Übersicht

Texte

12. Oktober 2001Jörg Häntzschel
TagesAnzeiger

Hier vermischt sich alles Getrennte

Eiskalte Nüchternheit in der Glitzerwelt von Las Vegas: Der holländische Architekt Rem Koolhaas hat ein neues Guggenheim-Museum in die Wüste gebaut.

Eiskalte Nüchternheit in der Glitzerwelt von Las Vegas: Der holländische Architekt Rem Koolhaas hat ein neues Guggenheim-Museum in die Wüste gebaut.

Link zur Archiv Suche



verknüpfte Bauwerke
Hermitage Guggenheim Gallery Exhibition Hall at the Venetian Casino Resort

29. Juli 2000Jörg Häntzschel
Neue Zürcher Zeitung

Neuerfindung der amerikanischen Stadt

Vor vier Jahren überrundeten die Latinos die Schwarzen als grösste Minderheit der USA. In Los Angeles verwiesen sie sogar die Weissen auf Platz zwei. Mike...

Vor vier Jahren überrundeten die Latinos die Schwarzen als grösste Minderheit der USA. In Los Angeles verwiesen sie sogar die Weissen auf Platz zwei. Mike...

Vor vier Jahren überrundeten die Latinos die Schwarzen als grösste Minderheit der USA. In Los Angeles verwiesen sie sogar die Weissen auf Platz zwei. Mike Davis' suggestiv betiteltes neues Buch «Magical Urbanism» - nach dem Magischen Realismus der lateinamerikanischen Romanciers - stellt den Prozess und die Konsequenzen dieser demographischen Umwälzung für Kultur, Städte, Ökonomie und Politik der USA dar. Davis, der unorthodoxe linke Stadtforscher, der sich mit «City of Quartz» und «Ökologie der Angst» einen Namen als Provokateur und manischer Schwarzseher machte, schlägt hier einen etwas nüchterneren Ton an. Auch im neuen Buch weigert er sich, den grössten Boom der amerikanischen Geschichte und die niedrigsten Arbeitslosenquoten seit 30 Jahren anzuerkennen. Davon abgesehen liefert er aber eine Vielzahl brillanter Thesen zu dem noch immer nicht ausreichend wahrgenommenen Phänomen - und das, ohne in die Falle sentimentaler Latinophilie zu treten. Ebenso wichtig wie die unmittelbaren Konsequenzen der Einwanderung - die Revitalisierung verlassener Innenstädte durch die Latinos, die Jagd nach Illegalen im Landesinneren oder die Konflikte mit anderen Minderheiten - ist ihm der mediale und politische Umgang mit ihr: die Konstruktion einer «braunen Gefahr» etwa. In den Latinos sieht Davis einen völlig neuen Typus des Einwanderers: Selbstbewusster als seine Vorgänger, vernetzt und näher an der Heimat als Europäer und Asiaten, kann er auf Integration und kulturelle Selbstunterwerfung verzichten. Während die (US-)Amerikanisierung von Lateinamerika voranschreitet, kann Brooklyn für die Mexikaner nun als virtueller Suburb von Mexiko fungieren. Nach Davis stehen wir am Anfang eines «panamerikanischen 21. Jahrhunderts».

[ Mike Davis: Magical Urbanism. Latinos Reinvent the US City. Verso, London und New York 2000. 172 S., $ 19.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2000.07.29

29. Juni 2000Jörg Häntzschel
Neue Zürcher Zeitung

Die Rock'n'roll-Geisterbahn

Mit einem interaktiven Museum des Rock und Pop hat sich der Microsoft-Mitgründer und Jimi-Hendrix-Fan Paul Allen einen Traum erfüllt. Mit beispiellosem technischem Aufwand versucht das Museum, die Popmusik als Erlebnis eher denn als künstlerische Form erfahrbar zu machen. Frank Gehry hat diesem Konzept eine architektonische Form gegeben.

Mit einem interaktiven Museum des Rock und Pop hat sich der Microsoft-Mitgründer und Jimi-Hendrix-Fan Paul Allen einen Traum erfüllt. Mit beispiellosem technischem Aufwand versucht das Museum, die Popmusik als Erlebnis eher denn als künstlerische Form erfahrbar zu machen. Frank Gehry hat diesem Konzept eine architektonische Form gegeben.

Museumseröffnungen können belanglose Zeremonien sein. Doch die Eröffnung des «Experience Music Project» (EMP) am letzten Wochenende in Seattle kulminierte in einem Akt, der in einer Sekunde mehr verriet als alle Festreden. Paul Allen, der drittreichste Mann der Welt, schmiss vor versammelter Presse eine eigens zu diesem Zweck hergestellte gläserne Gitarre in Scherben. Die Eitelkeit, die Begeisterung des Fans und die Hoffnung, durch Imitation von Popstar-Gesten dem Popstar-Sein ein wenig näher zu kommen: Sie umrissen das Programm dieses einzigartigen Museums des Rock'n'roll. Teenager spielen Luftgitarre und singen in unsichtbare Mikros. Paul Allen spielt in der Amateurband «Grown Men». Teenager dekorieren ihre Zimmer mit Star-Postern. Allen liess Frank Gehry für seine Rock'n'roll-Schätze ein 240-Millionen-Dollar-Museum bauen.

Allen, 47, und Bill Gates, die 1975 Microsoft gründeten, waren Schulfreunde. Obwohl Allen wegen einer Krebserkrankung 1982 die Firma verliess, blieb er einer der Hauptaktionäre. Sein Gesamtvermögen - inklusive einer Football- und einer Baseballmannschaft und Beteiligungen an 125 anderen Unternehmen - wird auf 30 Milliarden Dollar geschätzt. Doch während andere Reiche ihr Geld an Wohlfahrtsverbände oder Museen verteilen, mischen sich bei Allens Projekten Philanthropie und Geschäftssinn, öffentliches Wohl und private Spinnerei. In Downtown Seattle liess er das Kino seiner Kindheit rekonstruieren. Ein Bürozentrum ist ebenso im Bau wie ein Kindertheater und ein neues Stadion für die Seattle Seahawks. Jeffrey Ochsner, Chef des Architektur-Instituts an der University of Washington, nannte ihn ein «modernes Äquivalent zu den Medici». Andere vergleichen ihn mit Baron Haussmann.

Die Welt anhand seiner 80 000 Objekte umfassenden Sammlung vom Genie des in Seattle aufgewachsenen Jimi Hendrix zu überzeugen, war Allens ursprüngliches Motiv. Doch Memorabilia allein können nicht singen. So entwickelte sich der Ehrgeiz, nicht nur eine illustrierte Geschichte des Rock und Pop zu schreiben, sondern aus den Exponaten jenen «Spirit» herauszukitzeln, der Pop ausmacht. Ein beispielloser technologischer Aufwand und Frank Gehrys Architektur halfen, den Traum zu verwirklichen. Das Innere des EMP ähnelt einem Netzwerk von Höhlen, dessen Zentrum die «Sky Church» ist. Allen hat eine Zeile, in der Hendrix von einem mythischen Rock-Himmel phantasiert, wörtlich genommen und ein Besucher-Terminal mit Panoramakino daraus gemacht. Im «Sound Lab» versuchen sich die Besucher in schalldichten Kammern an Instrumenten, oder sie treten vor einem simulierten Stadion-Publikum auf: Jeder ist ein Star. Der Schlüssel zu den Ausstellungen zu Hendrix und der Geschichte der Popmusik ist ein tragbarer Computer mit Touchscreen und Kopfhörer. Wer mehr wissen will zu dem Trümmer der in Monterey zerschlagenen Gitarre oder den Turnschuhen von Run DMC, lädt sich Fotos, Kommentare oder Songs per Infrarot-Link herunter. Aus der konventionellen Ausstellungsoberfläche wird so ein schier unendlicher Hypertext.

Frank Gehry, seit Bilbao selbst ein Popstar, hat mit dem spektakulären Gebäude versucht, Allens Rock'n'roll-Marotte in Architektur zu übersetzen. Wie Batzen von Knetmasse in den Händen von Kleinkindern falten und pressen sich sechs klobige Formen auf die unmöglichste Weise zu einem kruden und sehr lauten Gebäude. Silbern, violett, knallrot und Stratocaster-blau schillert ihre wie im Wind flatternde Stahl- und Aluminiumverkleidung in der Sonne. Dem Gebäude fehlt die Eleganz von Bilbao und die Leichtigkeit, mit der sein Guggenheim-Museum über dem New Yorker East River schweben soll. Doch das scheinbar Grobe und Unausgefeilte ist intendiert: «Es sollte nicht edel werden», meinte Gehry. Alles andere hätte in der Umgebung auch fremd gewirkt. Hier, im Seattle Center, etwas ausserhalb von Downtown, fand 1962 die Weltausstellung statt. Übrig geblieben sind Ausstellungshallen, ein abgetakelter Vergnügungspark und die Space- Needle, ein kurioses Denkmal der Raumfahrteuphorie.

Im Lichte seiner Nachbarn betrachtet, ist auch das EMP nichts anderes als ein theme parc für Babyboomers und ihre Kinder. Sex, Drugs und Rock'n'roll, die die Eltern noch in natura erlebten, kommen als pädagogische Kreativitätsbeschwörung, Entertainment und kryptoreligiöse Pop-Spiritualität im Jahr 2000 an. Am deutlichsten wird dies bei der «Artists Journey». Auf schwankenden Stühlen und von nicht halluzinogenen 3-D-Effekten überwältigt, begleiten wir zwei Youngsters bei ihrer Himmelfahrt «in den Funk». Statt des Dealers schickt sie hier ein braver Engel im weiss glitzernden Disco-Outfit auf die Reise.

Eine leise Wehmut lag über dem Eröffnungswochenende. Selbst das interaktivste Museum, selbst die aufwendigste «Experience» ersetzt nicht die eigene Erfahrung. Und auch das grösste Aufgebot von Superstars - Allen hatte Eurythmics, Beck, Alanis Morissette, Metallica, James Brown, Snoop Doggy Dog, Dr. Dre und etliche andere gebucht - garantiert kein Erlebnis, wenn die Konzerte durchgeplant sind wie ein Staatsbesuch in Nordkorea. Allen hatte davon geträumt, sein Schicksal, nur Milliardär, kein Rockstar geworden zu sein, mit Hilfe seines Projekts doch noch austricksen zu können. Aber als er am Morgen nach der Eröffnung aufwachte, war er - immer noch derselbe.

Neue Zürcher Zeitung, Do., 2000.06.29



verknüpfte Bauwerke
Experience Music Project

07. März 2000Jörg Häntzschel
Neue Zürcher Zeitung

Architektur ohne Theorie?

Frank O. Gehry gehört nicht zu den Theoretikern unter den Architekten. Dies betrifft auch sein eigenes Werk. «Das erscheint mir so offensichtlich, dass...

Frank O. Gehry gehört nicht zu den Theoretikern unter den Architekten. Dies betrifft auch sein eigenes Werk. «Das erscheint mir so offensichtlich, dass...

Frank O. Gehry gehört nicht zu den Theoretikern unter den Architekten. Dies betrifft auch sein eigenes Werk. «Das erscheint mir so offensichtlich, dass wir gar nicht darüber zu reden brauchen», gibt er zurück, als ihn der Schweizer Architekturhistoriker und Leiter des Canadian Center for Architecture in Montreal, Kurt W. Forster, nach der Verwandtschaft seiner Bauten mit Tanz und Theater fragt. Dennoch gewährt Forsters Gespräch mit Gehry zahlreiche Einblicke in Werkgeschichte und Einflusssphären des spätestens seit seinem Guggenheim-Museum in Bilbao zum Weltstar aufgestiegenen Kaliforniers. Während die Referenzpunkte Libeskinds oder Eisenmans in der zeitgenössischen Philosophie liegen, hat Gehry seine Vorbilder und Kollaborateure unter den Künstlern gefunden, namentlich Claes Oldenburg und Richard Serra. Doch auch seinen Auftraggebern spricht Gehry einen Teil der Urheberschaft zu. Das Gespräch beschränkt sich weitgehend auf diesen Bereich von Gehrys architektonischem Werdegang. Der Entwurfsprozess selbst und mit ihm Fragen wie jene nach dem Einsatz von Computern, ohne die das Museum von Bilbao gar nicht möglich gewesen wäre, kommen allenfalls am Rande zur Sprache. Die als Einwürfe unvermittelt in den Text montierten Statements befreundeter Künstler sollen als Versuch eines editorischen Dekonstruktivismus verstanden werden.

[ Christina Bechtler (Hrsg.): Frank O. Gehry/Kurt W. Forster. Reihe Kunst und Architektur im Gespräch. Cantz-Verlag, Ostfildern-Ruit 1999. 132 S., Fr. 28.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2000.03.07

27. September 1999Jörg Häntzschel
Neue Zürcher Zeitung

Die neuen Städte von Las Vegas

Las Vegas, eine verlorene Bahnstation in der Wüste, stieg binnen weniger Jahrzehnte zur Oase des Lasters für eine ganze Nation auf. Heute bemüht sich die am schnellsten wachsende Stadt der USA um ein neues Image. Glanz und Kultiviertheit Europas sind die neuen Ideale. Statt davon nur zu träumen, baut man es in Form riesenhafter Hotelpaläste in der Wüste nach.

Las Vegas, eine verlorene Bahnstation in der Wüste, stieg binnen weniger Jahrzehnte zur Oase des Lasters für eine ganze Nation auf. Heute bemüht sich die am schnellsten wachsende Stadt der USA um ein neues Image. Glanz und Kultiviertheit Europas sind die neuen Ideale. Statt davon nur zu träumen, baut man es in Form riesenhafter Hotelpaläste in der Wüste nach.

In ihrem 1972 erschienenen Buch «Learning from Las Vegas», der ersten Auseinandersetzung mit der Ästhetik des damaligen Ghettos der high roller und Abgestürzten, fordern die Architekten Robert Venturi, Denise Scott Brown und Steven Izenour eine Abkehr von der architektonischen Moderne mit ihren «heroischen» und expressiven Gebäuden. Las Vegas mit seinen simplen, aber suggestiv verzierten Bauten und seinen überdimensionierten Werbeschildern weise einer neuen demokratischen Architektur den Weg. «Los Angeles wird unser Rom sein und Las Vegas unser Florenz», riefen die Autoren enthusiastisch.

Inzwischen hat die Postmoderne das Prinzip des theming weltweit in jedes Dorf getragen. Und zwischen L. A. und Warschau gibt es kaum mehr eine Grossstadt ohne strip, jene von Tankstellen, Einkaufszentren, Motels und Fast-food-Restaurants gesäumte Ausfallstrasse. Der Strip in Las Vegas, an dem seit den dreissiger Jahren Hotel für Hotel aus dem Sand wächst, stellte die vorbildliche wie die pathologische Ausprägung dieses urbanistischen Modells gleichzeitig dar. Doch nachdem es Las Vegas jahrzehntelang in alle Welt exportiert hat, kauft die Stadt nun alles auf, was ihre alten Kunden zu bieten haben. Las Vegas ist heute Florenz oder Rom, nur in einem buchstäblicheren Sinne, als Venturi, Scott Brown und Izenour erwartet hatten. Jedenfalls ist es auf dem besten Wege, es zu werden.


Wüste, die die Welt bedeutet

Theming ist keine neue Erfindung. Seit dem «El Rancho Vegas» mit seinem Western-theme, dem ersten Hotel mit Casino am Strip und Modell für alle folgenden, nützte jeder neue Hotelier die Wüste als leere Bühne, auf der er seine Privatphantasie oder einen gerade gängigen kollektiven Traum inszenierte. 1966 genügten 25 Millionen Dollar, um «Rom» zu bauen. Statt flächendeckend zu historisieren, streute man im «Caesar's Palace» Allgemeinplätze: Das Werbeschild gab sich als antiker Tempel, vor das Portal stellte man einen pompösen Brunnen, an die Strasse Kopien antiker Statuen und römische Gipskrieger. Noch Ende der achtziger Jahre beliess man es bei Versatzstücken: Das «Mirage» (1989) ragt über einem Dschungel auf, der es von der Strasse trennt. Doch nichts an dem bronzefarben verspiegelten Hochhaus erinnert an das Südsee-theme. Das «Excalibur» (1990), ein Neuschwanstein mit sichtlich besonneneren Erbauern, ist als Ritterburg so überzeugend wie die Dekoration für einen Kinderfasching.

Doch dann kam der grösste Boom, den Las Vegas je erlebte. 1,2 Milliarden kostete das Venedig des im Mai eröffneten «Venetian». Hat man den Campanile passiert, per Fliessband die Rialto-Brücke über den Canal Grande überquert und die Lobby betreten, weiss man, warum. Was hier nicht golden ist, ist aus Marmor. Eine komplizierte Einlegearbeit entfaltet sich spiegelnd auf dem Fussboden, doch bevor wir das Muster verstanden haben, reissen die Tiepolo- und Veronese-Kopien in der gewaltigen Kuppel unsere Blicke nach oben. Statt in charmanter Plumpheit auf eine ferne Realität zu verweisen, gibt alles hier stolz vor, selbst das Echte zu sein.

Die Differenz möglichst restlos zum Verschwinden zu bringen, Repräsentation ganz abzuschaffen, das ist die Aufgabe der zwei Kunsthistoriker unter den 10 000 Angestellten. Und selbst den gemalten Marmor der Säulen: finden wir den nicht auch in Renaissance-Palästen? Ganz am Ende der Säulengalerie zur Linken blinken matt die fruit machines. Doch Streichquartette, die neue Muzak von Las Vegas, schlucken deren öde Tonfolgen, den rasselnden Münzhagel und die Schreie der Gewinner. Draussen ist die Luft 42 Grad heiss und feucht von den Beregnungsanlagen. Innen ist es kalt wie in der Kirche, und eisig umweht uns der schwere Geruch der zimmerhohen Orchideenarrangements.

Also auf die Knie fallen vor dem höfischen Prunk? Keineswegs. Hat man seine Agoraphobie bezwungen, den Saal durchschritten und seine Suite erhalten - eine von bald 6000; gewöhnliche Zimmer gibt es nicht -, dann platzt einem entweder das Ego oder man findet aus hysterischem Gelächter nicht mehr heraus.

Es geht quer durchs Casino, eine Rolltreppe hinauf, und wir stehen - tief im Inneren des Gebäudes - wieder im «Freien». Wolken schmücken den blassblauen Himmel, Gondoliere steuern Touristenpaare singend den Kanal hinab, und hinter den Bürgerhäusern geht die Elektrosonne auf - wie zu jeder Tageszeit. Schaudern, Erheiterung und Beklemmung flackern durchs überanstrengte Hirn, während man durch das hermetisch abgedichtete Treibhaus stolpert, in dem Venedig unter Idealbedingungen zu einer unheimlichen Reife herangezogen wird. Momentelang fügt man sich in die Rolle des Flaneurs. Dann gewinnt man doch Distanz und bekrittelt kleinste Patzer in der Illusion: Exit-Schilder, zu blaues Wasser oder Kolonnaden, die irgendwo aufhören. Man bewegt sich vorsichtig tastend, weil Dekor und Funktionales nicht zu unterscheiden sind. Nie ist man sicher, nicht durch Styropor zu brechen, wo man sich auf Strassenpflaster glaubte.

Obwohl die Überzeugungskraft der Kulissen Grenzen hat, kommt man nie ganz hinter die flirrende Fiktion. Als Greg, ein Wachmann in italienischer Polizeiuniform, nach einer Unterhaltung über die Kameras, die jeden hier verfolgen, über Waffen im Casino und die Trennung von seiner Frau, mitten auf dem Markusplatz ein Tänzchen mit dem Stelzenmann Pulcinella aufführt und entzückt ausruft: «Und dafür werde ich noch bezahlt! Can you believe it?», fragt man sich, ob die Angestellten ausser dem Sprachkurs auch einer Gehirnwäsche unterzogen wurden. Was geht hier eigentlich vor? Und wo, bitte, ist der Ausgang?

Das «Venetian» und die anderen neuen Megaresorts sprengen die Kategorien der Raumwahrnehmung und werfen uns die Trümmer vergoldet vor die Füsse. Die wechselnden Fassaden verraten nichts über die innere Gebäudestruktur. Hat man den riesigen Umweg zu den Aufzügen zurückgelegt, ist jede Orientierung verloren. Wegweiser empfehlen Irrwege. Der Kanal befindet sich - veralteten Vorstellungen von Statik und Erinnerungen an das echte Venedig Hohn sprechend - im zweiten Stock, obwohl er im Freien doch auf Strassenniveau verlief. Das «Venetian» ist ein Märchenschloss, ein Labyrinth, eine Burg wie aus Träumen, die man von aussen betritt, um dann vor denselben Fassaden zu stehen, durch die man eben hereinkam. Wie in Computerspielen wartet hinter jeder Ecke ein unvorhersehbares Environment. Identische Elemente wiederholen sich - oder ging man nur im Kreis? Da öffnet sich der Aufzug, und mit einem zuckrigen «Buon giooorno. Come stai?» quellen Bettina, Casanova und der Doge heraus. Sie kommen aus Italien, sind ausgebildete Sänger und lieben ihren Job: venezianische «Streetmosphere» erzeugen. Doch das heftige Geflirte von Bettina vereitelt die Fortsetzung des Interviews. «Wir bleiben immer in der Rolle», entschuldigt sie der Doge.


Renaissance der Familienwerte

Es ist Ende August, noch fünf Tage bis zur Eröffnung des «Paris Las Vegas», des dritten der neuen «europäischen» Hotels. Während Putzmänner noch an Louvre, Opéra Garnier, Arc de Triomphe und Eiffelturm (Massstab 1:2) arbeiten, sind die playdays in vollem Gange: Die Zimmermädchen spielen Gäste, die Kellner spielen französisch. «Wir sind alle citoyens de Paris.» «Bone joor», grüsst er den Weinhändler. «Come on tally view?» rufen die Rezeptionistinnen. «Das heisst: How are you?» «Es geht darum, das Erlebnis zu vertiefen», erklärt er. Mit 800 Millionen Dollar deutlich billiger als das «Venetian», zielt das «Paris» auf eine mittlere Klientel. «Wenn sie Gold im ‹Bellagio› oder im ‹Venetian› sehen, ist es wahrscheinlich echt, bei uns ist es faux.» Echt ist hingegen die «Le Nôtre»-Filiale, echt waren auch Charles Aznavour und Catherine Deneuve, die das Hotel eröffneten. Die Croissants werden täglich aus Paris eingeflogen.

Seit das Glücksspiel in immer mehr US-Bundesstaaten legalisiert wird, sieht sich Las Vegas nach neuen Standbeinen um. Die einstige Hochburg des Lasters versucht, sich in einer Nation, die besessen ist von Angst vor Moral- und Werteverlust, als Oase der Kultiviertheit und Dezenz zu positionieren, um neue Einkommensquellen zu öffnen und das Kapital der oberen Mittelschicht anzuzapfen. Es gelingt. Läden und Restaurants, die früher nur die Grundversorgung der Spieler sicherten, sorgen in den neuen Hotels oft schon für die Hälfte der Einnahmen. Statt der Prostituierten stehen Mexikaner am Strip und verteilen Kataloge mit ihren Telefonnummern.

Das familienfreundliche «Paris» steht für die eine Seite des neuen Konzepts. Das hemmungslos prunkvolle «Venetian» («neues Geld») und das edle, 1,7 Milliarden teure «Bellagio» («altes Geld»), das Kinder nur «toleriert», repräsentieren die andere. Beide blicken verächtlich herab auf das vulgäre alte Las Vegas der «Megabucks», Riesensteaks, All-you-can-eat-Buffets und des «Fun! Fun! Fun!». «Es stinkt», sagt Alan Ginsberg, dessen Firma am «Venetian» mitbaute, über das «New Frontier», das zwei Blocks weiter dem Abriss und Neubau entgegenmodert. Die begehrtesten unter den 30 Millionen Besuchern im Jahr haben die sexuellen und finanziellen Defizite nicht, die andere in Las Vegas auszugleichen hoffen. Sie kennen die Welt, und falsches Geglitzer durchschauen sie gleich. Sie kommen hierher, um ein paar Tage ohne die Kinder auszuspannen, luxuriöse Einkäufe zu tätigen und sich ganz allgemein glamourös zu fühlen. Steve Wynn würde sie gerne im «Bellagio» begrüssen.


Das Echte als Fetisch

Sein Hotel bildet das gleichnamige Städtchen am Comer See nach, doch das eigentliche theme ist schlicht Luxus. «Einen Ort von besonderer Eleganz, Qualität und Vornehmheit in einer zynischen Welt zu schaffen ist eine schwierige Aufgabe», so Wynn im «Bellagio-Journal». Doch es ist ihm fast gelungen. Statt Wahrzeichen zu komprimieren wie das «Paris», leistet sich Wynn den schamlosesten und zugleich diskretesten Ausdruck unbegrenzter Finanzkraft, den Las Vegas je gesehen hat: einen dreieinhalb Hektar grossen künstlichen See in der Wüste, eine Fata Morgana, die beim Näherkommen nicht verschwindet.

Auch Wynn gruppiert malerische Gebäude vor einem öden 40geschossigen Hochhaus. Doch das Altstadt-Chichi von «Paris» und «Venetian» ist ihm zu kindisch. Die Ladenstrasse, die sich hinter den ockerfarbenen Fassaden verbirgt, erinnert an die italienischen Passagen des 19. Jahrhunderts, ohne weitergehende Ansprüche auf Fiktionalität zu erheben. Echte Sonne scheint auch in den «Botanischen Garten». Wynn schwebte wohl eine Art Karlsbad in der Wüste vor. Statt den Gästen Italienisch beizubringen, schickt er sie lieber zu Prada, Gucci oder ins «Picasso's», das beste der 14 Restaurants. Auch ein Menu für 100 Dollar vertieft das Erlebnis, vor allem, wenn man neben einem Original des Meisters sitzt.

Der Werbespot des «Paris» zeigt Franzosen, die den Eiffelturm nach Las Vegas verschiffen. Doch Wynn ist der einzige, der hier wirklich Originale besitzt. Da hängen sie also, in der «Bellagio Gallery of Fine Arts»: Picassos «Porträt der Dora Maar» und 25 andere Werke von Cézanne, Degas, Miró, Renoir, van Gogh. Doch Echtes gibt es in Las Vegas nur als Fetisch, auf schwarzem Samt bis an die Decke und umtanzt von strengen Männern in dunklen Anzügen. «Enjoy!» raunt der Kartenabreisser. «Did you enjoy it?» fragt ein anderer beim Herausgehen. Der Eintritt für sein 2-Zimmer-Museum ist mit zwölf Dollar so hoch wie der für das Metropolitan Museum in New York. Doch in der Parallelökonomie von Las Vegas, in der letztlich jeder Preis symbolisch ist, weil das richtige Geld im Casino verdient wird, in der die Spieler mit Plasticeimern voll Cash die Strasse überqueren, in der täglich Milliarden ohne Gegenleistung maschinell eingezogen und Millionen achtlos verteilt werden, in der jedem offensteht, was sonst nur Scheichs von innen sehen, fühlt man durchaus festen ökonomischen Boden unter den Füssen, wenn man diesen Phantasiepreis für «preislose» Kunst zahlen darf.


Der Strip wird eine Stadt

Früher fuhr man die Reihe der Hotels am Strip entlang, bis eines der turmhohen Schilder einem Lust auf mehr machte. Man parkte sein Auto und fand erneut lineare Strukturen vor: die nebeneinanderliegenden Motelzimmer, die langen Reihen der Spielautomaten. Heute organisiert sich der Strip in konzentrischen Gürteln. Deren Mittelpunkte stellen die Altstadtwelten wie im «Venetian» dar. Umschlossen sind sie vom Rest des Hotels. Doch auch dieser entspricht - metaphorisch verstanden - einer Stadt. Alle ihre Elemente sind in den immer gigantischeren Komplexen - 18 der 20 grössten amerikanischen Hotels stehen hier - vorhanden: Wohnviertel, Plätze, Einkaufsstrassen, Sportanlagen, öffentliche Verkehrsmittel, Büros, Museen, Theater und identitätsstiftende Wahrzeichen wie die Achterbahn vor dem «New York, New York». Angelegt sind sie nach vage mittelalterlichem Vorbild: Nichts eignete sich besser, die Gebäudegrenzen zu vertuschen, die Wege nach draussen zu erschweren und Monotonie zu vermeiden. Kein Zufall also, dass die Stadt- themes so überzeugend wirken. Sie stellen nur eine konkrete Variante dessen dar, was wir als verwirrende Hotelrealität bereits erfahren haben. Beide Bereiche überlappen und vermischen sich mit wechselnder Intensität des theming.

Statt im Auto walzen heute Zehntausende Touristen Tag und Nacht zu Fuss den Las Vegas Boulevard entlang und rechtfertigen so erstmals seinen Namen. Die Leuchtreklamen sind geschmackvollen Standarten mit Video Screens gewichen. Ihre Funktion haben die Spektakel übernommen, die die Hotels für die Fussgänger veranstalten. Auf der Südseeinsel vor dem «Mirage» bricht dauernd der Vulkan aus. Das «Bellagio» schiesst zu donnernden Opernhits immer wieder sein «Wasserballett» in den Himmel. Und vor dem «Treasure Island» versenken Piraten stündlich einen britischen Dreimaster. Ständig wird der «Multimedia Side-walk» weiter ausgebaut: Mit Open-air-Bühnen oder der grotesken «Siegfried und Roy Plaza».

Überall in den USA verdichten sich die strips zu quasi-urbanen Strukturen. Doch was in Las Vegas geschieht, ist ein Sprung in eine teils metaphorische, teils buchstäbliche Version der europäischen Stadt, die - als sei sie vom Inneren der Hotels angesteckt - deren Entwicklungen nachvollzieht. Die neuen Gebäude rücken an den Gehweg vor, Parkplätze verschwinden, «people mover», Brücken und eine Strassenbahn vernetzen die immer enger stehenden Hotels und kompensieren den historischen Autozuschnitt. 1996 wurden am Strip 76 000 Palmen und Büsche gepflanzt. Am verblüffendsten ist die Transformation des Autoparadieses in eine dichte Stadtlandschaft dort, wo sich «Paris» und «Bellagio» gegenüberstehen. Auch diese dritte der in einer mehrfachen mise en abîme ineinandergeschachtelten Städte ist eine Enklave. Sie ist umgeben von der am schnellsten wachsenden Stadt der USA. So rasant, wie sich hier die Hotelzimmer vervielfachen - zur Zeit sind es 120 000 - werden in Las Vegas und Umgebung Häuser gebaut. 2000 neue Zuwanderer lassen sich hier jede Woche nieder.

Doch was ist aus der Fremont Street in downtown Las Vegas geworden, die den Ruf der Stadt begründete und dann gegen den Strip verlor? 1995 legte man sie als Fussgängerzone still, stellte Bänke auf und überspannte alles mit einem Videodach, über das ein fader Clip zuckt, mit Palmen, Schiffen, fremden Ländern, kurz allem, was es am Strip in natura gibt. Darunter blinken rührend historische Neonschriften. Dem Cowboy «Vegas Vic», dem alten Wahrzeichen von Las Vegas, durchtrennt das Dach die Hüfte. Aus der Fremont Street ist die «Fremont Street Experience» geworden. Das theme ist Las Vegas selbst. Radikaler hätte sich die Stadt ihrer Vergangenheit nicht entledigen können.

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 1999.09.27

Presseschau 12

12. Oktober 2001Jörg Häntzschel
TagesAnzeiger

Hier vermischt sich alles Getrennte

Eiskalte Nüchternheit in der Glitzerwelt von Las Vegas: Der holländische Architekt Rem Koolhaas hat ein neues Guggenheim-Museum in die Wüste gebaut.

Eiskalte Nüchternheit in der Glitzerwelt von Las Vegas: Der holländische Architekt Rem Koolhaas hat ein neues Guggenheim-Museum in die Wüste gebaut.

Link zur Archiv Suche



verknüpfte Bauwerke
Hermitage Guggenheim Gallery Exhibition Hall at the Venetian Casino Resort

29. Juli 2000Jörg Häntzschel
Neue Zürcher Zeitung

Neuerfindung der amerikanischen Stadt

Vor vier Jahren überrundeten die Latinos die Schwarzen als grösste Minderheit der USA. In Los Angeles verwiesen sie sogar die Weissen auf Platz zwei. Mike...

Vor vier Jahren überrundeten die Latinos die Schwarzen als grösste Minderheit der USA. In Los Angeles verwiesen sie sogar die Weissen auf Platz zwei. Mike...

Vor vier Jahren überrundeten die Latinos die Schwarzen als grösste Minderheit der USA. In Los Angeles verwiesen sie sogar die Weissen auf Platz zwei. Mike Davis' suggestiv betiteltes neues Buch «Magical Urbanism» - nach dem Magischen Realismus der lateinamerikanischen Romanciers - stellt den Prozess und die Konsequenzen dieser demographischen Umwälzung für Kultur, Städte, Ökonomie und Politik der USA dar. Davis, der unorthodoxe linke Stadtforscher, der sich mit «City of Quartz» und «Ökologie der Angst» einen Namen als Provokateur und manischer Schwarzseher machte, schlägt hier einen etwas nüchterneren Ton an. Auch im neuen Buch weigert er sich, den grössten Boom der amerikanischen Geschichte und die niedrigsten Arbeitslosenquoten seit 30 Jahren anzuerkennen. Davon abgesehen liefert er aber eine Vielzahl brillanter Thesen zu dem noch immer nicht ausreichend wahrgenommenen Phänomen - und das, ohne in die Falle sentimentaler Latinophilie zu treten. Ebenso wichtig wie die unmittelbaren Konsequenzen der Einwanderung - die Revitalisierung verlassener Innenstädte durch die Latinos, die Jagd nach Illegalen im Landesinneren oder die Konflikte mit anderen Minderheiten - ist ihm der mediale und politische Umgang mit ihr: die Konstruktion einer «braunen Gefahr» etwa. In den Latinos sieht Davis einen völlig neuen Typus des Einwanderers: Selbstbewusster als seine Vorgänger, vernetzt und näher an der Heimat als Europäer und Asiaten, kann er auf Integration und kulturelle Selbstunterwerfung verzichten. Während die (US-)Amerikanisierung von Lateinamerika voranschreitet, kann Brooklyn für die Mexikaner nun als virtueller Suburb von Mexiko fungieren. Nach Davis stehen wir am Anfang eines «panamerikanischen 21. Jahrhunderts».

[ Mike Davis: Magical Urbanism. Latinos Reinvent the US City. Verso, London und New York 2000. 172 S., $ 19.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2000.07.29

29. Juni 2000Jörg Häntzschel
Neue Zürcher Zeitung

Die Rock'n'roll-Geisterbahn

Mit einem interaktiven Museum des Rock und Pop hat sich der Microsoft-Mitgründer und Jimi-Hendrix-Fan Paul Allen einen Traum erfüllt. Mit beispiellosem technischem Aufwand versucht das Museum, die Popmusik als Erlebnis eher denn als künstlerische Form erfahrbar zu machen. Frank Gehry hat diesem Konzept eine architektonische Form gegeben.

Mit einem interaktiven Museum des Rock und Pop hat sich der Microsoft-Mitgründer und Jimi-Hendrix-Fan Paul Allen einen Traum erfüllt. Mit beispiellosem technischem Aufwand versucht das Museum, die Popmusik als Erlebnis eher denn als künstlerische Form erfahrbar zu machen. Frank Gehry hat diesem Konzept eine architektonische Form gegeben.

Museumseröffnungen können belanglose Zeremonien sein. Doch die Eröffnung des «Experience Music Project» (EMP) am letzten Wochenende in Seattle kulminierte in einem Akt, der in einer Sekunde mehr verriet als alle Festreden. Paul Allen, der drittreichste Mann der Welt, schmiss vor versammelter Presse eine eigens zu diesem Zweck hergestellte gläserne Gitarre in Scherben. Die Eitelkeit, die Begeisterung des Fans und die Hoffnung, durch Imitation von Popstar-Gesten dem Popstar-Sein ein wenig näher zu kommen: Sie umrissen das Programm dieses einzigartigen Museums des Rock'n'roll. Teenager spielen Luftgitarre und singen in unsichtbare Mikros. Paul Allen spielt in der Amateurband «Grown Men». Teenager dekorieren ihre Zimmer mit Star-Postern. Allen liess Frank Gehry für seine Rock'n'roll-Schätze ein 240-Millionen-Dollar-Museum bauen.

Allen, 47, und Bill Gates, die 1975 Microsoft gründeten, waren Schulfreunde. Obwohl Allen wegen einer Krebserkrankung 1982 die Firma verliess, blieb er einer der Hauptaktionäre. Sein Gesamtvermögen - inklusive einer Football- und einer Baseballmannschaft und Beteiligungen an 125 anderen Unternehmen - wird auf 30 Milliarden Dollar geschätzt. Doch während andere Reiche ihr Geld an Wohlfahrtsverbände oder Museen verteilen, mischen sich bei Allens Projekten Philanthropie und Geschäftssinn, öffentliches Wohl und private Spinnerei. In Downtown Seattle liess er das Kino seiner Kindheit rekonstruieren. Ein Bürozentrum ist ebenso im Bau wie ein Kindertheater und ein neues Stadion für die Seattle Seahawks. Jeffrey Ochsner, Chef des Architektur-Instituts an der University of Washington, nannte ihn ein «modernes Äquivalent zu den Medici». Andere vergleichen ihn mit Baron Haussmann.

Die Welt anhand seiner 80 000 Objekte umfassenden Sammlung vom Genie des in Seattle aufgewachsenen Jimi Hendrix zu überzeugen, war Allens ursprüngliches Motiv. Doch Memorabilia allein können nicht singen. So entwickelte sich der Ehrgeiz, nicht nur eine illustrierte Geschichte des Rock und Pop zu schreiben, sondern aus den Exponaten jenen «Spirit» herauszukitzeln, der Pop ausmacht. Ein beispielloser technologischer Aufwand und Frank Gehrys Architektur halfen, den Traum zu verwirklichen. Das Innere des EMP ähnelt einem Netzwerk von Höhlen, dessen Zentrum die «Sky Church» ist. Allen hat eine Zeile, in der Hendrix von einem mythischen Rock-Himmel phantasiert, wörtlich genommen und ein Besucher-Terminal mit Panoramakino daraus gemacht. Im «Sound Lab» versuchen sich die Besucher in schalldichten Kammern an Instrumenten, oder sie treten vor einem simulierten Stadion-Publikum auf: Jeder ist ein Star. Der Schlüssel zu den Ausstellungen zu Hendrix und der Geschichte der Popmusik ist ein tragbarer Computer mit Touchscreen und Kopfhörer. Wer mehr wissen will zu dem Trümmer der in Monterey zerschlagenen Gitarre oder den Turnschuhen von Run DMC, lädt sich Fotos, Kommentare oder Songs per Infrarot-Link herunter. Aus der konventionellen Ausstellungsoberfläche wird so ein schier unendlicher Hypertext.

Frank Gehry, seit Bilbao selbst ein Popstar, hat mit dem spektakulären Gebäude versucht, Allens Rock'n'roll-Marotte in Architektur zu übersetzen. Wie Batzen von Knetmasse in den Händen von Kleinkindern falten und pressen sich sechs klobige Formen auf die unmöglichste Weise zu einem kruden und sehr lauten Gebäude. Silbern, violett, knallrot und Stratocaster-blau schillert ihre wie im Wind flatternde Stahl- und Aluminiumverkleidung in der Sonne. Dem Gebäude fehlt die Eleganz von Bilbao und die Leichtigkeit, mit der sein Guggenheim-Museum über dem New Yorker East River schweben soll. Doch das scheinbar Grobe und Unausgefeilte ist intendiert: «Es sollte nicht edel werden», meinte Gehry. Alles andere hätte in der Umgebung auch fremd gewirkt. Hier, im Seattle Center, etwas ausserhalb von Downtown, fand 1962 die Weltausstellung statt. Übrig geblieben sind Ausstellungshallen, ein abgetakelter Vergnügungspark und die Space- Needle, ein kurioses Denkmal der Raumfahrteuphorie.

Im Lichte seiner Nachbarn betrachtet, ist auch das EMP nichts anderes als ein theme parc für Babyboomers und ihre Kinder. Sex, Drugs und Rock'n'roll, die die Eltern noch in natura erlebten, kommen als pädagogische Kreativitätsbeschwörung, Entertainment und kryptoreligiöse Pop-Spiritualität im Jahr 2000 an. Am deutlichsten wird dies bei der «Artists Journey». Auf schwankenden Stühlen und von nicht halluzinogenen 3-D-Effekten überwältigt, begleiten wir zwei Youngsters bei ihrer Himmelfahrt «in den Funk». Statt des Dealers schickt sie hier ein braver Engel im weiss glitzernden Disco-Outfit auf die Reise.

Eine leise Wehmut lag über dem Eröffnungswochenende. Selbst das interaktivste Museum, selbst die aufwendigste «Experience» ersetzt nicht die eigene Erfahrung. Und auch das grösste Aufgebot von Superstars - Allen hatte Eurythmics, Beck, Alanis Morissette, Metallica, James Brown, Snoop Doggy Dog, Dr. Dre und etliche andere gebucht - garantiert kein Erlebnis, wenn die Konzerte durchgeplant sind wie ein Staatsbesuch in Nordkorea. Allen hatte davon geträumt, sein Schicksal, nur Milliardär, kein Rockstar geworden zu sein, mit Hilfe seines Projekts doch noch austricksen zu können. Aber als er am Morgen nach der Eröffnung aufwachte, war er - immer noch derselbe.

Neue Zürcher Zeitung, Do., 2000.06.29



verknüpfte Bauwerke
Experience Music Project

07. März 2000Jörg Häntzschel
Neue Zürcher Zeitung

Architektur ohne Theorie?

Frank O. Gehry gehört nicht zu den Theoretikern unter den Architekten. Dies betrifft auch sein eigenes Werk. «Das erscheint mir so offensichtlich, dass...

Frank O. Gehry gehört nicht zu den Theoretikern unter den Architekten. Dies betrifft auch sein eigenes Werk. «Das erscheint mir so offensichtlich, dass...

Frank O. Gehry gehört nicht zu den Theoretikern unter den Architekten. Dies betrifft auch sein eigenes Werk. «Das erscheint mir so offensichtlich, dass wir gar nicht darüber zu reden brauchen», gibt er zurück, als ihn der Schweizer Architekturhistoriker und Leiter des Canadian Center for Architecture in Montreal, Kurt W. Forster, nach der Verwandtschaft seiner Bauten mit Tanz und Theater fragt. Dennoch gewährt Forsters Gespräch mit Gehry zahlreiche Einblicke in Werkgeschichte und Einflusssphären des spätestens seit seinem Guggenheim-Museum in Bilbao zum Weltstar aufgestiegenen Kaliforniers. Während die Referenzpunkte Libeskinds oder Eisenmans in der zeitgenössischen Philosophie liegen, hat Gehry seine Vorbilder und Kollaborateure unter den Künstlern gefunden, namentlich Claes Oldenburg und Richard Serra. Doch auch seinen Auftraggebern spricht Gehry einen Teil der Urheberschaft zu. Das Gespräch beschränkt sich weitgehend auf diesen Bereich von Gehrys architektonischem Werdegang. Der Entwurfsprozess selbst und mit ihm Fragen wie jene nach dem Einsatz von Computern, ohne die das Museum von Bilbao gar nicht möglich gewesen wäre, kommen allenfalls am Rande zur Sprache. Die als Einwürfe unvermittelt in den Text montierten Statements befreundeter Künstler sollen als Versuch eines editorischen Dekonstruktivismus verstanden werden.

[ Christina Bechtler (Hrsg.): Frank O. Gehry/Kurt W. Forster. Reihe Kunst und Architektur im Gespräch. Cantz-Verlag, Ostfildern-Ruit 1999. 132 S., Fr. 28.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2000.03.07

27. September 1999Jörg Häntzschel
Neue Zürcher Zeitung

Die neuen Städte von Las Vegas

Las Vegas, eine verlorene Bahnstation in der Wüste, stieg binnen weniger Jahrzehnte zur Oase des Lasters für eine ganze Nation auf. Heute bemüht sich die am schnellsten wachsende Stadt der USA um ein neues Image. Glanz und Kultiviertheit Europas sind die neuen Ideale. Statt davon nur zu träumen, baut man es in Form riesenhafter Hotelpaläste in der Wüste nach.

Las Vegas, eine verlorene Bahnstation in der Wüste, stieg binnen weniger Jahrzehnte zur Oase des Lasters für eine ganze Nation auf. Heute bemüht sich die am schnellsten wachsende Stadt der USA um ein neues Image. Glanz und Kultiviertheit Europas sind die neuen Ideale. Statt davon nur zu träumen, baut man es in Form riesenhafter Hotelpaläste in der Wüste nach.

In ihrem 1972 erschienenen Buch «Learning from Las Vegas», der ersten Auseinandersetzung mit der Ästhetik des damaligen Ghettos der high roller und Abgestürzten, fordern die Architekten Robert Venturi, Denise Scott Brown und Steven Izenour eine Abkehr von der architektonischen Moderne mit ihren «heroischen» und expressiven Gebäuden. Las Vegas mit seinen simplen, aber suggestiv verzierten Bauten und seinen überdimensionierten Werbeschildern weise einer neuen demokratischen Architektur den Weg. «Los Angeles wird unser Rom sein und Las Vegas unser Florenz», riefen die Autoren enthusiastisch.

Inzwischen hat die Postmoderne das Prinzip des theming weltweit in jedes Dorf getragen. Und zwischen L. A. und Warschau gibt es kaum mehr eine Grossstadt ohne strip, jene von Tankstellen, Einkaufszentren, Motels und Fast-food-Restaurants gesäumte Ausfallstrasse. Der Strip in Las Vegas, an dem seit den dreissiger Jahren Hotel für Hotel aus dem Sand wächst, stellte die vorbildliche wie die pathologische Ausprägung dieses urbanistischen Modells gleichzeitig dar. Doch nachdem es Las Vegas jahrzehntelang in alle Welt exportiert hat, kauft die Stadt nun alles auf, was ihre alten Kunden zu bieten haben. Las Vegas ist heute Florenz oder Rom, nur in einem buchstäblicheren Sinne, als Venturi, Scott Brown und Izenour erwartet hatten. Jedenfalls ist es auf dem besten Wege, es zu werden.


Wüste, die die Welt bedeutet

Theming ist keine neue Erfindung. Seit dem «El Rancho Vegas» mit seinem Western-theme, dem ersten Hotel mit Casino am Strip und Modell für alle folgenden, nützte jeder neue Hotelier die Wüste als leere Bühne, auf der er seine Privatphantasie oder einen gerade gängigen kollektiven Traum inszenierte. 1966 genügten 25 Millionen Dollar, um «Rom» zu bauen. Statt flächendeckend zu historisieren, streute man im «Caesar's Palace» Allgemeinplätze: Das Werbeschild gab sich als antiker Tempel, vor das Portal stellte man einen pompösen Brunnen, an die Strasse Kopien antiker Statuen und römische Gipskrieger. Noch Ende der achtziger Jahre beliess man es bei Versatzstücken: Das «Mirage» (1989) ragt über einem Dschungel auf, der es von der Strasse trennt. Doch nichts an dem bronzefarben verspiegelten Hochhaus erinnert an das Südsee-theme. Das «Excalibur» (1990), ein Neuschwanstein mit sichtlich besonneneren Erbauern, ist als Ritterburg so überzeugend wie die Dekoration für einen Kinderfasching.

Doch dann kam der grösste Boom, den Las Vegas je erlebte. 1,2 Milliarden kostete das Venedig des im Mai eröffneten «Venetian». Hat man den Campanile passiert, per Fliessband die Rialto-Brücke über den Canal Grande überquert und die Lobby betreten, weiss man, warum. Was hier nicht golden ist, ist aus Marmor. Eine komplizierte Einlegearbeit entfaltet sich spiegelnd auf dem Fussboden, doch bevor wir das Muster verstanden haben, reissen die Tiepolo- und Veronese-Kopien in der gewaltigen Kuppel unsere Blicke nach oben. Statt in charmanter Plumpheit auf eine ferne Realität zu verweisen, gibt alles hier stolz vor, selbst das Echte zu sein.

Die Differenz möglichst restlos zum Verschwinden zu bringen, Repräsentation ganz abzuschaffen, das ist die Aufgabe der zwei Kunsthistoriker unter den 10 000 Angestellten. Und selbst den gemalten Marmor der Säulen: finden wir den nicht auch in Renaissance-Palästen? Ganz am Ende der Säulengalerie zur Linken blinken matt die fruit machines. Doch Streichquartette, die neue Muzak von Las Vegas, schlucken deren öde Tonfolgen, den rasselnden Münzhagel und die Schreie der Gewinner. Draussen ist die Luft 42 Grad heiss und feucht von den Beregnungsanlagen. Innen ist es kalt wie in der Kirche, und eisig umweht uns der schwere Geruch der zimmerhohen Orchideenarrangements.

Also auf die Knie fallen vor dem höfischen Prunk? Keineswegs. Hat man seine Agoraphobie bezwungen, den Saal durchschritten und seine Suite erhalten - eine von bald 6000; gewöhnliche Zimmer gibt es nicht -, dann platzt einem entweder das Ego oder man findet aus hysterischem Gelächter nicht mehr heraus.

Es geht quer durchs Casino, eine Rolltreppe hinauf, und wir stehen - tief im Inneren des Gebäudes - wieder im «Freien». Wolken schmücken den blassblauen Himmel, Gondoliere steuern Touristenpaare singend den Kanal hinab, und hinter den Bürgerhäusern geht die Elektrosonne auf - wie zu jeder Tageszeit. Schaudern, Erheiterung und Beklemmung flackern durchs überanstrengte Hirn, während man durch das hermetisch abgedichtete Treibhaus stolpert, in dem Venedig unter Idealbedingungen zu einer unheimlichen Reife herangezogen wird. Momentelang fügt man sich in die Rolle des Flaneurs. Dann gewinnt man doch Distanz und bekrittelt kleinste Patzer in der Illusion: Exit-Schilder, zu blaues Wasser oder Kolonnaden, die irgendwo aufhören. Man bewegt sich vorsichtig tastend, weil Dekor und Funktionales nicht zu unterscheiden sind. Nie ist man sicher, nicht durch Styropor zu brechen, wo man sich auf Strassenpflaster glaubte.

Obwohl die Überzeugungskraft der Kulissen Grenzen hat, kommt man nie ganz hinter die flirrende Fiktion. Als Greg, ein Wachmann in italienischer Polizeiuniform, nach einer Unterhaltung über die Kameras, die jeden hier verfolgen, über Waffen im Casino und die Trennung von seiner Frau, mitten auf dem Markusplatz ein Tänzchen mit dem Stelzenmann Pulcinella aufführt und entzückt ausruft: «Und dafür werde ich noch bezahlt! Can you believe it?», fragt man sich, ob die Angestellten ausser dem Sprachkurs auch einer Gehirnwäsche unterzogen wurden. Was geht hier eigentlich vor? Und wo, bitte, ist der Ausgang?

Das «Venetian» und die anderen neuen Megaresorts sprengen die Kategorien der Raumwahrnehmung und werfen uns die Trümmer vergoldet vor die Füsse. Die wechselnden Fassaden verraten nichts über die innere Gebäudestruktur. Hat man den riesigen Umweg zu den Aufzügen zurückgelegt, ist jede Orientierung verloren. Wegweiser empfehlen Irrwege. Der Kanal befindet sich - veralteten Vorstellungen von Statik und Erinnerungen an das echte Venedig Hohn sprechend - im zweiten Stock, obwohl er im Freien doch auf Strassenniveau verlief. Das «Venetian» ist ein Märchenschloss, ein Labyrinth, eine Burg wie aus Träumen, die man von aussen betritt, um dann vor denselben Fassaden zu stehen, durch die man eben hereinkam. Wie in Computerspielen wartet hinter jeder Ecke ein unvorhersehbares Environment. Identische Elemente wiederholen sich - oder ging man nur im Kreis? Da öffnet sich der Aufzug, und mit einem zuckrigen «Buon giooorno. Come stai?» quellen Bettina, Casanova und der Doge heraus. Sie kommen aus Italien, sind ausgebildete Sänger und lieben ihren Job: venezianische «Streetmosphere» erzeugen. Doch das heftige Geflirte von Bettina vereitelt die Fortsetzung des Interviews. «Wir bleiben immer in der Rolle», entschuldigt sie der Doge.


Renaissance der Familienwerte

Es ist Ende August, noch fünf Tage bis zur Eröffnung des «Paris Las Vegas», des dritten der neuen «europäischen» Hotels. Während Putzmänner noch an Louvre, Opéra Garnier, Arc de Triomphe und Eiffelturm (Massstab 1:2) arbeiten, sind die playdays in vollem Gange: Die Zimmermädchen spielen Gäste, die Kellner spielen französisch. «Wir sind alle citoyens de Paris.» «Bone joor», grüsst er den Weinhändler. «Come on tally view?» rufen die Rezeptionistinnen. «Das heisst: How are you?» «Es geht darum, das Erlebnis zu vertiefen», erklärt er. Mit 800 Millionen Dollar deutlich billiger als das «Venetian», zielt das «Paris» auf eine mittlere Klientel. «Wenn sie Gold im ‹Bellagio› oder im ‹Venetian› sehen, ist es wahrscheinlich echt, bei uns ist es faux.» Echt ist hingegen die «Le Nôtre»-Filiale, echt waren auch Charles Aznavour und Catherine Deneuve, die das Hotel eröffneten. Die Croissants werden täglich aus Paris eingeflogen.

Seit das Glücksspiel in immer mehr US-Bundesstaaten legalisiert wird, sieht sich Las Vegas nach neuen Standbeinen um. Die einstige Hochburg des Lasters versucht, sich in einer Nation, die besessen ist von Angst vor Moral- und Werteverlust, als Oase der Kultiviertheit und Dezenz zu positionieren, um neue Einkommensquellen zu öffnen und das Kapital der oberen Mittelschicht anzuzapfen. Es gelingt. Läden und Restaurants, die früher nur die Grundversorgung der Spieler sicherten, sorgen in den neuen Hotels oft schon für die Hälfte der Einnahmen. Statt der Prostituierten stehen Mexikaner am Strip und verteilen Kataloge mit ihren Telefonnummern.

Das familienfreundliche «Paris» steht für die eine Seite des neuen Konzepts. Das hemmungslos prunkvolle «Venetian» («neues Geld») und das edle, 1,7 Milliarden teure «Bellagio» («altes Geld»), das Kinder nur «toleriert», repräsentieren die andere. Beide blicken verächtlich herab auf das vulgäre alte Las Vegas der «Megabucks», Riesensteaks, All-you-can-eat-Buffets und des «Fun! Fun! Fun!». «Es stinkt», sagt Alan Ginsberg, dessen Firma am «Venetian» mitbaute, über das «New Frontier», das zwei Blocks weiter dem Abriss und Neubau entgegenmodert. Die begehrtesten unter den 30 Millionen Besuchern im Jahr haben die sexuellen und finanziellen Defizite nicht, die andere in Las Vegas auszugleichen hoffen. Sie kennen die Welt, und falsches Geglitzer durchschauen sie gleich. Sie kommen hierher, um ein paar Tage ohne die Kinder auszuspannen, luxuriöse Einkäufe zu tätigen und sich ganz allgemein glamourös zu fühlen. Steve Wynn würde sie gerne im «Bellagio» begrüssen.


Das Echte als Fetisch

Sein Hotel bildet das gleichnamige Städtchen am Comer See nach, doch das eigentliche theme ist schlicht Luxus. «Einen Ort von besonderer Eleganz, Qualität und Vornehmheit in einer zynischen Welt zu schaffen ist eine schwierige Aufgabe», so Wynn im «Bellagio-Journal». Doch es ist ihm fast gelungen. Statt Wahrzeichen zu komprimieren wie das «Paris», leistet sich Wynn den schamlosesten und zugleich diskretesten Ausdruck unbegrenzter Finanzkraft, den Las Vegas je gesehen hat: einen dreieinhalb Hektar grossen künstlichen See in der Wüste, eine Fata Morgana, die beim Näherkommen nicht verschwindet.

Auch Wynn gruppiert malerische Gebäude vor einem öden 40geschossigen Hochhaus. Doch das Altstadt-Chichi von «Paris» und «Venetian» ist ihm zu kindisch. Die Ladenstrasse, die sich hinter den ockerfarbenen Fassaden verbirgt, erinnert an die italienischen Passagen des 19. Jahrhunderts, ohne weitergehende Ansprüche auf Fiktionalität zu erheben. Echte Sonne scheint auch in den «Botanischen Garten». Wynn schwebte wohl eine Art Karlsbad in der Wüste vor. Statt den Gästen Italienisch beizubringen, schickt er sie lieber zu Prada, Gucci oder ins «Picasso's», das beste der 14 Restaurants. Auch ein Menu für 100 Dollar vertieft das Erlebnis, vor allem, wenn man neben einem Original des Meisters sitzt.

Der Werbespot des «Paris» zeigt Franzosen, die den Eiffelturm nach Las Vegas verschiffen. Doch Wynn ist der einzige, der hier wirklich Originale besitzt. Da hängen sie also, in der «Bellagio Gallery of Fine Arts»: Picassos «Porträt der Dora Maar» und 25 andere Werke von Cézanne, Degas, Miró, Renoir, van Gogh. Doch Echtes gibt es in Las Vegas nur als Fetisch, auf schwarzem Samt bis an die Decke und umtanzt von strengen Männern in dunklen Anzügen. «Enjoy!» raunt der Kartenabreisser. «Did you enjoy it?» fragt ein anderer beim Herausgehen. Der Eintritt für sein 2-Zimmer-Museum ist mit zwölf Dollar so hoch wie der für das Metropolitan Museum in New York. Doch in der Parallelökonomie von Las Vegas, in der letztlich jeder Preis symbolisch ist, weil das richtige Geld im Casino verdient wird, in der die Spieler mit Plasticeimern voll Cash die Strasse überqueren, in der täglich Milliarden ohne Gegenleistung maschinell eingezogen und Millionen achtlos verteilt werden, in der jedem offensteht, was sonst nur Scheichs von innen sehen, fühlt man durchaus festen ökonomischen Boden unter den Füssen, wenn man diesen Phantasiepreis für «preislose» Kunst zahlen darf.


Der Strip wird eine Stadt

Früher fuhr man die Reihe der Hotels am Strip entlang, bis eines der turmhohen Schilder einem Lust auf mehr machte. Man parkte sein Auto und fand erneut lineare Strukturen vor: die nebeneinanderliegenden Motelzimmer, die langen Reihen der Spielautomaten. Heute organisiert sich der Strip in konzentrischen Gürteln. Deren Mittelpunkte stellen die Altstadtwelten wie im «Venetian» dar. Umschlossen sind sie vom Rest des Hotels. Doch auch dieser entspricht - metaphorisch verstanden - einer Stadt. Alle ihre Elemente sind in den immer gigantischeren Komplexen - 18 der 20 grössten amerikanischen Hotels stehen hier - vorhanden: Wohnviertel, Plätze, Einkaufsstrassen, Sportanlagen, öffentliche Verkehrsmittel, Büros, Museen, Theater und identitätsstiftende Wahrzeichen wie die Achterbahn vor dem «New York, New York». Angelegt sind sie nach vage mittelalterlichem Vorbild: Nichts eignete sich besser, die Gebäudegrenzen zu vertuschen, die Wege nach draussen zu erschweren und Monotonie zu vermeiden. Kein Zufall also, dass die Stadt- themes so überzeugend wirken. Sie stellen nur eine konkrete Variante dessen dar, was wir als verwirrende Hotelrealität bereits erfahren haben. Beide Bereiche überlappen und vermischen sich mit wechselnder Intensität des theming.

Statt im Auto walzen heute Zehntausende Touristen Tag und Nacht zu Fuss den Las Vegas Boulevard entlang und rechtfertigen so erstmals seinen Namen. Die Leuchtreklamen sind geschmackvollen Standarten mit Video Screens gewichen. Ihre Funktion haben die Spektakel übernommen, die die Hotels für die Fussgänger veranstalten. Auf der Südseeinsel vor dem «Mirage» bricht dauernd der Vulkan aus. Das «Bellagio» schiesst zu donnernden Opernhits immer wieder sein «Wasserballett» in den Himmel. Und vor dem «Treasure Island» versenken Piraten stündlich einen britischen Dreimaster. Ständig wird der «Multimedia Side-walk» weiter ausgebaut: Mit Open-air-Bühnen oder der grotesken «Siegfried und Roy Plaza».

Überall in den USA verdichten sich die strips zu quasi-urbanen Strukturen. Doch was in Las Vegas geschieht, ist ein Sprung in eine teils metaphorische, teils buchstäbliche Version der europäischen Stadt, die - als sei sie vom Inneren der Hotels angesteckt - deren Entwicklungen nachvollzieht. Die neuen Gebäude rücken an den Gehweg vor, Parkplätze verschwinden, «people mover», Brücken und eine Strassenbahn vernetzen die immer enger stehenden Hotels und kompensieren den historischen Autozuschnitt. 1996 wurden am Strip 76 000 Palmen und Büsche gepflanzt. Am verblüffendsten ist die Transformation des Autoparadieses in eine dichte Stadtlandschaft dort, wo sich «Paris» und «Bellagio» gegenüberstehen. Auch diese dritte der in einer mehrfachen mise en abîme ineinandergeschachtelten Städte ist eine Enklave. Sie ist umgeben von der am schnellsten wachsenden Stadt der USA. So rasant, wie sich hier die Hotelzimmer vervielfachen - zur Zeit sind es 120 000 - werden in Las Vegas und Umgebung Häuser gebaut. 2000 neue Zuwanderer lassen sich hier jede Woche nieder.

Doch was ist aus der Fremont Street in downtown Las Vegas geworden, die den Ruf der Stadt begründete und dann gegen den Strip verlor? 1995 legte man sie als Fussgängerzone still, stellte Bänke auf und überspannte alles mit einem Videodach, über das ein fader Clip zuckt, mit Palmen, Schiffen, fremden Ländern, kurz allem, was es am Strip in natura gibt. Darunter blinken rührend historische Neonschriften. Dem Cowboy «Vegas Vic», dem alten Wahrzeichen von Las Vegas, durchtrennt das Dach die Hüfte. Aus der Fremont Street ist die «Fremont Street Experience» geworden. Das theme ist Las Vegas selbst. Radikaler hätte sich die Stadt ihrer Vergangenheit nicht entledigen können.

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 1999.09.27

Profil

Jörg Häntzschel hat in Berlin Komparatistik studiert und lebt als Journalist in New York.

7 | 6 | 5 | 4 | 3 | 2 | 1