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25. September 2006Simon Jäggi
TEC21

Von der BEA bis zum Zirkus

Der Nutzungsdruck auf die Allmenden nimmt auch in Bern zu. Die Behörden haben reagiert und für beide Allmenden ein Konzept erstellt – doch die beiden Umnutzungsplanungen erhitzen die Gemüter, obwohl sie eigentlich gar keine weitgreifenden Änderungen vorsehen. Inzwischen ist noch ein weiteres Hindernis aufgetaucht: Ein alter Vertrag mit der Armee könnte das Umnutzungskonzept für die Kleine Allmend zur Makulatur werden lassen.

Der Nutzungsdruck auf die Allmenden nimmt auch in Bern zu. Die Behörden haben reagiert und für beide Allmenden ein Konzept erstellt – doch die beiden Umnutzungsplanungen erhitzen die Gemüter, obwohl sie eigentlich gar keine weitgreifenden Änderungen vorsehen. Inzwischen ist noch ein weiteres Hindernis aufgetaucht: Ein alter Vertrag mit der Armee könnte das Umnutzungskonzept für die Kleine Allmend zur Makulatur werden lassen.

Bern verfügt über zwei Allmenden, Kleine und Grosse Allmend genannt. Sie liegen im Nordosten der Stadt, im Wankdorf-Quartier, und erstrecken sich über eine Fläche von gut 400000 Quadratmetern Land. Zweigeteilt sind sie durch die Autobahn A1, die in den 1970er-Jahren erstellt wurde. Die Kleine Allmend wird von Hündelern, Hornussern und Hobbygärtnern benutzt. Zudem trainieren auf der Wiese Soldaten der Schweizer Armee und Wagenfahrer des Nationalen Pferdezentrums. Und wenn einmal im Jahr die grosse Landwirtschafts- und Gewerbemesse BEA Expo stattfindet, diente die Kleine Allmend bisher auch als Parkfläche.
Westlich der Kleinen liegt die Grosse Allmend. Sie grenzt an die Messehallen der BEA Expo und ans Stade de Suisse. Die Liste der Nutzer, die auf der Grossen Allmend zusammenkommen, liest sich noch länger. Sie wird als Veranstaltungsort von einmaligen Grossanlässen gebraucht, bedeutendstes Ereignis der jüngsten Zeit war der Besuch von Papst Johannes II. vor zwei Jahren. Auf der Asphaltfläche nahe den Messehallen gastieren jährlich mehrere Zirkusse. Auf der ausladenden Rasenfläche bestehen sieben Spielfelder für Fussball und Rugby, ein Baseballfeld und eine Hammerwurfanlage. Zudem wird die Grosse Allmend für eine Vielzahl an Freizeitaktivitäten genutzt, es wird Frisbee gespielt, gejoggt, gegrillt und mit dem Hund Gassi gegangen. Der Nutzungsdruck hat markant zugenommen, und es gibt auch schon ein erstes Verdrängungsopfer zu verzeichnen: den Autostrich. Seit den 1960er-Jahren hat er auf der Grossen Allmend stattgefunden. Heute würden die Prostituierten vor der Militärkaserne auf Freier warten, weil ein Teil des Parkfeldes nachts abgeriegelt werde, heisst es bei der Beratungsstelle für Sexarbeiterinnen Xenia. Dadurch ging die Rückzugsmöglichkeit in den dunkleren, hinteren Bereich verloren.

Druck und Protest

Der Nutzungsdruck hat den Gemeinderat zum Handeln veranlasst. Vor zwei Jahren gab die Stadtberner Regierung eine Studie in Auftrag. Die Vorgabe lautete, «die zahlreichen Nutzungsansprüche zu berücksichtigen und gestalterisch wie funktional optimale Lösungen aufzuzeigen». Aus der Studie entstand ein Gestaltungs- und Nutzungskonzept, das Umzonungen für beide Allmenden vorsieht. Doch als die Behörden die Nutzungszonenpläne für die Grosse und die Kleine Allmend in die Mitwirkung schickten, schlugen ihnen von allen Seiten ablehnende Reaktionen entgegen.
Bei beiden Umnutzungsplänen bot vor allem die Parkplatzfrage Zündstoff für hitzige Diskussionen. Auf der Grossen Allmend sollen nur noch 200 statt 1000 Parkfelder für Veranstaltungsbesucher bestehen bleiben. Als Ersatzstandorte stehen ein Militärareal und die Kleine Allmend im Vordergrund. Linke und Grüne möchten nur noch ein paar Dutzend oder gar keine Dauerparkplätze mehr. Diametral anders dagegen Messeveranstalter, Stadionbetreiber und anliegende Gemeinden: Die BEA fürchtet «einen wirtschaftlich fatalen Besucherschwund», sei die Messe doch dringend auf ein genügendes Angebot in angemessener Distanz angewiesen; den Gemeinden ist es ein Anliegen, Suchverkehr zu verhindern. Und sogar die Kantonsregierung schaltete sich ein: In der Antwort auf eine bürgerliche Motion schloss die Regierung nicht aus, mit einer kantonalen Überbauungsordnung in die städtische Zonenplanung einzugreifen – zwar nur als Ultima Ratio, sollte keine einvernehmliche Lösung gefunden werden.
Auch die Zonenplanänderung auf der Kleinen Allmend ist auf Opposition gestossen. Das Gestaltungs- und Nutzungskonzept sieht hier unter anderem die Erstellung von vier bis sechs Sportfeldern vor, für die in der Stadt ein dringender Bedarf besteht. Die Rasenfelder sollen Fussballvereinen wie auch Cricket-, Rugby- und Landhockeyclubs eine neue Heimat bieten. Doch Sportplätze rauben Wiesenfläche und bedürfen Parkiermöglichkeiten. Daher wehren sich Anwohner gegen die Breitensportplätze vor ihrer Haustür, der Quartierverein Burgfeld hat eigens eine Website gegen die Umnutzungspläne eingerichtet. Er befürchtet Mehrverkehr im Quartier und den Verlust eines Naherholungsraums.
Die kontroversen Reaktionen haben die Stadt veranlasst, den Nutzungszonenplan für Rasenspielfelder sowie Ausstattungs- und Parkierungsflächen auf der Kleinen Allmend zurückzustellen. Die unumstrittene Erweiterung der Schrebergärtenkolonie wird weiterverfolgt. Erst wenn die Überarbeitung des Richtplans zum ESP Wankdorf abgeschlossen ist (siehe Kasten), werden die Pläne zu den Fussballfeldern wieder aufgenommen. Nun soll aber zuerst das Parkplatzproblem im Wankdorf-Quartier übergeordnet betrachtet und von der ESP-Delegation (Behörden und Interessenvertreter) eine gesamtheitliche Lösung gefunden werden. Laut Laszlo Litzko vom Stadtplanungsamt sollte der Richtplan bis im Herbst ausgearbeitet sein. Der Nutzungszonenplan Grosse Allmend wird derweil weiterverfolgt. Wann es eine Volksabstimmung über die Vorlagen geben wird, sei noch nicht absehbar, so Litzko.
Zum bedeutenderen Hindernis Fussballfelder könnte aber ein staubiges Stück Papier werden. 1875 kaufte die Einwohnergemeinde Bern die vormals bürgerlichen Felder und stellte sie dem Militär als Manövrierfeld zur Verfügung. Im März meldete die «Berner Zeitung», dass die Fussballplätze vom Tisch seien. Die Armee beanspruche das Land nämlich bis mindestens 2010, vielleicht sogar 2028 – dann läuft nämlich der Waffenplatzvertrag aus. Projektleiter Litzko will sich dazu nicht äussern, da zurzeit noch Verhandlungen liefen.

«Allmend» und «Gärten mit Sommerlaube»

Die Allmenden sind ein geschichtsträchtiger Ort, das verdeutlicht der Waffenplatzvertrag, der ein mühsam ausgehandeltes Planungskonzept zur Makulatur werden lassen könnte. Erste Hinweise auf gemeinschaftlich genutzte Wiesen und Weiden finden sich in einem Schenkungsbrief von 1269. Bern stellte einem Dominikanerorden ein Gelände nordwestlich der Stadt zur Verfügung. Im Brief werden die Gebiete als Allmend (communitatem pertinens, vulgariter allmenda) und private Gärten mit Sommerlaube (horti sive loca hortorum) beschrieben. In den Gärten zogen die Stadtbürger Gemüse und Früchte, was einen grossen Teil ihrer Ernährung ausmachte. In Bern existierten zwei Allmendgebiete, je eine für die Ober- und die Unterstadt. Während des Spätmittelalters behielt die genossenschaftliche Nutzung der Allmenden ihre ökonomische Bedeutung – auch für das Gewerbe: Metzger und Gerber konnten in Stadtnähe grössere Viehherden halten, die Tiere verkaufen oder in die Schlachthöfe führen.
Durch den Bau der angrenzenden Militärkaserne kam Ende des 19. Jahrhunderts die Armee auf die Allmend – und mit ihr die Fliegerei. Am 13.Juli 1913 startete der Fliegerpionier Oskar Bider auf der Grossen Allmend mit seinen Beriot-Eindecker zur ersten Alpenüberquerung. Der 22-jährige Bider wurde in Domodossola als Held empfangen, noch Jahre später stand sein Name für die Fliegerei schlechthin. Ab 1910 diente die Allmend als Start- und Landeplatz für Flugzeuge und Ballone. Sogar eine Ballonhalle wurde errichtet. Das Gelände erwies sich aber als ungeeignet für den Flugverkehr, die Behörden suchten bald nach einem neuen Standort und wurden beim Belpmoos fündig (1929 eröffnet). Dort findet sich übrigens noch heute der denkmalpflegerisch bedeutende Bider-Hangar, die letzte Bogenbinderhalle der Schweiz.
Neben Flugmeetings fanden Anfang des 20. Jahrhunderts etliche andere Grossanlässe auf der Allmend statt, zum Beispiel das Eidgenössische Schützenfest 1910. Später zog das Messewesen nach Bern. 1931 fand die Saffa, die Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit statt, eine Reihe weiterer Ausstellungen folgten. 1948 wird die Festhalle gebaut und seit 1951 jeden Frühling die BEA durchgeführt. Im 20. Jahrhundert dehnt sich die Stadt aus und frisst sich von den Rändern her in die Allmenden hinein. Mit dem Bau des Fussballstadions, der Messehallen oder des Eishockeystadions 1967 verliert die Allmend jeweils markant an Rasenfläche. Doch ihren Stellenwert als stadtnahe Oase, die «allen gemein» ist – wie es der Wortursprung besagt –, haben die Allmenden bis heute behalten.

TEC21, Mo., 2006.09.25



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tec21 2006|39 Allmenden

24. März 2006Simon Jäggi
TEC21

Im Westen viel Neues

Wohnblöcke, ein hoher Ausländeranteil und Arbeitslosenzahlen prägen den Ruf von Bümpliz und Bethlehem, dem Westen Berns. Hier entstehen nun das Einkaufszentrum Westside von Daniel Libeskind und die riesige Wohnüberbauung Brünnen. In der Bundesstadt herrscht Bauboom - und Berns Westen, einst ein Arbeiterquartier, steht vor dem Wandel.

Wohnblöcke, ein hoher Ausländeranteil und Arbeitslosenzahlen prägen den Ruf von Bümpliz und Bethlehem, dem Westen Berns. Hier entstehen nun das Einkaufszentrum Westside von Daniel Libeskind und die riesige Wohnüberbauung Brünnen. In der Bundesstadt herrscht Bauboom - und Berns Westen, einst ein Arbeiterquartier, steht vor dem Wandel.

380 Schläge hat Luise Rufer gezählt - pro Pfeiler. 150 dieser Betonpfähle werden in diesen Wochen in den Boden gerammt, dereinst sollen sie das Fundament des „Westside“ bilden. Luise Rufer und ihr Gatte Walter wohnen im „Gäbelbach“, Block C, 12.Stock. Als sie vor vierzig Jahren in die Musterwohnung zogen, war der Block noch nicht einmal ganz fertig gestellt - als „Ureinwohner“ bezeichnet sich das pensionierte Ehepaar. Unter seinen geduldigen Blicken entstehen hier das Einkaufszentrum Westside und die Überbauung Brünnen. „Das ist unsere VIP-Loge“, sagt Walter Rufer, früher Mechaniker bei den Städtischen Verkehrsbetrieben, und öffnet die Balkontüre.

Grösste private Baustelle

Bei schönem Wetter haben Rufers freie Sicht auf Eiger, Mönch und Jungfrau. Auch an bewölkten Tagen blicken sie auf den „Niesen“ - so nennen Rufers den 25 Meter hohen Erdhügel, der sich inmitten des endlos wirkenden, erdfarbenen Baufeldes erhebt. Camions, Maschinen, Baracken - soweit das Auge reicht. Hundertausende Kubikmeter Erde wurden bereits ausgehoben und verschoben, die Fläche des Gesamtprojektes erstreckt sich über 45 Fussballfelder. Der Berner Stadtpräsident Alexander Tschäppät spricht genüsslich von der „grössten privaten Baustelle der Nation“.

Herzstück des Projekts ist das Freizeit- und Einkaufszentrum Westside des New Yorker Architekten Daniel Libeskind. Das markante Gebäude wird dereinst die Eingangspforte zur Hauptstadt darstellen. Wer von Westen her über die Autobahn A1 nach Bern fährt, wird unter dem „Westside“ hindurch in die Stadt gelangen. Diagonal zieht sich die Autobahn über die Baufläche, auf der die Überbauung dereinst zu stehen kommt - daher musste die A1 zuerst überdeckt werden. Im April wird mit der Grundsteinlegung der eigentliche Baubeginn des „Westside“ eingeläutet.

Bauherrin von „Westside“ ist die Grossverteilerin Migros, sie steckt rund 450 Millionen Franken in das Projekt. Neben einem grossflächigen Supermarkt des orangen Riesen sind über über 60 weitere Fachgeschäfte und Boutiquen geplant, ein Dutzend Restaurants, ein Erlebnisbad mit Fitnesscenter und ein Mediaplex-Kino mit zehn Sälen, ein Kongress- und Tagungszentrum, ein Hotel und eine Seniorenresidenz (ausführlicher Projektbeschrieb „Superzeichen und Landmark“ in tec21, 49-50/2003). 800 neue Arbeitsplätze soll das „Westside“, das im Sommer 2008 seine Tore öffnet, generieren.

Doch in Berns Westen entsteht nicht nur ein gigantischer, goldfarbener Konsumtempel, hier wird gleich ein neuer Stadtteil errichtet. Das Freizeit- und Einkaufszentrum macht kosten- und flächenmässig einen Drittel des Bauvorhabens Brünnen aus. Auf den restlichen 21 Baufeldern wird in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren eine riesige Siedlung mit 1000 Wohnungen für 2600 bis 3000 Personen aus dem Boden gestampft.

Und die Siedlung zieht eine Reihe von Infrastrukturprojekten nach sich: So werden etwa die Bahnlinie auf Doppelspur erweitert und eine Haltestelle geschaffen, Lärmschutzmassnahmen getroffen und neue Strassen und Plätze gebaut. Selbst das Tram Bern West, das noch vor eineinhalb Jahren vom kantonalen Stimmvolk bachab geschickt wurde, kommt nun wohl doch - wenn auch nicht ganz bis zum „Westside“. Ein beträchtlicher Zustupf des Bundesrates (65 Millionen Franken) aus dem Infrastrukturfonds für dringende Agglomerationsprojekte solls möglich machen. Insgesamt fliessen schliesslich fast eine Milliarde Schweizer Franken nach Brünnen.

Come West

Die Familienbaugenossenschaft (Fambau) fungierte schon als Bauherrin der Siedlungen Gäbelbach und Holenacker, die an Brünnen angrenzen. Sie wird auch den ersten Grundstein der Siedlung Brünnen legen. Andere Investoren wollen den Bau ihrer Projekte noch in diesem Jahr in Angriff nehmen. Mit den ersten „Westside“-Kunden soll es 2008 auch die ersten Bewohner nach Brünnen ziehen. Doch mit sozialem Wohnungsbau haben die Vorhaben auf den Baufeldern 8 und 9 (siehe Plan S.12 und 13) nicht mehr viel zu tun: In 13 viergeschossigen Häusern entstehen 53 „grosszügig bemessene“ 3- bis 6-Zimmer-Wohnungen, die „hochwertigen Wohnraum“ bieten, wie die Fambau verspricht. Das Projekt des Berner Büros von Regina und Alain Gonthier, welches als Sieger aus einem Projektwettbewerb hervorging, heisst vielsagend „Come West“ (Wettbewerbsbericht in tec21, 49-50/2003). Gute Steuerzahler sollen in den Westen kommen, wünscht sich die Stadt - vermögende Mittelstandsfamilien, die in jüngster Zeit vermehrt in die Stadt zurückdrängen.

Zwei Welten

Gleich unter dem Block C, wo das Ehepaar Rufer täglich die Bauarbeiten beobachtet, wird momentan eine hohe, rote Lärmschutzwand aufgezogen. Es ist, als markierte sie die Trennlinie zwischen zwei Welten, zwischen Vergangenheit und Zukunft. Auf der einen Seite der in die Jahre gekommene Gäbelbach - eine einstige Vorzeige-Arbeitersiedlung, die als armes Problemquartier in Verruf gekommen ist. Auf der anderen Seite die Überbauung Brünnen - eine imposante Baustelle, die als Symbol steht für den Wandel, den die Haupstadt durchläuft. Mit dem Bau des Paul-Klee-Zentrums, des neuen Fussballstadions und des Einkaufszentrums Westside sei der Beweis endgültig erbracht, dass das Klischee „vom behäbigen, lethargischen Berner restlos überholt ist“, meinte Stadtpräsident Tschäppät Ende Jahr. Und auch die Berner Medien erkannten im Rückblick auf 2005 einen Aufbruch der Bundesstadt: „Der Berner Stimmungswandel“, titelte der Bund.

In den 1990er-Jahren schien Bern gelähmt, lethargisch, selbstmitleidig: Der Fussballclub Young Boys dümpelte in der Nationalliga B, die Stadt ächzte unter der Schuldenlast, als Wirtschaftsstandort verlor Bern an Bedeutung, Bauprojekte waren blockiert, und Wohnraum wurde immer knapper.

Der Wind hat gedreht - und das liegt nicht nur daran, dass YB heute wieder in der Superleague vorne mitspielt. Das Grossprojekt Brünnen ist ein Sinnbild für das städtebauliche Tauwetter, das in jüngster Zeit über die Aarestadt hereingebrochen ist - und auch das Gemütsklima der Bernerinnen und Berner zu mildern scheint. Im Sommer wurden nicht nur das Klee-Zentrum und das Stade de Suisse eröffnet, das Bundesgericht wies auch die Beschwerden gegen das „Westside“ ab und machte damit den Weg frei für den Baustart. Neben den Grossprojekten in den Peripherien erlebte auch die Innenstadt eine Aufwertung: Die Altstadt wurde saniert, und bei der Abstimmung über den Bahnhofplatz wählte die Bevölkerung mit der Baldachin-Variante die architektonisch mutigere der beiden Vorlagen.

Mit der Überbauung Brünnen erhält der städtische Wohnungsbau einen lange erhofften Schub. Dabei ist Brünnen längst nicht das einzige aktuelle Wohnbauprojekt auf Stadtboden. An über 25 Standorten wird zurzeit geplant und gebaut. Zum Beispiel entsteht auf dem Hunziker-Areal, im südlichen Teil Berns, eine Siedlung mit rund 300 Wohnungen (Wettbewerbsbericht in tec21, 18/2004). Ähnlich grosse Vorhaben sind im Saali und in Schöngrün Ost geplant.
In der gesamten Schweiz ist ein Bauboom zu erkennen - 2005 waren in der Schweiz 12.5 Prozent mehr Wohnungen im Bau als im Vorjahr. Mit 34.5 Prozent verzeichnete der Grossraum Bern aber den grössten Zuwachs unter den Agglomerationen. In Bern und Umgebung entstehen momentan 2271 Wohnungen. „Aber noch wird weniger gebaut, als die Stadt gerne hätte“, sagt Berns Stadtplaner Christian Wiesmann. Zwar bringe „Brünnen“ etwas, doch auf lange Frist reiche der Wohnungsbestand noch immer nicht aus.

Mit den Wohnungen für den Mittelstand solle im positiven Sinn ein Gegengewicht zur Siedlung Gäbelbach geschaffen werden, sagt er. Profitieren würden auch die Bewohner der bestehenden Siedlungen: Die Infrastruktur werde aufgewertet - etwa durch die verbesserte Erschliessung durch den öffentlichen Verkehr -, zudem entstünden neue Einkaufsmöglichkeiten.

Doch wird sich der neue Stadtteil Brünnen je in Bern West einbetten? Entsteht hier nicht ein autonomes Quartier? "Da müssen wir dafür sorgen, dass ‹Brünnen› das nicht wird", antwortet der Stadtplaner. Zu diesem Zwecke seien die öffentlichen Räume nicht trennend, sondern verbindend geplant worden.

„Mausloch“ und Lärmschutzwand

Sabine Schärrer reichen diese Massnahmen nicht. Erst kürzlich trat die Architektin als Präsidentin der Vereinigung für Beratung, Integrationshilfe und Gemeinwesenarbeit (VBG) ab, die in Bern West Quartierzentren und Treffpunkte betreut. Und Schärrer ist die Tochter von Hans und Gret Reinhard, welche zusammen mit Eduard Helfer die damals modernen und vorbildlichen Hochhäuser wie im „Gäbelbach“ in Berns Westen planten. „Der soziale Blickwinkel fand kaum Eingang in die Planung“, kritisiert sie. Die Lärmschutzwand sei „eine Katastrophe“ - sie mache die Linie des sozialen Gefälles sichtbar. Der Ansermetplatz, der als Verbindung zwischen den Siedlungen Brünnen und Gäbelbach dient, sei bloss ein „Mausloch“. Die Architektin fordert, dass die Tagesschule, die im Gäbelbach steht, dereinst zwischen die beiden Quartiere zu liegen kommt. „Das wäre ein echt verbindendes und integrierendes Element“, so Schärrer.

"Das ‹Westside› brauchen wir gar nicht", findet das Ehepaar Rufer. Mit dem Denner im Gäbelbach und den nahe liegenden Filialen von Migros, Coop und Loeb seien sie zufrieden. Etwas Positives gewinnen sie dem Zentrum dann doch ab: In Reaktion auf das Westside werde nämlich die etwas heruntergekommene Ladenstrasse im Gäbelbach ausgebaut und aufgewertet. Und auch dem lädierten Image von Bern West könnte Brünnen dienlich sein, hoffen sie.

Luise und Walter Rufer leiden unter dem schlechten Ruf ihres Quartiers, es ist ihren Erzählungen anzuhören. „Kaninchenställe“ mussten sie schon Leute über ihren Gäbelbach sagen hören, „Wohnsilos“, „Getto“, „der Wilde Westen“. Dabei fühlten sie sich wohl hier, ihr Block stehe mitten in schönem Naherholungsgebiet, die Wohnung entspreche ihren Ansprüchen, die Miete sei tief. 982 Franken bezahlen sie für ihre 4.5-Zimmer-Wohnung. Regelmässig werde renoviert, Schäden in der Wohnung würden sofort behoben. Ein „Gschtürm“ habe es nie gegeben, sagt Luise Rufer. Damit spricht sie auf die Nachbarn an, besonders die ausländischen. „Man grüsst sich freundlich und hält sich die Türe auf“, sagt Walter Rufer, Probleme gebe es kaum. Im Gegenteil: Trotz Konflikten, die zweifelsohne auch vorhanden seien, könne der „Gäbelbach“ viel eher als Vorbild für Integration und friedliches Zusammenleben gelten.

Rapper und Kartoffelbauer

„Ich wollte die Vorurteile gegenüber Bümpliz und Bethlehem aufdecken“, sagt Michael Spahr, Videokünstler und Filmemacher. Vor zwei Jahren zog er nach Bümpliz und wurde mit Klischees über den westlichen Stadtteil aus dem eigenen Umfeld konfrontiert, was ihn dazu bewegte, einen Dokumentarfilm über das Quartier zu drehen. „Für die Linken gibt es in Bern West nur Rassisten und Rechte“, spitzt Spahr ironisch zu, „die Bürgerlichen sehen stattdessen nur Arbeitslosenzahlen und den hohen Ausländeranteil.“ In seinem Film „Bümpliz“ zeigt er Wohnblöcke und Einfamilienhäuser, Urbanes und Ländliches, Multikulturelles wie Urschweizerisches: Neben einer Rap-Gruppe kommen im Film auch ein junger Kartoffelbauer und ein Mitglied eines Platzgervereins (Sport, bei dem mit einem Wurfkörper, „Platzge“ genannt, versucht wird, einen 17 m entfernten Metallstab zu treffen) zu Wort. Es herrscht eine Atmosphäre der Toleranz und Stolz, aus dem „Wilden Westen“ zu stammen.
Und auch für das Ehepaar Rufer ist klar: Aus dem Gäbelbach wollen sie nicht wegziehen, auch nicht nach Brünnen.

TEC21, Fr., 2006.03.24



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tec21 2006|13 Berns Wilder Westen

Presseschau 12

25. September 2006Simon Jäggi
TEC21

Von der BEA bis zum Zirkus

Der Nutzungsdruck auf die Allmenden nimmt auch in Bern zu. Die Behörden haben reagiert und für beide Allmenden ein Konzept erstellt – doch die beiden Umnutzungsplanungen erhitzen die Gemüter, obwohl sie eigentlich gar keine weitgreifenden Änderungen vorsehen. Inzwischen ist noch ein weiteres Hindernis aufgetaucht: Ein alter Vertrag mit der Armee könnte das Umnutzungskonzept für die Kleine Allmend zur Makulatur werden lassen.

Der Nutzungsdruck auf die Allmenden nimmt auch in Bern zu. Die Behörden haben reagiert und für beide Allmenden ein Konzept erstellt – doch die beiden Umnutzungsplanungen erhitzen die Gemüter, obwohl sie eigentlich gar keine weitgreifenden Änderungen vorsehen. Inzwischen ist noch ein weiteres Hindernis aufgetaucht: Ein alter Vertrag mit der Armee könnte das Umnutzungskonzept für die Kleine Allmend zur Makulatur werden lassen.

Bern verfügt über zwei Allmenden, Kleine und Grosse Allmend genannt. Sie liegen im Nordosten der Stadt, im Wankdorf-Quartier, und erstrecken sich über eine Fläche von gut 400000 Quadratmetern Land. Zweigeteilt sind sie durch die Autobahn A1, die in den 1970er-Jahren erstellt wurde. Die Kleine Allmend wird von Hündelern, Hornussern und Hobbygärtnern benutzt. Zudem trainieren auf der Wiese Soldaten der Schweizer Armee und Wagenfahrer des Nationalen Pferdezentrums. Und wenn einmal im Jahr die grosse Landwirtschafts- und Gewerbemesse BEA Expo stattfindet, diente die Kleine Allmend bisher auch als Parkfläche.
Westlich der Kleinen liegt die Grosse Allmend. Sie grenzt an die Messehallen der BEA Expo und ans Stade de Suisse. Die Liste der Nutzer, die auf der Grossen Allmend zusammenkommen, liest sich noch länger. Sie wird als Veranstaltungsort von einmaligen Grossanlässen gebraucht, bedeutendstes Ereignis der jüngsten Zeit war der Besuch von Papst Johannes II. vor zwei Jahren. Auf der Asphaltfläche nahe den Messehallen gastieren jährlich mehrere Zirkusse. Auf der ausladenden Rasenfläche bestehen sieben Spielfelder für Fussball und Rugby, ein Baseballfeld und eine Hammerwurfanlage. Zudem wird die Grosse Allmend für eine Vielzahl an Freizeitaktivitäten genutzt, es wird Frisbee gespielt, gejoggt, gegrillt und mit dem Hund Gassi gegangen. Der Nutzungsdruck hat markant zugenommen, und es gibt auch schon ein erstes Verdrängungsopfer zu verzeichnen: den Autostrich. Seit den 1960er-Jahren hat er auf der Grossen Allmend stattgefunden. Heute würden die Prostituierten vor der Militärkaserne auf Freier warten, weil ein Teil des Parkfeldes nachts abgeriegelt werde, heisst es bei der Beratungsstelle für Sexarbeiterinnen Xenia. Dadurch ging die Rückzugsmöglichkeit in den dunkleren, hinteren Bereich verloren.

Druck und Protest

Der Nutzungsdruck hat den Gemeinderat zum Handeln veranlasst. Vor zwei Jahren gab die Stadtberner Regierung eine Studie in Auftrag. Die Vorgabe lautete, «die zahlreichen Nutzungsansprüche zu berücksichtigen und gestalterisch wie funktional optimale Lösungen aufzuzeigen». Aus der Studie entstand ein Gestaltungs- und Nutzungskonzept, das Umzonungen für beide Allmenden vorsieht. Doch als die Behörden die Nutzungszonenpläne für die Grosse und die Kleine Allmend in die Mitwirkung schickten, schlugen ihnen von allen Seiten ablehnende Reaktionen entgegen.
Bei beiden Umnutzungsplänen bot vor allem die Parkplatzfrage Zündstoff für hitzige Diskussionen. Auf der Grossen Allmend sollen nur noch 200 statt 1000 Parkfelder für Veranstaltungsbesucher bestehen bleiben. Als Ersatzstandorte stehen ein Militärareal und die Kleine Allmend im Vordergrund. Linke und Grüne möchten nur noch ein paar Dutzend oder gar keine Dauerparkplätze mehr. Diametral anders dagegen Messeveranstalter, Stadionbetreiber und anliegende Gemeinden: Die BEA fürchtet «einen wirtschaftlich fatalen Besucherschwund», sei die Messe doch dringend auf ein genügendes Angebot in angemessener Distanz angewiesen; den Gemeinden ist es ein Anliegen, Suchverkehr zu verhindern. Und sogar die Kantonsregierung schaltete sich ein: In der Antwort auf eine bürgerliche Motion schloss die Regierung nicht aus, mit einer kantonalen Überbauungsordnung in die städtische Zonenplanung einzugreifen – zwar nur als Ultima Ratio, sollte keine einvernehmliche Lösung gefunden werden.
Auch die Zonenplanänderung auf der Kleinen Allmend ist auf Opposition gestossen. Das Gestaltungs- und Nutzungskonzept sieht hier unter anderem die Erstellung von vier bis sechs Sportfeldern vor, für die in der Stadt ein dringender Bedarf besteht. Die Rasenfelder sollen Fussballvereinen wie auch Cricket-, Rugby- und Landhockeyclubs eine neue Heimat bieten. Doch Sportplätze rauben Wiesenfläche und bedürfen Parkiermöglichkeiten. Daher wehren sich Anwohner gegen die Breitensportplätze vor ihrer Haustür, der Quartierverein Burgfeld hat eigens eine Website gegen die Umnutzungspläne eingerichtet. Er befürchtet Mehrverkehr im Quartier und den Verlust eines Naherholungsraums.
Die kontroversen Reaktionen haben die Stadt veranlasst, den Nutzungszonenplan für Rasenspielfelder sowie Ausstattungs- und Parkierungsflächen auf der Kleinen Allmend zurückzustellen. Die unumstrittene Erweiterung der Schrebergärtenkolonie wird weiterverfolgt. Erst wenn die Überarbeitung des Richtplans zum ESP Wankdorf abgeschlossen ist (siehe Kasten), werden die Pläne zu den Fussballfeldern wieder aufgenommen. Nun soll aber zuerst das Parkplatzproblem im Wankdorf-Quartier übergeordnet betrachtet und von der ESP-Delegation (Behörden und Interessenvertreter) eine gesamtheitliche Lösung gefunden werden. Laut Laszlo Litzko vom Stadtplanungsamt sollte der Richtplan bis im Herbst ausgearbeitet sein. Der Nutzungszonenplan Grosse Allmend wird derweil weiterverfolgt. Wann es eine Volksabstimmung über die Vorlagen geben wird, sei noch nicht absehbar, so Litzko.
Zum bedeutenderen Hindernis Fussballfelder könnte aber ein staubiges Stück Papier werden. 1875 kaufte die Einwohnergemeinde Bern die vormals bürgerlichen Felder und stellte sie dem Militär als Manövrierfeld zur Verfügung. Im März meldete die «Berner Zeitung», dass die Fussballplätze vom Tisch seien. Die Armee beanspruche das Land nämlich bis mindestens 2010, vielleicht sogar 2028 – dann läuft nämlich der Waffenplatzvertrag aus. Projektleiter Litzko will sich dazu nicht äussern, da zurzeit noch Verhandlungen liefen.

«Allmend» und «Gärten mit Sommerlaube»

Die Allmenden sind ein geschichtsträchtiger Ort, das verdeutlicht der Waffenplatzvertrag, der ein mühsam ausgehandeltes Planungskonzept zur Makulatur werden lassen könnte. Erste Hinweise auf gemeinschaftlich genutzte Wiesen und Weiden finden sich in einem Schenkungsbrief von 1269. Bern stellte einem Dominikanerorden ein Gelände nordwestlich der Stadt zur Verfügung. Im Brief werden die Gebiete als Allmend (communitatem pertinens, vulgariter allmenda) und private Gärten mit Sommerlaube (horti sive loca hortorum) beschrieben. In den Gärten zogen die Stadtbürger Gemüse und Früchte, was einen grossen Teil ihrer Ernährung ausmachte. In Bern existierten zwei Allmendgebiete, je eine für die Ober- und die Unterstadt. Während des Spätmittelalters behielt die genossenschaftliche Nutzung der Allmenden ihre ökonomische Bedeutung – auch für das Gewerbe: Metzger und Gerber konnten in Stadtnähe grössere Viehherden halten, die Tiere verkaufen oder in die Schlachthöfe führen.
Durch den Bau der angrenzenden Militärkaserne kam Ende des 19. Jahrhunderts die Armee auf die Allmend – und mit ihr die Fliegerei. Am 13.Juli 1913 startete der Fliegerpionier Oskar Bider auf der Grossen Allmend mit seinen Beriot-Eindecker zur ersten Alpenüberquerung. Der 22-jährige Bider wurde in Domodossola als Held empfangen, noch Jahre später stand sein Name für die Fliegerei schlechthin. Ab 1910 diente die Allmend als Start- und Landeplatz für Flugzeuge und Ballone. Sogar eine Ballonhalle wurde errichtet. Das Gelände erwies sich aber als ungeeignet für den Flugverkehr, die Behörden suchten bald nach einem neuen Standort und wurden beim Belpmoos fündig (1929 eröffnet). Dort findet sich übrigens noch heute der denkmalpflegerisch bedeutende Bider-Hangar, die letzte Bogenbinderhalle der Schweiz.
Neben Flugmeetings fanden Anfang des 20. Jahrhunderts etliche andere Grossanlässe auf der Allmend statt, zum Beispiel das Eidgenössische Schützenfest 1910. Später zog das Messewesen nach Bern. 1931 fand die Saffa, die Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit statt, eine Reihe weiterer Ausstellungen folgten. 1948 wird die Festhalle gebaut und seit 1951 jeden Frühling die BEA durchgeführt. Im 20. Jahrhundert dehnt sich die Stadt aus und frisst sich von den Rändern her in die Allmenden hinein. Mit dem Bau des Fussballstadions, der Messehallen oder des Eishockeystadions 1967 verliert die Allmend jeweils markant an Rasenfläche. Doch ihren Stellenwert als stadtnahe Oase, die «allen gemein» ist – wie es der Wortursprung besagt –, haben die Allmenden bis heute behalten.

TEC21, Mo., 2006.09.25



verknüpfte Zeitschriften
tec21 2006|39 Allmenden

24. März 2006Simon Jäggi
TEC21

Im Westen viel Neues

Wohnblöcke, ein hoher Ausländeranteil und Arbeitslosenzahlen prägen den Ruf von Bümpliz und Bethlehem, dem Westen Berns. Hier entstehen nun das Einkaufszentrum Westside von Daniel Libeskind und die riesige Wohnüberbauung Brünnen. In der Bundesstadt herrscht Bauboom - und Berns Westen, einst ein Arbeiterquartier, steht vor dem Wandel.

Wohnblöcke, ein hoher Ausländeranteil und Arbeitslosenzahlen prägen den Ruf von Bümpliz und Bethlehem, dem Westen Berns. Hier entstehen nun das Einkaufszentrum Westside von Daniel Libeskind und die riesige Wohnüberbauung Brünnen. In der Bundesstadt herrscht Bauboom - und Berns Westen, einst ein Arbeiterquartier, steht vor dem Wandel.

380 Schläge hat Luise Rufer gezählt - pro Pfeiler. 150 dieser Betonpfähle werden in diesen Wochen in den Boden gerammt, dereinst sollen sie das Fundament des „Westside“ bilden. Luise Rufer und ihr Gatte Walter wohnen im „Gäbelbach“, Block C, 12.Stock. Als sie vor vierzig Jahren in die Musterwohnung zogen, war der Block noch nicht einmal ganz fertig gestellt - als „Ureinwohner“ bezeichnet sich das pensionierte Ehepaar. Unter seinen geduldigen Blicken entstehen hier das Einkaufszentrum Westside und die Überbauung Brünnen. „Das ist unsere VIP-Loge“, sagt Walter Rufer, früher Mechaniker bei den Städtischen Verkehrsbetrieben, und öffnet die Balkontüre.

Grösste private Baustelle

Bei schönem Wetter haben Rufers freie Sicht auf Eiger, Mönch und Jungfrau. Auch an bewölkten Tagen blicken sie auf den „Niesen“ - so nennen Rufers den 25 Meter hohen Erdhügel, der sich inmitten des endlos wirkenden, erdfarbenen Baufeldes erhebt. Camions, Maschinen, Baracken - soweit das Auge reicht. Hundertausende Kubikmeter Erde wurden bereits ausgehoben und verschoben, die Fläche des Gesamtprojektes erstreckt sich über 45 Fussballfelder. Der Berner Stadtpräsident Alexander Tschäppät spricht genüsslich von der „grössten privaten Baustelle der Nation“.

Herzstück des Projekts ist das Freizeit- und Einkaufszentrum Westside des New Yorker Architekten Daniel Libeskind. Das markante Gebäude wird dereinst die Eingangspforte zur Hauptstadt darstellen. Wer von Westen her über die Autobahn A1 nach Bern fährt, wird unter dem „Westside“ hindurch in die Stadt gelangen. Diagonal zieht sich die Autobahn über die Baufläche, auf der die Überbauung dereinst zu stehen kommt - daher musste die A1 zuerst überdeckt werden. Im April wird mit der Grundsteinlegung der eigentliche Baubeginn des „Westside“ eingeläutet.

Bauherrin von „Westside“ ist die Grossverteilerin Migros, sie steckt rund 450 Millionen Franken in das Projekt. Neben einem grossflächigen Supermarkt des orangen Riesen sind über über 60 weitere Fachgeschäfte und Boutiquen geplant, ein Dutzend Restaurants, ein Erlebnisbad mit Fitnesscenter und ein Mediaplex-Kino mit zehn Sälen, ein Kongress- und Tagungszentrum, ein Hotel und eine Seniorenresidenz (ausführlicher Projektbeschrieb „Superzeichen und Landmark“ in tec21, 49-50/2003). 800 neue Arbeitsplätze soll das „Westside“, das im Sommer 2008 seine Tore öffnet, generieren.

Doch in Berns Westen entsteht nicht nur ein gigantischer, goldfarbener Konsumtempel, hier wird gleich ein neuer Stadtteil errichtet. Das Freizeit- und Einkaufszentrum macht kosten- und flächenmässig einen Drittel des Bauvorhabens Brünnen aus. Auf den restlichen 21 Baufeldern wird in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren eine riesige Siedlung mit 1000 Wohnungen für 2600 bis 3000 Personen aus dem Boden gestampft.

Und die Siedlung zieht eine Reihe von Infrastrukturprojekten nach sich: So werden etwa die Bahnlinie auf Doppelspur erweitert und eine Haltestelle geschaffen, Lärmschutzmassnahmen getroffen und neue Strassen und Plätze gebaut. Selbst das Tram Bern West, das noch vor eineinhalb Jahren vom kantonalen Stimmvolk bachab geschickt wurde, kommt nun wohl doch - wenn auch nicht ganz bis zum „Westside“. Ein beträchtlicher Zustupf des Bundesrates (65 Millionen Franken) aus dem Infrastrukturfonds für dringende Agglomerationsprojekte solls möglich machen. Insgesamt fliessen schliesslich fast eine Milliarde Schweizer Franken nach Brünnen.

Come West

Die Familienbaugenossenschaft (Fambau) fungierte schon als Bauherrin der Siedlungen Gäbelbach und Holenacker, die an Brünnen angrenzen. Sie wird auch den ersten Grundstein der Siedlung Brünnen legen. Andere Investoren wollen den Bau ihrer Projekte noch in diesem Jahr in Angriff nehmen. Mit den ersten „Westside“-Kunden soll es 2008 auch die ersten Bewohner nach Brünnen ziehen. Doch mit sozialem Wohnungsbau haben die Vorhaben auf den Baufeldern 8 und 9 (siehe Plan S.12 und 13) nicht mehr viel zu tun: In 13 viergeschossigen Häusern entstehen 53 „grosszügig bemessene“ 3- bis 6-Zimmer-Wohnungen, die „hochwertigen Wohnraum“ bieten, wie die Fambau verspricht. Das Projekt des Berner Büros von Regina und Alain Gonthier, welches als Sieger aus einem Projektwettbewerb hervorging, heisst vielsagend „Come West“ (Wettbewerbsbericht in tec21, 49-50/2003). Gute Steuerzahler sollen in den Westen kommen, wünscht sich die Stadt - vermögende Mittelstandsfamilien, die in jüngster Zeit vermehrt in die Stadt zurückdrängen.

Zwei Welten

Gleich unter dem Block C, wo das Ehepaar Rufer täglich die Bauarbeiten beobachtet, wird momentan eine hohe, rote Lärmschutzwand aufgezogen. Es ist, als markierte sie die Trennlinie zwischen zwei Welten, zwischen Vergangenheit und Zukunft. Auf der einen Seite der in die Jahre gekommene Gäbelbach - eine einstige Vorzeige-Arbeitersiedlung, die als armes Problemquartier in Verruf gekommen ist. Auf der anderen Seite die Überbauung Brünnen - eine imposante Baustelle, die als Symbol steht für den Wandel, den die Haupstadt durchläuft. Mit dem Bau des Paul-Klee-Zentrums, des neuen Fussballstadions und des Einkaufszentrums Westside sei der Beweis endgültig erbracht, dass das Klischee „vom behäbigen, lethargischen Berner restlos überholt ist“, meinte Stadtpräsident Tschäppät Ende Jahr. Und auch die Berner Medien erkannten im Rückblick auf 2005 einen Aufbruch der Bundesstadt: „Der Berner Stimmungswandel“, titelte der Bund.

In den 1990er-Jahren schien Bern gelähmt, lethargisch, selbstmitleidig: Der Fussballclub Young Boys dümpelte in der Nationalliga B, die Stadt ächzte unter der Schuldenlast, als Wirtschaftsstandort verlor Bern an Bedeutung, Bauprojekte waren blockiert, und Wohnraum wurde immer knapper.

Der Wind hat gedreht - und das liegt nicht nur daran, dass YB heute wieder in der Superleague vorne mitspielt. Das Grossprojekt Brünnen ist ein Sinnbild für das städtebauliche Tauwetter, das in jüngster Zeit über die Aarestadt hereingebrochen ist - und auch das Gemütsklima der Bernerinnen und Berner zu mildern scheint. Im Sommer wurden nicht nur das Klee-Zentrum und das Stade de Suisse eröffnet, das Bundesgericht wies auch die Beschwerden gegen das „Westside“ ab und machte damit den Weg frei für den Baustart. Neben den Grossprojekten in den Peripherien erlebte auch die Innenstadt eine Aufwertung: Die Altstadt wurde saniert, und bei der Abstimmung über den Bahnhofplatz wählte die Bevölkerung mit der Baldachin-Variante die architektonisch mutigere der beiden Vorlagen.

Mit der Überbauung Brünnen erhält der städtische Wohnungsbau einen lange erhofften Schub. Dabei ist Brünnen längst nicht das einzige aktuelle Wohnbauprojekt auf Stadtboden. An über 25 Standorten wird zurzeit geplant und gebaut. Zum Beispiel entsteht auf dem Hunziker-Areal, im südlichen Teil Berns, eine Siedlung mit rund 300 Wohnungen (Wettbewerbsbericht in tec21, 18/2004). Ähnlich grosse Vorhaben sind im Saali und in Schöngrün Ost geplant.
In der gesamten Schweiz ist ein Bauboom zu erkennen - 2005 waren in der Schweiz 12.5 Prozent mehr Wohnungen im Bau als im Vorjahr. Mit 34.5 Prozent verzeichnete der Grossraum Bern aber den grössten Zuwachs unter den Agglomerationen. In Bern und Umgebung entstehen momentan 2271 Wohnungen. „Aber noch wird weniger gebaut, als die Stadt gerne hätte“, sagt Berns Stadtplaner Christian Wiesmann. Zwar bringe „Brünnen“ etwas, doch auf lange Frist reiche der Wohnungsbestand noch immer nicht aus.

Mit den Wohnungen für den Mittelstand solle im positiven Sinn ein Gegengewicht zur Siedlung Gäbelbach geschaffen werden, sagt er. Profitieren würden auch die Bewohner der bestehenden Siedlungen: Die Infrastruktur werde aufgewertet - etwa durch die verbesserte Erschliessung durch den öffentlichen Verkehr -, zudem entstünden neue Einkaufsmöglichkeiten.

Doch wird sich der neue Stadtteil Brünnen je in Bern West einbetten? Entsteht hier nicht ein autonomes Quartier? "Da müssen wir dafür sorgen, dass ‹Brünnen› das nicht wird", antwortet der Stadtplaner. Zu diesem Zwecke seien die öffentlichen Räume nicht trennend, sondern verbindend geplant worden.

„Mausloch“ und Lärmschutzwand

Sabine Schärrer reichen diese Massnahmen nicht. Erst kürzlich trat die Architektin als Präsidentin der Vereinigung für Beratung, Integrationshilfe und Gemeinwesenarbeit (VBG) ab, die in Bern West Quartierzentren und Treffpunkte betreut. Und Schärrer ist die Tochter von Hans und Gret Reinhard, welche zusammen mit Eduard Helfer die damals modernen und vorbildlichen Hochhäuser wie im „Gäbelbach“ in Berns Westen planten. „Der soziale Blickwinkel fand kaum Eingang in die Planung“, kritisiert sie. Die Lärmschutzwand sei „eine Katastrophe“ - sie mache die Linie des sozialen Gefälles sichtbar. Der Ansermetplatz, der als Verbindung zwischen den Siedlungen Brünnen und Gäbelbach dient, sei bloss ein „Mausloch“. Die Architektin fordert, dass die Tagesschule, die im Gäbelbach steht, dereinst zwischen die beiden Quartiere zu liegen kommt. „Das wäre ein echt verbindendes und integrierendes Element“, so Schärrer.

"Das ‹Westside› brauchen wir gar nicht", findet das Ehepaar Rufer. Mit dem Denner im Gäbelbach und den nahe liegenden Filialen von Migros, Coop und Loeb seien sie zufrieden. Etwas Positives gewinnen sie dem Zentrum dann doch ab: In Reaktion auf das Westside werde nämlich die etwas heruntergekommene Ladenstrasse im Gäbelbach ausgebaut und aufgewertet. Und auch dem lädierten Image von Bern West könnte Brünnen dienlich sein, hoffen sie.

Luise und Walter Rufer leiden unter dem schlechten Ruf ihres Quartiers, es ist ihren Erzählungen anzuhören. „Kaninchenställe“ mussten sie schon Leute über ihren Gäbelbach sagen hören, „Wohnsilos“, „Getto“, „der Wilde Westen“. Dabei fühlten sie sich wohl hier, ihr Block stehe mitten in schönem Naherholungsgebiet, die Wohnung entspreche ihren Ansprüchen, die Miete sei tief. 982 Franken bezahlen sie für ihre 4.5-Zimmer-Wohnung. Regelmässig werde renoviert, Schäden in der Wohnung würden sofort behoben. Ein „Gschtürm“ habe es nie gegeben, sagt Luise Rufer. Damit spricht sie auf die Nachbarn an, besonders die ausländischen. „Man grüsst sich freundlich und hält sich die Türe auf“, sagt Walter Rufer, Probleme gebe es kaum. Im Gegenteil: Trotz Konflikten, die zweifelsohne auch vorhanden seien, könne der „Gäbelbach“ viel eher als Vorbild für Integration und friedliches Zusammenleben gelten.

Rapper und Kartoffelbauer

„Ich wollte die Vorurteile gegenüber Bümpliz und Bethlehem aufdecken“, sagt Michael Spahr, Videokünstler und Filmemacher. Vor zwei Jahren zog er nach Bümpliz und wurde mit Klischees über den westlichen Stadtteil aus dem eigenen Umfeld konfrontiert, was ihn dazu bewegte, einen Dokumentarfilm über das Quartier zu drehen. „Für die Linken gibt es in Bern West nur Rassisten und Rechte“, spitzt Spahr ironisch zu, „die Bürgerlichen sehen stattdessen nur Arbeitslosenzahlen und den hohen Ausländeranteil.“ In seinem Film „Bümpliz“ zeigt er Wohnblöcke und Einfamilienhäuser, Urbanes und Ländliches, Multikulturelles wie Urschweizerisches: Neben einer Rap-Gruppe kommen im Film auch ein junger Kartoffelbauer und ein Mitglied eines Platzgervereins (Sport, bei dem mit einem Wurfkörper, „Platzge“ genannt, versucht wird, einen 17 m entfernten Metallstab zu treffen) zu Wort. Es herrscht eine Atmosphäre der Toleranz und Stolz, aus dem „Wilden Westen“ zu stammen.
Und auch für das Ehepaar Rufer ist klar: Aus dem Gäbelbach wollen sie nicht wegziehen, auch nicht nach Brünnen.

TEC21, Fr., 2006.03.24



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