4) präsentiert van der Straeten die Ergebnisse einer in Chicago angestellten Untersuchung zur Einrichtung so genannter Rumor Clinics, in welchen die ordnungshütende Obrigkeit versuchte, Massenaufständen durch das Entkräften (Entschärfen) von kursierenden Gerüchten entgegen zu treten. Stellten sich die Rumor Clinics circa 25 Jahre nach ihrem Verschwinden ihrerseits als gerüchtähnlich ungreifbare Institution dar, über die Informationen einzuholen sich als über die Maßen schwierig gestaltete, verdeutlicht die Wortwahl (die Klinik – also die Heilanstalt) einmal mehr, dass im öffentlichen Raum Kursierendes mitunter als von pathologisch-viraler Bedrohlichkeit wahrgenommen wird.

Löschung des Stadt-Textes

Für den – auch geschriebenen, zumeist kommerziell interessierten – Text im öffentlichen Raum trifft eine Metaphorik der wuchernden Ausbreitung schon deshalb ebenfalls zu, weil dieser nicht nur kein Einhalt zu bieten ist, sondern der Text sich im Konkreten einer bewussten Erfassbarkeit entzogen zu haben scheint. Mit ihrem Projekt Delete! , das sich 2005 in der Wiener Neubaugasse niederließ (einer Einkaufsstraße eher geruhsamen Ausmaßes, einer Seitenstraße der Mariahilfer Straße, Wiens Shopping-Meile par excellence allerdings), unternahmen Rainer Dempf und Christoph Steinbrener den Versuch, den öffentlichen Raum zu „entschriften“ und durch das Löschen jeglicher Schrift ein neues Bewusstsein für die kaum mehr wahrgenommene Omnipräsenz von Stadt-Text zu generieren. Und wohl auch für den Umstand, dass die unbeschriebene Fläche ein vergleichbar rares Brachland darstellt wie unbebaute inner-städtische Grundstücke. Von der harmlosesten Hinweistafel, die der Orientierung der PassantInnen dient, über das Geschäftsschild, die Auslagenbeschriftung und den Werbeslogan: Überall gibt es etwas zu lesen und Information zu verarbeiten. Die Redundanz eines Großteils von solchem Text wird erst offenbar, wenn die Information kurzzeitig verloren geht. Ob nämlich der Großstadtdschungel durch den Wegfall von (pseudo-)informativer Beschriftung tatsächlich an Unergründlichkeit gewinnt, ist zu bezweifeln. Vielmehr dürfte so in den Augen der Meisten der Stadt eines ihrer Charakteristika abhanden kommen. Immerhin: Eine palimpsestische Abdeckung urbanen Texts durch monochrome Planen schafft neue Oberflächen für die kommunikative Verwirklichung der City-User. Bzw. (siehe oben) die Niederschrift von Gerüchten – vielleicht ist eine Stadt ganz ohne Schrift einfach nicht auszuhalten?

Ganz ohne – nicht kommerziellen – Text ginge es darüber hinaus ja wohl auch nicht. Abgesehen von Gebots- und Verbotstafeln, wie sie gerne einmal von findigen Kommunikationsguerilleros persifliert werden(5), gibt es jene Textfragmente, ohne die kein Auskommen wäre: Orientierungshilfen, Pläne, Richtungsweiser, Sraßenschilder. Die jeweils gewählte Schriftart bestimmt die Corporate Identity der Stadt, welche das Verortungsbdürfnis der BewohnerInnen bedient. Ein Blick auf den U-Bahn-Plan oder das nächste Straßeneck genügt, um festzustellen, dass man sich noch immer „daheim“ befindet. Wiewohl im Zeitalter globalen Wirtschaftstreibens einem solchen ortsspezifischen Schriftbild durch die Gegenwart weltweit gleich lautender, gleich anzuschauender Werbe-Texte die Vorrangstellung deutlich abgelaufen wird.

Auflehnung und Verweigerung

Den zweifellos größten Anteil an Text im öffentlichen Raum macht wohl das Waren bewerbende Wort aus. An allen Ecken und Enden angebracht, auf fast jeder freien Fläche lesbar, ist es Teil eines ökonomisch interessierten Stadtapparates, der nicht darauf vergisst, jede mögliche Anbringungsstelle kommerziell nutzbar zu machen. Das Platzieren von Text im öffentlichen Raum gerät jedenfalls zum kostenintensiven Unterfangen. Dabei bleibt den StadtnutzerInnen kaum die Wahl, sich rezeptionsbereit oder – einverständig zu zeigen. Die Präsenz der Werbetexte ist ein nicht auszuschaltendes Faktum, dem gemeinhin mit dem Schutzmechanismus größtmöglicher Indifferenz begegnet wird – vielleicht auch, weil man ständig an die eigene Unzulänglichkeit erinnert werden soll, die es mit dem einen oder anderen „Gadget“ auszubessern gälte. Baudrillard äußert sich über den städtischen diskursiven Raum als einen kompetitiven Kontext wie folgt: „Die Dichte an Menschen [in der Stadt] ist faszinierend, aber vor allem ist der Diskurs der Stadt an sich ein Wetteifern: Motive, Wünsche, Treffen, Stimuli, unablässige Urteilsbildung durch die Anderen, kontinuierliche Erotisierung, Information, Beanspruchung durch die Werbung: Das alles ergibt eine Art abstrakten Schicksals kollektiver Partizipation vor dem realen Hintergrund eines allgemein gewordenen Wetteiferns.“(6)

Der Ansatzpunkt für engagierte BürgerInnen, ob antikapitalistisch motiviert oder um die neutrale Nutzbarkeit des öffentlichen Raumes bzw. sein Erscheinungsbild besorgt, besteht in einem Aufbegehren gegen die Verkaufbarkeit ihres visuellen Empfindens. Im Unterschied zu TV-Werbung oder den Einschaltungen in Printmedien, die sich auf eine bewusst getroffene Entscheidung potenzieller KonsumentInnen berufen können (umschalten, Seiten überblättern …), gibt es angesichts des immensen Ausmaßes plakatierter Flächen im öffentlichen Raum keine ernsthaft denkbare Alternative zum Hinschauen und Beglückt-Werden mit Text und Bild. Es sei denn, man wollte um jeden Preis dieser Text-Sorte und ihrer graphischen Aufbereitung auskommen und nähme also die Gefahr eines ständigen Anprallens gegen Hindernisse und PassantInnen in Kauf, weil man stets gesenkten Blickes die Straßen abschreiten müsste. Eine couragierte Organisation in Frankreich, die déboulonneurs(7), hat sich zum Ziel gesetzt, dieser Überfrachtung des öffentlichen Raumes Einhalt zu gebieten. Der klar formulierte Slogan: „objectif 50 x 70“. A1 somit als das maximal zulässige Plakatformat, und eine strikt durchgezogene proportionale Durchrechnung der höchstens beklebbaren Fläche eines besiedelten Raumes, abhängig von der Anzahl der EinwohnerInnen. Unablässig aktiv in zahlreichen großen Städten des Landes, berufen sich die déboulonneurs auf ihr Recht zivilen Ungehorsams, um medienwirksam tätig bleiben zu können und die gesetzgebende Instanz auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen. In ihren Aktionen überschreiben sie existierende Plakate und nutzen die vorhandenen Flächen zum Affichieren ihres Anliegens. Damit erfolgt eine Brechung des üblicherweise clean angelegten grafischen Codes: Der gesprayte Text überlagert den auf kommerziellen Erfolg ausgerichteten Ursprungstext und erfüllt ob seiner Unbeholfenheit eine eigene Appellfunktion.

Freilich schläft auch die Werbung nicht und reagiert auf solche unverblümten, ja krude anmutenden Adbusting-Strategien mit ihrer ureigensten Waffe: der Imitation und Adaptation für die eigenen Zwecke. Während man in Frankreich landesweit organisiert und anderswo etwas verstreuter einen Kampf gegen Windmühlen führt, zeigt zum Beispiel die Plakatkampagne eines österreichischen Mobilfunkunternehmes vom Herbst 2006, dass nicht einmal die Adbuster vor der Heimholung in den lauschigen Werbetümpel gefeit sind.(8)

Text, der die Stadt durquert – oder verschenkt

Im Grunde tragen freilich auch TrägerInnen von Markenware, die sich offenkundig selbst bewirbt, bzw. KonsumentInnen mit großzügig beschrifteten Einkaufstaschen zur Verstärkung der Gegenwart von Werbung im öffentlichen Raum bei. Paradoxerweise zahlen in diesem Fall die KonsumentInnen mitunter sogar einen Aufpreis, um als Werbefläche fungieren zu dürfen. Beschriftetes Textil mag freilich jenseits bloßer Markenschriftzüge oder Modetrends auch als Statement gelesen werden, wiewohl im Regelfall – also bei massenweise verbreiteter Ware – der Individualitätseffekt oder die tatsächliche Identifikation mit dem dekorativ-textilen Textteil ein wenig auf der Strecke bleiben. Erwähnenswert finde ich in diesem Zusammenhang ein Projekt an der Berliner Rütli-Schule, die nach Vorkomnissen im März 2006 als Austragungsort einer von den PädagogInnen nicht mehr bändigbaren Gewaltbereitschaft der SchülerInnen in die Schlagzeilen geraten war. Etwas später wurde im schulinternen Kunstunterricht das Projekt gestartet, dieser Verfemung durch selbstbewusst inszenierte Identifikation der Schulangehörigen mit ihrer Anstalt entgegen zu treten. Einfärbige T-Shirts wurden mit einem unübersehbaren RÜTLI-Schriftzug bedruckt und ließen keinen Zweifel darüber, dass die Text-TrägerInnen im öffentlichen Raum eine konkrete Aussage tätigen wollten.(9)

Zum Abschluss, und etwas weniger mobil den öffentlichen Raum durchquerend als eine Armada von T-Shirt-TrägerInnen, soll eine Initiative Erwähnung finden, die Weihnachten 2006 im Kleinraum des fünften Wiener Gemeindebezirkes fast unbemerkt stattfand: nidako verschenkt Margareten titelte die Aktion und bestand in der Anbringung von grellbunten Geschenksanhängern, bedacht mit Namen aus verschiedenen Sprachkontexten, an alltäglichen Objekten im Stadtraum(10): Stoppschilder, Parkbänke, Kinderschaukeln … Hintergrund eines solchen Tuns, wie auch die Mitorganisatorin und nidako-Mitglied Nina Ober heraus streicht, ist der spielerische Umgang mit der leidigen Frage, wem der öffentliche Raum zu gehören habe. Wenn nämlich alle ein Anrecht darauf haben, die von nidako verschenkten Gegenstände zu nutzen, dann kann für kurze Zeit wohl der eine oder andere davon ins Eigentum einer/s konkreten Stadtnutzerin/s übergehen. Im Pressetext lautet dies: „Und so überlegt sich nidako, dass freilich alle ein Besitzrecht an den öffentlichen Raum stellen dürfen. Dass aber kaum eineR ihn jemals so richtig bewusst als potenziell eigenes Besitztum wahrnimmt. Eine generöse Weihnachtsaktion schafft diesem Umstand Abhilfe: nidako verschenkt die Stadt. Im mittelgroß gehaltenen und – wacker den Temperaturen trotzend – öffentlich angesiedelten Rahmen verteilt nidako vielerlei Öffentliches. Altbekannte Geschenksanhänger verurkunden temporäre Besitzansprüche. Wer will, wird beschenkt und muss zu diesem Zwecke nur bei der Weihnachtsaktion anwesend sein. nidakos Gaben sind großartig und übertreffen den kühnsten Wunschzettel.“

Auf diese Weise ist sicher gestellt, dass es ein verbrieftes Anrecht auf öffentlich Zugängliches gibt. Eine willkommene Abwechslung zum bis auf den letzten Quadratzentimeter durchbudgetierten Regelfall. Und auch dies, wie denn sonst, lässt sich am besten durch das Anbringen von Text verdeutlichen. Der, wie das unsichtbare Gerücht, dazu beiträgt, Kommunikationsmuster aufrecht zu erhalten und demokratisierende Ahnungen zu festigen.


Daniel Kalt ist Kulturwissenschaftler,freiberuflicher Journalist und Übersetzer.

1 Schöny, Roland (2005): Kunstprojekte im Spannungsfeld des Öffentlichen. In: dérive, 21/22. S. 5 - 7
2 Butor, Michel (2006): La ville comme texte. In: Œuvres complètes de Michel Butor. Tome III. Paris, Éditions de la différence. S. 567 - 574. Hier S. 569. Übersetzung: Daniel Kalt
3 Die Liste der eingeholten Gerüchte, dazumal ausstellungsbegleitend im O. K. ausgelegt, wurde mir von der Künstlerin freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Besonders heiß brodelt es in der Gerüchteküche, meine ich, wenn aus der kolportierten Rede ihre Entstehungsgeschichte ablesbar ist. Beispielhaft: „Ich hab gehört, dass man in der letzten Zeit die Frau vom Dobusch zusammen mit der Frau vom Gneidinger so oft zusammen einkaufen gesehen hat. Aus so was entsteht in Linz auch schnell einmal was. Angeblich hat der Dobusch vor, mit dem Urfahraner Markt ein Zeichen gegen den Trend zu setzen und alles zu lassen, wie es ist. Aber dann hätte die Politik ja verstanden, dass eine unbebaute Fläche in der Stadt, die von vielen genutzt wird, kein Schandfleck ist, sondern ein sinnvoller Luxus.“
4 van der Straeten, Andrea (2001): Rumor Clinics. In: springerin ,4. Nachzulesen auch unter www.springerin.at/dyn/heft_text.php?textid=739〈=de
5 Man erinnere sich an die, andernorts besprochenen, Designated Graffiti Areas by Royal Appointment, die der illustre Street Artist Banksy im Stadtraum per kommunikationsguerilleristischem Text markiert oder ähnliche Interventionen desselben Künstlers. Kommunikationsguerilla und Adbusting möchte ich in diesem Zusammenhang allerdings nicht konkret besprechen, weil die Diskurslage ein über die Grenzen dieses Artikels hinaus gehendes Ausmaß erfordern würde und mein Interesse an dieser Stelle anders gelagerten Projekten gilt.
6 Baudrillard, Jean (2001): La société de consommation. Paris: Denoël. S. 25. Übersetzung: Daniel Kalt
7 Wörtlich: die HerunterreißerInnen. Vgl. www.deboulonneurs.org
8 Zunächst völlig unspektakuläre Plakate, die ein neues Tarifschema bewarben, änderten kurze Zeit nach ihrem ersten Auftauchen das Erscheinungsbild und wurden mit fetten, scheinbar gesprayten Protestschriftzügen überzogen, welche sich allerdings nur gegen die ungeheure Kostengünstigkeit richteten. Das Ganze war also relativ schnell durchschaubar. Aber es nötigte der/m FlaneurIn doch einen zweiten Blick ab. Und das ist ja schon fast mehr, als WerbekundInnen verlangen können...
9 Vgl. zum Beispiel: Kiffmeier, Jens (2006): Provokation in XXL. Süddeutsche Zeitung, 141/2006. S. 9
10 Vgl. die Homepage www.nidako.tv für eine Dokumentation des Projekts.

dérive, Mo., 2007.08.06



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dérive 28 Sampler (Juli bis September 2007)

20. Juli 2006Daniel Kalt
dérive

.-:i:-. Space Invasion: Mit der Stadt und ihren BewohnerInnen spielen .-:i:-.

Eher als um die unvermeidbare Frage, wem der (urbane) öffentliche Raum denn nun eigentlich gehöre, kümmert sich eine bestimmte Variante von Stadt-Kunst...

Eher als um die unvermeidbare Frage, wem der (urbane) öffentliche Raum denn nun eigentlich gehöre, kümmert sich eine bestimmte Variante von Stadt-Kunst...

Eher als um die unvermeidbare Frage, wem der (urbane) öffentliche Raum denn nun eigentlich gehöre, kümmert sich eine bestimmte Variante von Stadt-Kunst um jene, wie man ihn, ganz wörtlich, zu bespielen habe. Und findet damit eine Antwort, die – weil sie nicht so unglaublich ernst genommen werden will – umso eindrücklicher auftritt. Dass an den Stadt-Raum die eine oder andere Frage gestellt werden muss, liegt auf der Hand. Wo sich ein immer dichteres Menschengewimmel tummelt, ist sicherzustellen, dass die kollektiven Ortschaften nicht zur seelenlos durchquerten Transitzone verkommen und damit „gültige“ Öffentlichkeit verschwindet. Um das Fortbestehen eines politisch-operationellen öffentlichen Raumes zu gewährleisten, ist es von Nöten, das vielgestaltige menschliche Bezugsnetz der StadtnutzerInnen für eben diese erfahrbar zu machen, ihnen Distinktionspraktiken und zugleich Integrationsmodelle anzubieten, mit deren Hilfe das urbane Laboratorium nutzbar wird.

Denn die Realisierungspraktiken der Stadt resultieren unmittelbar aus den Interaktionsmodi der StadtbenutzerInnen, das Stadt-Leben hängt untrennbar mit dem gemeinsamen Agieren und Tätig-Werden zusammen. Jenseits eines Gefüges von baulicher Substanz, conditio sine qua non freilich, ist die Pluralität der Individuen, ihr bewusstes, aktives Miteinander in einem frei zugänglichen öffentlichen Raum als erste Voraussetzung von politischem Leben bedeutsam. Darum muss es als Herausforderung gesehen werden, Praktiken zu schaffen, die dieses intersubjektive Bezugsnetz von miteinander Handeln und Sprechen begreifbar machen.

Spielerische Interaktion

Dass Kunst maßgeblich dazu beitragen kann, steht außer Frage. Dass es verschiedene Strategien mit unterschiedlichen Zielsetzungen gibt, Kunst im öffentlichen Raum anzusiedeln, auch. Eine besondere, nämlich im eigentlichen Sinn verspielte und das Spiel anregende Praxis eines in Paris ansässigen Künstlers soll nun näher vorgestellt werden. Um vorzuführen nämlich, wie neue Stimmlagen innerhalb der urbanen Polyphonie zu Gehör dringen können. Am ehesten als eine Möglichkeit, die StadtbewohnerInnen in ludischen Bezug zu ihrem urbanen Habitat zu setzen, lässt sich der „reality game“-Ansatz des Stadtkünstlers Space Invader zusammenfassen. Zwar dekorieren seine Mosaike den Stadtraum auch und sind als Kleckse farbiger Keramik durchaus schön anzusehen, sie erfüllen aber im Eigentlichen eine Funktion, welche durch erhöhte Interaktionsbereitschaft auf ein Erstarken des agonistischen Spielprinzips hinausläuft. Abgesehen von der Inauguration eines neuen Stadt-Erlebens birgt das groß angelegte Projekt die Option, das Gefühl eines, siehe oben, miteinander Handelns in den urbanen Beton einzugießen. Spiel ist ja, wie die Spieltheorie bedeutet, nicht nur Ornat und Dekorum, sondern unentbehrliche Stütze des Gemeinschaftssinnes, ohne welchen Gesellschaft nicht möglich ist. Mehr als um ein Sich-Messen geht es um die Veräußerlichung sozialer Gefüge, um das Verbriefen von Kulturwerten. Wenn öffentlich ausgetragen, involviert das Spiel die größtmögliche Zahl (unwillkürlicher) MitspielerInnen. Daraus ergibt sich im Falle von Space Invader ein besonders hübsches Modell von Stadtleben: die StädterInnen als eine riesige Truppe von miteinander Spielenden, die im Handeln und Sprechen aufeinander zugehen.

Space Invader, der, sein Name sagt alles, auf die extraterrestrischen Eindringlinge der ersten Videospielstunde als Gestaltungselemente zurückgreift, platziert seit gut sieben Jahren Mosaikunikate im öffentlichen Raum seiner Heimatstadt Paris, daneben aber auch in global cities wie London, New York, Los Angeles, Tokio und Hong Kong.(1) Diese rigoros durchnummerierten Elemente setzen sich aus monochromen Quadraten zusammen, welche den Pixeln der Computergrafik entsprechen und letztlich eine Armada aus Space Invaders bilden, die ausgezogen sind, den Stadtraum in Beschlag zu nehmen: urbane Invasion also, und zwar – weil diese Kunstpraxis äußerst transportabel und mobil ist – weltumspannend und damit dem Phänomen einer globalen Metropolenvernetzung entsprechend. Wenngleich Invader durchaus als street artist gelten könnte, besteht er doch darauf, ein Künstler tout court zu sein; einer, der sich aus Land Art und Situationismus inspiriert und nur a posteriori mit Sprayern und Taggern in Verbindung geriet. „Mein Leben ist eng mit Kunst verbunden, ich nehme es nur auf diese Art wahr, und das ist es, was mich zu den Space Invaders gebracht hat. Die Space Invaders ließen mich dann die Graffiti-Szene und –Kultur entdecken.“(2) Das Gebot zu bewahrender Anonymität freilich hat er mit letzterer gemeinsam, wenngleich er sich neben seinem unausgesetzten Monumentalprojekt der Space Invasion seit einer ersten Schau in der Pariser Galerie Magda Danysz 2003 auch zum Innenraumkünstler mausert, der allerdings sein primäres Wirkungsfeld unausgesetzt im kollektiv genutzten Außenraum sieht.(3) Indem er zusehends als Galeriekünstler auftritt, lässt sich aber wohl der Zeitpunkt absehen, an dem er seine Identität lüftet und das ihm schon seit Langem bereit gestellte konvertierbare symbolische Kapital wahrzunehmen beginnt. In Paris sind die Kunst und die Kunstfigur von Invader gern gesehen, ein Lieblingskind der hippen Kunst- und Stadtszene fast schon, und mit dem Aufheben des Anonymats hätte er keine repressiven Sanktionen zu befürchten.

Flanieren gegen die prozac city

Eine Stadtkunst wie die von Space Invader, welche auf langsam erwachende Neugierde setzt und sich nicht mit einem Mal zur Gänze erfassen lässt, sperrt sich gegen ein glossy Stadtkonzept der Postmoderne, welches auf die leicht verdauliche event city oder, in den Worten Giandomenico Amendolas, prozac city abzielt: „Die Stadt hat sich die Aufgabe aufgeladen, die Welt gemäß dem Kanon der zeitgenössischen medialen Kommunikation sichtbar zu machen; alles muss zugänglich, gleichzeitig, fesselnd sein. Die neue postmoderne Stadt bringt sich als Faktor und Spielwiese der Wiederverzauberung der postmodernen Gesellschaft ein.“(4) Dass allerdings hiermit die Gefahr eines drohenden Öffentlichkeitsverlustes einher geht, weil alles eben nur scheinbar zugänglich und kommunizierbar und publik ist, ist kein Geheimnis. Eine urbanistische und künstlerische Praxis wie die beschriebene veranlasst unweigerlich die Flanierenden, sich gegen das Unmittelbarkeitsprinzip aufzulehnen, die eigene Kuriosität wieder zu entdecken und ganz bewusst in jenen Raum hinaus zu treten, den sie mit den anderen teilen. Im Grunde ist es bloß eine Frage der Zeit, bis die/der mittelmäßig aufmerksame BewohnerIn einer „befallenen“ Stadt(5) auf die Idee gebracht wird, dass hier eine Einladung zu einem eigenwilligen Stadt-Parcours ausgesprochen wird. Es kann also losgezogen werden, mit Stadtplan und Stift in der Tasche womöglich, auf dass die ausfindig gemachten Koordinaten der Stadtinvasion als Anhaltspunkte eines flächendeckenden reality game minutiös verzeichnet werden mögen.

Invader selbst betont den kartografischen Impetus, der sich aus seiner Arbeit ergibt: Einerseits muss vor der Anbringung der einzelnen Mosaike die jeweilige Umgebung ausgekundschaftet und erfasst werden, andererseits hat er natürlich auch persönliches Interesse an der Dokumentation seines groß angelegten Projektes. „Die Karten erlauben mir, eine Verbindung zwischen dem unendlich Kleinen (das Pixel, der Space Invader) und dem unendlich Großen (die Stadt, der Planet) herzustellen. Sie repräsentieren auch die Idee des Umherirrens.“(6) Ganz dérive also. Auch für die BetrachterInnen seiner Kunst, die ähnlich SchatzsucherInnen den Stadtraum kreuz und quer abgrasen. Nicht nur das ästhetische Empfinden in der unmittelbaren Perzeption der Mosaike ist ausschlaggebend, sondern das Ausfindig-Machen und die Dekodierung im Umraum angesichts eines Balanceakts zwischen Sichtbarkeit und Unauffälligkeit.

Symbolische Besetzung von Räumen

Dass street art immer möglichen Eingriffen oder gar Zerstörungsversuchen ausgesetzt ist, weil sie als unrechtmäßiger Eingriff in das von öffentlicher Hand gestaltete Stadtbild wahrgenommen werden mag, liegt in der Natur der Sache. Das Risiko potenzieller Entfernung ist allerdings Teil des Spielgedankens, der in street art insgesamt ausgemacht werden kann und das ganze Unterfangen recht aufregend gestaltet. Die Herausforderung besteht darin – und das gilt für jede invasionsähnlich funktionierende Stadtkunst –, diesseits der Sichtbarkeitsgrenze zu bleiben, ohne sich dabei allzu sehr zu exponieren. Solche Projekte weisen darüber hinaus das Charakteristikum auf, nicht punktuell wirken zu wollen, sondern erst bei Betrachtung ihres vollen – eingangs kaum vermuteten – Ausmaßes die angestrebte Wirkung zu erlangen.

Die Bedeutung einer solchen Unternehmung – bei der künstlerischen Praxis von Invader parallel zu neu inaugurierten innerstädtischen Wahrnehmungs- und Bewegungsmustern – liegt jedenfalls darin, den StadtbewohnerInnen eine Option anzubieten, mit ihrem Umraum und allen Menschen, die ihn besiedeln, in eine neue, qualitativ hochwertige Beziehung zu treten. Schließlich geht es, wie Regina Bittner völlig richtig heraus streicht, um „neue Modi der Integration in die Stadt mittels der symbolischen Besetzung von Räumen, einer Besetzung, die angesichts der zunehmenden Enträumlichung sozialer Beziehungen nur umso dringender geboten ist.“(7) Den StadtbenutzerInnen den öffentlichen Raum zurück geben als etwas bewusst Erfahrbares, Bestaunbares, Gangbares; ihnen einen Ort der Manifestation und Interaktion zur Verfügung stellen und eine Plattform, die die Pluralität der Individuen erfahrbar macht.

Im Falle der space invasion könnte dies so funktionieren, dass die Menschen in Staunen vor dem einen oder anderen Invader-Mosaik aneinander geraten, sie auf ihre unvollständigen Kartenfragmente verweisen und darob in einen Diskurs geraten, der im öffentlichen Raum neue Öffentlichkeit schafft und verdeutlicht, dass auch die Straßen der eigenen Stadt nicht nur forsch und hektischen Schrittes abgelaufen werden müssen, sondern dass abseits der breit getretenen Spurrinnen noch ein paar denkbare Realisierungen von urbaner Zusammenkunft möglich sind. Oder, im Sinne politischer Theorien: Eine Gewährleistung, dass weiterhin gehandelt und gesprochen werde im öffentlichen Raum, der damit Austragungsort eines zwischenmenschlichen Beziehungsnetzes bleibt und seine Relevanz als Politikum nicht verliert.

Es darf nämlich ruhig ein bisschen spielerisch zugehen auf den Straßen der Städte, um die überindividualistische Gesellschaft auszutricksen. So bietet sich der öffentliche Raum als Alternative zur Isolation der/s Einzelnen an und stellt sich damit letztlich als wahrhaft zwischen-menschlich heraus.


1 Vor kurzem ist im Übrigen auch die österreichische Kapitale zu so illustren invasorischen Ehren gelangt, da Invader einen Monat lang Artist in Residence im Wiener Museumsquartier war. Wie der Künstler im E-Mail-Interview ankündigt, werde es sich wohl um eine groß angelegte Intervention handeln, da der für eine Invasion ordentlichen Ausmaßes üblicherweise notwendige Zeitraum von etwa 14 Tagen sogar überschritten werde. street art und city hopping kann Invader darüber hinaus ohnehin nicht mehr voneinander trennen: „Das Eine ohne das Andere ist für mich nicht mehr denkbar“
2 Interview von 2004 mit Pierre-Évariste Douaire auf www.paris-art.com/interv_detail-1876.html (Übersetzung durch den Autor)
3 2005 folgten Einzelausstellungen in der renommiert Pariser Galerie Patricia Dorfmann sowie in der Galerie Sixspace in Los Angeles. In diesem Rahmen entwickelte er einen eigenen –ismus, den so genannten Rubikcubism nämlich, für den er das Quadrat in die dritte Dimension bringt und auf Rubic's Magic Cubes zurückgreift, die er zu Skulpturen auf-, an- und ineinander montiert
4 Giandomenico Amendola, La Ciudad Postmoderna. Magia y miedo de la metrópolis contemporánea. Madrid, Celeste, 2000, S. 136 (Übersetzung durch den Autor)
5 Paris – als die Heimatstadt des Künstlers und seine dauernde Spielwiese – bringt es auf beachtliche 519 Invaders (Stand Dezember 2005). Andere Städte weisen naturgemäß eine geringere Dichte auf, da Invader dort nur als Kunst- und Spiel-Tourist tätig werden kann. Immerhin: Los Angeles 123 Invaders. New York 85 Invaders. Tokio 75 Invaders. Bei den elf für Berlin ausgewiesenen „Störenfrieden“ muss man wohl ein wenig Glück haben, um auf sie zu stoßen. Vgl. für diese Information die sehenswerte und auch amüsante – weil ihrerseits keineswegs unverspielte – Seite www.space-invaders.com
6 Space Invader im zitierten Interview
7 Regina Bittner, Die Stadt als Event, in: dies. [Hg.], Die Stadt als Event, Frankfurt am Main – New York, Campus Verlag, 2002, S. 23

dérive, Do., 2006.07.20



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