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10. April 2024Klaus Meyer
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Firmenzentrale in Bludenz

Außen und innen prägt rötlicher Sichtbeton die neue Zentrale des Vorarlberger Unternehmens Jäger Bau. Doch das monochrome Bauwerk in Bludenz wirkt alles andere als monoton. Kubatur, Fassade und Interieur setzen grandiose Kontrapunkte zum farblichen Gleichklang.

Außen und innen prägt rötlicher Sichtbeton die neue Zentrale des Vorarlberger Unternehmens Jäger Bau. Doch das monochrome Bauwerk in Bludenz wirkt alles andere als monoton. Kubatur, Fassade und Interieur setzen grandiose Kontrapunkte zum farblichen Gleichklang.

Zum Einsatz kam Grauzement mit einem zehnprozentigen Zuschlag von Flüssigbraun der Handelsmarke HS 655 N F-BB. Doch der neue Firmensitz des österreichischen Bauunternehmens Jäger Bau schaut weder graubraun noch bräunlich-grau aus. Vielmehr präsentiert sich das Gebäude in einem Zwischenton, den zu benennen gar nicht so leicht fällt. Altrosa? Korallenrot? Indischrot? Porphyrrot? Jedenfalls prägt der rötliche Zwischenton des Sichtbetons nicht nur das äußere Erscheinungsbild des Jägerbaus, sondern auch den Charakter der Innenräume. Alles wirkt wie aus einem Guss, wie gerade ausgeschalt und zugleich ungemein fein. Der Architekt Markus Innauer spricht denn auch von einem »Edelrohbau«.

Doch der Reihe nach. Schauplatz dieser Geschichte ist die im Süden Vorarlbergs gelegene Bezirkshauptstadt Bludenz. Der Ort hat rund 16 000 Einwohner:innen, bildet das Zentrum von fünf umliegenden Alpentälern und gehört dem Tourismusverband der »Kleinen Historischen Städte« Österreichs an, die sich dadurch auszeichnen, dass sie ein geschlossenes, historisches Stadtbild mit zahlreichen Sehenswürdigkeiten aufweisen. Zu den schönsten Baudenkmälern in Bludenz zählt die barocke St.-Laurentiuskirche, die über der Altstadt auf einem Felsvorsprung thront. Zu ihren Füßen verläuft die Herrengasse, die, nachdem sie das historische Stadtzentrum in südöstlicher Richtung durchquert hat, in ein vorstädtisches Wohngebiet führt. Zwischen Kern- und Vorstadt liegt ein von mehrgeschossigen Geschäftsbauten geprägter Straßenabschnitt. Eins dieser Gebäude ist der auf dem Areal des ehemaligen Viehmarkts errichtete, im Januar 2023 fertiggestellte Jägerbau.

Ein Zeichen setzen

Die Firma hatte das Baugrundstück im Frühjahr 2019 erworben. Dem Kauf war der Beschluss der Geschäftsleitung vorausgegangen, den Unternehmenssitz vom nahe gelegenen Schruns nach Bludenz zu verlegen. »Mit dem Bau des neuen Headquarters wollten wir ein Zeichen setzen, das die dynamische und nachhaltige Entwicklung des Unternehmens zum Ausdruck bringt«, sagt Geschäftsführer Thomas Lang. Zudem wollte man alle Geschäftsbereiche des in der Projektentwicklung, dem Hoch- und Tiefbau sowie dem Untertagebau aktiven Unternehmens unter einem Dach vereinen. Auch die Tochterfirma »bad 2000«, ein Anbieter von Fliesen und Natursteinen, sollte mit Büros und großzügigen Ausstellungsflächen in die neue Zentrale einziehen. Und noch etwas war zu berücksichtigen: Bei der Tiefgarage waren außer Stellplätzen für die Autos der Mitarbeitenden auch öffentliche Parkflächen einzuplanen.

Bei dem geladenen Wettbewerb, den der Bauherr nach dem Ankauf des Grundstücks auslobte, kamen 14 Büros zum Zuge, darunter Johannes Kaufmann aus Dornbirn (2. Preis) und Hackl und Klammer aus Röthis (3. Preis). Den Siegerentwurf legten Innauer Matt Architekten aus Bezau vor. Seit der Gründung ihres Büros im Jahre 2012 widmen sich Markus Innauer und Sven Matt unterschiedlichsten Projekten, doch ganz gleich, ob es um ein Wohnhaus, eine Kunsthalle oder eine Bergkapelle geht: Man bemühe sich stets, »die Aufgabe nahe am Ort, der Landschaft und ihren Bewohnern zu interpretieren«, so Markus Innauer. Immer suche man nach einer »Baukunst, die durch eine unaufgeregte Alltäglichkeit vertraute Orte mit Bestand schafft«. Den Anspruch teilen Innauer und Matt mit zahlreichen Protagonisten der Vorarlberger Architektenschule. Etliche, darunter auch das Duo aus Bezau, haben ihn mehrfach mit Bravour erfüllt. Doch wie steht‘s mit dem Jägerbau?

Den Kontext beachten

Dass der Baukörper trotz seiner monochromen Hülle alles andere als monoton wirkt, liegt an seiner markanten Fassadenstruktur und der intelligenten Massenverteilung. Vor Augen haben wir einen Quader mit hohem Sockelgeschoss und zwei OGs, dem auf der nordwestlichen Stadtseite ein zweigeschossiger Riegel aufgesetzt ist. Ganz oben im Turm residiert die Geschäftsleitung, darunter befinden sich Gemeinschaftsräume wie Küche, Bar und Cafeteria für die Belegschaft sowie ein Konferenzraum. Viel Platz bietet außerdem die südöstlich vorgelagerte Dachterrasse, die zum Entspannen, Feiern und Sightseeing einlädt. Im Übrigen kommt der abgestuften Dachsilhouette auch eine städtebaulich-ästhetische Funktion zu, denn aufgrund des Höhensprungs zwischen fünfgeschossigem Turm und dreigeschossigem Quader fungiert der Jägerbau als Bindeglied zwischen der Kernstadt mit ihren höheren Gebäuden und der Vorstadt mit ihrer niedrigen Wohnbebauung.

Eine weitere Besonderheit der Gesamtkubatur ist die quadratische Aussparung an der nordwestlichen Gebäudeecke. Der kleine, baumbestandene Vorplatz, der auf diese Weise entstanden ist, markiert den Eingangsbereich und bildet einen luftigen Kontrapunkt zu der symmetrisch durchorganisierten Fassade. Kleine, platzartige Öffnungen zwischen den Gebäuden finden sich mehrfach in der Umgebung. Diese »Platzgefäße« haben die Architekten zur Anlage des Vorplatzes inspiriert.

Auch bei der Fassadengestaltung ließen sie sich von lokalen Vorbildern leiten. Im Sockelgeschoss beispielsweise erinnert die alternierende Abfolge von konisch nach unten zulaufenden Betonstützen und geschosshohen Schaufenstern an die Arkadengänge in der Altstadt. In den OGs bestimmt der Kontrast von breiten, horizontalen Elementen (Gurtgesimse, Fensterbänder) und schmalen, vertikalen Betonlamellen das Bild. Der Clou dabei sind die schrägen, abwechselnd nach vorn und nach hinten gekippten Lamellenkanten. Durch die Vor- und Rücksprünge variiert das Fassadenbild je nach Perspektive.

Farbe bekennen

»Die Farbwirkung der Gebäudehülle indes changiert je nach Tageslicht«, sagt Markus Innauer. Das Spektrum reiche von einem matten Altrosa bis zum glänzenden Rotbraun. Für die Wahl des rötlichen Zwischentons seien zwei Punkte ausschlaggebend gewesen. Zum einen verleihe die Farbe dem Gebäude einen warmen, angenehmen Look, zum anderen präsentierten sich auch zahlreiche Häuser in der Altstadt im ganz ähnlichen Rotton.

Zwar ist der rötliche Sichtbeton auch im Inneren des »Edelrohbaus« allgegenwärtig, doch dort kontrastiert er immer wieder mit anderen Stoffen und Farben, so etwa mit hellen Eichendielen, roten Terrazzoböden, braunen Naturfaserteppichen und messingfarben lackierten Metallgeländern. Nicht zuletzt dank der feinen, exzellent verarbeiteten Materialien fühlt man sich im Jägerbau vielerorts wie in einem modernen Museum oder einem vornehmen Bankhaus. Doch mehr noch als jede raumbegrenzende Fläche ist es eine einzige raumbildende Form, die den Blick im Gebäudeinneren beinahe von jedem Standort aus auf sich zieht: Der ellipsenförmige, von Balkonen gesäumte Innenhof im Zentrum des Gebäudes ist sein lebendiges Herz und architektonisches Highlight. Im EG öffnet sich das weitläufige Foyer, das auch als Veranstaltungssaal dient, mit raumhohen Glastüren auf diesen Hof. Im ersten und zweiten OG, wo sich die Bürozonen entlang der Außenwände erstrecken, sind die Besprechungszimmer, Teeküchen und Aufenthaltsbereiche direkt dem Hof zugeordnet.

Nicht zuletzt ist die Firmenzentrale ein gebautes Zeichen, das der Imagebildung und der Kommunikation der Unternehmensidentität dienen soll. Als Baufirma legte man deshalb großen Wert darauf, die eigenen Kompetenzen für alle Mitarbeitenden und Besucher:innen sicht- und erlebbar zu machen. Das Versprechen qualitätvollen Bauens, das die Firma ihrer Kundschaft gibt, ist im Gebäude tatsächlich überall spürbar, so etwa im Foyer mit seiner von über 300 Betonaussparungen strukturierten Decke oder im Innenhof mit seinen elegant gerundeten Geschossdecken. Auch draußen ist es der rötliche Sichtbeton der Betonfertigteilfassade und Tragstruktur, der die handwerklichen Fertigkeiten der Firma Jäger Bau anschaulich werden lässt.

db, Mi., 2024.04.10



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db 2024|03 Zwischentöne

06. November 2023Klaus Meyer
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Genossenschaftliches Wohnen »BON« in Bad Aibling

Auch so geht »Einfach bauen«: Nach drei viel beachteten Forschungshäusern errichteten Florian Nagler Architekten unlängst ein Mehrfamilienhaus auf dem B&O Parkgelände im oberbayerischen Bad Aibling. Nicht zuletzt überzeugt das lange Holzhaus durch seine feingliedrige Balkonfront.

Auch so geht »Einfach bauen«: Nach drei viel beachteten Forschungshäusern errichteten Florian Nagler Architekten unlängst ein Mehrfamilienhaus auf dem B&O Parkgelände im oberbayerischen Bad Aibling. Nicht zuletzt überzeugt das lange Holzhaus durch seine feingliedrige Balkonfront.

Das 66 Hektar große Gelände im Nordwesten von Bad Aibling hat eine bewegte Geschichte hinter sich. Einst Militärflugplatz, dann Kriegsgefangenenlager und später US-Militärstützpunkt samt Abhörstation, verfiel es nach dem Abzug der Amerikaner in einen Dornröschenschlaf. Die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA) übernahm das Areal, doch die Entwicklung kam erst in Gang, als die Wohnungsbaugesellschaft B&O 2006 ein ökologisches Wohnquartier im Norden schuf. Im Süden entstand ein Sport- und Veranstaltungspark, im Südwesten siedelten sich Unternehmen an. Das Zentrum blieb vorerst unbebaut. Seit Jahren dient das Gelände B&O als Experimentierfeld. Schankula Architekten errichteten 2011 das höchste Holzhaus Europas. Ein Holz-Parkhaus von HK Architekten aus Vorarlberg folgte 2022. Besondere Aufmerksamkeit erhielten auch drei Forschungshäuser, entworfen von Florian Nagler, einem Münchner Architekten und Hochschullehrer.

Die drei Wohnhäuser entstanden im Zusammenhang mit dem Forschungsprojekt »Einfach bauen«, das ein Team von Architekten und Ingenieuren seit 2012 an der TU München betreibt. »Ziel ist die Errichtung robuster, einfach zu nutzender Gebäude, die mit minimalem Einsatz von Haustechnik, möglichst geringer Verwendung grauer Energie und geringem Energieverbrauch dennoch wirtschaftlich gebaut werden können«, sagt der Architekt Tilmann Jarmer vom Forschungsteam. Die Mittel zur Umsetzung des Ziels sind vielfältig: »Einfach bauen« setzt auf einschichtige Wand- und Deckenkonstruktionen, verzichtet weitgehend auf Sonderbauteile und Hilfsstoffe, trennt konsequent Gebäude und Haustechnik, nutzt die thermische Trägheit großer Speichermassen und legt Wert auf angemessene Fensterflächen, um einen zusätzlichen Sonnenschutz zu vermeiden. Nach diesen Prinzipien entwarfen Florian Nagler Architekten auch das unweit der drei Forschungshäuser platzierte Gebäude, um das es hier gehen soll.

Das dreigeschossige Holzhaus, errichtet im Auftrag der Wohngenossenschaft Wogeno München eG, wurde 2022 fertiggestellt und beherbergt 23 Wohnungen unterschiedlichen Zuschnitts und einen Gemeinschaftsraum. Das Gebäude erstreckt sich auf einer baumbestandenen Grünfläche von Nordwest nach Südost. Die Eingangsfront mit den vorgelagerten Balkonen blickt nach Südwesten auf einen Kindergarten; an die Rückseite schließen sich Privatgärten an, hinter denen sich das oben erwähnte Parkhaus erhebt. Eine gepflasterte Quartierstraße führt schräg auf den mittig platzierten Haupteingang zu.

Außen luftig, innen massiv

Wer sich dem Haus von dort nähert, sieht sich getäuscht, sofern er oder sie »Einfach bauen« mit anspruchsloser Ästhetik gleichgesetzt hatte. Das Fassadenbild, das sich aus horizontalen Balken und vertikalen Latten, aus vorspringenden Balkonen und hintergründigen Wandflächen, aus verschleierten und einsehbaren Freiräumen zusammensetzt, wirkt kein bisschen fad, sondern, im Gegenteil, heiter, lebendig, abwechslungsreich. Nicht zuletzt überzeugt die komplexe Fassade durch die Ablesbarkeit architektonischer Strukturen. Gleich auf den ersten Blick erschließt sich die Geschossgliederung, bei näherem Hinsehen entdeckt man die symmetrische Verteilung der Wohneinheiten, und schließlich verweist die Abfolge der Balkonstützen auf das Raster von 3,10 m, das dem Entwurf zugrunde liegt. Innerhalb des von regelhaften Verhältnissen bestimmten Bildes fällt auch der Hauseingang nur geringfügig aus der Reihe: Als Markierung des Portals dient lediglich ein Querbalken, auf dem die mittlere der insgesamt 17 Balkonstützen ruht.

Hinter der doppelflügeligen Haustür befindet sich ein kurzer Eingangsflur, der auf einen quer liegenden Gang mit je einem Treppenhaus am Ende stößt. Der Erschließungskern ist aus Stahlbeton und bildet, zusammen mit den Außenwänden aus massiven, kreuzverleimten Holztafeln, die Tragstruktur des Gebäudes. Im Vergleich zum Holz-Forschungshaus mit seinen 39 cm dicken Außenwänden wurde die Wandstärke beim Wogeno-Gebäude auf 26 cm reduziert, wodurch rund 55 m² zusätzliche Wohnfläche gewonnen werden konnten. Die geringere Speichermasse der Gebäudehülle wird teilweise kompensiert durch den massiven Betonkern, dessen thermische Trägheit sich ausgleichend auf das Raumklima im Haus auswirkt.

Aufenhaltsqualität im Gang und auf den Treppen lässt indes zu wünschen übrig, was jedoch weniger an den schmalen Räumlichkeiten und nackten Sichtbetonwänden als vielmehr an der schummrigen Beleuchtung liegt. Tageslicht von oben wäre die Lösung, aber im Rahmen des »Einfach bauen«-Konzepts wohl zu kostspielig. Die Helligkeit und Großzügigkeit, die den Verkehrsräumen abgehen – wird man sie hinter den eichenen Wohnungstüren finden?

Zunächst führt uns der Weg ins DG, wo außer Abstellräumen für die Hausgenoss:innen auch die Gebäudetechnik untergebracht ist. Ein Jahr nach dem Einzug der ersten Bewohner:innen hat man sich dazu entschlossen, die Schallisolierung der Technikräume zu optimieren, weil der Betriebslärm der Geräte, Rohre und Leitungen sich in den Wohnungen des OGs zu stark bemerkbar gemacht hatte. Wie man an dieser »Baustelle« erkennen kann, ist »Einfach bauen« auch ein Lernprozess. Auf einen anders gearteten Prozess deutet der Zustand des im EG gegenüber dem Eingang gelegenen Gemeinschaftsraums hin. Der Raum steht leer und macht einen etwas verwahrlosten Eindruck, was freilich nicht auf technische oder gestalterische Mängel zurückzuführen ist, sondern soziale Gründe hat: Inzwischen sind zwar alle Wohnungen vergeben, doch eine echte Hausgemeinschaft muss sich wohl erst noch entwickeln.

Highlights im Freien

Im EG gibt es neben dem Gemeinschaftsraum, einem Funktionsraum und einem Gästeapartment sechs Wohneinheiten. Auf den OGs befinden sich je acht Einheiten. Egal ob Familienwohnung mit 120 m² und vier Zimmern oder 54 m² großes Single-Apartment, jede Wohnung hat einen Sonnenbalkon mit großer Glastür für eine helle Atmosphäre. Die hochwertige Ausstattung mit Eichendielen, Holzfenstern und weiß verputzten Innenwänden trägt zur modernen Atmosphäre bei. Doch das Highlight ist der luftige Freisitz – großzügig bemessen für vielseitige Nutzung als Essplatz, Aussichtsplattform und Wohnzimmer im Freien. Die vorgesetzte Balkonkonstruktion schützt vor direkter Sonneneinstrahlung und eliminiert zusätzliche Verschattungselemente.

»Heute hätten wir die Balkonfront etwas aufwendiger konstruieren müssen«, sagt Projektleiter Tilmann Jarmer und deutet auf ein kaum sichtbares Detail der im Wesentlichen von exponierten Balken und Stützen getragenen Konstruktion hin. Dass die Balkonplattformen hausseitig auf vorkragenden Auflagern ruhen, verstößt gegen eine inzwischen verschärfte Schallschutznorm. Doch eine stärkere Trennung von Hausvolumen und Vorbau hätte das feingliedrige Erscheinungsbild der Fassade sicherlich beeinträchtigt. Und das wäre schade. Schließlich ist das neue Holzhaus auf dem B&O Parkgelände ein Vorzeigemodell – gerade wegen seiner Eingangsfront mit den sonnigen Südwestbalkonen.

Bauherr: Wohngenossenschaft Wogeno München eG
Architektur: Florian Nagler Architekten, München
Projektleitung: Tilmann Jarmer
Tragwerksplanung: merz kley partner, Dornbirn
Brandschutzplanung: esg Ingenieure, Traunreut
Bauphysik: ig-bauphysik, Hohenbrunn
HLS-Planung: Duschl Ingenieure, Rosenheim
Landschaftsarchitektur: Umwelt und Planung, Rosenheim
BGF: 2 364 m²
BRI: 8 944 m³
Baukosten: 3,84 Mio. Euro (KG 300 und KG 400, ohne MwSt.)
Bauzeit: November 2021 bis Juli 2022

db, Mo., 2023.11.06



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07. November 2022Klaus Meyer
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Vorhang auf!

Ein feines Entree zu dem Neubauquartier an der Paul-Gerhardt-Allee im Münchner Westen: Der 2021 fertiggestellte Wohn- und Geschäftskomplex von allmannwappner besticht durch abwechslungsreiche Fassadenbilder dank beweglicher Metallvorhänge.

Ein feines Entree zu dem Neubauquartier an der Paul-Gerhardt-Allee im Münchner Westen: Der 2021 fertiggestellte Wohn- und Geschäftskomplex von allmannwappner besticht durch abwechslungsreiche Fassadenbilder dank beweglicher Metallvorhänge.

In dem unscheinbaren Giebelhaus an der Berduxstraße werden anfangs brave Familien gewohnt haben, doch seit vielen Jahren dient der 50er-Jahre-Bau nun schon als Bordell. Damit Freier die schäbige Hütte als ihren Traumpalast identifizieren können, prangt ein roter Neonschriftzug an der Einfahrt, der praktisch zu jeder Tages- und Nachtzeit die frohe Botschaft »Geöffnet« verkündet. Der Puff (der übrigens bis zu ihrem Tod im Jahre 2016 von der Schauspielerin Margit Geissler betrieben wurde) ist das bizarrste, aber nicht das letzte Relikt aus der wilden Zeit des Gleisdreiecks im Münchner Westen. Es gibt auch noch den »ReifenMann«, eine hinter Zaun, Buschwerk und Reklametafeln verborgene Münchner Institution. Auf dem Rest des 33 ha großen Areals entsteht seit einigen Jahren etwas vollkommen Neues.

Das Gelände liegt zwischen Paul-Gerhardt-Allee, Bärmannstraße und zwei Bahntrassen im Stadtteil Pasing-Obermenzing. Vor hundert Jahren durchquerte die Haupttrasse in ihrem Verlauf von München nach Pasing noch Äcker und Kuhweiden. Später errichtete die Bahn Lagerhallen und Werkstätten auf dem Gleisdreieck, doch seit der Bahnprivatisierung in den 90er-Jahren wurden die Gebäude nach und nach von privaten Gewerbetreibenden wie dem »ReifenMann« in Beschlag genommen. Als eine der letzten »zentralen« Bahnflächen rückte das Areal vor rund zehn Jahren in den Fokus der Münchner Stadtplaner: Aus dem wilden Gewerbepark sollte ein schmuckes Wohnquartier mit Grundschule, Sporthalle, Kindertageseinrichtungen, Geschäften, öffentlichen Grünflächen und rund 5 500 Wohneinheiten werden.

Ein exponierter Platz

Im Jahr 2012 gewann das Münchner Büro Palais Mai Architekten zusammen mit Lohrer Hochrein Landschaftsarchitekten den städtebaulichen und landschaftsplanerischen Ideenwettbewerb für das gesamte Neubauquartier. Der Masterplan sah polygonale Wohnhöfe vor, die die Geometrie des angrenzenden Gleisdreiecks aufnehmen. Einen der zwei geplanten Stadtplätze positionierten die Architekten im Inneren des Areals; der andere lag am westlichen Entree des neuen Stadtviertels – an der Kreuzung von Paul-Gerhardt-Allee und Hermine-von-Parish-Straße. Auf dem exponierten Grundstück sollte auch ein Wohnkomplex mit integrierten Geschäften entstehen. Den 2016 durchgeführten Realisierungswettbewerb für das stadträumlich wichtige Nahversorgungszentrum mit vorgelagertem Platz gewann das Münchner Architekturbüro Allmann Sattler Wappner (das seit 2021 als allmannwappner firmiert) zusammen mit dem ebenfalls in München ansässigen Büro realgrün Landschaftsarchitekten.

2021 wurden Gebäude und Platz fertiggestellt. Der Neubau erhebt sich auf einem unregelmäßig zugeschnittenen Baufeld und präsentiert sich als ein Komplex aus polygonalem Sockelgeschoss und drei aufgesetzten Baukörpern unterschiedlicher Form und Höhe. Die Sockelzone beherbergt Supermärkte, Fachgeschäfte und Dienstleistungseinrichtungen, die über eine gemeinsame Eingangshalle oder direkt über den Quartiersplatz erschlossen werden. Im Grundriss bildet der Sockel ein konkaves Sechseck, das den südlich vorgelagerten Quartiersplatz einfasst. Auf seiner Dachfläche – und somit getrennt von den gewerblichen bzw. öffentlichen Bereichen – liegen die Eingänge zu den 160 Wohneinheiten, die sich auf die drei aufgesetzten Gebäudeteile verteilen. Der höchste der drei Wohntürme fußt auf einer fünfeckigen Grundfläche und ragt um neun Geschosse auf. Aufgrund seiner Höhe, aber auch wegen seiner Position an der Schnittstelle von Paul-Gerhardt-Allee und Hermine-von-Parish-Straße markiert dieser Baukörper sehr effektvoll den Eingang zum neuen Viertel. Ergänzt wird das Turmtrio durch einen viergeschossigen Bau mit trapezförmiger Grundfläche an der Paul-Gerhardt-Allee und einen sechsgeschossigen Quader, der den Komplex zur östlich angrenzenden Grundschule abschließt.

Eine Piazza auf dem Dach

Wer den Gebäudekomplex lediglich von der Straße oder vom Vorplatz aus betrachtet, dem entgeht ein wesentlicher Aspekt des Entwurfs. Gemeint ist die Dachfläche des Sockelgeschosses, zu der eine halböffentliche Außentreppe hinaufführt. Zwischen den drei Wohnhäusern erstreckt sich hier ein vortrefflich gestalteter Dachgarten, der mit seinen Pflanzeninseln, Gehwegen, Ruhebänken und Spielflächen wie ein kleiner Park wirkt. Sogar einen Hügel gibt es. Im Inneren dieser ebenfalls polygonal zugeschnittenen Erhebung sind u. a. die Pausenräume des Ladenpersonals untergebracht. Zu dem Hochplateau, das mit weiteren Bänken, Rabatten und einem Sonnendeck aufwartet, windet sich ein von Ranken umsäumter Fußweg empor.

Natürlich ist der Garten, der sämtlichen Bewohnern offensteht, in erster Linie ein Begegnungs- und Erholungsraum. Aber er funktioniert auch wie ein Dorfplatz, der die umstehenden Gebäude zusammenhält und so etwas wie eine kommunale Identität stiftet. Ganz und gar nicht unwichtig für die Gesamtwirkung dieser grünen Piazza ist im Übrigen die umlaufende Pergola, die dem Ganzen eine schöne räumliche Fassung gibt.

Neben der Komposition der Volumina und der Anlage des Belvedere ist es v. a. die Fassadengestaltung, die den ästhetischen Reiz des Ensembles ausmacht. Das Besondere daran ist die zarte Ziehharmonikastruktur, gebildet aus Zackenprofilblechen und gefalteten Wandelementen, die das ansonsten streng gerasterte Erscheinungsbild auf elegante Weise dynamisiert.

Eine Hülle aus Blech

Ursprünglich sollte das strukturbildende Stahlbetonraster aus Lisenen und Geschossdecken verputzt werden. Auf Vorschlag des ausführenden Fenster- und Fassadenspezialisten entschied man sich am Ende für Blechbekleidungen. Die vortretenden Deckenkanten wurden umlaufend mit 2 mm dicken, weiß beschichteten Aluminiumblechstreifen bekleidet, die von einer hinterlüfteten Aluminiumkonstruktion gehalten werden. Den Betonstützen wiederum wurden M-förmige Aluminiumblechprofile vorgehängt. Und auch bei der Ausfachung des Rasters spielt Aluminiumblech die Hauptrolle. Zum Einsatz kamen perforierte Wandelemente aus gefaltetem Metall, die mal fest montiert und mal beweglich aufgehängt sind. Es sind diese halbtransparenten Vorhänge, die wesentlich dazu beitragen, Leben und Abwechslung in das Fassadenbild zu bringen.

Rasterfelder mit geschlossenen Metallverkleidungen finden sich z. B. vor fensterlosen Wohnungsaußenwänden oder im Bereich der Treppenhäuser. Öffnen lassen sich die Faltvorhänge dagegen dort, wo sie tatsächlich Fenster abschirmen. Ursprünglich war eine Öffnung über die gesamte Breite des jeweiligen Rasterfeldes vorgesehen, doch diese Idee erwies sich letztlich als technisch sehr aufwendig und wurde aus Kostengründen verworfen. »Auf- und zuziehen« lassen sich die Vorhänge nun lediglich in Fensterbreite. Muskelkraft bedarf es dazu nicht. Der elektromotorische Betrieb der Faltelemente erfolgt auf Knopfdruck.

Ein weiteres prägendes Element der Fassaden sind die mit weißen Metallgeländern bestückten Loggien, die es in großer Zahl gibt, da jede Wohnung über solch einen geschützten Außenraum verfügt. Jede Loggia nimmt jeweils ein ganzes Rasterfeld ein. Insgesamt ergibt sich dadurch ein abwechslungsreiches Fassadenbild, das sich aus offenen, halb offenen und geschlossenen Flächen zusammensetzt. Aufgrund der beweglichen Partien der Außenhülle verändert sich das Bild oft, sodass die drei Wohntürme immer wieder etwas anders aussehen, je nachdem wann und aus welcher Blickrichtung man sie betrachtet. Variieren lässt sich natürlich auch der Ausblick aus den Wohnungen. Dabei ist festzuhalten, dass die perforierten Metallvorhänge die Aussicht kaum beeinträchtigen, dafür aber die Räume zuweilen in ein schönes, diffuses Licht tauchen.

db, Mo., 2022.11.07



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24. Oktober 2022Klaus Meyer
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Soziale Plastik

58 Bauherren taten sich in Fürth zusammen, um ein Wohnbauprojekt mit sozialer und ökologischer Ausrichtung zu realisieren: Die »Spiegelfabrik«, nach den Plänen des Berliner Büros Heide & von Beckerath errichtet, ist kein Haus im Häusermeer – sondern ein Kiez im Kiez.

58 Bauherren taten sich in Fürth zusammen, um ein Wohnbauprojekt mit sozialer und ökologischer Ausrichtung zu realisieren: Die »Spiegelfabrik«, nach den Plänen des Berliner Büros Heide & von Beckerath errichtet, ist kein Haus im Häusermeer – sondern ein Kiez im Kiez.

Eigentlich schade, dass hier eine Architekturkritik folgen soll. Das Sujet »Spiegelfabrik« schreit geradezu nach einem Format, das den menschlichen Faktor des Projekts betont. Eine Sozialreportage würde sich anbieten. Sogar für ein Serien-Exposé gäbe es reichlich Stoff: Ein paar Leute tun sich zusammen und begeben sich auf eine »Heldenreise«, die jeden Einzelnen vor unmögliche Herausforderungen stellt, am Ende aber doch zum Ziel führt, weil jeder Protagonist im Team über sich hinausgewachsen ist. Aber okay, bleiben wir auf dem Boden. Wenden wir uns Brigitte Neumann zu, der Heldin dieser Geschichte.

Die Ernährungswissenschaftlerin, Jahrgang 1962, gehört der Geschäftsführung der Baugemeinschaft an, die das Wohnbauprojekt »Spiegelfabrik« gemeinsam mit dem Berliner Architekturbüro Heide & von Beckerath ersonnen, geplant und realisiert hat. 58 Wohneinheiten umfasst das für rund 13,7 Mio. Euro errichtete, im März 2021 fertiggestellte Gebäude. Eine davon gehört Brigitte Neumann und ihrem Mann, aber eingezogen ist das Ehepaar bislang noch nicht. »Wir haben unsere Wohnung befristet vermietet«, sagt die agile Bauherrin. Sie möchte etwas Abstand vom Dauerstress der Bauzeit gewinnen, dennoch ist sie Feuer und Flamme, wenn es darum geht, Besucherinnen und Besuchern der »Spiegelfabrik« zu zeigen, was sie und ihre Mitstreitenden in Fürth geschaffen haben: ein Wohnhaus, ja sicher, aber eben auch so etwas wie eine Soziale Plastik.

Organisches Miteinander

Doch von Beginn an. Schauplatz des Bauabenteuers ist ein Grundstück im Südosten der Fürther Innenstadt nahe dem Stadtpark in den Auen der Pregnitz. Die Umgebung macht den Eindruck eines städtebaulichen Flickenteppichs. Es gibt Straßenzüge mit geschlossener gründerzeitlicher Wohnbebauung, aber auch Solitäre wie etwa einen Schulneubau mit spiegelnder Glasfassade. Zwischendrin klaffen kleine und größere Bebauungslücken, die als Parkplatz dienen oder brachliegen. Noch vor ein paar Jahren hätte man in der Gegend ein marodes Fabrikgebäude entdecken können, das sich zwischen der Lange Straße im Südwesten und der Dr.-Mack-Straße im Nordosten erstreckte. Errichtet im 19. Jahrhundert, als Fürth ein Zentrum der Spiegelindustrie war, wurden in dem Backsteingebäude zuletzt Fensterscheiben für Autos produziert. Nach dem Auszug des Fensterfabrikanten im Jahre 2015 stellte sich die Frage: Was tun mit dem ruinösen Industriebau? Nachdem die Denkmalschutzbehörde einem Abriss zugestimmt hatte, sollte zunächst eine Boulderhalle auf dem Gelände entstehen. »Aber wir haben uns schnell eines Besseren besonnen«, sagt Brigitte Neumann, die schon damals zu der fünfköpfigen Gruppe gehörte, die das Industriegelände neu beleben wollte. Die zündende Idee lautete dann: »Bauen wir eine große Wohnanlage mit sozialer und ökologischer Ausrichtung: generationenübergreifend, barrierearm, kinder- und familienfreundlich, mit gemeinschaftlich nutzbaren Räumen und Flächen.« Von Anfang an war den Bauherren in spe der Aspekt der Stadtverdichtung wichtig. Sie träumten nicht von weitläufigen Terrassenwohnlandschaften, sondern von eng verzahnten Lebensräumen, nicht von organisierter Einsamkeit, sondern von organischem Miteinander. »Ein Kiez im Kiez« – das war die Vision.

Gemeinsame Linie

Um nicht nur gut situierte Bürger, sondern auch weniger wohlhabende Interessenten für das Projekt zu begeistern, entschieden sich die Initiatoren, neben Eigentumswohnungen auch Räume für genossenschaftliches Wohnen zu schaffen. Dazu wurde eine Wohnungsgenossenschaft gegründet, in der die Eigentümer Fördermitglieder sind. 58 Parteien fanden sich am Ende zur Bauherrengemeinschaft zusammen. Die Architektensuche konnte beginnen.

Zunächst sprachen ein paar junge Planer aus dem Bekanntenkreis der Bauherren vor. »Die waren uns aber nicht gewachsen«, sagt Brigitte Neumann. »Sie hätten wohl versucht, unseren Wunsch nach der eierlegenden Wollmilchsau umzusetzen – was garantiert schiefgegangen wäre!« Im zweiten Anlauf lud das Team vier Büros ein, die bereits Baugruppenerfahrung hatten. »Die Architektenauswahl erfolgte über eine Matrix, die unsere wichtigen Wohn- und Sozialthemen enthielt. Heide & von Beckerath erfüllten unsere Anforderungen – und die Chemie stimmte auch.«

Daraufhin entspann sich ein Entwurfsprozess, der so vielschichtig war wie die Sache, um die es ging. Statt sofort mit der konkreten Planung zu beginnen, intensivierte das Berliner Team um Tim Heide und Verena von Beckerath zunächst einmal den Dialog mit den Bauwilligen. Um eine gemeinsame Linie zu finden, veranstaltete man insgesamt sieben Workshops – zu den Themen Städtebau, Wohntypologien, Wohnbedürfnisse, Entwurf, Regeln und Standards, Ausstattung sowie Ausführung.
Erst danach nahm das Gebäude nach und nach Gestalt an. Auf dem rund 3 400 m² großen Grundstück zwischen Lange Straße und Dr.-Mack-Straße, das von einem geschosshohen Geländesprung gequert wird, entstand ein lang gestreckter Baukörper mit je einem siebengeschossigen Kopfbau zur Straße hin. Die Erschließung des fünfgeschossigen Verbindungsbaus erfolgt über wechselseitige Laubengänge. Ein asphaltierter Weg führt an der nordwestlichen Gebäudeseite entlang und verbindet die beiden Straßen miteinander. Den Geländesprung gleicht eine breite Freitreppe aus, deren Betonstufen zum Sitzen einladen. Außer den Asphaltflächen und der Betontribüne im Nordwesten gibt es einen weiteren Freiraum auf der gegenüberliegenden Gebäudeseite. Dort befindet sich das Areal, auf dem das einzig erhaltene Relikt der Spiegelfabrik steht – die »Alte Schmiede«, die als Reparaturwerkstatt und Bastelraum genutzt wird. Der Platz vor der Schmiede ist derzeit noch eine Baustelle: Die Bewohner legen dort einen Garten mit Spielplatz und Begegnungsstätte an. Eine weitere gemeinschaftlich nutzbare Freifläche steht auf dem Flachdach zur Verfügung. Und auch im Gebäudeinneren gibt es einen Raum für gemeinsame Aktivitäten: Der »Spiegelsaal« mit angrenzender Küche, der unweit der Lange Straße im EG liegt, öffnet sich mit gläsernen Fronten zur Hof- wie zur Gartenseite.

Kritik mit einem Lächeln

Die divergierenden Vorstellungen der Bauherrschaft zur Aufteilung und Ausstattung der Wohnungen wirkten sich nicht zuletzt auf die Konstruktionsweise des Gebäudes aus. Tim Heide und Verena von Beckerath entschieden sich für eine robuste, der Industriearchitektur entlehnte Grundstruktur: »Ein Rahmen aus bewehrten Betonfertigteilen wurde mit Leichtbau kombiniert, um eine flexible Anordnung von Trennwänden in der horizontalen und vertikalen Konfiguration der Wohnungen zu ermöglichen.« 80 % der Außenwände bestehen aus vorgefertigten Holztafeln. Ein guter Dämmstandard und eine moderne Haustechnik sorgen für eine hohe Energieeffizienz. Zum Equipment gehören ein gasbefeuerter Brennwertkessel, ein gasbefeuertes Blockheizkraftwerk sowie eine Photovoltaikanlage, die dazu beiträgt, eine 60-prozentige Autarkie bei der Stromversorgung zu erreichen.

Aber zurück zu Brigitte Neumann und zur Sozialen Plastik, die sie und ihre Mitstreiter geschaffen haben. »Von den acht geförderten Wohnungen«, sagt sie, »stehen vier für Flüchtlinge zur Verfügung, andere werden vom Verein ›Lebenshilfe Fürth‹ angemietet. Eine weitere Wohnung bietet der PEN-Club für exilierte Schriftsteller an.« Und schließlich: »Im Gebäude wurde ein städtisches Quartiersbüro für nachbarschaftliche Anliegen und Initiativen eingerichtet, getragen vom gemeinnützigen Verein ›Spiegelfabrik‹.« Bei allem Stolz auf das Geleistete weiß die Bauherrin natürlich, dass Anspruch und Wirklichkeit stets auseinanderklaffen. Deutlich wird dies im Gespräch mit einigen Bewohnerinnen und Bewohnern, die allesamt gern in der Spiegelfabrik leben, aber nicht unbedingt jedes architektonische Detail goutieren. Einer stößt sich an den rauen Badfliesen, ein anderer am schmutzempfindlichen Betonboden des Laubengangs, diese ärgert sich über den unebenen Asphalt, jene über den allzu starken Hall im Hof. Andererseits wird jede Kritik mit einem Lächeln vorgetragen. Man spricht freimütig aus, was man denkt. Jeder weiß, dass Kompromisse dazugehören, wenn man miteinander baut und lebt.

db, Mo., 2022.10.24



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db 2022|10 Nachverdichtet

14. Juni 2022Klaus Meyer
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Retro-Pop

Mit dem Wohnbauensemble »Erhardt 10« am Münchner Isarufer entstand ein Stadtbaustein, der sich selbstbewusst in eine Reihe denkmalgeschützter Häuser einfügt. Das Ganze präsentiert sich als smarter Mix aus vertrauten Mustern und Motiven.

Mit dem Wohnbauensemble »Erhardt 10« am Münchner Isarufer entstand ein Stadtbaustein, der sich selbstbewusst in eine Reihe denkmalgeschützter Häuser einfügt. Das Ganze präsentiert sich als smarter Mix aus vertrauten Mustern und Motiven.

Die Erhardtstraße im Münchner Zentrum ist ein teures Pflaster. Zwar übertönt der Autolärm hier zu jeder Tages- und Nachtzeit das Rauschen der Isar, die parallel zur Straße verläuft, dennoch ist die Lage phänomenal. Wer an der Ehrhardtstraße wohnt, hat eine pittoreske Flusslandschaft vor Augen und das quirlige Gärtnerplatzviertel im Rücken. Wer dort bauen will, muss sich mit gewachsenen Gegebenheiten und steingewordener Geschichte auseinandersetzen. Eine Architektur ist gefragt, die sich »einerseits selbstbewusst in die Reihe denkmalgeschützter Bauten entlang des Ufers eingliedert und den Blick auf den Fluss zelebriert, zugleich aber auch die Heterogenität des Gärtnerplatzviertels anerkennt.« So jedenfalls beschreibt der Immobilienentwickler Euroboden die Herausforderung.

Die Firma des umtriebigen Baukultur-Enthusiasten Stefan Höglmaier hatte 2013 ein Grundstück an der Erhardtstraße 10 erworben. Um Platz für einen Neubau zu schaffen, wurden sowohl das bestehende Wohngebäude an der Straße als auch eine marode Lackfabrik im Hinterhof abgebrochen. Das in der Nachkriegszeit entstandene Vorderhaus hatte gerade mal sieben Wohneinheiten beherbergt, der Investor schickte sich an, das gesamte Grundstück einschließlich des verwinkelten Hofareals zu bebauen und alles in allem 28 Wohnungen zu schaffen. Bei der Planung kam mit Thomas Kröger ein Architekt zum Zuge, der sich mit sensibel in die norddeutsche Landschaft gefügten Wohnhäusern einen Namen gemacht hatte und nun seinem ersten innerstädtischen Großprojekt entgegensah. Kröger nahm sich vor, »die historische Prachtstraße mit einem eleganten, identitätsstiftenden Stadtbaustein zu ergänzen, der sich angenehm in die Häuserreihe einfügt.« Dabei sollten »die benachbarten, historisierenden Fassaden mit ihren heterogenen Gliederungen maßstäblich aufgegriffen und zeitgemäß in Material und Gestalt übersetzt werden.«

Geglückte Balance

Was aus dem Plan geworden ist, lässt sich seit gut einem Jahr besichtigen. Zu entdecken ist dabei natürlich viel mehr als eine Fassade, zieht sich der im Mai 2021 fertiggestellte Komplex doch weit in den unregelmäßig geschnittenen Hof hinein und umfasst neben dem Vorderhaus ein siebengeschossiges Hofhaus sowie einen weiteren Riegel samt Seitenflügeln. Doch bei einem Stadthaus in solch prominenter Lage ist es nun mal v. a. die Straßenfront, in der sich Qualität und Charakter eines Entwurfs abzeichnen, sodass es sich allemal lohnt, die Physiognomie des Gebäudes näher in Augenschein zu nehmen. Allerdings ist es mit Hausfassaden nicht anders als mit menschlichen Gesichtern: Der erste Eindruck entscheidet darüber, ob ich mich überhaupt näher mit dem Gegenüber befassen möchte. Beim Haus an der Isar ist das definitiv der Fall. Es fällt angenehm auf. Es demonstriert Individualität, ohne angeberisch aufzutrumpfen. Es aktualisiert gattungsspezifische Muster, ohne sie platt zu kopieren. Die geglückte Balance zwischen Historizität und Aktualität verschafft dem Objekt Aufmerksamkeit im bestmöglichen Sinne: Passanten betrachten es weder als Ärgernis noch als Banalität, sondern als spannende Variation eines altvertrauten Themas.

Trompe l’Œil

Im Unterschied zu den steinernen Nachbarhäusern setzt der Neuling auf eine Vielzahl von Materialien, um sich in Szene zu setzen. Kupfer, Stahl, Glas und Putz spielen die Hauptrollen. Die horizontale Gliederung der Fassade wird durch metallene Gesimsbänder akzentuiert, die Vertikale durch weiß gestrichene Stahlstützen betont. Hinter den vorspringenden Säulchen liegen die Glasflächen der geschosshohen Fenster, die einen Großteil der Fassade einnehmen und gleichsam ihre Kulisse bilden. Ein weiteres hervorstechendes Element ist der über fünf Geschosse aufragende Erker, der mit seinen großen Fenstern die rechte Seite des Gebäudes dominiert. Doch damit nicht genug. Glas und Metall sind nur zwei der drei Materialien, die den Charakter der Fassade prägen. Hinzu kommen verputzte Wandpartien, die aufgrund ihrer ornamentalen Oberflächenstruktur ins Auge fallen. Das zweifarbige Muster aus parallel verlaufenden Zackenbändern erzeugt einen Trompe-l’Œil-Effekt, der die Flächen dreidimensional erscheinen lässt. Kröger erweist damit den in Sgraffito-Technik ausgeführten Wandmalereien seine Reverenz, die man in München vielerorts entdecken kann, wo sie bis in 50er Jahre hinein beliebt waren. Was allerdings die Originale ganz unabhängig von ihrer bildnerischen Klasse gegenüber der Cover-Version in der Erhardtstraße auszeichnet, ist die haptische Qualität massiver Wände. Berührt man die Zackenbandfläche bei diesem Bau, fühlt sie sich warm an; klopft man dagegen, klingt es hohl. Die Wärmedämmschicht als Illusionskiller – sie trübt die Laune bei der Besichtigung dieses insgesamt erfreulichen Bauwerks durchaus.

Aber zurück zur Komposition der Fassade. Deren fünfgeschossiges Mittelstück erhebt sich über einem zweigeschossigen Sockel, der einige gestalterische Besonderheiten aufweist. So springt das EG mit Garagenzufahrt, Hauptportal und Nebeneingang ein wenig zurück, sodass hinter den vier exponierten Zackenbandstützen eine frei zugängliche Loggia entsteht, die den öffentlichen Raum erweitert und Eintretende vor Wind und Wetter schützt. Eine weitere Besonderheit ist das breite Gesimsband zwischen EG und 1. OG: Die Blende aus geflochtenen Kupferstreifen veredelt die Eingangszone und stellt ein Materialthema vor, dem sich Thomas Kröger in luftiger Höhe noch einmal mit großer Leidenschaft widmet. Die Rede ist von der kupfernen Dachlandschaft mit ihren horizontalen Lamellen, abgerundeten Fenstern und gaubenartigen Balkonen. Hinter den Fenstern liegen doppelgeschossige Penthousewohnungen – mit Blick über das Gärtnerplatzviertel auf der einen Seite und zur Isar auf der anderen.

Der Weg zu den Wohnungen im Vorderhaus führt zunächst in ein lang gestrecktes, etwas schummriges Foyer. Dort startet der Aufzug, der jeweils direkt vor den Wohnungstüren haltmacht. Eine Treppe gibt es natürlich auch. Aber sie windet sich in einem erstaunlich engen Gehäuse in die Höhe und dient wohl hauptsächlich als Fluchtweg. Vom Foyer gelangt man auch zu den Rückgebäuden, die sich um zwei Innenhöfe gruppieren. Den vorderen Patio überfängt eine Plattform mit riesigem, kreisrundem Ausschnitt. Ein Opäum? Jedenfalls verleiht das gelochte Dach dem Hofraum eine gewisse Grandezza und hat zudem einen doppelten Nutzen: Im Parterre schützt die Plattform vor Regen, und im 1. OG dienen Teile davon als Terrasse.

Stilgefühl und Ironie

Übrigens fallen auch in den Rückgebäuden die Treppenhäuser ziemlich klein aus. Auf Schritt und Tritt ist zu spüren, dass es bei der Bemessung der Wohnungsgrundrisse offenbar auf jeden Quadratzentimeter ankam. Aber warum man die beengten Erschließungswege ausgerechnet mit schwarzer Teppichware ausgelegt und dadurch visuell noch weiter geschrumpft hat, ist kaum erklärlich. Vielleicht war es einfach die billigere Lösung. Oder handelt es sich etwa um Retro-Pop? Sind es die psychedelischen Siebziger mit ihrer Liebe zum flauschigen Höhlenambiente, denen Thomas Kröger und Stefan Höglmaier hier ihre Reverenz erweisen? Der Gedanke lässt einen nicht so schnell los. Ihn im Hinterkopf, schaut man auch ganz anders auf das Zickzack-Dekor der Außenwände. Erinnert es nicht an die Op-Art-Bilder eines Victor Vasarely oder an die neugeometrischen Objekte eines Marcello Morandini? Betrachtet man das Gebäude durch diese Brille, wirkt es mit seinen doch recht verspielten Fassadenmodulen gar nicht mehr so sehr wie eine zeitgemäße Interpretation gründerzeitlicher Bürgerhäuser. Vielmehr stellt es sich dar als zeitgemäße Version postmoderner Architekturen. Auch in diesem Fall leitet das retrospektive Motiv die Gestaltung. Im Spiel ist aber nicht nur der Sinn für Stil, sondern auch der Wille zur Ironie – die bekanntlich nicht jedermanns Sache ist. Aber die Besitzer der teuren Apartments wird’s kaum tangieren, schließlich wohnen sie in Bestlage.

db, Di., 2022.06.14



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09. März 2021Klaus Meyer
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Edles Gewand

Einmal mehr überzeugt das Büro Staab Architekten mit einer Architekturlösung, die sich hervorragend in den historischen Kontext einfügt. Das 2020 fertiggestellte Evangelische Zentrum steht am Ende der Augsburger Maximilianstraße, die als eine der baugeschichtlich bedeutsamsten Straßen Süddeutschlands gilt. Nicht zuletzt ist es die graue Putzfassade, die dem Gebäudeensemble einen uneitlen und zugleich markant edlen Charakter verleiht.

Einmal mehr überzeugt das Büro Staab Architekten mit einer Architekturlösung, die sich hervorragend in den historischen Kontext einfügt. Das 2020 fertiggestellte Evangelische Zentrum steht am Ende der Augsburger Maximilianstraße, die als eine der baugeschichtlich bedeutsamsten Straßen Süddeutschlands gilt. Nicht zuletzt ist es die graue Putzfassade, die dem Gebäudeensemble einen uneitlen und zugleich markant edlen Charakter verleiht.

Wie modern er zu bauen gedenke, wollte ein Reporter der Augsburger Allgemeinen im März 2017 vom Berliner Architekten Volker Staab wissen. Die Frage zielte natürlich auf das Projekt ab, das die architekturinteressierten Bürger Augsburgs bereits seit sechs Jahren umtrieb: den Neubau eines Evangelischen Zentrums am Südende der Maximilianstraße. Musste man sich auf eine unverschämte Provokation oder eine verpasste Chance einstellen? War mit einem hypermodern anmaßenden oder einem historisierend anbiedernden Schandfleck zu rechnen? Die ausgewogene Antwort des Planers nahm den Skeptikern beider Lager den Wind aus den Segeln. »Wir sind der Meinung, dass wir heute bauen«, begann Staab vorsichtig und fuhr dann fort: »Unser Bau enthält allerdings viele Elemente, die die Verbindung zu den historischen Häusern suchen, z. B. die Dachform und die Art der Fenster. An der Gestaltung der Fenster kann man aber auch erkennen, dass das Ensemble nicht aus dem 18. Jahrhundert, sondern aus der Gegenwart stammt. Ziel ist es, dass die Neubauten auf eine selbstverständliche Weise Teil des Straßenprospekts werden, ohne ihre Entstehungszeit zu verheimlichen.« Genauso ist es gekommen: Das im Mai 2020 fertiggestellte Ensemble fügt sich als zeitgenössisches Teil in ein altehrwürdiges Ganzes ein und bereichert die urbane Einheit, von der es geprägt wurde, durch eine neue Facette.

Von der Via Claudia Augusta zur Maximilianstraße

Dies ist keine geringe Leistung. Denn bei der urbanen Einheit, von der wir hier reden, handelt es sich um eine der kunsthistorisch bedeutsamsten Straßen Süddeutschlands. Die Ursprünge der Maximilianstraße, die sich vom Rathaus im Norden bis zur Basilika St. Ulrich und Afra im Süden erstreckt, reichen zurück bis in die Römerzeit. Ihr nördlicher Abschnitt liegt auf der Via Claudia Augusta, die das 15 v. Chr. gegründete Militärlager Augusta Vindelicum mit Italien verband. Ihr breiterer südlicher Teil entstand aus einer Abfolge von Plätzen, die seit der Barockzeit durch den Merkurbrunnen (1599) und den Herkulesbrunnen (1602) gegliedert wurden. Auf dem Weg vom Rathausplatz zum Ulrichsplatz passierte man den Brotmarkt, den Holzmarkt und schließlich den Weinmarkt. Maximilianstraße heißt die innerstädtische Flanier- und Einkaufsmeile erst seit 1957. Aber seit eh und je wartet sie mit zahlreichen architektonischen Glanzlichtern auf. Die Palette der Baustile reicht von der Gotik bis zur Renaissance (Fuggerhäuser) und vom Rokoko (Schaetzlerpalais, Roeck-Haus) bis zur Nachkriegsmoderne. Jedes Haus in dieser bunten Reihe ist interessant. Keines duckt sich weg, keines drängt sich vor. Und am Ende ist es diese sich zu einer harmonischen Einheit fügende Vielheit aus individuellen Figuren und Charakteren, die den eigentlichen Reiz der Prachtstraße ausmacht.

An ihrem südlichen Ende, wo sie sich zum Ulrichsplatz öffnet, klaffte jahrzehntelang eine Lücke. Der imposante Pfarrhof der evangelischen Kirchengemeinde St. Ulrich, der den nach Osten hin abfallenden Straßenraum gefasst hatte, war in der Bombennacht vom Februar 1944 zu Schutt und Asche zerfallen. Und das bescheidene Pfarrhaus, das 1954 auf dem Ruinengrundstück errichtet wurde, konnte den Verlust des Vorgängerbaus nicht wettmachen. Zwar begann die Diskussion um eine anspruchsvolle Neubebauung des »Ulrichsecks« bereits 1992, doch die konkrete Planung für ein künftiges Evangelisches Zentrum kam erst 2010 in Gang. Nachdem das Büro Staab Architekten 2011 als erster Sieger aus einem beschränkten Realisierungswettbewerb hervorgegangen war, hoffte man auf eine baldige Fertigstellung des Projekts. Doch es kam anders: Im Baugrund legten Archäologen sowohl römische Gräber als auch Spuren jahrhundertelanger Bebauung frei, sodass sich der Baubeginn um sechs Jahre verzögerte.

Drei Häuser und was sie verbindet

Das Evangelische Zentrum, so wie es sich heute präsentiert, ist ein Gebäudeensemble, das aus einer Bischofsresidenz, einem Pfarrhaus und einem Kirchengemeindeamt besteht. Das Amtsgebäude schmiegt sich im Norden an die Brandwand des Nachbarhauses und wendet sich mit seiner Giebelseite der Maximilianstraße zu; die Residenz erstreckt sich an der südlichen entlang des abfallenden Milchbergs; das Pfarrhaus schließt die rückwärtige Flanke des Areals und wahrt dabei so viel Abstand zu dem tiefer gelegenen Afragässchen, dass die dortigen Wohnhäuser nicht verschattet werden.

Interessant an der Konstellation sind nicht nur die Gebäude, sondern auch die Zwischenräume – allen voran der kleine Vorplatz, von dem aus Besucher in das zentrale Foyer gelangen, das Bischofssitz und Gemeindeamt verbindet. Die Verortung des Haupteingangs am Übergang von Ulrichsplatz und Milchberg ergibt Sinn, denn auf diese Weise entsteht ein direkter Sichtbezug zu der gegenüberliegenden evangelischen Kirche St. Ulrich sowie der dahinter aufragenden katholischen Basilika St. Ulrich und Afra. Während der Vorplatz sich nach außen öffnet, bieten zwei weitere Freiräume Ruhe und Schutz. Der von der Residenz, dem Amtsgebäude und dem Pfarrhaus umschlossene Innenhof stößt an den raumhoch verglasten Gruppenraum der Gemeinde und kann für Aktivitäten unter freiem Himmel genutzt werden. Hinter dem Pfarrhaus schließlich liegt ein lang gestreckter Garten. Von dort aus führt eine Treppe an der denkmalgeschützten Sichtziegelmauer hinunter in das Afragässchen.

Gestalten mit Putzoberflächen

Dass die Neubauten sich harmonisch in das historische Umfeld fügen, liegt nicht zuletzt an der Fassadengestaltung. Mit ihren hellgrau verputzten Wänden und den hell gefassten Fenstern fügen die Häuser dem Farb- und Materialkanon der Maximilianstraße eine weitere stimmige Variante hinzu. Der Fassadenputz wurde mit einem durchgefärbten Edelkratzputz in 2 mm Körnung mit 25 mm Putzdicke hergestellt. Der Putz schließt bündig mit der Vorderkante der Stahlbetonfertigteilrahmen der Fenster ab. Im Übrigen hat es noch eine besondere Bewandtnis mit dem grauen Farbton: Indem er das Kolorit der barocken Kirche St. Ulrich aufgreift, stiftet er eine dezente visuelle Einheit zwischen den beiden evangelischen Einrichtungen.

Eine besondere Oberflächengestaltung erfuhren die Sockelzonen der Gebäude. An die Rustizierung der benachbarten Altbauten anknüpfend, stattete man den Erdgeschossbereich des Gemeindehauses mit einem horizontal strukturierten, gezogenen Schablonenputz aus. Das ebenfalls durchgefärbte Material ist feinkörniger als der Fassadenputz und wurde mit einem deckenden Anstrich versehen. Die Sockelzone des Bischofssitzes wurde dagegen nicht verputzt, vielmehr setzt sie die denkmalgeschützte Sichtziegelmauer am Milchberg und am Afragässchen fort.

Obwohl sich die Bauten hinsichtlich ihrer Kubatur, Dimension, Materialität und Farbigkeit ganz selbstverständlich in den städtebaulichen Rahmen einpassen, geben sie sich zugleich deutlich als zeitgenössisch zu erkennen. Details wie die schrägen, asymmetrischen Fensterlaibungen, die geschosshohen Glasflächen im Eingangsbereich, der horizontal gegliederte Sockelverputz oder auch der rollstuhlgerecht als schiefe Ebene angelegte Vorplatz verweisen auf heutige Stilpräferenzen und Nutzungsbedingungen. Wäre mehr drin gewesen? Hätte eine freiere Entfaltung heutiger baukünstlerischer Möglichkeiten dem Ort gutgetan? Vermutlich nicht. Schließlich ging es bei diesem Projekt nicht nur um die Errichtung eines Bauwerks, sondern um die Restaurierung eines Jahrhundertwerks: Der Neubau vervollständigt das Bild der Maximilianstraße – was will man mehr!

db, Di., 2021.03.09



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21. Januar 2020Klaus Meyer
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Lokalkolorit

Gestockter Sichtbeton prägt die Fassade des Neubaus der »Bürgerdienste der Stadt Ulm«, der dem Straßenraum an städtebaulich heikler Stelle ein markantes Gesicht gibt. Seine Materialfarbigkeit bringt der Beton auch ins Innere des Service-Rathauses.

Gestockter Sichtbeton prägt die Fassade des Neubaus der »Bürgerdienste der Stadt Ulm«, der dem Straßenraum an städtebaulich heikler Stelle ein markantes Gesicht gibt. Seine Materialfarbigkeit bringt der Beton auch ins Innere des Service-Rathauses.

Zurzeit prägt schmutziges Baustellengrau die Gegend rund um den Ulmer Hauptbahnhof. Unmittelbar vor dem Hauptportal gähnt eine stahlbetonbewehrte Schlucht, in der mit Hochdruck an einer großflächigen Tiefgarage gearbeitet wird.

Gleich dahinter, wo auf 10.000 m² das Wohn- und Geschäftsquartier »Sedelhöfe« entsteht, verstellen hoch aufragende Rohbauskelette den Weg. Auch die Olgastraße, die vom Bahnhofsplatz abgeht, um dann westwärts dem Verlauf der mittelalterlichen Stadtmauer zu folgen, war bis vor Kurzem eine Baustelle. Man hat die vier Autospuren um Straßenbahngleise ergänzt, die Fahrbahndecke erneuert und die Gehwege verbreitert. Demnächst werden Bäume den »City Ring« säumen, denn die Verkehrsschneise soll sich nach und nach in einen Boulevard, wie es ihn bis in die Vorkriegsjahre hier gab, zurückverwandeln.

An die zerstörte städtebauliche Grandezza von einst erinnert am ehesten noch das imposante Landgericht, das 1898 im Stil der Renaissance an der Olgastraße 106 errichtet wurde. Ferner unterstreicht der jüngst restaurierte, ­expressiv-organische Bau des Theaters Ulm von 1969 die Bedeutung der Straße als Nahtstelle zwischen Alt- und Neustadt. Ansonsten beherrschten lange Zeit mediokre Büro- und Verwaltungsbauten das Straßenbild, das sich allerdings schon seit einigen Jahren wandelt. So sind im Rahmen des Entwicklungsprojekts »Zukunftskonzept Innenstadt 2020« einige Gebäude entstanden, die tatsächlich wieder so etwas wie boulevardesken Flair in den miefigen Verkehrsraum bringen. Dazu zählt das Geschäftshaus »Wengentor« von Stemshorn Kopp Architekten, das Bürogebäude der Staatsanwaltschaft von Schulz und Schulz, die Sporthalle für das Kepler- und Humboldt-Gymnasium von h4a sowie der Sitz der Handwerkskammer von Hotz+Architekten. Das jüngste Projekt dieser Art ist das vom Stuttgarter Büro Bez + Kock Architekten entworfene Gebäude der »Bürgerdienste der Stadt Ulm«.

Heimatliche Gefühle

Das im Januar fertiggestellte Service-Rathaus, das eine Vielzahl städtischer Dienststellen unter einem Dach vereint, hebt sich deutlich von der Umgebung ab. Mit seiner strengen Rasterfassade setzt es einen wohltuenden Kontrapunkt sowohl zum Baustellen-Chaos in Richtung Bahnhof als auch zur Bauklötzchen-Collage des unmittelbar benachbarten Handwerkskammer-Gebäudes. Zur angenehmen Wirkung tragen neben der strukturellen Klarheit aber auch Farbigkeit und Textur der Sichtbetonfassade bei. Dabei fällt es durchaus schwer, die Farbe der Gebäudehülle zu bestimmen. Ein vornehmes Grau scheint durch, aber auch ein freundlich-warmes Beige. Greige trifft es daher wohl am besten. Nun ist Greige ein Farbton, der seit Jahren in der Welt der Mode und des Interiordesigns immer mal wieder als Letzter Schrei aus­gerufen wird. Gefällt einem die Fassade deshalb? Zeigt sich das Geschmacks­urteil hier von kulturindustriellen Prägungen beeinflusst und vorgeformt? Mag sein – oder auch nicht. Denn im Grunde genommen bezeichnet das Etikett »Greige« ja nichts anderes als ein ganzes Spektrum von Farben, die in der Natur allgegenwärtig sind und auch in der Architektur von alters her Verwendung finden. Kalk, Sand, Kies, Gips, Granit, Zement, Beton und Terrazzo prägen mit ihren Greige-Tönen das Gesicht zahlloser Gebäude und ganzer Städte. Als Farben der Erde, die uns an Äcker, Felsgebirge oder Sandwüsten erinnern, sind sie uns ähnlich vertraut wie Grasgrün oder Himmelblau. Wahrscheinlich sind es urheimatliche Gefühle, die ihr Anblick in uns hervorruft. Der Aspekt der modischen Distinktion? Es mag ihn geben, aber für Martin Bez und Thorsten Kock spielte er bei der Fassadengestaltung des Bürgerdienste-Hauses allenfalls eine untergeordnete Rolle.

Eher kam es den Architekten bei der Farbwahl darauf an, dem Gebäude so etwas wie ein Lokalkolorit zu verleihen. Um die Sichtschale der kerngedämmten Ortbetonkonstruktion wie gewünscht einzufärben, wurde der Betonmasse »Ulmer Weiß« beigemischt, ein in der Münsterstadt häufig verwendetes weiß-gelbliches Jurakalkgestein aus der Region. Richtig zur Geltung kommt dessen Farbigkeit freilich erst durch die handwerkliche Behandlung der Betonhülle. Die Flächen wurden gestockt, die Kanten scharriert. Nebenbei entstand auf diese Weise das natursteinähnliche Bild der Fassade.

Schräger Schnitt

Was die Form des Baukörpers angeht, so erscheint sie auf den ersten Blick ganz simpel: Über einem lang gestreckten zweigeschossigen Sockel erhebt sich an der Ostseite ein fünfgeschossiger Turm. Orthogonalität ist vermeintlich das Gesetz, das sowohl die Gliederung der Teile als auch die Form des Ganzen beherrscht – bis man die Abweichung bemerkt: Auf der Westseite ist der Turm leicht abgeschrägt, sodass er sich zur Olgastraße hin schlanker präsentiert als zur rückwärtigen Keltergasse hin, wo sich der Mitarbeiter- und Lieferanteneingang sowie die Zufahrt zum PKW-Aufzug für die Dienstfahrzeuge befinden.

Die Bürger, die einen Termin beim Meldeamt, bei der Ausländerbehörde, bei der Führerscheinstelle oder einer der anderen Dienststellen wahrnehmen möchten, betreten das Haus nicht auf einer der beiden Flanken, sondern auf der östlichen Stirnseite. Der Eingang ist dort in einen Gebäudeeinschnitt integriert, der im selben Winkel wie die westliche Turmseite abgeschrägt ist. Davor erstreckt sich ein kleiner Platz bis zur gegenüberliegenden Handelskammer. Auf diese Weise entsteht eine angemessen repräsentative Eingangssituation, die auch einen praktischen Vorteil bietet: Besucher können den Zugang sowohl von der Innenstadt als auch von der Olgastraße aus bequem erreichen.

Freundliche Präsenz

Maßgebend bei der Raumplanung war v. a. die Besuchsfrequenz. Die beiden Sockelgeschosse beherbergen demzufolge die großflächigen Servicebereiche mit viel Publikumsverkehr. Unmittelbar hinter dem Eingang befindet sich der Infotresen für den Erstkontakt mit den Besuchern. Von dort aus führt der Weg in den zentralen Wartebereich, der als doppelgeschossige Halle ausgebildet ist. Unterm Dach markiert eine großflächige Deckenleuchte den Platz, den idealerweise ein gläsernes Oberlicht hätte einnehmen sollen, doch die optimale Lösung, die den Atriumcharakter des Raums gestärkt hätte, ließ sich leider aus Kostengründen nicht realisieren. Dass die Wartehalle dennoch ­einen starken Eindruck macht, liegt an der Materialität des raumbildenden Rahmens. Wie bei der Außenfassade ist es auch hier gestockter, greigefarbener Sichtbeton, der den Ton angibt und der nördlichen Hallenwand, der umlaufenden Brüstung auf der Galerie sowie der Bewehrung der ins OG führenden Treppe eine Anmutung massiver und zugleich freundlicher Präsenz verleiht.

In Erscheinung tritt das charakterstiftende Material auch im fünf­geschossigen Turm, der weitere Servicestellen, Büros und Besprechungsräume beherbergt. Aus gestocktem Sichtbeton sind sowohl die Wände des tragenden Gebäudekerns als auch die Brüstungen der daran anschließenden Lufträume, die jeweils zwei Geschosse verbinden und die ansonsten nüchtern-funktional ausgestatteten Flurbereiche deutlich aufwerten.

Dass die Mélange aus weißen Wandflächen, grauen Streckmetalldecken und greigefarbenem Beton etwas eintönig wirken könnte, war den Architekten ­bewusst. Sie haben die Gefahr durch einen kräftigen Farbtupfer gebannt: Die Sitzkissen auf den von den Planern entworfenen Wartebänken und die schalldämpfenden Wandbespannungen der Serviceboxen in den Sockelgeschossen sind aus leuchtend rotem Filz und bilden einen belebenden Kontrast zum ­vorherrschenden Kolorit. Im Bereich der Wartehalle setzen zwei Wandfragmente aus rotem Backstein einen weiteren Akzent. Die Scheiben sind durch farblich hervorgehobene Streifen auf dem Terrazzoboden verbunden. Diese Streifen zeichnen den Grundriss eines Pulverturms aus dem 14. Jahrhundert nach, dessen Überreste im Zuge der Fundamentlegung des Gebäudes freigelegt wurden. »Der Fund brachte die Bauarbeiten erst einmal zum Stillstand und hätte das Projekt fast vereitelt«, sagt Martin Bez. Gut, dass es ­weitergegangen ist. Der Sitz der »Bürgerdienste der Stadt Ulm« gibt dem Straßenraum an einer städtebaulich empfindlichen Stelle ein neues, sympathisches Gesicht. Und mit seinem hellen und freundlichen Interieur bietet er den Besuchern eine sicherlich willkommene Erholung vom ewigen Bau- und Straßenlärm vor der Tür.

db, Di., 2020.01.21



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db 2020|01-02 Greige

04. April 2019Klaus Meyer
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Verschlankter Luxus

Die Hotelkette Ruby steuert mit ihrer Lean-Luxury-Philosophie auf Erfolgskurs: Sie nutzt dazu zentral gelegene Bestandsbauten und ermöglicht durch Konzentration auf das Wesentliche – ohne Restaurant- und Wellnessangebote – mit flächeneffizienter Raumnutzung, schlanker Organisation, aber hochwertiger Ausstattung eine bezahlbare Form von Luxus für kosten- und stilbewusste Kunden.

Die Hotelkette Ruby steuert mit ihrer Lean-Luxury-Philosophie auf Erfolgskurs: Sie nutzt dazu zentral gelegene Bestandsbauten und ermöglicht durch Konzentration auf das Wesentliche – ohne Restaurant- und Wellnessangebote – mit flächeneffizienter Raumnutzung, schlanker Organisation, aber hochwertiger Ausstattung eine bezahlbare Form von Luxus für kosten- und stilbewusste Kunden.

Wer im Ruby Lotti absteigt, dem liegt Hamburg buchstäblich zu Füßen. Die Lage könnte kaum besser sein: In unmittelbarer Nachbarschaft finden sich beliebte Gaststätten, aber auch die Einkaufsmeile rund um den Jungfernstieg und die Elbphilharmonie sind bequem per pedes zu erreichen. Seinen Betrieb nahm das Hotel im Herbst 2018 auf. Zuvor hatte das 1993-95 von gmp errichtete Bürogebäude, das sich an den Bleichenfleet anschmiegt und deshalb »Fleetbogen« hieß, als Bürohaus für das Deutsch Japanische Zentrum gedient. Seine Bruttogrundfläche von 10 215 m², verteilt auf sieben Geschosse, bietet Raum für 290 Hotelzimmer – damit ist Ruby Lotti das bislang größte Haus der Ruby-Gruppe.

Gründer und Kopf des Unternehmens ist der Münchener Michael Struck, der 1973 als Kind deutscher Eltern in den USA zur Welt kam, Betriebswirtschaft studierte und in leitenden Funktionen für diverse Hotelgruppen tätig war, bevor er 2013 die Ruby Hotels & Resorts ins Leben rief. Gleich mit dem ersten Hotel, 2014 in Wien eröffnet, bewies Struck einen guten Riecher bei der Wahl des Standorts: Das Ruby Sofie liegt im Seitenflügel der renovierten Sofiensäle, jenes Ende des 19. Jahrhunderts im secessionistischen Stil überformten Veranstaltungszentrums, in dem vor dem verheerenden Brand im Jahre 2001 Popstars von Johann Strauss bis Falco aufgetreten waren. Es folgten mit Ruby Marie im ehemaligen Kaufhaus Stafa und Ruby Lissi in einem denkmalgeschützten Klostergebäude zwei weitere Hotels in Wien. 2017 eröffnete das Ruby Lilly in München, wo auch die Verwaltungszentrale des Unternehmens ansässig ist; 2018 kamen das Ruby Coco nahe der Düsseldorfer Kö und das Hamburger Ruby Lotti hinzu.

In München und Hamburg bietet Ruby zudem Räumlichkeiten fürs Coworking an, die nicht nur von Hotelgästen, sondern auch von Freelancern oder Projektteams vor Ort angemietet werden können. Zehn weitere Hotelprojekte u. a. in Köln, Frankfurt, London, Zürich und Helsinki sind im Bau oder in Bauvorbereitung. Bei der Expansion stehen dem Unternehmen kapitalstarke Partner zur Seite; die österreichische Soravia Gruppe, ein Private-Equity Fonds, der Unternehmer Michael Hehn, ein deutsches Family Office sowie Michael Struck halten gemeinsam die Firmenanteile.

Modular in den Bestand

Statt neue Hotels zu bauen, setzt die Ruby-Gruppe auch weiterhin auf die Umnutzung bestehender Gebäude, wobei die innerstädtische Lage inzwischen zum bestimmenden Kriterium für die Auswahl der Immobilien geworden ist. Man fokussiert sich nicht mehr ausschließlich auf architekturhistorisch interessante Objekte wie in den Anfangsjahren in Wien, sondern investiert auch in mittelprächtige Bürogebäude, sofern sie nur in der Nähe großstädtischer Hotspots liegen.

»Mein Team und ich haben ein modulares Architekturinstrumentarium entwickelt, mit dem wir fast unabhängig von den Grundgegebenheiten eines Gebäudes zu einer sehr flächeneffizienten Nutzung kommen«, erläutert Michael Struck. »Beispielsweise haben wir mehr als 100 verschiedene Zimmergeometrien entwickelt – schlank und lang genauso wie kurz und breit, dreieckig oder L-förmig. Damit können wir die maximale Zahl von Zimmern in den meist feststehenden Grundflächenformen unserer Gebäude unterbringen.« Dank dieser Flächeneffizienz könne man »fast doppelt so viel Umsatz pro Quadratmeter erlösen wie ein konventionelles Hotel«. Zur flächeneffizienten Raumorganisation gehört die Unterbringung der Badfunktionen im Zimmer selbst: Weil man Waschplatz, Duschkabine und WC-Box in den Schlafraum integriert, müssen raumgreifende Nasszellen bei der Grundrissplanung nicht berücksichtigt werden.

Lean Luxury

Die Klugheit, die das Unternehmen bei der Auswahl und beim Ausbau seiner Häuser walten lässt, bildet eine wichtige Voraussetzung für den ökonomischen Erfolg, aber natürlich kommen imagebildende Faktoren hinzu. Zusammenfassen lassen sie sich in dem Markenversprechen »Lean Luxury«, mit der die Ruby-Gruppe ihre Gäste umwirbt. Unter schlankem Luxus versteht ­Michael Struck »eine Lage im Herzen der Stadt, top Design sowie eine hochwertige Ausstattung in wesentlichen Bereichen – und das zu bezahlbaren Preisen.« Das funktioniere, weil man in den Ruby-Hotels den Luxus nach dem Vorbild moderner Yachten auf relativ kleiner Fläche unterbringe und Unwesentliches einfach weglasse.

Keine Suiten, keine weitläufigen Zimmer mit Minibar und riesigem Bad, ­keine Tagungsräume, kein Restaurant, kein Spa-Bereich, kein Roomservice – dafür hervorragende Matratzen und Duschen, hochwertiges Mobiliar und ein exzellentes Frühstück in einer coolen Lobby: Dieses, Aufwertung und Verschlankung geschickt kombinierende Konzept hat Michael Struck keineswegs erfunden; bereits seit dem Jahr 2000 beweist etwa der Hotelier Dieter Müller mit seiner inzwischen 71 Häuser umfassenden Low-Budget-Hotelkette Motel One, welche geschäftlichen Potenziale die Strategie »Viel Design für wenig Geld« birgt.

Dennoch ist Ruby keine Kopie von Motel One. Allein das Umnutzungskonzept sorgt bei den Ruby-Häusern für mehr Varianz im Hinblick auf die Größe und Atmosphäre der Räumlichkeiten.

Hinzu kommt ein Interiordesign, das zwar ebenso wie die Konkurrenz auf standardisierte Einrichtungsmodule setzt, aber sehr viel Raum für individuelle Möblierung und Dekoration lässt. In den öffentlichen Bereichen beispielsweise bemüht man sich stets darum, mittels narrativer Gestaltungselemente ein themenbezogenes Lokalkolorit heraufzubeschwören. Wie das konkret aussehen kann, lässt sich beispielsweise im Münchner Ruby Lilly studieren.

Das in einem 1973-75 von Kurt Ackermann am Stiglmaierplatz erbauten ehemaligen Bürogebäude untergebrachte Hotel verfügt über eine doppelgeschossige Lobby mit Galerie. Wände, Decken, Regale sowie Empfangs- und Bar­tresen der weitläufigen Hotelhalle sind schwarz lackiert, Gitterstrukturen und Profile aus Metall setzen goldfarbene Akzente. Vintagesessel in verschiedenen Größen und Formen beleben das dunkel gehaltene Ambiente. Das übrige ­Mobiliar ist ein Mix aus klassischen Bistro-Tischen, robusten Holzstühlen, ­lederbezogenen Bänken und rustikalen Massivholztischen. Beim Dekor haben sich die Gestalter vom Topos der »Münchner Schickeria«, wie man sie aus den Fernsehserien »Monaco Franze« und »Kir Royal« von Helmut Dietl kennt, inspirieren lassen: Von der Decke hängt ein Leuchter aus goldenen Champagnerflaschen; in einem Regal sind Filmkassetten, alte Illustriertentitel und Sektkelche arrangiert; am Eingang steht eine Skulptur aus Röhrenfernsehern, über deren Bildschirme »Monaco Franze« in Endlosschleife flimmert. Nach einer Figur aus dieser Kult-Serie ist denn auch das Hotel benannt: Lilly ist die kurvige Brünette (Michaela May), die der Serienheld (Helmut Fischer) im Fasching anschmachtet.

Vom Nachtschwarz der Lobby und der übrigen öffentlichen Räume heben sich die hellen Hotelzimmer deutlich ab. Dunkel sind hier nur die halbhohen Kirschholzvertäfelungen, ansonsten dominieren lichtgraue Flächen das Ambiente. Zur Standardausstattung gehören lasierte Dielenböden, Textilvor­hänge und weiß bezogene Luxusbetten mit 30 cm hohen Taschenfederkernmatratzen. Viele der insgesamt 174 Zimmer bieten dank bodentiefer Fensterfronten einen weiten Panoramablick über München. Zur Auswahl stehen Räume verschiedener Kategorien von »Nest Rooms« (14-15 m²) über »Cosy Rooms« (15-18 m²) und »Lovely Rooms« (18-19 m²) bis hin zu »Wow Rooms« (19-22 m²).

Wenn der Ruby-CEO fordert, die Ausstattung in einem Stadthotel müsse sich auf das Wesentliche fokussieren, so meint er dreierlei: »Schlafen, Duschen und Multimedia.« In punkto Medien haben die Ruby Hotels tatsächlich einiges zu bieten: Jedes Zimmer ist mit einem 42’’ HD-Fernsehgerät, einem Tablet-PC und einem Smartphone ausgestattet. Letzteres können die Hotelgäste während ihres Aufenthalts auch unterwegs kostenlos nutzen und verfügen ­dabei über ein unbegrenztes Daten- und Gesprächsguthaben. Damit nicht ­genug: Auf jedem Zimmer stehen kleine Marshall-Verstärker für spontane Jam Sessions bereit, die E-Gitarren dazu kann man sich kostenfrei am Empfang ausleihen. Nicht der schlechteste Grund, einmal eine Nacht in einem ­Ruby-Hotel zu verbringen – für ca. 90 Euro aufwärts.

db, Do., 2019.04.04



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db 2019|04 Auf Reisen

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Presseschau 12

10. April 2024Klaus Meyer
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Firmenzentrale in Bludenz

Außen und innen prägt rötlicher Sichtbeton die neue Zentrale des Vorarlberger Unternehmens Jäger Bau. Doch das monochrome Bauwerk in Bludenz wirkt alles andere als monoton. Kubatur, Fassade und Interieur setzen grandiose Kontrapunkte zum farblichen Gleichklang.

Außen und innen prägt rötlicher Sichtbeton die neue Zentrale des Vorarlberger Unternehmens Jäger Bau. Doch das monochrome Bauwerk in Bludenz wirkt alles andere als monoton. Kubatur, Fassade und Interieur setzen grandiose Kontrapunkte zum farblichen Gleichklang.

Zum Einsatz kam Grauzement mit einem zehnprozentigen Zuschlag von Flüssigbraun der Handelsmarke HS 655 N F-BB. Doch der neue Firmensitz des österreichischen Bauunternehmens Jäger Bau schaut weder graubraun noch bräunlich-grau aus. Vielmehr präsentiert sich das Gebäude in einem Zwischenton, den zu benennen gar nicht so leicht fällt. Altrosa? Korallenrot? Indischrot? Porphyrrot? Jedenfalls prägt der rötliche Zwischenton des Sichtbetons nicht nur das äußere Erscheinungsbild des Jägerbaus, sondern auch den Charakter der Innenräume. Alles wirkt wie aus einem Guss, wie gerade ausgeschalt und zugleich ungemein fein. Der Architekt Markus Innauer spricht denn auch von einem »Edelrohbau«.

Doch der Reihe nach. Schauplatz dieser Geschichte ist die im Süden Vorarlbergs gelegene Bezirkshauptstadt Bludenz. Der Ort hat rund 16 000 Einwohner:innen, bildet das Zentrum von fünf umliegenden Alpentälern und gehört dem Tourismusverband der »Kleinen Historischen Städte« Österreichs an, die sich dadurch auszeichnen, dass sie ein geschlossenes, historisches Stadtbild mit zahlreichen Sehenswürdigkeiten aufweisen. Zu den schönsten Baudenkmälern in Bludenz zählt die barocke St.-Laurentiuskirche, die über der Altstadt auf einem Felsvorsprung thront. Zu ihren Füßen verläuft die Herrengasse, die, nachdem sie das historische Stadtzentrum in südöstlicher Richtung durchquert hat, in ein vorstädtisches Wohngebiet führt. Zwischen Kern- und Vorstadt liegt ein von mehrgeschossigen Geschäftsbauten geprägter Straßenabschnitt. Eins dieser Gebäude ist der auf dem Areal des ehemaligen Viehmarkts errichtete, im Januar 2023 fertiggestellte Jägerbau.

Ein Zeichen setzen

Die Firma hatte das Baugrundstück im Frühjahr 2019 erworben. Dem Kauf war der Beschluss der Geschäftsleitung vorausgegangen, den Unternehmenssitz vom nahe gelegenen Schruns nach Bludenz zu verlegen. »Mit dem Bau des neuen Headquarters wollten wir ein Zeichen setzen, das die dynamische und nachhaltige Entwicklung des Unternehmens zum Ausdruck bringt«, sagt Geschäftsführer Thomas Lang. Zudem wollte man alle Geschäftsbereiche des in der Projektentwicklung, dem Hoch- und Tiefbau sowie dem Untertagebau aktiven Unternehmens unter einem Dach vereinen. Auch die Tochterfirma »bad 2000«, ein Anbieter von Fliesen und Natursteinen, sollte mit Büros und großzügigen Ausstellungsflächen in die neue Zentrale einziehen. Und noch etwas war zu berücksichtigen: Bei der Tiefgarage waren außer Stellplätzen für die Autos der Mitarbeitenden auch öffentliche Parkflächen einzuplanen.

Bei dem geladenen Wettbewerb, den der Bauherr nach dem Ankauf des Grundstücks auslobte, kamen 14 Büros zum Zuge, darunter Johannes Kaufmann aus Dornbirn (2. Preis) und Hackl und Klammer aus Röthis (3. Preis). Den Siegerentwurf legten Innauer Matt Architekten aus Bezau vor. Seit der Gründung ihres Büros im Jahre 2012 widmen sich Markus Innauer und Sven Matt unterschiedlichsten Projekten, doch ganz gleich, ob es um ein Wohnhaus, eine Kunsthalle oder eine Bergkapelle geht: Man bemühe sich stets, »die Aufgabe nahe am Ort, der Landschaft und ihren Bewohnern zu interpretieren«, so Markus Innauer. Immer suche man nach einer »Baukunst, die durch eine unaufgeregte Alltäglichkeit vertraute Orte mit Bestand schafft«. Den Anspruch teilen Innauer und Matt mit zahlreichen Protagonisten der Vorarlberger Architektenschule. Etliche, darunter auch das Duo aus Bezau, haben ihn mehrfach mit Bravour erfüllt. Doch wie steht‘s mit dem Jägerbau?

Den Kontext beachten

Dass der Baukörper trotz seiner monochromen Hülle alles andere als monoton wirkt, liegt an seiner markanten Fassadenstruktur und der intelligenten Massenverteilung. Vor Augen haben wir einen Quader mit hohem Sockelgeschoss und zwei OGs, dem auf der nordwestlichen Stadtseite ein zweigeschossiger Riegel aufgesetzt ist. Ganz oben im Turm residiert die Geschäftsleitung, darunter befinden sich Gemeinschaftsräume wie Küche, Bar und Cafeteria für die Belegschaft sowie ein Konferenzraum. Viel Platz bietet außerdem die südöstlich vorgelagerte Dachterrasse, die zum Entspannen, Feiern und Sightseeing einlädt. Im Übrigen kommt der abgestuften Dachsilhouette auch eine städtebaulich-ästhetische Funktion zu, denn aufgrund des Höhensprungs zwischen fünfgeschossigem Turm und dreigeschossigem Quader fungiert der Jägerbau als Bindeglied zwischen der Kernstadt mit ihren höheren Gebäuden und der Vorstadt mit ihrer niedrigen Wohnbebauung.

Eine weitere Besonderheit der Gesamtkubatur ist die quadratische Aussparung an der nordwestlichen Gebäudeecke. Der kleine, baumbestandene Vorplatz, der auf diese Weise entstanden ist, markiert den Eingangsbereich und bildet einen luftigen Kontrapunkt zu der symmetrisch durchorganisierten Fassade. Kleine, platzartige Öffnungen zwischen den Gebäuden finden sich mehrfach in der Umgebung. Diese »Platzgefäße« haben die Architekten zur Anlage des Vorplatzes inspiriert.

Auch bei der Fassadengestaltung ließen sie sich von lokalen Vorbildern leiten. Im Sockelgeschoss beispielsweise erinnert die alternierende Abfolge von konisch nach unten zulaufenden Betonstützen und geschosshohen Schaufenstern an die Arkadengänge in der Altstadt. In den OGs bestimmt der Kontrast von breiten, horizontalen Elementen (Gurtgesimse, Fensterbänder) und schmalen, vertikalen Betonlamellen das Bild. Der Clou dabei sind die schrägen, abwechselnd nach vorn und nach hinten gekippten Lamellenkanten. Durch die Vor- und Rücksprünge variiert das Fassadenbild je nach Perspektive.

Farbe bekennen

»Die Farbwirkung der Gebäudehülle indes changiert je nach Tageslicht«, sagt Markus Innauer. Das Spektrum reiche von einem matten Altrosa bis zum glänzenden Rotbraun. Für die Wahl des rötlichen Zwischentons seien zwei Punkte ausschlaggebend gewesen. Zum einen verleihe die Farbe dem Gebäude einen warmen, angenehmen Look, zum anderen präsentierten sich auch zahlreiche Häuser in der Altstadt im ganz ähnlichen Rotton.

Zwar ist der rötliche Sichtbeton auch im Inneren des »Edelrohbaus« allgegenwärtig, doch dort kontrastiert er immer wieder mit anderen Stoffen und Farben, so etwa mit hellen Eichendielen, roten Terrazzoböden, braunen Naturfaserteppichen und messingfarben lackierten Metallgeländern. Nicht zuletzt dank der feinen, exzellent verarbeiteten Materialien fühlt man sich im Jägerbau vielerorts wie in einem modernen Museum oder einem vornehmen Bankhaus. Doch mehr noch als jede raumbegrenzende Fläche ist es eine einzige raumbildende Form, die den Blick im Gebäudeinneren beinahe von jedem Standort aus auf sich zieht: Der ellipsenförmige, von Balkonen gesäumte Innenhof im Zentrum des Gebäudes ist sein lebendiges Herz und architektonisches Highlight. Im EG öffnet sich das weitläufige Foyer, das auch als Veranstaltungssaal dient, mit raumhohen Glastüren auf diesen Hof. Im ersten und zweiten OG, wo sich die Bürozonen entlang der Außenwände erstrecken, sind die Besprechungszimmer, Teeküchen und Aufenthaltsbereiche direkt dem Hof zugeordnet.

Nicht zuletzt ist die Firmenzentrale ein gebautes Zeichen, das der Imagebildung und der Kommunikation der Unternehmensidentität dienen soll. Als Baufirma legte man deshalb großen Wert darauf, die eigenen Kompetenzen für alle Mitarbeitenden und Besucher:innen sicht- und erlebbar zu machen. Das Versprechen qualitätvollen Bauens, das die Firma ihrer Kundschaft gibt, ist im Gebäude tatsächlich überall spürbar, so etwa im Foyer mit seiner von über 300 Betonaussparungen strukturierten Decke oder im Innenhof mit seinen elegant gerundeten Geschossdecken. Auch draußen ist es der rötliche Sichtbeton der Betonfertigteilfassade und Tragstruktur, der die handwerklichen Fertigkeiten der Firma Jäger Bau anschaulich werden lässt.

db, Mi., 2024.04.10



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db 2024|03 Zwischentöne

06. November 2023Klaus Meyer
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Genossenschaftliches Wohnen »BON« in Bad Aibling

Auch so geht »Einfach bauen«: Nach drei viel beachteten Forschungshäusern errichteten Florian Nagler Architekten unlängst ein Mehrfamilienhaus auf dem B&O Parkgelände im oberbayerischen Bad Aibling. Nicht zuletzt überzeugt das lange Holzhaus durch seine feingliedrige Balkonfront.

Auch so geht »Einfach bauen«: Nach drei viel beachteten Forschungshäusern errichteten Florian Nagler Architekten unlängst ein Mehrfamilienhaus auf dem B&O Parkgelände im oberbayerischen Bad Aibling. Nicht zuletzt überzeugt das lange Holzhaus durch seine feingliedrige Balkonfront.

Das 66 Hektar große Gelände im Nordwesten von Bad Aibling hat eine bewegte Geschichte hinter sich. Einst Militärflugplatz, dann Kriegsgefangenenlager und später US-Militärstützpunkt samt Abhörstation, verfiel es nach dem Abzug der Amerikaner in einen Dornröschenschlaf. Die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA) übernahm das Areal, doch die Entwicklung kam erst in Gang, als die Wohnungsbaugesellschaft B&O 2006 ein ökologisches Wohnquartier im Norden schuf. Im Süden entstand ein Sport- und Veranstaltungspark, im Südwesten siedelten sich Unternehmen an. Das Zentrum blieb vorerst unbebaut. Seit Jahren dient das Gelände B&O als Experimentierfeld. Schankula Architekten errichteten 2011 das höchste Holzhaus Europas. Ein Holz-Parkhaus von HK Architekten aus Vorarlberg folgte 2022. Besondere Aufmerksamkeit erhielten auch drei Forschungshäuser, entworfen von Florian Nagler, einem Münchner Architekten und Hochschullehrer.

Die drei Wohnhäuser entstanden im Zusammenhang mit dem Forschungsprojekt »Einfach bauen«, das ein Team von Architekten und Ingenieuren seit 2012 an der TU München betreibt. »Ziel ist die Errichtung robuster, einfach zu nutzender Gebäude, die mit minimalem Einsatz von Haustechnik, möglichst geringer Verwendung grauer Energie und geringem Energieverbrauch dennoch wirtschaftlich gebaut werden können«, sagt der Architekt Tilmann Jarmer vom Forschungsteam. Die Mittel zur Umsetzung des Ziels sind vielfältig: »Einfach bauen« setzt auf einschichtige Wand- und Deckenkonstruktionen, verzichtet weitgehend auf Sonderbauteile und Hilfsstoffe, trennt konsequent Gebäude und Haustechnik, nutzt die thermische Trägheit großer Speichermassen und legt Wert auf angemessene Fensterflächen, um einen zusätzlichen Sonnenschutz zu vermeiden. Nach diesen Prinzipien entwarfen Florian Nagler Architekten auch das unweit der drei Forschungshäuser platzierte Gebäude, um das es hier gehen soll.

Das dreigeschossige Holzhaus, errichtet im Auftrag der Wohngenossenschaft Wogeno München eG, wurde 2022 fertiggestellt und beherbergt 23 Wohnungen unterschiedlichen Zuschnitts und einen Gemeinschaftsraum. Das Gebäude erstreckt sich auf einer baumbestandenen Grünfläche von Nordwest nach Südost. Die Eingangsfront mit den vorgelagerten Balkonen blickt nach Südwesten auf einen Kindergarten; an die Rückseite schließen sich Privatgärten an, hinter denen sich das oben erwähnte Parkhaus erhebt. Eine gepflasterte Quartierstraße führt schräg auf den mittig platzierten Haupteingang zu.

Außen luftig, innen massiv

Wer sich dem Haus von dort nähert, sieht sich getäuscht, sofern er oder sie »Einfach bauen« mit anspruchsloser Ästhetik gleichgesetzt hatte. Das Fassadenbild, das sich aus horizontalen Balken und vertikalen Latten, aus vorspringenden Balkonen und hintergründigen Wandflächen, aus verschleierten und einsehbaren Freiräumen zusammensetzt, wirkt kein bisschen fad, sondern, im Gegenteil, heiter, lebendig, abwechslungsreich. Nicht zuletzt überzeugt die komplexe Fassade durch die Ablesbarkeit architektonischer Strukturen. Gleich auf den ersten Blick erschließt sich die Geschossgliederung, bei näherem Hinsehen entdeckt man die symmetrische Verteilung der Wohneinheiten, und schließlich verweist die Abfolge der Balkonstützen auf das Raster von 3,10 m, das dem Entwurf zugrunde liegt. Innerhalb des von regelhaften Verhältnissen bestimmten Bildes fällt auch der Hauseingang nur geringfügig aus der Reihe: Als Markierung des Portals dient lediglich ein Querbalken, auf dem die mittlere der insgesamt 17 Balkonstützen ruht.

Hinter der doppelflügeligen Haustür befindet sich ein kurzer Eingangsflur, der auf einen quer liegenden Gang mit je einem Treppenhaus am Ende stößt. Der Erschließungskern ist aus Stahlbeton und bildet, zusammen mit den Außenwänden aus massiven, kreuzverleimten Holztafeln, die Tragstruktur des Gebäudes. Im Vergleich zum Holz-Forschungshaus mit seinen 39 cm dicken Außenwänden wurde die Wandstärke beim Wogeno-Gebäude auf 26 cm reduziert, wodurch rund 55 m² zusätzliche Wohnfläche gewonnen werden konnten. Die geringere Speichermasse der Gebäudehülle wird teilweise kompensiert durch den massiven Betonkern, dessen thermische Trägheit sich ausgleichend auf das Raumklima im Haus auswirkt.

Aufenhaltsqualität im Gang und auf den Treppen lässt indes zu wünschen übrig, was jedoch weniger an den schmalen Räumlichkeiten und nackten Sichtbetonwänden als vielmehr an der schummrigen Beleuchtung liegt. Tageslicht von oben wäre die Lösung, aber im Rahmen des »Einfach bauen«-Konzepts wohl zu kostspielig. Die Helligkeit und Großzügigkeit, die den Verkehrsräumen abgehen – wird man sie hinter den eichenen Wohnungstüren finden?

Zunächst führt uns der Weg ins DG, wo außer Abstellräumen für die Hausgenoss:innen auch die Gebäudetechnik untergebracht ist. Ein Jahr nach dem Einzug der ersten Bewohner:innen hat man sich dazu entschlossen, die Schallisolierung der Technikräume zu optimieren, weil der Betriebslärm der Geräte, Rohre und Leitungen sich in den Wohnungen des OGs zu stark bemerkbar gemacht hatte. Wie man an dieser »Baustelle« erkennen kann, ist »Einfach bauen« auch ein Lernprozess. Auf einen anders gearteten Prozess deutet der Zustand des im EG gegenüber dem Eingang gelegenen Gemeinschaftsraums hin. Der Raum steht leer und macht einen etwas verwahrlosten Eindruck, was freilich nicht auf technische oder gestalterische Mängel zurückzuführen ist, sondern soziale Gründe hat: Inzwischen sind zwar alle Wohnungen vergeben, doch eine echte Hausgemeinschaft muss sich wohl erst noch entwickeln.

Highlights im Freien

Im EG gibt es neben dem Gemeinschaftsraum, einem Funktionsraum und einem Gästeapartment sechs Wohneinheiten. Auf den OGs befinden sich je acht Einheiten. Egal ob Familienwohnung mit 120 m² und vier Zimmern oder 54 m² großes Single-Apartment, jede Wohnung hat einen Sonnenbalkon mit großer Glastür für eine helle Atmosphäre. Die hochwertige Ausstattung mit Eichendielen, Holzfenstern und weiß verputzten Innenwänden trägt zur modernen Atmosphäre bei. Doch das Highlight ist der luftige Freisitz – großzügig bemessen für vielseitige Nutzung als Essplatz, Aussichtsplattform und Wohnzimmer im Freien. Die vorgesetzte Balkonkonstruktion schützt vor direkter Sonneneinstrahlung und eliminiert zusätzliche Verschattungselemente.

»Heute hätten wir die Balkonfront etwas aufwendiger konstruieren müssen«, sagt Projektleiter Tilmann Jarmer und deutet auf ein kaum sichtbares Detail der im Wesentlichen von exponierten Balken und Stützen getragenen Konstruktion hin. Dass die Balkonplattformen hausseitig auf vorkragenden Auflagern ruhen, verstößt gegen eine inzwischen verschärfte Schallschutznorm. Doch eine stärkere Trennung von Hausvolumen und Vorbau hätte das feingliedrige Erscheinungsbild der Fassade sicherlich beeinträchtigt. Und das wäre schade. Schließlich ist das neue Holzhaus auf dem B&O Parkgelände ein Vorzeigemodell – gerade wegen seiner Eingangsfront mit den sonnigen Südwestbalkonen.

Bauherr: Wohngenossenschaft Wogeno München eG
Architektur: Florian Nagler Architekten, München
Projektleitung: Tilmann Jarmer
Tragwerksplanung: merz kley partner, Dornbirn
Brandschutzplanung: esg Ingenieure, Traunreut
Bauphysik: ig-bauphysik, Hohenbrunn
HLS-Planung: Duschl Ingenieure, Rosenheim
Landschaftsarchitektur: Umwelt und Planung, Rosenheim
BGF: 2 364 m²
BRI: 8 944 m³
Baukosten: 3,84 Mio. Euro (KG 300 und KG 400, ohne MwSt.)
Bauzeit: November 2021 bis Juli 2022

db, Mo., 2023.11.06



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db 2023|11 Balkone und Loggien

07. November 2022Klaus Meyer
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Vorhang auf!

Ein feines Entree zu dem Neubauquartier an der Paul-Gerhardt-Allee im Münchner Westen: Der 2021 fertiggestellte Wohn- und Geschäftskomplex von allmannwappner besticht durch abwechslungsreiche Fassadenbilder dank beweglicher Metallvorhänge.

Ein feines Entree zu dem Neubauquartier an der Paul-Gerhardt-Allee im Münchner Westen: Der 2021 fertiggestellte Wohn- und Geschäftskomplex von allmannwappner besticht durch abwechslungsreiche Fassadenbilder dank beweglicher Metallvorhänge.

In dem unscheinbaren Giebelhaus an der Berduxstraße werden anfangs brave Familien gewohnt haben, doch seit vielen Jahren dient der 50er-Jahre-Bau nun schon als Bordell. Damit Freier die schäbige Hütte als ihren Traumpalast identifizieren können, prangt ein roter Neonschriftzug an der Einfahrt, der praktisch zu jeder Tages- und Nachtzeit die frohe Botschaft »Geöffnet« verkündet. Der Puff (der übrigens bis zu ihrem Tod im Jahre 2016 von der Schauspielerin Margit Geissler betrieben wurde) ist das bizarrste, aber nicht das letzte Relikt aus der wilden Zeit des Gleisdreiecks im Münchner Westen. Es gibt auch noch den »ReifenMann«, eine hinter Zaun, Buschwerk und Reklametafeln verborgene Münchner Institution. Auf dem Rest des 33 ha großen Areals entsteht seit einigen Jahren etwas vollkommen Neues.

Das Gelände liegt zwischen Paul-Gerhardt-Allee, Bärmannstraße und zwei Bahntrassen im Stadtteil Pasing-Obermenzing. Vor hundert Jahren durchquerte die Haupttrasse in ihrem Verlauf von München nach Pasing noch Äcker und Kuhweiden. Später errichtete die Bahn Lagerhallen und Werkstätten auf dem Gleisdreieck, doch seit der Bahnprivatisierung in den 90er-Jahren wurden die Gebäude nach und nach von privaten Gewerbetreibenden wie dem »ReifenMann« in Beschlag genommen. Als eine der letzten »zentralen« Bahnflächen rückte das Areal vor rund zehn Jahren in den Fokus der Münchner Stadtplaner: Aus dem wilden Gewerbepark sollte ein schmuckes Wohnquartier mit Grundschule, Sporthalle, Kindertageseinrichtungen, Geschäften, öffentlichen Grünflächen und rund 5 500 Wohneinheiten werden.

Ein exponierter Platz

Im Jahr 2012 gewann das Münchner Büro Palais Mai Architekten zusammen mit Lohrer Hochrein Landschaftsarchitekten den städtebaulichen und landschaftsplanerischen Ideenwettbewerb für das gesamte Neubauquartier. Der Masterplan sah polygonale Wohnhöfe vor, die die Geometrie des angrenzenden Gleisdreiecks aufnehmen. Einen der zwei geplanten Stadtplätze positionierten die Architekten im Inneren des Areals; der andere lag am westlichen Entree des neuen Stadtviertels – an der Kreuzung von Paul-Gerhardt-Allee und Hermine-von-Parish-Straße. Auf dem exponierten Grundstück sollte auch ein Wohnkomplex mit integrierten Geschäften entstehen. Den 2016 durchgeführten Realisierungswettbewerb für das stadträumlich wichtige Nahversorgungszentrum mit vorgelagertem Platz gewann das Münchner Architekturbüro Allmann Sattler Wappner (das seit 2021 als allmannwappner firmiert) zusammen mit dem ebenfalls in München ansässigen Büro realgrün Landschaftsarchitekten.

2021 wurden Gebäude und Platz fertiggestellt. Der Neubau erhebt sich auf einem unregelmäßig zugeschnittenen Baufeld und präsentiert sich als ein Komplex aus polygonalem Sockelgeschoss und drei aufgesetzten Baukörpern unterschiedlicher Form und Höhe. Die Sockelzone beherbergt Supermärkte, Fachgeschäfte und Dienstleistungseinrichtungen, die über eine gemeinsame Eingangshalle oder direkt über den Quartiersplatz erschlossen werden. Im Grundriss bildet der Sockel ein konkaves Sechseck, das den südlich vorgelagerten Quartiersplatz einfasst. Auf seiner Dachfläche – und somit getrennt von den gewerblichen bzw. öffentlichen Bereichen – liegen die Eingänge zu den 160 Wohneinheiten, die sich auf die drei aufgesetzten Gebäudeteile verteilen. Der höchste der drei Wohntürme fußt auf einer fünfeckigen Grundfläche und ragt um neun Geschosse auf. Aufgrund seiner Höhe, aber auch wegen seiner Position an der Schnittstelle von Paul-Gerhardt-Allee und Hermine-von-Parish-Straße markiert dieser Baukörper sehr effektvoll den Eingang zum neuen Viertel. Ergänzt wird das Turmtrio durch einen viergeschossigen Bau mit trapezförmiger Grundfläche an der Paul-Gerhardt-Allee und einen sechsgeschossigen Quader, der den Komplex zur östlich angrenzenden Grundschule abschließt.

Eine Piazza auf dem Dach

Wer den Gebäudekomplex lediglich von der Straße oder vom Vorplatz aus betrachtet, dem entgeht ein wesentlicher Aspekt des Entwurfs. Gemeint ist die Dachfläche des Sockelgeschosses, zu der eine halböffentliche Außentreppe hinaufführt. Zwischen den drei Wohnhäusern erstreckt sich hier ein vortrefflich gestalteter Dachgarten, der mit seinen Pflanzeninseln, Gehwegen, Ruhebänken und Spielflächen wie ein kleiner Park wirkt. Sogar einen Hügel gibt es. Im Inneren dieser ebenfalls polygonal zugeschnittenen Erhebung sind u. a. die Pausenräume des Ladenpersonals untergebracht. Zu dem Hochplateau, das mit weiteren Bänken, Rabatten und einem Sonnendeck aufwartet, windet sich ein von Ranken umsäumter Fußweg empor.

Natürlich ist der Garten, der sämtlichen Bewohnern offensteht, in erster Linie ein Begegnungs- und Erholungsraum. Aber er funktioniert auch wie ein Dorfplatz, der die umstehenden Gebäude zusammenhält und so etwas wie eine kommunale Identität stiftet. Ganz und gar nicht unwichtig für die Gesamtwirkung dieser grünen Piazza ist im Übrigen die umlaufende Pergola, die dem Ganzen eine schöne räumliche Fassung gibt.

Neben der Komposition der Volumina und der Anlage des Belvedere ist es v. a. die Fassadengestaltung, die den ästhetischen Reiz des Ensembles ausmacht. Das Besondere daran ist die zarte Ziehharmonikastruktur, gebildet aus Zackenprofilblechen und gefalteten Wandelementen, die das ansonsten streng gerasterte Erscheinungsbild auf elegante Weise dynamisiert.

Eine Hülle aus Blech

Ursprünglich sollte das strukturbildende Stahlbetonraster aus Lisenen und Geschossdecken verputzt werden. Auf Vorschlag des ausführenden Fenster- und Fassadenspezialisten entschied man sich am Ende für Blechbekleidungen. Die vortretenden Deckenkanten wurden umlaufend mit 2 mm dicken, weiß beschichteten Aluminiumblechstreifen bekleidet, die von einer hinterlüfteten Aluminiumkonstruktion gehalten werden. Den Betonstützen wiederum wurden M-förmige Aluminiumblechprofile vorgehängt. Und auch bei der Ausfachung des Rasters spielt Aluminiumblech die Hauptrolle. Zum Einsatz kamen perforierte Wandelemente aus gefaltetem Metall, die mal fest montiert und mal beweglich aufgehängt sind. Es sind diese halbtransparenten Vorhänge, die wesentlich dazu beitragen, Leben und Abwechslung in das Fassadenbild zu bringen.

Rasterfelder mit geschlossenen Metallverkleidungen finden sich z. B. vor fensterlosen Wohnungsaußenwänden oder im Bereich der Treppenhäuser. Öffnen lassen sich die Faltvorhänge dagegen dort, wo sie tatsächlich Fenster abschirmen. Ursprünglich war eine Öffnung über die gesamte Breite des jeweiligen Rasterfeldes vorgesehen, doch diese Idee erwies sich letztlich als technisch sehr aufwendig und wurde aus Kostengründen verworfen. »Auf- und zuziehen« lassen sich die Vorhänge nun lediglich in Fensterbreite. Muskelkraft bedarf es dazu nicht. Der elektromotorische Betrieb der Faltelemente erfolgt auf Knopfdruck.

Ein weiteres prägendes Element der Fassaden sind die mit weißen Metallgeländern bestückten Loggien, die es in großer Zahl gibt, da jede Wohnung über solch einen geschützten Außenraum verfügt. Jede Loggia nimmt jeweils ein ganzes Rasterfeld ein. Insgesamt ergibt sich dadurch ein abwechslungsreiches Fassadenbild, das sich aus offenen, halb offenen und geschlossenen Flächen zusammensetzt. Aufgrund der beweglichen Partien der Außenhülle verändert sich das Bild oft, sodass die drei Wohntürme immer wieder etwas anders aussehen, je nachdem wann und aus welcher Blickrichtung man sie betrachtet. Variieren lässt sich natürlich auch der Ausblick aus den Wohnungen. Dabei ist festzuhalten, dass die perforierten Metallvorhänge die Aussicht kaum beeinträchtigen, dafür aber die Räume zuweilen in ein schönes, diffuses Licht tauchen.

db, Mo., 2022.11.07



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24. Oktober 2022Klaus Meyer
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Soziale Plastik

58 Bauherren taten sich in Fürth zusammen, um ein Wohnbauprojekt mit sozialer und ökologischer Ausrichtung zu realisieren: Die »Spiegelfabrik«, nach den Plänen des Berliner Büros Heide & von Beckerath errichtet, ist kein Haus im Häusermeer – sondern ein Kiez im Kiez.

58 Bauherren taten sich in Fürth zusammen, um ein Wohnbauprojekt mit sozialer und ökologischer Ausrichtung zu realisieren: Die »Spiegelfabrik«, nach den Plänen des Berliner Büros Heide & von Beckerath errichtet, ist kein Haus im Häusermeer – sondern ein Kiez im Kiez.

Eigentlich schade, dass hier eine Architekturkritik folgen soll. Das Sujet »Spiegelfabrik« schreit geradezu nach einem Format, das den menschlichen Faktor des Projekts betont. Eine Sozialreportage würde sich anbieten. Sogar für ein Serien-Exposé gäbe es reichlich Stoff: Ein paar Leute tun sich zusammen und begeben sich auf eine »Heldenreise«, die jeden Einzelnen vor unmögliche Herausforderungen stellt, am Ende aber doch zum Ziel führt, weil jeder Protagonist im Team über sich hinausgewachsen ist. Aber okay, bleiben wir auf dem Boden. Wenden wir uns Brigitte Neumann zu, der Heldin dieser Geschichte.

Die Ernährungswissenschaftlerin, Jahrgang 1962, gehört der Geschäftsführung der Baugemeinschaft an, die das Wohnbauprojekt »Spiegelfabrik« gemeinsam mit dem Berliner Architekturbüro Heide & von Beckerath ersonnen, geplant und realisiert hat. 58 Wohneinheiten umfasst das für rund 13,7 Mio. Euro errichtete, im März 2021 fertiggestellte Gebäude. Eine davon gehört Brigitte Neumann und ihrem Mann, aber eingezogen ist das Ehepaar bislang noch nicht. »Wir haben unsere Wohnung befristet vermietet«, sagt die agile Bauherrin. Sie möchte etwas Abstand vom Dauerstress der Bauzeit gewinnen, dennoch ist sie Feuer und Flamme, wenn es darum geht, Besucherinnen und Besuchern der »Spiegelfabrik« zu zeigen, was sie und ihre Mitstreitenden in Fürth geschaffen haben: ein Wohnhaus, ja sicher, aber eben auch so etwas wie eine Soziale Plastik.

Organisches Miteinander

Doch von Beginn an. Schauplatz des Bauabenteuers ist ein Grundstück im Südosten der Fürther Innenstadt nahe dem Stadtpark in den Auen der Pregnitz. Die Umgebung macht den Eindruck eines städtebaulichen Flickenteppichs. Es gibt Straßenzüge mit geschlossener gründerzeitlicher Wohnbebauung, aber auch Solitäre wie etwa einen Schulneubau mit spiegelnder Glasfassade. Zwischendrin klaffen kleine und größere Bebauungslücken, die als Parkplatz dienen oder brachliegen. Noch vor ein paar Jahren hätte man in der Gegend ein marodes Fabrikgebäude entdecken können, das sich zwischen der Lange Straße im Südwesten und der Dr.-Mack-Straße im Nordosten erstreckte. Errichtet im 19. Jahrhundert, als Fürth ein Zentrum der Spiegelindustrie war, wurden in dem Backsteingebäude zuletzt Fensterscheiben für Autos produziert. Nach dem Auszug des Fensterfabrikanten im Jahre 2015 stellte sich die Frage: Was tun mit dem ruinösen Industriebau? Nachdem die Denkmalschutzbehörde einem Abriss zugestimmt hatte, sollte zunächst eine Boulderhalle auf dem Gelände entstehen. »Aber wir haben uns schnell eines Besseren besonnen«, sagt Brigitte Neumann, die schon damals zu der fünfköpfigen Gruppe gehörte, die das Industriegelände neu beleben wollte. Die zündende Idee lautete dann: »Bauen wir eine große Wohnanlage mit sozialer und ökologischer Ausrichtung: generationenübergreifend, barrierearm, kinder- und familienfreundlich, mit gemeinschaftlich nutzbaren Räumen und Flächen.« Von Anfang an war den Bauherren in spe der Aspekt der Stadtverdichtung wichtig. Sie träumten nicht von weitläufigen Terrassenwohnlandschaften, sondern von eng verzahnten Lebensräumen, nicht von organisierter Einsamkeit, sondern von organischem Miteinander. »Ein Kiez im Kiez« – das war die Vision.

Gemeinsame Linie

Um nicht nur gut situierte Bürger, sondern auch weniger wohlhabende Interessenten für das Projekt zu begeistern, entschieden sich die Initiatoren, neben Eigentumswohnungen auch Räume für genossenschaftliches Wohnen zu schaffen. Dazu wurde eine Wohnungsgenossenschaft gegründet, in der die Eigentümer Fördermitglieder sind. 58 Parteien fanden sich am Ende zur Bauherrengemeinschaft zusammen. Die Architektensuche konnte beginnen.

Zunächst sprachen ein paar junge Planer aus dem Bekanntenkreis der Bauherren vor. »Die waren uns aber nicht gewachsen«, sagt Brigitte Neumann. »Sie hätten wohl versucht, unseren Wunsch nach der eierlegenden Wollmilchsau umzusetzen – was garantiert schiefgegangen wäre!« Im zweiten Anlauf lud das Team vier Büros ein, die bereits Baugruppenerfahrung hatten. »Die Architektenauswahl erfolgte über eine Matrix, die unsere wichtigen Wohn- und Sozialthemen enthielt. Heide & von Beckerath erfüllten unsere Anforderungen – und die Chemie stimmte auch.«

Daraufhin entspann sich ein Entwurfsprozess, der so vielschichtig war wie die Sache, um die es ging. Statt sofort mit der konkreten Planung zu beginnen, intensivierte das Berliner Team um Tim Heide und Verena von Beckerath zunächst einmal den Dialog mit den Bauwilligen. Um eine gemeinsame Linie zu finden, veranstaltete man insgesamt sieben Workshops – zu den Themen Städtebau, Wohntypologien, Wohnbedürfnisse, Entwurf, Regeln und Standards, Ausstattung sowie Ausführung.
Erst danach nahm das Gebäude nach und nach Gestalt an. Auf dem rund 3 400 m² großen Grundstück zwischen Lange Straße und Dr.-Mack-Straße, das von einem geschosshohen Geländesprung gequert wird, entstand ein lang gestreckter Baukörper mit je einem siebengeschossigen Kopfbau zur Straße hin. Die Erschließung des fünfgeschossigen Verbindungsbaus erfolgt über wechselseitige Laubengänge. Ein asphaltierter Weg führt an der nordwestlichen Gebäudeseite entlang und verbindet die beiden Straßen miteinander. Den Geländesprung gleicht eine breite Freitreppe aus, deren Betonstufen zum Sitzen einladen. Außer den Asphaltflächen und der Betontribüne im Nordwesten gibt es einen weiteren Freiraum auf der gegenüberliegenden Gebäudeseite. Dort befindet sich das Areal, auf dem das einzig erhaltene Relikt der Spiegelfabrik steht – die »Alte Schmiede«, die als Reparaturwerkstatt und Bastelraum genutzt wird. Der Platz vor der Schmiede ist derzeit noch eine Baustelle: Die Bewohner legen dort einen Garten mit Spielplatz und Begegnungsstätte an. Eine weitere gemeinschaftlich nutzbare Freifläche steht auf dem Flachdach zur Verfügung. Und auch im Gebäudeinneren gibt es einen Raum für gemeinsame Aktivitäten: Der »Spiegelsaal« mit angrenzender Küche, der unweit der Lange Straße im EG liegt, öffnet sich mit gläsernen Fronten zur Hof- wie zur Gartenseite.

Kritik mit einem Lächeln

Die divergierenden Vorstellungen der Bauherrschaft zur Aufteilung und Ausstattung der Wohnungen wirkten sich nicht zuletzt auf die Konstruktionsweise des Gebäudes aus. Tim Heide und Verena von Beckerath entschieden sich für eine robuste, der Industriearchitektur entlehnte Grundstruktur: »Ein Rahmen aus bewehrten Betonfertigteilen wurde mit Leichtbau kombiniert, um eine flexible Anordnung von Trennwänden in der horizontalen und vertikalen Konfiguration der Wohnungen zu ermöglichen.« 80 % der Außenwände bestehen aus vorgefertigten Holztafeln. Ein guter Dämmstandard und eine moderne Haustechnik sorgen für eine hohe Energieeffizienz. Zum Equipment gehören ein gasbefeuerter Brennwertkessel, ein gasbefeuertes Blockheizkraftwerk sowie eine Photovoltaikanlage, die dazu beiträgt, eine 60-prozentige Autarkie bei der Stromversorgung zu erreichen.

Aber zurück zu Brigitte Neumann und zur Sozialen Plastik, die sie und ihre Mitstreiter geschaffen haben. »Von den acht geförderten Wohnungen«, sagt sie, »stehen vier für Flüchtlinge zur Verfügung, andere werden vom Verein ›Lebenshilfe Fürth‹ angemietet. Eine weitere Wohnung bietet der PEN-Club für exilierte Schriftsteller an.« Und schließlich: »Im Gebäude wurde ein städtisches Quartiersbüro für nachbarschaftliche Anliegen und Initiativen eingerichtet, getragen vom gemeinnützigen Verein ›Spiegelfabrik‹.« Bei allem Stolz auf das Geleistete weiß die Bauherrin natürlich, dass Anspruch und Wirklichkeit stets auseinanderklaffen. Deutlich wird dies im Gespräch mit einigen Bewohnerinnen und Bewohnern, die allesamt gern in der Spiegelfabrik leben, aber nicht unbedingt jedes architektonische Detail goutieren. Einer stößt sich an den rauen Badfliesen, ein anderer am schmutzempfindlichen Betonboden des Laubengangs, diese ärgert sich über den unebenen Asphalt, jene über den allzu starken Hall im Hof. Andererseits wird jede Kritik mit einem Lächeln vorgetragen. Man spricht freimütig aus, was man denkt. Jeder weiß, dass Kompromisse dazugehören, wenn man miteinander baut und lebt.

db, Mo., 2022.10.24



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db 2022|10 Nachverdichtet

14. Juni 2022Klaus Meyer
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Retro-Pop

Mit dem Wohnbauensemble »Erhardt 10« am Münchner Isarufer entstand ein Stadtbaustein, der sich selbstbewusst in eine Reihe denkmalgeschützter Häuser einfügt. Das Ganze präsentiert sich als smarter Mix aus vertrauten Mustern und Motiven.

Mit dem Wohnbauensemble »Erhardt 10« am Münchner Isarufer entstand ein Stadtbaustein, der sich selbstbewusst in eine Reihe denkmalgeschützter Häuser einfügt. Das Ganze präsentiert sich als smarter Mix aus vertrauten Mustern und Motiven.

Die Erhardtstraße im Münchner Zentrum ist ein teures Pflaster. Zwar übertönt der Autolärm hier zu jeder Tages- und Nachtzeit das Rauschen der Isar, die parallel zur Straße verläuft, dennoch ist die Lage phänomenal. Wer an der Ehrhardtstraße wohnt, hat eine pittoreske Flusslandschaft vor Augen und das quirlige Gärtnerplatzviertel im Rücken. Wer dort bauen will, muss sich mit gewachsenen Gegebenheiten und steingewordener Geschichte auseinandersetzen. Eine Architektur ist gefragt, die sich »einerseits selbstbewusst in die Reihe denkmalgeschützter Bauten entlang des Ufers eingliedert und den Blick auf den Fluss zelebriert, zugleich aber auch die Heterogenität des Gärtnerplatzviertels anerkennt.« So jedenfalls beschreibt der Immobilienentwickler Euroboden die Herausforderung.

Die Firma des umtriebigen Baukultur-Enthusiasten Stefan Höglmaier hatte 2013 ein Grundstück an der Erhardtstraße 10 erworben. Um Platz für einen Neubau zu schaffen, wurden sowohl das bestehende Wohngebäude an der Straße als auch eine marode Lackfabrik im Hinterhof abgebrochen. Das in der Nachkriegszeit entstandene Vorderhaus hatte gerade mal sieben Wohneinheiten beherbergt, der Investor schickte sich an, das gesamte Grundstück einschließlich des verwinkelten Hofareals zu bebauen und alles in allem 28 Wohnungen zu schaffen. Bei der Planung kam mit Thomas Kröger ein Architekt zum Zuge, der sich mit sensibel in die norddeutsche Landschaft gefügten Wohnhäusern einen Namen gemacht hatte und nun seinem ersten innerstädtischen Großprojekt entgegensah. Kröger nahm sich vor, »die historische Prachtstraße mit einem eleganten, identitätsstiftenden Stadtbaustein zu ergänzen, der sich angenehm in die Häuserreihe einfügt.« Dabei sollten »die benachbarten, historisierenden Fassaden mit ihren heterogenen Gliederungen maßstäblich aufgegriffen und zeitgemäß in Material und Gestalt übersetzt werden.«

Geglückte Balance

Was aus dem Plan geworden ist, lässt sich seit gut einem Jahr besichtigen. Zu entdecken ist dabei natürlich viel mehr als eine Fassade, zieht sich der im Mai 2021 fertiggestellte Komplex doch weit in den unregelmäßig geschnittenen Hof hinein und umfasst neben dem Vorderhaus ein siebengeschossiges Hofhaus sowie einen weiteren Riegel samt Seitenflügeln. Doch bei einem Stadthaus in solch prominenter Lage ist es nun mal v. a. die Straßenfront, in der sich Qualität und Charakter eines Entwurfs abzeichnen, sodass es sich allemal lohnt, die Physiognomie des Gebäudes näher in Augenschein zu nehmen. Allerdings ist es mit Hausfassaden nicht anders als mit menschlichen Gesichtern: Der erste Eindruck entscheidet darüber, ob ich mich überhaupt näher mit dem Gegenüber befassen möchte. Beim Haus an der Isar ist das definitiv der Fall. Es fällt angenehm auf. Es demonstriert Individualität, ohne angeberisch aufzutrumpfen. Es aktualisiert gattungsspezifische Muster, ohne sie platt zu kopieren. Die geglückte Balance zwischen Historizität und Aktualität verschafft dem Objekt Aufmerksamkeit im bestmöglichen Sinne: Passanten betrachten es weder als Ärgernis noch als Banalität, sondern als spannende Variation eines altvertrauten Themas.

Trompe l’Œil

Im Unterschied zu den steinernen Nachbarhäusern setzt der Neuling auf eine Vielzahl von Materialien, um sich in Szene zu setzen. Kupfer, Stahl, Glas und Putz spielen die Hauptrollen. Die horizontale Gliederung der Fassade wird durch metallene Gesimsbänder akzentuiert, die Vertikale durch weiß gestrichene Stahlstützen betont. Hinter den vorspringenden Säulchen liegen die Glasflächen der geschosshohen Fenster, die einen Großteil der Fassade einnehmen und gleichsam ihre Kulisse bilden. Ein weiteres hervorstechendes Element ist der über fünf Geschosse aufragende Erker, der mit seinen großen Fenstern die rechte Seite des Gebäudes dominiert. Doch damit nicht genug. Glas und Metall sind nur zwei der drei Materialien, die den Charakter der Fassade prägen. Hinzu kommen verputzte Wandpartien, die aufgrund ihrer ornamentalen Oberflächenstruktur ins Auge fallen. Das zweifarbige Muster aus parallel verlaufenden Zackenbändern erzeugt einen Trompe-l’Œil-Effekt, der die Flächen dreidimensional erscheinen lässt. Kröger erweist damit den in Sgraffito-Technik ausgeführten Wandmalereien seine Reverenz, die man in München vielerorts entdecken kann, wo sie bis in 50er Jahre hinein beliebt waren. Was allerdings die Originale ganz unabhängig von ihrer bildnerischen Klasse gegenüber der Cover-Version in der Erhardtstraße auszeichnet, ist die haptische Qualität massiver Wände. Berührt man die Zackenbandfläche bei diesem Bau, fühlt sie sich warm an; klopft man dagegen, klingt es hohl. Die Wärmedämmschicht als Illusionskiller – sie trübt die Laune bei der Besichtigung dieses insgesamt erfreulichen Bauwerks durchaus.

Aber zurück zur Komposition der Fassade. Deren fünfgeschossiges Mittelstück erhebt sich über einem zweigeschossigen Sockel, der einige gestalterische Besonderheiten aufweist. So springt das EG mit Garagenzufahrt, Hauptportal und Nebeneingang ein wenig zurück, sodass hinter den vier exponierten Zackenbandstützen eine frei zugängliche Loggia entsteht, die den öffentlichen Raum erweitert und Eintretende vor Wind und Wetter schützt. Eine weitere Besonderheit ist das breite Gesimsband zwischen EG und 1. OG: Die Blende aus geflochtenen Kupferstreifen veredelt die Eingangszone und stellt ein Materialthema vor, dem sich Thomas Kröger in luftiger Höhe noch einmal mit großer Leidenschaft widmet. Die Rede ist von der kupfernen Dachlandschaft mit ihren horizontalen Lamellen, abgerundeten Fenstern und gaubenartigen Balkonen. Hinter den Fenstern liegen doppelgeschossige Penthousewohnungen – mit Blick über das Gärtnerplatzviertel auf der einen Seite und zur Isar auf der anderen.

Der Weg zu den Wohnungen im Vorderhaus führt zunächst in ein lang gestrecktes, etwas schummriges Foyer. Dort startet der Aufzug, der jeweils direkt vor den Wohnungstüren haltmacht. Eine Treppe gibt es natürlich auch. Aber sie windet sich in einem erstaunlich engen Gehäuse in die Höhe und dient wohl hauptsächlich als Fluchtweg. Vom Foyer gelangt man auch zu den Rückgebäuden, die sich um zwei Innenhöfe gruppieren. Den vorderen Patio überfängt eine Plattform mit riesigem, kreisrundem Ausschnitt. Ein Opäum? Jedenfalls verleiht das gelochte Dach dem Hofraum eine gewisse Grandezza und hat zudem einen doppelten Nutzen: Im Parterre schützt die Plattform vor Regen, und im 1. OG dienen Teile davon als Terrasse.

Stilgefühl und Ironie

Übrigens fallen auch in den Rückgebäuden die Treppenhäuser ziemlich klein aus. Auf Schritt und Tritt ist zu spüren, dass es bei der Bemessung der Wohnungsgrundrisse offenbar auf jeden Quadratzentimeter ankam. Aber warum man die beengten Erschließungswege ausgerechnet mit schwarzer Teppichware ausgelegt und dadurch visuell noch weiter geschrumpft hat, ist kaum erklärlich. Vielleicht war es einfach die billigere Lösung. Oder handelt es sich etwa um Retro-Pop? Sind es die psychedelischen Siebziger mit ihrer Liebe zum flauschigen Höhlenambiente, denen Thomas Kröger und Stefan Höglmaier hier ihre Reverenz erweisen? Der Gedanke lässt einen nicht so schnell los. Ihn im Hinterkopf, schaut man auch ganz anders auf das Zickzack-Dekor der Außenwände. Erinnert es nicht an die Op-Art-Bilder eines Victor Vasarely oder an die neugeometrischen Objekte eines Marcello Morandini? Betrachtet man das Gebäude durch diese Brille, wirkt es mit seinen doch recht verspielten Fassadenmodulen gar nicht mehr so sehr wie eine zeitgemäße Interpretation gründerzeitlicher Bürgerhäuser. Vielmehr stellt es sich dar als zeitgemäße Version postmoderner Architekturen. Auch in diesem Fall leitet das retrospektive Motiv die Gestaltung. Im Spiel ist aber nicht nur der Sinn für Stil, sondern auch der Wille zur Ironie – die bekanntlich nicht jedermanns Sache ist. Aber die Besitzer der teuren Apartments wird’s kaum tangieren, schließlich wohnen sie in Bestlage.

db, Di., 2022.06.14



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09. März 2021Klaus Meyer
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Edles Gewand

Einmal mehr überzeugt das Büro Staab Architekten mit einer Architekturlösung, die sich hervorragend in den historischen Kontext einfügt. Das 2020 fertiggestellte Evangelische Zentrum steht am Ende der Augsburger Maximilianstraße, die als eine der baugeschichtlich bedeutsamsten Straßen Süddeutschlands gilt. Nicht zuletzt ist es die graue Putzfassade, die dem Gebäudeensemble einen uneitlen und zugleich markant edlen Charakter verleiht.

Einmal mehr überzeugt das Büro Staab Architekten mit einer Architekturlösung, die sich hervorragend in den historischen Kontext einfügt. Das 2020 fertiggestellte Evangelische Zentrum steht am Ende der Augsburger Maximilianstraße, die als eine der baugeschichtlich bedeutsamsten Straßen Süddeutschlands gilt. Nicht zuletzt ist es die graue Putzfassade, die dem Gebäudeensemble einen uneitlen und zugleich markant edlen Charakter verleiht.

Wie modern er zu bauen gedenke, wollte ein Reporter der Augsburger Allgemeinen im März 2017 vom Berliner Architekten Volker Staab wissen. Die Frage zielte natürlich auf das Projekt ab, das die architekturinteressierten Bürger Augsburgs bereits seit sechs Jahren umtrieb: den Neubau eines Evangelischen Zentrums am Südende der Maximilianstraße. Musste man sich auf eine unverschämte Provokation oder eine verpasste Chance einstellen? War mit einem hypermodern anmaßenden oder einem historisierend anbiedernden Schandfleck zu rechnen? Die ausgewogene Antwort des Planers nahm den Skeptikern beider Lager den Wind aus den Segeln. »Wir sind der Meinung, dass wir heute bauen«, begann Staab vorsichtig und fuhr dann fort: »Unser Bau enthält allerdings viele Elemente, die die Verbindung zu den historischen Häusern suchen, z. B. die Dachform und die Art der Fenster. An der Gestaltung der Fenster kann man aber auch erkennen, dass das Ensemble nicht aus dem 18. Jahrhundert, sondern aus der Gegenwart stammt. Ziel ist es, dass die Neubauten auf eine selbstverständliche Weise Teil des Straßenprospekts werden, ohne ihre Entstehungszeit zu verheimlichen.« Genauso ist es gekommen: Das im Mai 2020 fertiggestellte Ensemble fügt sich als zeitgenössisches Teil in ein altehrwürdiges Ganzes ein und bereichert die urbane Einheit, von der es geprägt wurde, durch eine neue Facette.

Von der Via Claudia Augusta zur Maximilianstraße

Dies ist keine geringe Leistung. Denn bei der urbanen Einheit, von der wir hier reden, handelt es sich um eine der kunsthistorisch bedeutsamsten Straßen Süddeutschlands. Die Ursprünge der Maximilianstraße, die sich vom Rathaus im Norden bis zur Basilika St. Ulrich und Afra im Süden erstreckt, reichen zurück bis in die Römerzeit. Ihr nördlicher Abschnitt liegt auf der Via Claudia Augusta, die das 15 v. Chr. gegründete Militärlager Augusta Vindelicum mit Italien verband. Ihr breiterer südlicher Teil entstand aus einer Abfolge von Plätzen, die seit der Barockzeit durch den Merkurbrunnen (1599) und den Herkulesbrunnen (1602) gegliedert wurden. Auf dem Weg vom Rathausplatz zum Ulrichsplatz passierte man den Brotmarkt, den Holzmarkt und schließlich den Weinmarkt. Maximilianstraße heißt die innerstädtische Flanier- und Einkaufsmeile erst seit 1957. Aber seit eh und je wartet sie mit zahlreichen architektonischen Glanzlichtern auf. Die Palette der Baustile reicht von der Gotik bis zur Renaissance (Fuggerhäuser) und vom Rokoko (Schaetzlerpalais, Roeck-Haus) bis zur Nachkriegsmoderne. Jedes Haus in dieser bunten Reihe ist interessant. Keines duckt sich weg, keines drängt sich vor. Und am Ende ist es diese sich zu einer harmonischen Einheit fügende Vielheit aus individuellen Figuren und Charakteren, die den eigentlichen Reiz der Prachtstraße ausmacht.

An ihrem südlichen Ende, wo sie sich zum Ulrichsplatz öffnet, klaffte jahrzehntelang eine Lücke. Der imposante Pfarrhof der evangelischen Kirchengemeinde St. Ulrich, der den nach Osten hin abfallenden Straßenraum gefasst hatte, war in der Bombennacht vom Februar 1944 zu Schutt und Asche zerfallen. Und das bescheidene Pfarrhaus, das 1954 auf dem Ruinengrundstück errichtet wurde, konnte den Verlust des Vorgängerbaus nicht wettmachen. Zwar begann die Diskussion um eine anspruchsvolle Neubebauung des »Ulrichsecks« bereits 1992, doch die konkrete Planung für ein künftiges Evangelisches Zentrum kam erst 2010 in Gang. Nachdem das Büro Staab Architekten 2011 als erster Sieger aus einem beschränkten Realisierungswettbewerb hervorgegangen war, hoffte man auf eine baldige Fertigstellung des Projekts. Doch es kam anders: Im Baugrund legten Archäologen sowohl römische Gräber als auch Spuren jahrhundertelanger Bebauung frei, sodass sich der Baubeginn um sechs Jahre verzögerte.

Drei Häuser und was sie verbindet

Das Evangelische Zentrum, so wie es sich heute präsentiert, ist ein Gebäudeensemble, das aus einer Bischofsresidenz, einem Pfarrhaus und einem Kirchengemeindeamt besteht. Das Amtsgebäude schmiegt sich im Norden an die Brandwand des Nachbarhauses und wendet sich mit seiner Giebelseite der Maximilianstraße zu; die Residenz erstreckt sich an der südlichen entlang des abfallenden Milchbergs; das Pfarrhaus schließt die rückwärtige Flanke des Areals und wahrt dabei so viel Abstand zu dem tiefer gelegenen Afragässchen, dass die dortigen Wohnhäuser nicht verschattet werden.

Interessant an der Konstellation sind nicht nur die Gebäude, sondern auch die Zwischenräume – allen voran der kleine Vorplatz, von dem aus Besucher in das zentrale Foyer gelangen, das Bischofssitz und Gemeindeamt verbindet. Die Verortung des Haupteingangs am Übergang von Ulrichsplatz und Milchberg ergibt Sinn, denn auf diese Weise entsteht ein direkter Sichtbezug zu der gegenüberliegenden evangelischen Kirche St. Ulrich sowie der dahinter aufragenden katholischen Basilika St. Ulrich und Afra. Während der Vorplatz sich nach außen öffnet, bieten zwei weitere Freiräume Ruhe und Schutz. Der von der Residenz, dem Amtsgebäude und dem Pfarrhaus umschlossene Innenhof stößt an den raumhoch verglasten Gruppenraum der Gemeinde und kann für Aktivitäten unter freiem Himmel genutzt werden. Hinter dem Pfarrhaus schließlich liegt ein lang gestreckter Garten. Von dort aus führt eine Treppe an der denkmalgeschützten Sichtziegelmauer hinunter in das Afragässchen.

Gestalten mit Putzoberflächen

Dass die Neubauten sich harmonisch in das historische Umfeld fügen, liegt nicht zuletzt an der Fassadengestaltung. Mit ihren hellgrau verputzten Wänden und den hell gefassten Fenstern fügen die Häuser dem Farb- und Materialkanon der Maximilianstraße eine weitere stimmige Variante hinzu. Der Fassadenputz wurde mit einem durchgefärbten Edelkratzputz in 2 mm Körnung mit 25 mm Putzdicke hergestellt. Der Putz schließt bündig mit der Vorderkante der Stahlbetonfertigteilrahmen der Fenster ab. Im Übrigen hat es noch eine besondere Bewandtnis mit dem grauen Farbton: Indem er das Kolorit der barocken Kirche St. Ulrich aufgreift, stiftet er eine dezente visuelle Einheit zwischen den beiden evangelischen Einrichtungen.

Eine besondere Oberflächengestaltung erfuhren die Sockelzonen der Gebäude. An die Rustizierung der benachbarten Altbauten anknüpfend, stattete man den Erdgeschossbereich des Gemeindehauses mit einem horizontal strukturierten, gezogenen Schablonenputz aus. Das ebenfalls durchgefärbte Material ist feinkörniger als der Fassadenputz und wurde mit einem deckenden Anstrich versehen. Die Sockelzone des Bischofssitzes wurde dagegen nicht verputzt, vielmehr setzt sie die denkmalgeschützte Sichtziegelmauer am Milchberg und am Afragässchen fort.

Obwohl sich die Bauten hinsichtlich ihrer Kubatur, Dimension, Materialität und Farbigkeit ganz selbstverständlich in den städtebaulichen Rahmen einpassen, geben sie sich zugleich deutlich als zeitgenössisch zu erkennen. Details wie die schrägen, asymmetrischen Fensterlaibungen, die geschosshohen Glasflächen im Eingangsbereich, der horizontal gegliederte Sockelverputz oder auch der rollstuhlgerecht als schiefe Ebene angelegte Vorplatz verweisen auf heutige Stilpräferenzen und Nutzungsbedingungen. Wäre mehr drin gewesen? Hätte eine freiere Entfaltung heutiger baukünstlerischer Möglichkeiten dem Ort gutgetan? Vermutlich nicht. Schließlich ging es bei diesem Projekt nicht nur um die Errichtung eines Bauwerks, sondern um die Restaurierung eines Jahrhundertwerks: Der Neubau vervollständigt das Bild der Maximilianstraße – was will man mehr!

db, Di., 2021.03.09



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21. Januar 2020Klaus Meyer
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Lokalkolorit

Gestockter Sichtbeton prägt die Fassade des Neubaus der »Bürgerdienste der Stadt Ulm«, der dem Straßenraum an städtebaulich heikler Stelle ein markantes Gesicht gibt. Seine Materialfarbigkeit bringt der Beton auch ins Innere des Service-Rathauses.

Gestockter Sichtbeton prägt die Fassade des Neubaus der »Bürgerdienste der Stadt Ulm«, der dem Straßenraum an städtebaulich heikler Stelle ein markantes Gesicht gibt. Seine Materialfarbigkeit bringt der Beton auch ins Innere des Service-Rathauses.

Zurzeit prägt schmutziges Baustellengrau die Gegend rund um den Ulmer Hauptbahnhof. Unmittelbar vor dem Hauptportal gähnt eine stahlbetonbewehrte Schlucht, in der mit Hochdruck an einer großflächigen Tiefgarage gearbeitet wird.

Gleich dahinter, wo auf 10.000 m² das Wohn- und Geschäftsquartier »Sedelhöfe« entsteht, verstellen hoch aufragende Rohbauskelette den Weg. Auch die Olgastraße, die vom Bahnhofsplatz abgeht, um dann westwärts dem Verlauf der mittelalterlichen Stadtmauer zu folgen, war bis vor Kurzem eine Baustelle. Man hat die vier Autospuren um Straßenbahngleise ergänzt, die Fahrbahndecke erneuert und die Gehwege verbreitert. Demnächst werden Bäume den »City Ring« säumen, denn die Verkehrsschneise soll sich nach und nach in einen Boulevard, wie es ihn bis in die Vorkriegsjahre hier gab, zurückverwandeln.

An die zerstörte städtebauliche Grandezza von einst erinnert am ehesten noch das imposante Landgericht, das 1898 im Stil der Renaissance an der Olgastraße 106 errichtet wurde. Ferner unterstreicht der jüngst restaurierte, ­expressiv-organische Bau des Theaters Ulm von 1969 die Bedeutung der Straße als Nahtstelle zwischen Alt- und Neustadt. Ansonsten beherrschten lange Zeit mediokre Büro- und Verwaltungsbauten das Straßenbild, das sich allerdings schon seit einigen Jahren wandelt. So sind im Rahmen des Entwicklungsprojekts »Zukunftskonzept Innenstadt 2020« einige Gebäude entstanden, die tatsächlich wieder so etwas wie boulevardesken Flair in den miefigen Verkehrsraum bringen. Dazu zählt das Geschäftshaus »Wengentor« von Stemshorn Kopp Architekten, das Bürogebäude der Staatsanwaltschaft von Schulz und Schulz, die Sporthalle für das Kepler- und Humboldt-Gymnasium von h4a sowie der Sitz der Handwerkskammer von Hotz+Architekten. Das jüngste Projekt dieser Art ist das vom Stuttgarter Büro Bez + Kock Architekten entworfene Gebäude der »Bürgerdienste der Stadt Ulm«.

Heimatliche Gefühle

Das im Januar fertiggestellte Service-Rathaus, das eine Vielzahl städtischer Dienststellen unter einem Dach vereint, hebt sich deutlich von der Umgebung ab. Mit seiner strengen Rasterfassade setzt es einen wohltuenden Kontrapunkt sowohl zum Baustellen-Chaos in Richtung Bahnhof als auch zur Bauklötzchen-Collage des unmittelbar benachbarten Handwerkskammer-Gebäudes. Zur angenehmen Wirkung tragen neben der strukturellen Klarheit aber auch Farbigkeit und Textur der Sichtbetonfassade bei. Dabei fällt es durchaus schwer, die Farbe der Gebäudehülle zu bestimmen. Ein vornehmes Grau scheint durch, aber auch ein freundlich-warmes Beige. Greige trifft es daher wohl am besten. Nun ist Greige ein Farbton, der seit Jahren in der Welt der Mode und des Interiordesigns immer mal wieder als Letzter Schrei aus­gerufen wird. Gefällt einem die Fassade deshalb? Zeigt sich das Geschmacks­urteil hier von kulturindustriellen Prägungen beeinflusst und vorgeformt? Mag sein – oder auch nicht. Denn im Grunde genommen bezeichnet das Etikett »Greige« ja nichts anderes als ein ganzes Spektrum von Farben, die in der Natur allgegenwärtig sind und auch in der Architektur von alters her Verwendung finden. Kalk, Sand, Kies, Gips, Granit, Zement, Beton und Terrazzo prägen mit ihren Greige-Tönen das Gesicht zahlloser Gebäude und ganzer Städte. Als Farben der Erde, die uns an Äcker, Felsgebirge oder Sandwüsten erinnern, sind sie uns ähnlich vertraut wie Grasgrün oder Himmelblau. Wahrscheinlich sind es urheimatliche Gefühle, die ihr Anblick in uns hervorruft. Der Aspekt der modischen Distinktion? Es mag ihn geben, aber für Martin Bez und Thorsten Kock spielte er bei der Fassadengestaltung des Bürgerdienste-Hauses allenfalls eine untergeordnete Rolle.

Eher kam es den Architekten bei der Farbwahl darauf an, dem Gebäude so etwas wie ein Lokalkolorit zu verleihen. Um die Sichtschale der kerngedämmten Ortbetonkonstruktion wie gewünscht einzufärben, wurde der Betonmasse »Ulmer Weiß« beigemischt, ein in der Münsterstadt häufig verwendetes weiß-gelbliches Jurakalkgestein aus der Region. Richtig zur Geltung kommt dessen Farbigkeit freilich erst durch die handwerkliche Behandlung der Betonhülle. Die Flächen wurden gestockt, die Kanten scharriert. Nebenbei entstand auf diese Weise das natursteinähnliche Bild der Fassade.

Schräger Schnitt

Was die Form des Baukörpers angeht, so erscheint sie auf den ersten Blick ganz simpel: Über einem lang gestreckten zweigeschossigen Sockel erhebt sich an der Ostseite ein fünfgeschossiger Turm. Orthogonalität ist vermeintlich das Gesetz, das sowohl die Gliederung der Teile als auch die Form des Ganzen beherrscht – bis man die Abweichung bemerkt: Auf der Westseite ist der Turm leicht abgeschrägt, sodass er sich zur Olgastraße hin schlanker präsentiert als zur rückwärtigen Keltergasse hin, wo sich der Mitarbeiter- und Lieferanteneingang sowie die Zufahrt zum PKW-Aufzug für die Dienstfahrzeuge befinden.

Die Bürger, die einen Termin beim Meldeamt, bei der Ausländerbehörde, bei der Führerscheinstelle oder einer der anderen Dienststellen wahrnehmen möchten, betreten das Haus nicht auf einer der beiden Flanken, sondern auf der östlichen Stirnseite. Der Eingang ist dort in einen Gebäudeeinschnitt integriert, der im selben Winkel wie die westliche Turmseite abgeschrägt ist. Davor erstreckt sich ein kleiner Platz bis zur gegenüberliegenden Handelskammer. Auf diese Weise entsteht eine angemessen repräsentative Eingangssituation, die auch einen praktischen Vorteil bietet: Besucher können den Zugang sowohl von der Innenstadt als auch von der Olgastraße aus bequem erreichen.

Freundliche Präsenz

Maßgebend bei der Raumplanung war v. a. die Besuchsfrequenz. Die beiden Sockelgeschosse beherbergen demzufolge die großflächigen Servicebereiche mit viel Publikumsverkehr. Unmittelbar hinter dem Eingang befindet sich der Infotresen für den Erstkontakt mit den Besuchern. Von dort aus führt der Weg in den zentralen Wartebereich, der als doppelgeschossige Halle ausgebildet ist. Unterm Dach markiert eine großflächige Deckenleuchte den Platz, den idealerweise ein gläsernes Oberlicht hätte einnehmen sollen, doch die optimale Lösung, die den Atriumcharakter des Raums gestärkt hätte, ließ sich leider aus Kostengründen nicht realisieren. Dass die Wartehalle dennoch ­einen starken Eindruck macht, liegt an der Materialität des raumbildenden Rahmens. Wie bei der Außenfassade ist es auch hier gestockter, greigefarbener Sichtbeton, der den Ton angibt und der nördlichen Hallenwand, der umlaufenden Brüstung auf der Galerie sowie der Bewehrung der ins OG führenden Treppe eine Anmutung massiver und zugleich freundlicher Präsenz verleiht.

In Erscheinung tritt das charakterstiftende Material auch im fünf­geschossigen Turm, der weitere Servicestellen, Büros und Besprechungsräume beherbergt. Aus gestocktem Sichtbeton sind sowohl die Wände des tragenden Gebäudekerns als auch die Brüstungen der daran anschließenden Lufträume, die jeweils zwei Geschosse verbinden und die ansonsten nüchtern-funktional ausgestatteten Flurbereiche deutlich aufwerten.

Dass die Mélange aus weißen Wandflächen, grauen Streckmetalldecken und greigefarbenem Beton etwas eintönig wirken könnte, war den Architekten ­bewusst. Sie haben die Gefahr durch einen kräftigen Farbtupfer gebannt: Die Sitzkissen auf den von den Planern entworfenen Wartebänken und die schalldämpfenden Wandbespannungen der Serviceboxen in den Sockelgeschossen sind aus leuchtend rotem Filz und bilden einen belebenden Kontrast zum ­vorherrschenden Kolorit. Im Bereich der Wartehalle setzen zwei Wandfragmente aus rotem Backstein einen weiteren Akzent. Die Scheiben sind durch farblich hervorgehobene Streifen auf dem Terrazzoboden verbunden. Diese Streifen zeichnen den Grundriss eines Pulverturms aus dem 14. Jahrhundert nach, dessen Überreste im Zuge der Fundamentlegung des Gebäudes freigelegt wurden. »Der Fund brachte die Bauarbeiten erst einmal zum Stillstand und hätte das Projekt fast vereitelt«, sagt Martin Bez. Gut, dass es ­weitergegangen ist. Der Sitz der »Bürgerdienste der Stadt Ulm« gibt dem Straßenraum an einer städtebaulich empfindlichen Stelle ein neues, sympathisches Gesicht. Und mit seinem hellen und freundlichen Interieur bietet er den Besuchern eine sicherlich willkommene Erholung vom ewigen Bau- und Straßenlärm vor der Tür.

db, Di., 2020.01.21



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db 2020|01-02 Greige

04. April 2019Klaus Meyer
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Verschlankter Luxus

Die Hotelkette Ruby steuert mit ihrer Lean-Luxury-Philosophie auf Erfolgskurs: Sie nutzt dazu zentral gelegene Bestandsbauten und ermöglicht durch Konzentration auf das Wesentliche – ohne Restaurant- und Wellnessangebote – mit flächeneffizienter Raumnutzung, schlanker Organisation, aber hochwertiger Ausstattung eine bezahlbare Form von Luxus für kosten- und stilbewusste Kunden.

Die Hotelkette Ruby steuert mit ihrer Lean-Luxury-Philosophie auf Erfolgskurs: Sie nutzt dazu zentral gelegene Bestandsbauten und ermöglicht durch Konzentration auf das Wesentliche – ohne Restaurant- und Wellnessangebote – mit flächeneffizienter Raumnutzung, schlanker Organisation, aber hochwertiger Ausstattung eine bezahlbare Form von Luxus für kosten- und stilbewusste Kunden.

Wer im Ruby Lotti absteigt, dem liegt Hamburg buchstäblich zu Füßen. Die Lage könnte kaum besser sein: In unmittelbarer Nachbarschaft finden sich beliebte Gaststätten, aber auch die Einkaufsmeile rund um den Jungfernstieg und die Elbphilharmonie sind bequem per pedes zu erreichen. Seinen Betrieb nahm das Hotel im Herbst 2018 auf. Zuvor hatte das 1993-95 von gmp errichtete Bürogebäude, das sich an den Bleichenfleet anschmiegt und deshalb »Fleetbogen« hieß, als Bürohaus für das Deutsch Japanische Zentrum gedient. Seine Bruttogrundfläche von 10 215 m², verteilt auf sieben Geschosse, bietet Raum für 290 Hotelzimmer – damit ist Ruby Lotti das bislang größte Haus der Ruby-Gruppe.

Gründer und Kopf des Unternehmens ist der Münchener Michael Struck, der 1973 als Kind deutscher Eltern in den USA zur Welt kam, Betriebswirtschaft studierte und in leitenden Funktionen für diverse Hotelgruppen tätig war, bevor er 2013 die Ruby Hotels & Resorts ins Leben rief. Gleich mit dem ersten Hotel, 2014 in Wien eröffnet, bewies Struck einen guten Riecher bei der Wahl des Standorts: Das Ruby Sofie liegt im Seitenflügel der renovierten Sofiensäle, jenes Ende des 19. Jahrhunderts im secessionistischen Stil überformten Veranstaltungszentrums, in dem vor dem verheerenden Brand im Jahre 2001 Popstars von Johann Strauss bis Falco aufgetreten waren. Es folgten mit Ruby Marie im ehemaligen Kaufhaus Stafa und Ruby Lissi in einem denkmalgeschützten Klostergebäude zwei weitere Hotels in Wien. 2017 eröffnete das Ruby Lilly in München, wo auch die Verwaltungszentrale des Unternehmens ansässig ist; 2018 kamen das Ruby Coco nahe der Düsseldorfer Kö und das Hamburger Ruby Lotti hinzu.

In München und Hamburg bietet Ruby zudem Räumlichkeiten fürs Coworking an, die nicht nur von Hotelgästen, sondern auch von Freelancern oder Projektteams vor Ort angemietet werden können. Zehn weitere Hotelprojekte u. a. in Köln, Frankfurt, London, Zürich und Helsinki sind im Bau oder in Bauvorbereitung. Bei der Expansion stehen dem Unternehmen kapitalstarke Partner zur Seite; die österreichische Soravia Gruppe, ein Private-Equity Fonds, der Unternehmer Michael Hehn, ein deutsches Family Office sowie Michael Struck halten gemeinsam die Firmenanteile.

Modular in den Bestand

Statt neue Hotels zu bauen, setzt die Ruby-Gruppe auch weiterhin auf die Umnutzung bestehender Gebäude, wobei die innerstädtische Lage inzwischen zum bestimmenden Kriterium für die Auswahl der Immobilien geworden ist. Man fokussiert sich nicht mehr ausschließlich auf architekturhistorisch interessante Objekte wie in den Anfangsjahren in Wien, sondern investiert auch in mittelprächtige Bürogebäude, sofern sie nur in der Nähe großstädtischer Hotspots liegen.

»Mein Team und ich haben ein modulares Architekturinstrumentarium entwickelt, mit dem wir fast unabhängig von den Grundgegebenheiten eines Gebäudes zu einer sehr flächeneffizienten Nutzung kommen«, erläutert Michael Struck. »Beispielsweise haben wir mehr als 100 verschiedene Zimmergeometrien entwickelt – schlank und lang genauso wie kurz und breit, dreieckig oder L-förmig. Damit können wir die maximale Zahl von Zimmern in den meist feststehenden Grundflächenformen unserer Gebäude unterbringen.« Dank dieser Flächeneffizienz könne man »fast doppelt so viel Umsatz pro Quadratmeter erlösen wie ein konventionelles Hotel«. Zur flächeneffizienten Raumorganisation gehört die Unterbringung der Badfunktionen im Zimmer selbst: Weil man Waschplatz, Duschkabine und WC-Box in den Schlafraum integriert, müssen raumgreifende Nasszellen bei der Grundrissplanung nicht berücksichtigt werden.

Lean Luxury

Die Klugheit, die das Unternehmen bei der Auswahl und beim Ausbau seiner Häuser walten lässt, bildet eine wichtige Voraussetzung für den ökonomischen Erfolg, aber natürlich kommen imagebildende Faktoren hinzu. Zusammenfassen lassen sie sich in dem Markenversprechen »Lean Luxury«, mit der die Ruby-Gruppe ihre Gäste umwirbt. Unter schlankem Luxus versteht ­Michael Struck »eine Lage im Herzen der Stadt, top Design sowie eine hochwertige Ausstattung in wesentlichen Bereichen – und das zu bezahlbaren Preisen.« Das funktioniere, weil man in den Ruby-Hotels den Luxus nach dem Vorbild moderner Yachten auf relativ kleiner Fläche unterbringe und Unwesentliches einfach weglasse.

Keine Suiten, keine weitläufigen Zimmer mit Minibar und riesigem Bad, ­keine Tagungsräume, kein Restaurant, kein Spa-Bereich, kein Roomservice – dafür hervorragende Matratzen und Duschen, hochwertiges Mobiliar und ein exzellentes Frühstück in einer coolen Lobby: Dieses, Aufwertung und Verschlankung geschickt kombinierende Konzept hat Michael Struck keineswegs erfunden; bereits seit dem Jahr 2000 beweist etwa der Hotelier Dieter Müller mit seiner inzwischen 71 Häuser umfassenden Low-Budget-Hotelkette Motel One, welche geschäftlichen Potenziale die Strategie »Viel Design für wenig Geld« birgt.

Dennoch ist Ruby keine Kopie von Motel One. Allein das Umnutzungskonzept sorgt bei den Ruby-Häusern für mehr Varianz im Hinblick auf die Größe und Atmosphäre der Räumlichkeiten.

Hinzu kommt ein Interiordesign, das zwar ebenso wie die Konkurrenz auf standardisierte Einrichtungsmodule setzt, aber sehr viel Raum für individuelle Möblierung und Dekoration lässt. In den öffentlichen Bereichen beispielsweise bemüht man sich stets darum, mittels narrativer Gestaltungselemente ein themenbezogenes Lokalkolorit heraufzubeschwören. Wie das konkret aussehen kann, lässt sich beispielsweise im Münchner Ruby Lilly studieren.

Das in einem 1973-75 von Kurt Ackermann am Stiglmaierplatz erbauten ehemaligen Bürogebäude untergebrachte Hotel verfügt über eine doppelgeschossige Lobby mit Galerie. Wände, Decken, Regale sowie Empfangs- und Bar­tresen der weitläufigen Hotelhalle sind schwarz lackiert, Gitterstrukturen und Profile aus Metall setzen goldfarbene Akzente. Vintagesessel in verschiedenen Größen und Formen beleben das dunkel gehaltene Ambiente. Das übrige ­Mobiliar ist ein Mix aus klassischen Bistro-Tischen, robusten Holzstühlen, ­lederbezogenen Bänken und rustikalen Massivholztischen. Beim Dekor haben sich die Gestalter vom Topos der »Münchner Schickeria«, wie man sie aus den Fernsehserien »Monaco Franze« und »Kir Royal« von Helmut Dietl kennt, inspirieren lassen: Von der Decke hängt ein Leuchter aus goldenen Champagnerflaschen; in einem Regal sind Filmkassetten, alte Illustriertentitel und Sektkelche arrangiert; am Eingang steht eine Skulptur aus Röhrenfernsehern, über deren Bildschirme »Monaco Franze« in Endlosschleife flimmert. Nach einer Figur aus dieser Kult-Serie ist denn auch das Hotel benannt: Lilly ist die kurvige Brünette (Michaela May), die der Serienheld (Helmut Fischer) im Fasching anschmachtet.

Vom Nachtschwarz der Lobby und der übrigen öffentlichen Räume heben sich die hellen Hotelzimmer deutlich ab. Dunkel sind hier nur die halbhohen Kirschholzvertäfelungen, ansonsten dominieren lichtgraue Flächen das Ambiente. Zur Standardausstattung gehören lasierte Dielenböden, Textilvor­hänge und weiß bezogene Luxusbetten mit 30 cm hohen Taschenfederkernmatratzen. Viele der insgesamt 174 Zimmer bieten dank bodentiefer Fensterfronten einen weiten Panoramablick über München. Zur Auswahl stehen Räume verschiedener Kategorien von »Nest Rooms« (14-15 m²) über »Cosy Rooms« (15-18 m²) und »Lovely Rooms« (18-19 m²) bis hin zu »Wow Rooms« (19-22 m²).

Wenn der Ruby-CEO fordert, die Ausstattung in einem Stadthotel müsse sich auf das Wesentliche fokussieren, so meint er dreierlei: »Schlafen, Duschen und Multimedia.« In punkto Medien haben die Ruby Hotels tatsächlich einiges zu bieten: Jedes Zimmer ist mit einem 42’’ HD-Fernsehgerät, einem Tablet-PC und einem Smartphone ausgestattet. Letzteres können die Hotelgäste während ihres Aufenthalts auch unterwegs kostenlos nutzen und verfügen ­dabei über ein unbegrenztes Daten- und Gesprächsguthaben. Damit nicht ­genug: Auf jedem Zimmer stehen kleine Marshall-Verstärker für spontane Jam Sessions bereit, die E-Gitarren dazu kann man sich kostenfrei am Empfang ausleihen. Nicht der schlechteste Grund, einmal eine Nacht in einem ­Ruby-Hotel zu verbringen – für ca. 90 Euro aufwärts.

db, Do., 2019.04.04



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db 2019|04 Auf Reisen

05. März 2019Klaus Meyer
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Grüngelbe Zickzackform

Viel Licht, effektiver Lärmschutz, große Grünflächen vorm Haus: Die Wohnanlage »Stadtpark Lehen«, errichtet an einer viel befahrenen Straße zwischen der Innenstadt und der Peripherie Salzburgs, bietet viele Vorzüge. Identität stiftet sie durch ihr farbenfrohes Erscheinungsbild.

Viel Licht, effektiver Lärmschutz, große Grünflächen vorm Haus: Die Wohnanlage »Stadtpark Lehen«, errichtet an einer viel befahrenen Straße zwischen der Innenstadt und der Peripherie Salzburgs, bietet viele Vorzüge. Identität stiftet sie durch ihr farbenfrohes Erscheinungsbild.

Die Altstadt beginnt gleich hinter der Flussbiegung, doch auf der Lehener Brücke ist vom Salzburg Mozarts, Karajans und Hoffmansthals nichts zu sehen. Das »Heizkraftwerk Mitte« am Ostufer der Salzach und ein schmuddeliger Wohn- und Geschäftskomplex versperren die Sicht. Statt barocker Pracht bestimmt Betonbrutalismus das Bild im rauen Norden der Festspielstadt, und statt Geigenschmelz dringt Autolärm ans Ohr. Die Lehner Brücke ist Teil der Verkehrsader, die Salzburg in ost-westlicher Richtung durchtrennt. Östlich der Brücke heißt sie Saint-Julien-Straße und führt zum Hauptbahnhof, westwärts erstreckt sich die Ignaz-Harrer-Straße bis zum Autobahnzubringer im Nordwesten der Stadt. Auf den ersten zwei, drei Kilometern säumen teils ansehnliche Wohn- und Geschäftshäuser den lauten Boulevard, aber viele Fassaden bröckeln und etliche Läden stehen leer. Allein Sportwettbüros und Dönerbuden finden sich noch reichlich. Doch es gibt auch einen Lichtblick: Am Ende der Straßenschlucht ragt ein siebengeschossiger Neubau mit farbenfroher Fassade auf – die Wohnanlage »Stadtpark Lehen«.

Die grüngelbe Farbigkeit des Baukörpers, seine Höhenversprünge und seine Zickzackform: Das sind die Merkmale, die einem sofort ins Auge springen. Doch auch die besondere stadträumliche Position der Anlage erschließt sich beinahe auf den ersten Blick. Sie steht an der Schnittstelle von urbanem Zentrum und Peripherie: Hüben dominieren geschlossene Häuserblocks, drüben löst sich die strenge Ordnung in eine von Grünflächen durchzogene Mixtur aus Gebäuden unterschiedlichen Formats auf. Die neue Wohnanlage bildet ein Scharnier zwischen den beiden Zonen.

Ihr hoch aufragender Kopfbau nimmt etwa die Höhenlinie der innerstädtischen Bebauung auf, während die Gesamtform der vor- und zurückspringenden Baukörper einen Bezug zur durchgrünten Vorstadt herstellt. Wie direkt dieser Bezug ist, erkennt man beim Blick durch den hohen, torartigen Durchgang im vorderen Baukörper: Der Gebäudekomplex öffnet sich nach Süden auf das Areal, das dem Projekt den Namen gab, den »Stadtpark Lehen«.

Bevor der Park und die Wohnanlage entstanden war an der Stelle v.a. Brachland, aber auch eine Spielhalle, eine Tankstelle, ein Tennisplatz sowie das Gebäude des Art-Forums Salzburg, das noch immer an seinem Platz steht und um das die Anlage gleichsam einen Bogen macht. 105 Wohneinheiten auf insgesamt 7.700 m² Wohnfläche hat die Gemeinnützigen Salzburger Wohnbaugesellschaft (gswb) hier errichtet. Insgesamt sind es rund 1.000 Wohnungen, die das Unternehmen in den letzten Jahren im dicht besiedelten Stadtteil Lehen geschaffen hat. Doch das »grüngelbe Chamäleon«, so Dr. Bernhard Kopf, Technischer Direktor der gswb, sticht heraus und die Reaktionen auf den Bau seien durchweg positiv ausgefallen. Nur wenige der insgesamt 34 Eigentumswohnungen stünden noch leer, ansonsten sei das in zwei Bauabschnitten von 2016 bis 2018 errichtete Gebäude bereits komplett bezogen, berichtet er.

Über die positive Resonanz freuen sich insbesondere auch die Architekten Marion Gruber und Christoph Leitner vom Wiener Büro PLOV Architekten sowie Martin Oberascher vom Salzburger Büro MOA (vormals Soma). Die beiden Büros, die als Sieger aus dem 2012 durchgeführten Architekturwettbewerb hervorgingen, bildeten für das Bauvorhaben eine Arbeitsgemeinschaft. Das Interessante dabei: PLOV und MOA unterscheiden sich in Temperament und Designansatz deutlich voneinander. Martin Oberascher (geb. 1975), der einige Jahre bei Coop Himmelblau gearbeitet hat, favorisiert das baukünstlerische Experiment, während Gruber und Leitner (beide Jahrgang 1977) sich für eine »ehrliche, funktionale und selbstbewusste« Architektur aussprechen, die städtebauliche Grundforderungen berücksichtigt.

Auf letztere reagiert der Entwurf allein schon durch den Kontrast der straßen- und parkseitig ausgebildeten Fassaden. Entlang der verkehrsreichen Ignaz-Harrer-Straße im Norden präsentiert sich die Anlage mit Laubengangfronten, während die Südfassaden sich mit gezackten und gewellten Balkonen zum Park hin öffnen. Durch die mäandrierende Anordnung der Baukörper entstehen entlang der Straße drei Plätze, die den Verkehr auf Distanz halten und die Aufenthaltsqualität vorm Wohnquartier erhöhen. Gezielt verortete Durchgänge verzahnen Straßen- und Parkfront miteinander.

Straßenseitig fügen sich verputzte Wandelemente, Glasscheiben und Metallgitter zu einer bildmächtigen Fassade zusammen, die freilich auch nutzungsbedingte Gliederungen erkennen lässt. Im Bereich der Treppenhäuser dominieren Glas und Metall, die Laubengänge kennzeichnet der Wechsel von Wandscheiben und Glasflächen, die bis an die Gebäudekanten reichenden Eckwohnungen zeigen sich schließlich bis auf schmale Fensterschlitze geschlossen. Die horizontale Schichtung des Baukörpers betonen die Architekten durch den Wechsel von markanten Sichtbetonstreifen und geschosshohen Farbfeldern.

Das Spektrum der fünf eingesetzten Farbtöne reicht von Gelb über Gelbgrün, Mittelgrün und Grasgrün bis hin zu Dunkelgrün. Dieses bildet im Gebäudeinnern auch den Hintergrund für die vier leuchtenden Fassadenfarben. Dass für die Fronten keine dunkleren Töne zum Einsatz kamen, hat v. a. technische Gründe: Der Hellbezugswert von 25 durfte bei den als Wärmedämmverbundsystem ausgebildeten Fassadenelementen nicht unterschritten werden. In erster Linie folgte die Farbwahl jedoch gestalterischen Kriterien. »Das Ganze hat etwas Fröhliches«, sagt Bernhard Kopf. Außerdem sei die Farbigkeit ein Signal, das auf die grüne Wiese hinterm Wohnquartier verweise. Zu beachten sei ferner der städtebauliche Kontext: »An diesem Knotenpunkt ist Farbe kein Fehler.«

Auf der Parkseite bilden die Farbfelder lediglich die Kulisse für die vorgeblendeten Balkonbrüstungen aus gelochtem Aluminiumblech. Neben vielen gelungenen Details im Innern sind es diese weißgrauen Bänder, die auf besonders prägnante Weise zeigen, dass die Farbe keineswegs das einzig bemerkenswerte Charakteristikum dieser Wohnanlage ist. Doch als identitäts­stiftendes Merkmal kommt ihr eine herausragende Bedeutung zu, was schon der Name »gelbgrünes Chamäleon« andeutet, der sich offenbar sowohl bei Bewohnern als auch bei Anliegern zu etablieren beginnt. Zu wünschen wäre, dass das Chamäleon auch dann noch zu beeindrucken vermag, wenn die Leuchtkraft seiner Farben schwindet. Oder braucht das Gebäude die Patina geradezu? Wer die frischen Farben, mit denen es sich als Neubau präsentiert, liebt, wird ihren Glanz natürlich unter allen Umständen bewahren wollen. Wer sich aber an den hellen Farben stört, etwa weil sie die umgebende Natur durch ihre grelle Künstlichkeit übertönen, der wird das Gebäude erst lieben können, wenn sein Lack ab ist. Tatsächlich ist es der innere Streit über diese Geschmacksfrage, der den Betrachter auf seinem Rückweg in die Altstadt beschäftigt.

db, Di., 2019.03.05



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db 2019|03 Farbe

02. Juli 2018Klaus Meyer
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Einfach, stark

Im Auftrag der kleinen Tiroler Gemeinde Steinberg ­errichtete Bernardo Bader ein Dorfhaus mit Gaststube, Multifunktionssaal und Bauernladen, das den Ortskern stärkt, die Gemeinschaft fördert und den Tourismus belebt. Seine gestalterisch extreme Zurückhaltung lässt das Haus in voller Absicht als einen »besseren Stall« erscheinen.

Im Auftrag der kleinen Tiroler Gemeinde Steinberg ­errichtete Bernardo Bader ein Dorfhaus mit Gaststube, Multifunktionssaal und Bauernladen, das den Ortskern stärkt, die Gemeinschaft fördert und den Tourismus belebt. Seine gestalterisch extreme Zurückhaltung lässt das Haus in voller Absicht als einen »besseren Stall« erscheinen.

Bernardo Bader baut keine Häuser mit Ausrufezeichen. Vielmehr versucht er seine Entwürfe so in ihre jeweiligen Umgebungen einzubinden, dass sie – wie treffende Wörter im Satzgefüge – das Ganze überhaupt erst richtig zum ­Klingen bringen (s. auch Kapelle Salgenreute in db 9/2017, S. 30). Es gehe ihm darum, sagte er einmal, »die Qualität des Alltäglichen sichtbar zu machen« und eine Art »poetische Normalität« zu erzeugen. Diesen Anspruch hat der 44-jährige Vorarlberger in den vergangenen Jahren v. a. mit seinen vielfach prämierten Wohnhaus-Entwürfen sehr eindrucksvoll untermauert. Welchen Zauber solch eine auf den ersten Blick völlig unscheinbare Architektur entfalten kann, zeigt sich auch in Steinberg, wo Bader ein Dorfhaus errichtet hat, das der Tiroler 300-Seelen-Gemeinde am Rofangebirge in jeder Hinsicht den Rücken stärkt.

Abschwung

Um die soziale, ökonomische und ästhetische Bedeutung des Bauwerks wirklich würdigen zu können, ist es unerlässlich, die Ortschaft ein wenig kennenzulernen, die sich in Fremdenverkehrsprospekten und auf Touristikwebsites gern als »schönstes Ende der Welt« präsentiert. Tatsächlich liegt Steinberg verkehrstechnisch gesehen am Ende einer 10 km langen »Sackgasse«, die von der Bundesstraße 181 im Achental abzweigt und in ein weites, von mächtigen Gipfeln (Rofangebirge, Guffert, Unnütz) eingefasstes Hochtal hinaufführt. Die Bewohner der abgelegenen Streusiedlung lebten jahrhundertelang von Viehzucht und Holzwirtschaft. Erst im 20. Jahrhundert sorgte der Tourismus für zusätzliche Einnahmequellen. Im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs wurden Wanderwege und Loipen angelegt, Skilifte gebaut und Gastbetriebe gegründet. Auf dem Höhepunkt der Touristikwelle gab es acht florierende Wirtschaften und etliche Pensionen in Steinberg, bis hin zum 2005 modernisierten Hotel ASI Lodge Tirol (Heinz & Mathoi & Streli), einem ansehnlichen 80-Betten-Haus. Doch die noble Herberge, eher für erholungsbedürftige ­Naturfreunde als für feierwütige Skiverrückte konzipiert, ist seit einiger Zeit geschlossen. Seither suche man nach einem Käufer, der »eine schöne Vision für diesen touristischen Leitbetrieb« habe, sagt der Steinberger Bürgermeister Helmut Margreiter. Ohne die Lodge bleiben im Ort nur noch rund 160 Gästebetten.

Der Rückgang des Fremdenverkehrs, der bereits in den 90er Jahren einsetzte, hat nicht zuletzt auch das Gesicht der Dorfmitte verändert. Da die allermeisten Erwerbstätigen nicht nur zur Arbeit, sondern auch zum Einkaufen ins Tal fahren, hat der im Gemeindezentrum gelegene Krämerladen bereits vor vielen Jahren zugesperrt. Die Schließung des Gasthofs »Kirchenwirt« brachte den Dorfkern um eine weitere Attraktion, zudem klaffte nach dem Abriss des maroden Gebäudes eine riesige Baulücke. Bestehen blieben nur noch die kleine barocke Pfarrkirche, das Pfarrhaus und das 1976 errichtete Schulgebäude, das außer der Volksschule und einem Kindergarten auch die Büroräume der Gemeindeverwaltung beherbergt.

Demokratischer Prozess

Mit dem Kauf des »Kirchenwirt«-Grundstücks, das einen Großteil des Geländes zwischen Schule und Pfarrhof einnimmt, schuf die Gemeinde die Basis für eine künftige gemeinwohlorientierte Nutzung des Areals. Die Fragen zum Wie und Ob, und zu ggf. viel drängenderen Problemen, wollte der Gemeinderat im Jahre 2012 klären – aber nicht über die Köpfe der Bürger hinweg.

Um sie in den Entscheidungsprozess einzubeziehen, bediente man sich eines damals noch ganz neuen Instruments der partizipativen Demokratie – des »BürgerInnenrats«: Nach dem Zufallsprinzip wurden 60 Einwohner ausgewählt und eingeladen, anderthalb Tage lang gemeinsam mit einem professionellen Moderator die Zukunft des Dorfs zu diskutieren. Aus diesem Plenum fanden sich dann 15 Personen, die in Klausur gingen und die Anregungen zu drei konkreten Vorschlägen ausarbeiteten. In einer Vollversammlung entschied sich die Bürgerschaft gegen den Ausbau der Wanderwege oder die ­Instandsetzung der Skilifte, stattdessen mit überwältigender Mehrheit für die Belebung des Dorfplatzes durch ein Dorfhaus. Anschließend entwickelte ein weiterer Ausschuss das Raumkonzept mit Gaststube, einem Laden und einem vielfältig bespielbaren Saal.

»Mit diesem Plan sind wir an das Land Tirol herangetreten, das im Rahmen des Programms ›Dorferneuerung‹ einen geladenen Architektenwettbewerb organisiert hat«, sagt Bürgermeister Helmut Margreiter. Angefragt wurden vier Tiroler Büros – und der Vorarlberger Bernardo Bader. Dass ausgerechnet der einzige Nicht-Tiroler im Wettbewerb reüssierte, liegt nicht nur an der ­gestalterischen Qualität seines Entwurfs. Mitentscheidend war die ­kluge Positionierung des Gebäudes: »Der Neubau tritt mit der Bestandsarchitektur in Dialog und schafft durch Orientierung Richtung Kirche einen ­attraktiven Platz«, heißt es in der Jury-Begründung. In der Tat: Während das mächtige Volumen des ehemaligen Gasthofs »Kirchenwirt« den Raum zwischen Schule und Pfarrhof fast vollständig okkupiert hatte, bildet der um einige Meter zurückgesetzte und zudem quer gestellte Neubau zusammen mit den Bestandsbauten ein bogenförmiges Ensemble, das einen zur Landschaft offenen Platz gleichsam in seine Arme schließt.

Soziales Engagement

Dass die Finanzierung des mit rund 2 Mio. Euro veranschlagten Projekts schließlich gelang, verdankt die Gemeinde dem Land Tirol, das zwei Drittel der Baukosten übernahm – und privaten Mäzenen aus Steinberg, die insgesamt fast 700.000 Euro beisteuerten. Im April 2015 begannen die Bauarbeiten, und bereits zu Weihnachten konnte Bürgermeister Margreiter in der fertig eingerichteten Gaststube das erste Bier zapfen. Ein Gebäude war entstanden, von dem Bernardo Bader kürzlich bemerkte: »Manche Steinberger sagen noch immer, ich hätte hier einen besseren Stall gebaut, was mich freut und sie wiederum irritiert.«

Tatsächlich ist der Stall-Vergleich nicht abwegig: Mit seiner Hülle aus säge­rauen Lärchenbrettern, seinem schwach geneigten Satteldach und dem Betonsockel wirkt das südwestseitig leicht in den Hang hineingeschobene Dorfhaus zumindest aus der Ferne wie ein ganz gewöhnliches bäuerliches Nutzgebäude. Als modernes Gast-Haus gibt sich der aus vorgefertigten Holzelementen errichtete »Stall« erst auf der Südostseite zu erkennen, wo sich die Holzfassade mit einem großen, dreigeteilten Fenster zur gepflasterten Terrasse und zum Dorfplatz öffnet. Der Eingang liegt in der Mitte des gläsernen Triptychons. Er führt auf einen zentralen Gang, von dem links der Saal und rechts die Gaststube abgeht. Die Dreiteilung des Grundrisses entspricht dem traditionellen Raumschema Tiroler Bauernhäuser. Dabei mutierte der Stall zum Saal, die Tenne zum Entree und der bäuerliche Wohntrakt zur Gaststube nebst Küche und Funktionsräumen.

Zur einfachen Struktur passt die minimalistische Anmutung der Innenräume. Der bis unters Dach reichende Saal präsentiert sich als nüchterner, ganz mit Lärchenpaneelen bekleideter Raum. In der Gaststube setzen zwei Sichtbetonwände Akzente. Für ein gemütliches Flair sorgt hier die Möblierung mit gepolsterter Fensterbank, robusten Wirtshaustischen sowie den »Landluft«-Stühlen, die Markus Faißt (Bregenzerwald) nach dem Vorbild traditioneller Bauernschemel entworfen hat. Mit Wärme wird das Dorfhaus von der jüngst erneuerten Pelletheizung im Gemeindehaus nebenan versorgt.

Ein Besuch der Schenke lohnt sich allein schon wegen der grandiosen Aussichten. Das Panoramafenster gegenüber des Tresens gewährt einen freien Blick auf die Bergwelt, ein weiteres Fenster auf der nordöstlichen Giebelseite orientiert sich zur Dorfkirche hin.

Seit zwei Jahren bereichert das Haus jetzt schon das Leben der Dorfbewohner und ihrer Gäste. Im Saal finden Hochzeitsfeiern, Vorträge, Filmabende, Tanzkurse und Konzerte statt, die Wirtschaft lockt mit durchgängig warmer Küche und köstlichen Torten längst auch zahlreiche Besucher von außerhalb an. Demnächst soll ein Bauernladen in die Gaststube integriert werden. Durch das Dorfhaus habe Steinberg einen »Riesenschub« gemacht, sagt Helmut Margreiter. Es geht aufwärts im »schönsten Ende der Welt« – nicht zuletzt dank eines »besseren Stalls«.

db, Mo., 2018.07.02



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db 2018|07-08 Auf dem Land

05. März 2018Klaus Meyer
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Alpenglühen

Ein Lichtblick im österreichischen Skiparadies Sölden: Im vielfarbig schillernden Umfeld touristischer Einrichtungen strahlt die Talstation der neuen Giggijochseilbahn in jeder Hinsicht große Ruhe aus. Blickfang des markanten Bauwerks ist ein dezent illuminiertes, tag- und nachtwirksames Alpenpanorama.

Ein Lichtblick im österreichischen Skiparadies Sölden: Im vielfarbig schillernden Umfeld touristischer Einrichtungen strahlt die Talstation der neuen Giggijochseilbahn in jeder Hinsicht große Ruhe aus. Blickfang des markanten Bauwerks ist ein dezent illuminiertes, tag- und nachtwirksames Alpenpanorama.

In der Werbung inszeniert sich der österreichische Skiort Sölden als »Hotspot der Alpen« – und genau so sieht er auch aus. An die Zeiten, als die Gemeinde im Tiroler Ötztal ein bäuerlich geprägtes Straßendorf war, erinnert allenfalls noch die Straße. Einige Gebäude links und rechts der kilometerlangen Ortsdurchfahrt geben sich zwar nach wie vor als Kuhstall, Tenne oder Rodelhütte aus, aber die Namen verweisen heute auf Cafés, Après-Ski-Lokale und Nachtclubs. Hinzu kommen Hotels, Pensionen, Sportbedarfs- und Modegeschäfte sowie einige wenige kommunale Bauten wie etwa das angenehm schlichte Gemeindehaus. Geprägt wird das Straßenbild indes von einer eklektischen Showarchitektur, die gern das Urige mit dem Coolen mixt und selbst tagsüber teilweise von Leuchtreklamen überstrahlt wird. Nachts vermag solch ein »Hotspot« durchaus zu faszinieren – vorausgesetzt man sieht ihn mit den Augen eines vergnügungshungrigen Skiurlaubers, anderenfalls kommt man sich schnell wie ein Taliban auf der Reeperbahn vor.

Technotrack versus Alpensymphonie

Doch es gibt zwei Bauwerke in Sölden, die sich nicht in dieses eindimen­sionale und etwas maliziöse Bild fügen. Es handelt sich um die Talstationen der beiden Seilbahnen, die insofern das ökonomische Rückgrat des Orts ­bilden, als sie das riesige Söldener Skigebiet erschließen und damit den touristischen Betrieb überhaupt erst ermöglichen. Sowohl die 2010 fertiggestellte Gaislachkogelbahnstation am südlichen Ortsausgang als auch ihr Pendant im Norden, die 2016 errichtete Giggijochbahnstation, können sich sehen lassen – bei Tage, aber auch in der glitzernden Söldener Nacht. Dann präsentiert sich die auf einem massigen Sockel errichtete Glashalle der südlichen Station als großer, vielfarbig schillernder Leuchtkörper. Licht dient hier der spektakulären Inszenierung der exponierten Seilbahntechnik; es ist laut wie ein Technotrack und feiert das Leben als knallbunten Spaß. Ganz anders wirkt der von einem leuchtenden Band umkränzte Turm der Giggijochbahnstation. Das ­heruntergedimmte Licht dient hier der Illumination eines umlaufenden ­Alpenpanoramas. Es ist blau. Es ist leise. Und es unterstreicht auf dezente Weise die fast sakrale Anmutung des hohen Turmbaus.

Beide Anlagen sowie die jeweils zugehörigen Bergstationen entstanden nach Plänen des Architekturbüros Obermoser aus Innsbruck. In Sölden ist Johann Obermoser so etwas wie der Baumeister vom Dienst. Auf dem Gaislachkogl hat er das mondäne Bergrestaurant »Ice-Q« errichtet, in dem 2015 Teile des James-Bond-Streifens »Spectre« gedreht wurden; unweit davon entsteht derzeit mit der Bond-Erlebniswelt »Elements 007« ein weiteres Werk des Innsbruckers. Von ihm stammt außerdem der Entwurf des Shuttle-Aufzugs, der von der Ortsmitte aus die niedriger gelegenen Abfahrten erschließt.

Im Übrigen hat sich Obermoser weit über Sölden hinaus als Seilbahnexperte einen Namen gemacht. Die Giggijochbahn ist sein sechstes Projekt dieser Art – und ein ganz besonderes dazu: Dank der vom Unternehmen Doppelmayr bereitgestellten Technik gilt die Anlage als die leistungsfähigste Seilbahn der Welt. Bis zu 4 500 Wintersportler vermag sie pro Stunde auf den Gipfel ihrer Träume zu transportieren.

Starker Solist auf grosser Bühne

Das Bauwerk verkraftet den Ansturm ohne Weiteres. Selbst in der Hauptstoßzeit zwischen 8 und 10 Uhr morgens, wenn die Skifahrer zu Tausenden anrücken, bilden sich keine Warteschlangen auf dem Vorplatz. Fortlaufend sickern die Massen ins Gebäudeinnere ein, wo sie von Rolltreppen, Aufzügen, Passagen und Einstiegszonen aufgenommen und rasch weitergeleitet werden. »Früher gab es hier Schlangen ohne Ende«, sagt Christoph Neuner, der das Bauvorhaben als Projektleiter begleitet hat. »Aber nicht nur in logistischer Hinsicht ließ die Vorgängerstation zu wünschen übrig, sie hat auch viel zu viel Raum beansprucht.« Da die neue Station auf verhältnismäßig kleinem Grund steht, hält sie Distanz zu den umgebenden Hotels, Gaststätten und Parkhäusern. Wie ein Solist auf weiter Bühne zieht sie die Blicke des Publikums auf sich.

Was von der nahen Hauptstraße aus wie ein runder Turm wirkt, entpuppt sich in der Seitenansicht als lang gestrecktes Volumen mit U-förmigem Grundriss. Die gefräste und hydrophobierte Betonschale des Baus kontrastiert sehr schön mit der Metallhülle der umlaufenden Bahnsteigebene, auf der die 10-Personen-Gondeln eintreffen und abfahren. Die Plattform wurde auf 13 m angehoben, um den Fußabdruck des Gebäudes auf dem Grundstück zu minimieren. Aber nicht nur deshalb. Durch die erhöhte Lage verringert sich der Anstiegswinkel der Seilzüge, was den Bahnbetrieb erleichtert. Außerdem ermöglicht der hohe Bahnsteig eine direkte Verbindung zur Skipiste und zum angrenzenden Parkhaus.

Auch in anderen Bereichen folgt die Formgebung den vielfältigen funktionalen Anforderungen auf eine Weise, dass die Nutzung des Zweckbaus zu einem ästhetischen Vergnügen wird. Das ist etwa bei den exponierten Rolltreppen der Fall. Oder der mehrgeschossigen Kassenhalle. Oder dem einsehbaren, vom Hauptgebäude abgerückten Spannschacht, in dem superschwere Gewichte die Stahlseile stramm ziehen. Gestalterisches Highlight des Ganzen ist aber zweifellos die Einstiegsplattform mit der verspiegelten Unterseite und dem perforierten Aluminiumschirm.

Ganz ohne Spots und Strahler

Die Löcher im Metallband formieren sich zu einem Panorama der Ötztaler Alpen, das je nach Tageszeit und Lichtstimmung unterschiedlich wirkt. Tagsüber tritt das Bild manchmal nur als abstrakte Grafik in Erscheinung; nachts, wenn die Hülle von blauem LED-Licht hinterleuchtet wird, entfaltet das Gebirgsmotiv eine plastische Wirkung.

Bei der Gestaltung und Ausführung der Installation arbeiteten die Architekten eng mit den Lichtplanern der Firma Bartenbach aus Aldrans zusammen. Dabei einigten sich die Beteiligten ziemlich schnell auf das zugrundeliegende Fotomotiv. Die Herausforderungen der Lichtplanung beschreibt Christoph Gapp, Projektleiter bei Bartenbach, folgendermaßen: »Zuerst galt es, das richtige Material zu finden. Dann ging es um die exakte Abstimmung von Materialdicke, Lochgröße und Anordnung der Bohrungen.

Schließlich mussten wir uns um die Lichtfarbe und die Positionierung der Leuchten kümmern.« Der Designprozess umfasste eine ganze Reihe von Versuchen, die sowohl im Lichtlabor bei Bartenbach als auch vor Ort in Sölden durchgeführt wurden. In Aldrans arbeiteten die Lichtplaner v.a. mit Simulationen, doch um Wirkung aus größeren Distanzen zu testen, kamen auch 1:1-Modelle zum Einsatz, die etwa an der Gaislachkoglbahnstation montiert wurden.

Zur Illumination bedarf es keiner besonderen Spots oder Strahler. »Zum Einsatz kommen lediglich die LED-Deckenleuchten, die für die Grundbeleuchtung des Einstiegsbereichs sorgen«, sagt Christoph Gapp. Normalerweise spenden die Leuchten tagsüber weißes und nachts blaues Licht, doch für besondere Anlässe stehen auch andere Farbstimmungen zur Auswahl. Im Übrigen sind es die reflektierenden Oberflächen der Plattform wie etwa die helle Betoninnenwand und der teilweise mit weißen Fahrbahnmarkierungen bedeckte Fußboden, die wesentlich zur stimmungsvollen Beleuchtung beitragen. Die Gesamtwirkung schließlich resultiert aus dem harmonischen Zusammenspiel von illuminiertem Metallband und dezent angestrahltem Turm.

Mit einer vergleichbaren Lichtinszenierung kann die Bergstation nicht aufwarten. Doch in rund 2 280 m Höhe geht es ja auch nicht darum, ein mittelprächtiges Umfeld durch ein starkes architektonisches Zeichen aufzuwerten. Im Gegenteil sollte sich die Architektur hier der starken Landschaft unterordnen – was die Station auch tut: Über einem Betonsockel, der die notwendigen Funktionen aufnimmt, schwebt als Wetterschutz eine folienbespannte Stahlkonstruktion, die das Volumen luftig und leicht erscheinen lässt. Da die Gondel-Garage innerhalb der Konstruktion untergebracht wurde, erübrigten sich zusätzliche Kubaturen in den Bergen. Auch der Tunnel, der die Station mit dem 200 Meter entfernten Restaurant verbindet, trägt zur Minimierung des Landschaftsverbrauchs bei. Alles in allem bereichert die neue Giggijochbahn die Feriengemeinde Sölden um zwei Attraktionen. Die auf dem Berg fördert den Fremdenverkehr, die im Tal stärkt darüber hinaus das Ortsbild.

db, Mo., 2018.03.05



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db 2018|03 Tag und Nacht

03. Juni 2016Klaus Meyer
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Gehobener Sprachschatz

Seit September 2015 bereichert die Grimmwelt die Kasseler Museumslandschaft. Zum Publikumserfolg der Schau über Leben und Werk der Brüder Grimm trägt ganz wesentlich die Ausstellungsgestaltung bei: So führt die Wanderung durch die Welt der Märchensammler durch ­einen stilisierten Papierwald.

Seit September 2015 bereichert die Grimmwelt die Kasseler Museumslandschaft. Zum Publikumserfolg der Schau über Leben und Werk der Brüder Grimm trägt ganz wesentlich die Ausstellungsgestaltung bei: So führt die Wanderung durch die Welt der Märchensammler durch ­einen stilisierten Papierwald.

Gegenstand der Ausstellung ist nicht nur das gewaltige Werk der Brüder Grimm, sondern auch ihr weit gespanntes Wirken. Wie aber z.B. das unermüdliche Briefeschreiben der beiden Wortarbeiter illustrieren? Wie ihre unausgesetzte Korrespondenz mit rund 1400 Personen aus aller Welt zur Darstellung bringen? Wie das Erstaunliche so in Szene setzen, dass es staunen macht? Die Lösung ist am Haltepunkt »Organisierung« zu besichtigen. Dort geht die Post ab – und zwar auf einem Kartentisch, der die Umrisse von Europa zeigt: Vom hessischen Kassel als dem pulsierenden Herz des Kontinents spannen sich feine Glasfaserstränge bis zu Adressen in ganz Europa. Auf diesen Linien wandern unablässig Lichtpunkte hin und her. Innerhalb Deutschlands, wo der Briefverkehr am intensivsten ist, leuchtet der Stern besonders hell. Doch strahlt er aus bis Moskau, Edinburgh, Lissabon und Palermo. Die digitaltechnisch aufwendige Installation fasziniert, weil sie einen langwierig-unanschaulichen Prozess in einem leicht fasslichen Bild einfängt. Freilich sind es keineswegs nur die Hightech-Formate, die in der Grimmwelt faszinieren.

Anderswo gibt es andere Highlights. Mal sind es alte, vergilbte Bücher, mal historische Zeichnungen und Objekte, mal moderne Skulpturen und Installationen.

Auch Filme, Hologramme und Dioramen fügen sich harmonisch in den gestalterischen Rahmen, den das Kuratorinnen-Team um Annemarie Hürlimann und Nicola Lepp sowie die Ausstellungsdesigner ­Holzer Kobler Architekturen geschaffen haben.

Den meisten Inszenierungen der Grimmwelt liegen naturgemäß Texte zugrunde. Jacob Grimm (1785-1863) und Wilhelm Grimm (1786-1859) haben Berge beschriebenen Papiers hinterlassen, und ein gewichtiger Teil dieser Zettel, Kladden, Dossiers und Bücher ist in Kassel entstanden. Dort haben die in Hanau geborenen Brüder zwischen 1798 und 1829 gelebt. Dort trugen sie auch den Grundstock ihrer weltberühmten Märchensammlung zusammen, betrieben umfangreiche germanistische Studien und publizierten Bücher über Sagen, Runen und Rechtsaltertümer. Die Ausstellung berücksichtigt jedoch nicht nur die Kasseler Zeit der Brüder, sondern auch ihr späteres Wirken in Göttingen und Berlin, wobei die gemeinsame Arbeit am »Deutschen Wörterbuch« einen Schwerpunkt bildet. Reiches biografisches Anschauungsmaterial steuert ein dritter, heute zu Unrecht kaum noch beachteter Bruder Grimm bei: Ohne die Zeichnungen und Bilder des Malers Ludwig Emil Grimm (1790-1863), der an der Kasseler Kunstakademie lehrte, wäre die Schau um einige ihrer schönsten Exponate ärmer.

Der Rahmen des Rahmens

Attraktiv ist indes nicht nur der Inhalt der Grimmwelt. Schon das landschaftliche und architektonische Drumherum lohnt den Besuch. Das vom Aachener Büro kadawittfeldarchitektur entworfene, 2015 fertiggestellte Museumsgebäude steht in einem malerischen Park nahe der Kasseler Innenstadt. Steintreppen, Mauerfragmente und Pergolen prägen die Atmosphäre der Grünanlage am Hang des Weinbergs. Der neue Baukörper verstellt diese Kulisse nicht, sondern bereichert sie.

Betont wird die Zugehörigkeit durch die weitgehend geschlossene Bruchsteinhülle, die abgetreppte Kubatur und eine Funktionalität, die über das bloße Einhausen eines Inhalts weit hinausgeht: Als öffentlich zugängliche Treppenanlage, die ihren Abschluss in der Aussichtsterrasse auf dem Dach findet, gehört das Gebäude gewissermaßen schon zur Ausstellungsarchitektur, führt es den Besuchern doch die Landschaft vor Augen, in der die Brüder einmal zu Hause waren.

Im Innern erstreckt sich ein zentrales Foyer vom Eingang bis zu einem lichtdurchfluteten Café mit Panoramablick auf die Kasseler Karlsaue. Gegenüber dem offenen Museumsshop in der Mitte des Foyers gewährt eine Galerie Einblick in die tiefer gelegene Split-Level-Ebene. An die Rückwand dieses »Auftraktraums« projizierte Wörter markieren den Übergang in die eigentliche Grimmwelt. Die Galerie war ursprünglich nicht vorgesehen. Man habe »die Lösung gemeinsam mit den Architekten und den Kuratorinnen erarbeitet«, sagt die bei Holzer Kobler für das Projekt verantwortliche Planerin Simone Haar. Auch anderenorts wurden Raumstrukturen an die Wünsche der Ausstellungsgestalter angepasst. Beispielsweise entstanden statt der geplanten Ausstellungskabinette Großräume mit eigens entwickelter Binnengliederung.

Von Ärschlein bis Zettel

Thematisch gliedert sich die Schau in drei Abteilungen. Die erste ist im Zwischengeschoss untergebracht und widmet sich dem philologischen Schaffen der Brüder. Im UG präsentiert sich zunächst die Märchenwelt mit einer Fülle medialer Inszenierungen und abschließend die biografische Abteilung, die unter anderem mit Skizzen von Ludwig Emil Grimm aufwartet. Das eigentliche Ausstellungskonzept leiteten die Kuratorinnen aus dem Grimmschen Sprachkosmos ab: Ein Glossar, dessen Stichwörter dem »Deutschen Wörterbuch« entnommen wurden, ordnet den Stoff und weist den Weg durch die Schau. Insgesamt gibt es 25 Haltepunkte, die durch Leuchtbuchstaben von A bis Z gekennzeichnet sind, aber nicht der alphabetischen Ordnung folgen. Der Rundgang beginnt bei »Zettel«, führt über »Buch« und »Froteufel« zu »Ärschlein« und verläuft sich eine Treppe tiefer in der »Dornenhecke«, in »Cassel« oder im »Glück«.

Mit »Zettel« hat es eine besondere Bewandtnis. »All ihre Ideen, Geschichten und Gedanken notierten die Brüder Grimm auf kleine Stücke Papier, die sie sortierten und schließlich zu Werken mit völlig konträrem Charakter zusammenfügten«, sagt Simone Haar. »Diese komplexe Strategie mit ihren unendlichen Möglichkeiten fesselte uns und wurde zum Gestaltungsprinzip der Ausstellung.« Die Grundidee manifestierte sich als ein System aus papierartigen Wandscheiben. Die Anmutung rührt von dünnen, transluzenten Glasfaserplatten her, die beidseitig auf Metallgestelle geschraubt wurden. Die Scheiben zonieren Räume, schlucken Geräusche, grenzen Schaustücke voneinander ab, bilden eine neutrale Folie für unterschiedliche Figuren und stiften formale Einheit. Darüber hinaus haben sie eine dezent illustrative Funktion. Im ersten Teil der Ausstellung erinnern die hintereinander gestaffelten Scheiben an ein Register oder an Buchseiten, in der Märchenabteilung lichtet sich die Struktur und wirkt dank gezackter Ränder wie die Silhouette eines Walds.

Einsichten und Erkenntnisse

Insgesamt bildet das System einen flexiblen und ästhetisch reizvollen Rahmen für eine Ausstellung, die Kinder und Erwachsene gleichermaßen anspricht.

Überraschende Einsichten und Erkenntnisse vermittelt die Schau auf Schritt und Tritt. Bei »Ärschlein« bombardiert ein Schimpfwortgenerator die Besucher mit Kraftworten von »Bumbs« bis »Pissblume«. In der Station gleich gegenüber dreht es sich um das von den Brüdern Grimm begonnene, aber nur bis zum Stichwort »Froteufel« selbst redigierte Mammutprojekt »Deutsches Wörterbuch«. Im Fokus stehen hier Bildkästen mit Papierkunstwerken von Alexej Tchernyi, die zauberhafte Einblicke in die Genese des erst 1971 abgeschlossenen Werks gewähren. Eine Etage tiefer stößt man in der »Dornen­hecke« auf einen sprechenden Spiegel, in einem gespenstischen Hexenhaus auf einen riesenhaften Punchingball und in einer Videobox auf den Filmemacher Alexander Kluge, der anregend übers »Glück« parliert. Darüber hinaus machen wispernde Bäume und spannende Filme den Aufenthalt in der Märchenwelt zum Erlebnis. Die biografische Abteilung schließlich wartet u. a. mit einem über 5 m langen Bilder-Leporello auf, in dem Ludwig Emil Grimm die Lebensgeschichte einer liebenswerten Sau nachgezeichnet hat.

Kunstwerke von Ai Weiwei, Ecke Bonk, Lutz & Guggisberg und anderen ergänzen das Repertoire der Denkwürdigkeiten. Dass Architekten, Kuratoren und Ausstellungsgestalter ihre Arbeit gut gemacht haben, zeigt nicht zuletzt der überwältigende Publikumserfolg. »So viele Menschen wie zuletzt hatten sich seit Jahrzehnten nicht mehr auf dem Kasseler Balkon mit Blick über die Südstadt aufgehalten«, meldete die Regionalzeitung HNA Anfang April. »Grund für diese Entwicklung ist die Grimmwelt, die sieben Monate nach ihrer Eröffnung den 100 000. Besucher begrüßt.«

db, Fr., 2016.06.03



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db 2016|06 Ausstellung gestalten

03. April 2016Klaus Meyer
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Lichtblick

Gelungenes Finale eines im Rahmen des Nachwuchswettbewerbs Europan 6 entstandenen Wohnungsbauprojekts in Ingolstadt: Unter der Ägide eines anspruchsvollen...

Gelungenes Finale eines im Rahmen des Nachwuchswettbewerbs Europan 6 entstandenen Wohnungsbauprojekts in Ingolstadt: Unter der Ägide eines anspruchsvollen...

Gelungenes Finale eines im Rahmen des Nachwuchswettbewerbs Europan 6 entstandenen Wohnungsbauprojekts in Ingolstadt: Unter der Ägide eines anspruchsvollen Bauherrn sind angemessene Räume für Familien wie auch für betreute Behinderte entstanden, mit geschützten Gärten und breiten Balkonen. Der markante Baukörper spielt innen wie außen mit den Themen Offenheit und Schutz.

Das Auge sehnt sich nach unverstelltem Horizont, nach saftigem Grün, nach einer Kneipe. Dass der Nordwesten Ingolstadts nichts dergleichen bietet, wäre vielleicht zu verschmerzen, schiene wenigstens die Sonne. Aber es ist grau, kalt und windig an diesem verregneten Wintertag. Nirgendwo im Freien geht einem an solch einem Tag das Herz auf, aber an einem Ort wie am äußeren Ende der Richard-Wagner-Straße geht es einem richtig dreckig. Lässt es sich hier leben? Wird man hier froh? Unablässig wird das Auge abgestoßen. Jenseits des Verkehrslärms der vierspurigen Straße beherrschen die grauen Hallen des Audi-Güterverkehrszentrums das Bild, im Westen versperrt ein banales Einkaufszentrum die Sicht, im Osten erstreckt sich das übel beleumundete Piusviertel mit seinen farblosen Wohntürmen. Und die Siedlung an der Permoserstraße, die sich im Süden an das Elend anschließt? Diese Geschichte spielt nicht im Paradies. Von Traumlage kann keine Rede sein. Umso bemerkenswerter ist es, was Politiker, Stadtplaner, Bauherren und Architekten aus der misslichen Situation gemacht haben.

Die 2,5 km westlich der Altstadt gelegene Siedlung hat eine Größe von 4 ha. Im Rahmen des Entwicklungsprogramms »Offensive Zukunft Bayern« entstanden hier seit den späten 90er Jahren geförderte Wohnanlagen ganz unterschiedlichen Formats.

In jedem der vier Bauabschnitte wurde anderen Materialien, Bauweisen, Ausdrucksformen der Vorzug gegeben, weshalb das Quartier insgesamt einen etwas zerrissenen Eindruck macht. Auf eine behutsame Gestaltung des öffentlichen Raums, die Einheit hätte stiften können, wurde weitgehend verzichtet. Daher sind es nicht großzügige Grünflächen und schöne Wege, die zwischen den disparaten Gebäudegruppen vermitteln, sondern Autostellplätze, verwinkelte Pfade und zerrupfte Restflächen. Einen Lichtblick gibt es jedoch. Und das sind die vier Wohngebäude, die das Quartier im Norden und Westen einfassen und stadträumlich definieren. Der erste im Rahmen des Nachwuchswettbewerbs Europan 6 realisierte Bau, ein langer Terrassenhaus-Riegel, erstreckt sich entlang der Hauptverkehrsader.

Sein 2010 fertiggestelltes Pendant schließt sich westlich an. Das dritte Bauwerk, ein Quader mit markanter Auskragung im Süden, markiert am Schnittpunkt von Richard-Wagner- und Permoserstraße den Eingang zum Siedlungsfeld. Nahezu im rechten Winkel dazu vervollständigt das 2015 als letzter Baustein fertiggestellte Wohngebäude das Ensemble. Als Teil eines über fast eineinhalb Jahrzehnte gewachsenen Ganzen nimmt der Neubau in vielerlei Hinsicht Bezug zu den Vorgängerbauten auf. Doch behauptet er sich mit seinen charakteristischen Merkmalen auch als Solitär. Entstanden ist er, wie die anderen drei Europan-Projekte, nach Plänen des Münchner Büros BLAUWERK unter der Bauherrschaft der Gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaft Ingolstadt (GWG).

Sichtbeton versus Faserzement

Der viergeschossige Stahlbetonbau bietet Platz für 17 Wohneinheiten sowie einen zusammenhängenden Wohntrakt mit sechs Apartments für behinderte Menschen. In den unteren beiden Geschossen haben die Planer Maisonettwohnungen unterschiedlicher Größe platziert; das Spektrum reicht von der 3-Zimmer-Wohnung mit 76 m² bis zur 5-Zimmer-Wohnung mit 104 m². Die oberen beiden Geschosse beherbergen 2- bzw. 3-Zimmer-Wohnungen zwischen 58 und 82 m². Die Erschließung der OGs erfolgt über Laubengänge, die über markant ausgeformte Treppenhäuser an den Stirnseiten des Gebäudes erreichbar sind. An der Südfront formieren sich die Kante des vorkragenden Flachdachs sowie die vorspringenden Sichtbeton-Brüstungen von Treppenhaus und Laubengängen zu einem skulpturalen Fassadenbild von großer Kraft und Eigenständigkeit. Diese Wirkung wird von vorgeblendeten Glasscheiben, die das Treppenhaus schützen, eher verstärkt als beeinträchtigt. V. a. aus Lärmschutzgründen wurde das nördliche Treppenhaus mit einer Sichtbetonwand weitgehend geschlossen.

Mit seinen markanten Betonteilen setzt sich das Gebäude an der Permoserstraße von den Vorgängerbauten ab. Eine gestalterische Verbindung schafft das Material: Vorgehängte, hinterlüftete Faserzementplatten prägen mit ihrem dunklen Fugennetz die Fassaden aller vier Baukörper. Doch während die Terrassenhäuser sich im einheitlich weißen Eternitkleid präsentieren, steht das klinisch saubere Material beim Neubau in einem gewöhnungsbedürftigen Kontrast zum rohen Beton. Gewählt hat man es nicht zuletzt aus Gründen der Nachhaltigkeit: »Die Platten sind robust und lassen sich bei Beschädigung leicht auswechseln, was beim dauerhaften Unterhalt der Immobilie eine nicht unerhebliche Rolle spielt«, sagt der Architekt Tom Repper.

Sparzwang und Qualitätsanspruch

Alles spielt eine Rolle beim gemeinnützigen Wohnungsbau. Der enge, von zahllosen gesetzlichen Normen definierte Kostenrahmen beeinflusst jede Materialentscheidung, jedes konstruktive Detail, jede gestalterische Lösung. Qualitätvolle Architektur entsteht unter diesen Bedingungen nur, wenn die Planer zugleich kompromissbereit und kreativ agieren. Was dabei herauskommen kann, zeigt das Beispiel der vertikal verspringenden Fenster an der Westflanke des Gebäudes. Aus Kostengründen kamen preiswerte Kunststoffrahmen zum Einsatz, die jedoch größtenteils durch vorstehende Faserzementplatten und abschließende Aluminiumwinkel verdeckt werden. Was auch immer man über das Kaschieren von Schwächen denkt: Hier stärkt die Maßnahme das Erscheinungsbild ganz eindeutig.

Nicht immer müssen die zwischen Sparzwang und Qualitätsanspruch zu suchenden Lösungen bis an die Oberfläche durchdringen. Ein Beispiel ist der ökonomische Umgang mit Baumaterialien wie etwa dem Armierungsstahl. Um die Kosten niedrig zu halten, wurden nicht-tragende Innenwände ohne Bewehrung ausgeführt; Risse nimmt man in Kauf, zumal sie von einer einfachen Gipskartonbeplankung verdeckt bleiben, die ihrerseits wiederum nicht verputzt, sondern nur verspachtelt wurde. Außerdem kamen kostengünstige Filigrandecken zum Einsatz.

Solche Grundentscheidungen wurden selbstverständlich nicht allein von den Planern getroffen, sondern in Abstimmung mit einem sehr erfahrenen Bauherrn, der laut Tom Repper auch schon mal bereit ist, von strengen Normen abzuweichen, wenn sie sich nicht am praktischen Nutzen orientieren. Der Boden der Laubengänge ist ein Beispiel: »Eigentlich ist dort ein schallentkoppelnder Belag zwingend vorgesehen, doch man entschied sich dagegen, weil die Maßnahme keine spürbare Verbesserung bringt.«

Räume zum Wohlfühlen

Erlebbare Wohnqualität zu schaffen, war das Hauptziel aller Bemühungen. Um es zu erreichen, galt es Schwerpunkte zu setzen. So hat man sich auf eine funktionale Ausstattung der Bäder beschränkt und dafür in allen Räumen hochwertiges Mosaikparkett verlegt. Einen hervorragenden Eindruck machen auch die beplankten Balkone in den OGs, die Holztreppen in den Maisonettewohnungen, die mit Holz bekleideten Fensterlaibungen und viele Ausstattungsdetails mehr. Neben den gediegenen Materialien überzeugen auch die Räume als solche. Alle Wohneinheiten verfügen über durchgesteckte, zweiseitig belichtete Zentralbereiche. In den meisten Wohnungen ermöglichen raumhohe Schiebetüren das Zusammenschalten von Räumen. Die Maisonetten wirken nicht zuletzt dank der Galerie im Eingangsbereich und des rückwärtigen, geschützten Privatgartens großzügig. Die Einheiten in den oberen Geschossen öffnen sich auf breite Ostbalkone, die den Wohnraum nach draußen verlängern. Last but not least stimmt die Qualität auch in energetischer Hinsicht. Die meisten der mit Fernwärme geheizten Räume sind mit Zu- und Abluftanlagen zur Wärmerückgewinnung ausgestattet. Das Gebäude ist ein KfW-Effizienzhaus 70.

Und was sagen die Mieter? Der Familienvater aus der 3-Zimmer-Wohnung im OG und die Bewohnerin der 77-m²-Maisonette sind sich einig: Alles bestens, man wohnt sehr gerne hier. Zum Wohlbefinden trägt sicherlich der günstige Mietzins von 7,5 Euro/m² bei. Doch auch die architektonischen Qualitäten wissen die Mieter zu schätzen. Und noch etwas gefällt ihnen: In vier Jahren wird Ingolstadt auf dem 30 ha großen Gelände zwischen dem Westpark-Einkaufszentrum und den Audi-Hallen eine Landesgartenschau ausrichten. In Sichtweite der Siedlung an der Permoserstraße entsteht dann ein großer, schöner Park. Wenn das kein Lichtblick ist.

db, So., 2016.04.03



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db 2016|04 Wohnen – gut und günstig

31. Januar 2016Klaus Meyer
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Schuhwerk

Erdbebensicher, erweiterungsfähig, rational gegliedert und höchst repräsentativ: Das 2014 fertiggestellte Manufakturgebäude bei Ferrara, in dem 250 Fachkräfte die Herrenschuhe und Leder-Accessoires der Luxusmarke Berluti fertigen, überzeugt unter allen Gesichtspunkten.

Erdbebensicher, erweiterungsfähig, rational gegliedert und höchst repräsentativ: Das 2014 fertiggestellte Manufakturgebäude bei Ferrara, in dem 250 Fachkräfte die Herrenschuhe und Leder-Accessoires der Luxusmarke Berluti fertigen, überzeugt unter allen Gesichtspunkten.

Äcker und Obstwiesen erstrecken sich bis zum Horizont, hier und da ragt ein Gehöft aus einer Baumgruppe, ansonsten gibt es nichts, das den Blick einfangen würde: Die Po-Ebene ist berühmt für ihre Fruchtbarkeit und ihre stolzen Stadtrepubliken, nicht für ihre abwechslungsreiche Landschaft. Umso herausfordernder ist es, in dieser Umgebung zu bauen – jedenfalls dann, wenn Architekt und Bauherr ein Gebäude schaffen wollen, das sich in der Landschaft behauptet, ohne ihren Charakter zu mißachten. Die Manifattura Berluti ist solch ein zurückhaltend vornehmes Gebäude.

Es steht recht allein auf weiter Flur. Allerdings dürfte der Standort, ein neu angelegter Gewerbepark am Ortsrand der Gemeinde Sant’Egidio, bald weitere Investoren anziehen. Nicht zuletzt die gute Verkehrsanbindung spricht dafür: Bis zur Autobahn Bologna/Ferrara sind es gerade mal zehn Minuten, Ferrara selbst liegt rund 6 km nördlich. Dort hatte Berluti zuvor produziert – in einem verwinkelten, innerstädtischen Gewerbebau, der den Anforderungen der Firma schon lange nicht mehr genügte. Zur Verbesserung der logistischen, technischen, sozialen und ökologischen Rahmenbedingungen für die Produktion brauchte man mehr Raum. Zugleich wünschte man sich ein architektonisches Aushängeschild.

Kein Wunder, bei einem Bauherrn wie Bernard Arnault. Der Präsident des französischen Luxusgüterkonzerns Louis Vuitton Moët Hennessy (LVMH), zu dem auch die Herrenschuhmarke Berluti gehört, liebt Architektur von Welt – und scheut keine Kosten. Frank Gehrys 2014 fertiggestelltes Museum der Fondation Louis Vuitton in Paris ist das jüngste und eindrucksvollste Beispiel. Nun ging es im Falle von Berluti zwar nur um einen Produktionsbetrieb auf der grünen Wiese, aber auch hier war höchste Architekturqualität gefragt. Um den Planungsauftrag bewarben sich ein italienisches Team und das in Paris ansässige Büro von Philippe Barthélémy und Sylvia Griño. Dass letzteres den Zuschlag erhielt, hat wohl auch damit zu tun, dass die französischen Architekten bereits mehrfach für LVMH tätig gewesen waren. Ganz sicher überzeugte der Entwurf, weil er ein tiefes Verständnis sowohl für die produktionstechnischen als auch die ästhetischen Belange der Marke Berluti erkennen lässt.

Das im Jahre 1895 von dem italienischen Schuhmacher Alessandro Berluti in Paris gegründete Unternehmen vermarktet neben edlen Herrenschuhen inzwischen auch Leder-Accessoires und Kleidung. Zu der wohlhabenden und stilbewussten Kundschaft gehören Prominente wie Robert de Niro, Brian Ferry, Zinedine Zidane und Michael Jordan. Wie bei John Lobb in London oder Rudolf Scheer in Wien gibt es auch bei Berluti in Paris individuell gefertigte Maßschuhe zu kaufen. Darüber hinaus bietet die Firma ein exquisites Programm seriell produzierter Herrenschuhe. Markenzeichen des Hauses ist das in aufwendiger Handarbeit patinierte Oberleder. Diese »Berluti-Patina« haben Barthélémy und Griño zu einem Thema ihres Entwurfs gemacht. Auf jede weitere visuelle Reminiszenz an das Produkt oder den Produktionsprozess verzichteten sie jedoch und entsprachen damit einem Wunsch des Bauherrn.

Kommt Zeit, kommt Patina

»Keinesfalls sollte die Fabrik wie eine Fabrik aussehen«, sagt Philippe Barthélémy. Tatsächlich verrät der zweigeschossige Quader, der sich auf einer Grundfläche von rund 8 000 m² erhebt, kaum etwas von seiner Nutzung: Kein Schornstein überragt den Baukörper, kein technisches Aggregat zeigt sich, nicht mal der Markenname prangt auf dem Dach oder an der Fassade. Einzigen Anhaltspunkt bietet die unterschiedliche Gestaltung der Fronten. Nach Westen zur Straße hin, wo hinter der aus Metall, Glas und Zedernholz komponierten Fassade Büros, Konferenzräume und Designateliers angeordnet sind, präsentiert sich die Manufaktur als eleganter Verwaltungsbau. Dabei sorgt der Kontrast von breiten Metallfriesen und schmalen Fenster- und Holzflächen für einen harmonischen Ausgleich zwischen horizontaler und vertikaler Bewegung.

Die Flanken des Gebäudes öffnen sich im EG jeweils mit einer langen, von einem Brisesoleil beschatteten, Fensterfront zum Außenraum. Den übrigen Fassadenflächen sind Lattenroste vorgeblendet. Noch bestimmt der rötlich warme Ton des Zedernholzes, aus dem die Latten gefertigt wurden, das Fassadenbild; doch das wird sich mit der Zeit, wenn das Holz verwittert, ändern. Der Clou dabei: Weil die Latten aufgrund ihrer variierenden Querschnitte unterschiedlich dem Sonnenlicht und dem Regen ausgesetzt sind, wird die Holzbekleidung nicht gleichmäßig verwittern, sondern ein changierendes Kolorit annehmen – die Patina eben, von der bei Berluti so viel die Rede ist.

Im Vergleich zu den aufwendig gestalteten Fassaden an den Flanken und der Stirnseite wirkt die simple Wellblechbekleidung der rückwärtigen Gebäudeseite wie ein Provisorium. Und das ist sie auch. Die Ostwand, die sich bei Bedarf einfach demontieren lässt, ist die Nahtstelle für eine potenzielle Erweiterung der Produktionshalle.

Repräsentativ und produktiv

Gegenüber im Westen liegt hinter dem Haupteingang ein schmales, eingeschossiges Foyer, an das sich nahtlos die sogenannte Agora anschließt: ein gebäudehoher, lichtdurchfluteter Saal mit einem Dach aus ETFE-Membranen über einem scherengitterartig sich kreuzenden Gebälk. Foyer und Agora trennt lediglich ein offenes Regal, in dem hölzerne Schuhleisten ausliegen. Von der bei Berluti gepflegten Handwerkskunst künden auch die Seitenwände des Foyers, die mit Platten patinierten Leders bekleidet sind. Die Agora dient als Showroom, wird aber auch für Firmenfeiern und andere Veranstaltungen genutzt. Räumlich bildet sie die Schnittstelle zwischen den verschiedenen Sektionen des Betriebs. Wer sie vom Foyer aus betritt, hat den Büroriegel im Rücken. Links breitet sich auf zwei Geschossen die Prototypen-Abteilung aus, wo neue Schuhentwürfe gefertigt und zur Serienreife geführt werden. Rechts liegt die »Académie du Savoir-Faire«, in der Auszubildende das Schuhmacherhandwerk lernen. Geradeaus blickt man in den ersten von drei hintereinander gestaffelten Produktionssälen. Alle Werkstätten öffnen sich mit gläsernen Wänden zur Agora, die auf einen Gang stößt, der das Gebäude quert und gewissermaßen auch teilt. Vorn erstellen die Mitarbeiter Schriftstücke, Tabellen, Entwürfe, Modelle und Probestücke, hinten produzieren sie Schuhe für den Verkauf.

Die Produktionsräume können zwar nicht mit der gediegen-repräsentativen Qualität des vorderen Gebäudeteils aufwarten, doch dank heller und offener Räumlichkeiten ist die Atmosphäre auch hier angenehm. Dies gilt besonders für den ersten der drei Säle, wo das Oberleder ausgewählt, zugeschnitten und vernäht wird. Letzteres geschieht teils von Hand, teils mithilfe von Ledernähmaschinen. Deren gelegentliches Rattern klingt geradezu wie Musik in den Ohren im Vergleich zu dem Lärm, der im mittleren Saal herrscht. Der Krach dort rührt von den Schneidewerkzeugen und Nähmaschinen her, mit denen Sohlen gefertigt und mit den Oberteilen verbunden werden. Ruhiger geht es im dritten Saal zu, wo bis zu 80 Mitarbeiter an 24 Werkbänken sitzen und den Schuhen die ‧Berluti-Patina einschleifen und aufrubbeln. Die Tinkturen, die dabei verwendet werden, sehen schön aus, riechen aber zumeist übel. Deshalb ist jeder Arbeitsplatz mit einer Absaugvorrichtung ausgestattet.

Anders als in der »Patina-Abteilung« sind die Arbeitsplätze im mittleren Saal nicht fest installiert. Die Werkbänke und Maschinen lassen sich beliebig platzieren, ihre Konstellation richtet sich jeweils danach, welche Modelle in welchen Mengen zur Produktion anstehen. Die erforderliche räumliche Flexibilität für diese »schlanke Produktionsweise« erzwang die Anlage eines nicht durch Stützen oder (schallschluckende) Zwischenwände unterteilten Großraums. Dem Zweck der flexiblen Arbeitsorganisation dient auch der lange Erschließungsgang, der zwischen der Produktionsabteilung und dem gegenüberliegenden Lager verläuft. Hier begegnet man ständig Mitarbeitern, die Rollwagen vor sich her schieben, auf denen Schuhe oder Rohstoffe von einer Abteilung in die andere transportiert werden.

Die Fensterfronten, die jedem Mitarbeiter einen freien Ausblick gewähren, steigern die Aufenthaltsqualität in den Arbeitsräumen merklich. Ein gutes Raumgefühl vermitteln auch die mit Lattenrosten abgehängten Decken. Dahinter verbergen sich nicht nur Leitungen und Ventilationsrohre, sondern auch ungewöhnlich groß dimensionierte Stahlfachwerkträger. Sie verweisen auf eine Besonderheit der Tragwerkskonstruktion und Gründung des Gebäudes. Bei beidem war der Umstand zu berücksichtigen, dass die Provinz Ferrara zu den am stärksten von Erdbeben bedrohten Regionen Europas gehört. Die diesbezüglichen Bestimmungen wurden von vornherein auf elegante Weise in den Entwurf der Gesamtform integriert. Dies trägt neben vielen der anderen qualitätvollen Aspekte des Gebäudes dazu bei, dass die Manifattura Berluti nicht nur mit gelungenen Räumen für die Produktion glänzt, sondern darüber hinaus sogar das Bild der Landschaft bereichert.

db, So., 2016.01.31



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db 2016|01-02 Produktion

11. Oktober 2015Klaus Meyer
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Unter Brüdern

Vor den Toren Bozens hat Martin Riegler für seinen jüngeren Bruder ein hybrides Zuhause geschaffen. Der Rieglerhof ist Familiendomizil und Wirtschaftsgebäude in einem. Außerdem zeigt sich in dem Debut des jungen Architekten eine unverkrampfte Auffassung von zeitgemäßer Architektursprache.

Vor den Toren Bozens hat Martin Riegler für seinen jüngeren Bruder ein hybrides Zuhause geschaffen. Der Rieglerhof ist Familiendomizil und Wirtschaftsgebäude in einem. Außerdem zeigt sich in dem Debut des jungen Architekten eine unverkrampfte Auffassung von zeitgemäßer Architektursprache.

Was »modern« heute auch immer bedeuten mag, die Rieglerbrothers scheinen es zu sein – jedenfalls nach allem, was man so im Internet über sie herausfinden kann. Demnach gehören die Brüder Martin und Florian Riegler zu den Stars der internationalen Kletterszene. Sie unternahmen waghalsige Erstbegehungen in den Alpen, im Himalaya und in den Rocky Mountains, erhielten diverse Preise für ihre Touren und wirkten 2012 in einem Dokudrama über Reinhold Messner mit. »Always climbing« lautet der Claim, unter dem sich die jungen Draufgänger vermarkten. Cool, smart und erfolgreich: Moderner geht’s nicht. Aber zu welcher Form findet solch jugendlich unbekümmerte Modernität, wenn sie sich architektonisch ausdrückt? Das ist die spannende Frage, die einen während der Fahrt zum Rieglerhof beschäftigt. Um sie zu beantworten, muss man das Wohn- und Wirtschaftsgebäude, das Martin Riegler (35) für seinen Bruder und dessen Familie entworfen hat, freilich erst einmal finden.

Der Bozener Talkessel ist weit und eben. Hier rahmen die Berge das Bild noch, beherrschen es aber nicht mehr. Im weiten Umkreis der Autobahnausfahrt Bozen-Süd ist es die gläsern-metallene Unternehmenszentrale des Funktionsbekleidungsherstellers Salewa, die das Bild prägt; weiter geht es in Richtung Schloss Sigmundskron, das stolz auf einem Ausläufer des Mittlerbergs thront. Aber der Weg führt letztlich nicht in die Berge hinauf, sondern mitten hinein ins Reich von Gala, Pink Lady, Jazz, Fuji und Braeburn. So heißen die Apfelsorten, die auf den Plantagen am flachen Ufer der Etsch angebaut werden. Die insgesamt riesige Anbaufläche ist unterteilt in lange, schmale Streifen, und einige davon bewirtschaftet der Obstbauer und Winzer Florian Riegler. Auch sein Domizil steht auf einer dieser kleinbäuerlichen Parzellen.

Vom Berg zum Bau

Von der Straße aus sieht man den Neubau nicht, weil er von einem alten Bauernhof verdeckt wird: Martin Rieglers Elternhaus, in dem er mit Frau und Tochter wohnt und sein Architekturbüro areum betreibt. Studiert hat er in Graz und Barcelona, seine Staatsprüfung legte er 2013 in Venedig ab, der Rieglerhof ist sein Debut als Architekt. »Gleich nach dem Examen sind wir zu einer Klettertour nach Pakistan aufgebrochen, wo wir die Baupläne für das Haus meines Bruders erörtert haben«, sagt Martin, das Töchterchen Aurelia auf dem Arm. Ein moderner Vater, allem Anschein nach. Cool, smart und darüber hinaus ungemein sympathisch.

Nach der Rückkehr aus Pakistan im November habe man die letzten Äpfel gepflückt und danach die Bäume auf dem Bauplatz gefällt, erzählt er. Bereits im August 2014 konnten Florian und Juliane Riegler mit ihren Kindern Noah und Laura das neues Heim beziehen. Die Familie wohnt im OG des Gebäudes.

Im EG wird das zentral gelegene Treppenhaus von Garagen für Autos und Traktoren, Stellplätzen für landwirtschaftliche Geräte, einer Werkstatt und Lagerräumen flankiert. Die Verteilung der Funktionen hat der Architekt durch unterschiedliche Bauweisen und Materialien verdeutlicht. Der Wirtschaftshof ist ein Massivbau aus Stahlbeton, der Aufbau eine mit Lärchenbrettern bekleidete Holzrahmenkonstruktion. Der Ortbeton des Unterbaus wurde bewusst roh und rau belassen. »Putz braucht es hier nicht«, sagt Martin Riegler und ergänzt: »Was ich nicht brauche, ist hässlich.«

Form follows function

Warum er Wirtschaftsgebäude und Wohnhaus übereinander gestapelt hat? Der Boden sei wertvoll, sagt er und macht eine weit ausholende Handbewegung. Überall stehen Apfelbäume. Sie drängen sich rechts und links bis an die Grundstücksgrenzen. Und den Platz hinterm Haus besetzen sie auch. Von wegen weites Land! Tatsächlich ist der Boden hier knapp. Die Sache mit dem Stapeln versteht sich so gesehen von selbst.

Auch die geometrischen Eigenheiten des Entwurfs leuchten schnell ein, weil alle formalen Entscheidungen aus funktionalen Erwägungen heraus getroffen wurden. Aus zwei Gründen hat Martin Riegler z. B. den Holzbau über den Betonbau hinaus nach Norden zurückversetzt: Auf diese Weise entstand im Norden ein dringend benötigtes Vordach, unter dem Wagen und Geräte Platz finden; im Süden ließ sich die durch die Verschiebung gewonnene Dachfläche als Terrasse nutzen. Auch die schräge Südfassade des Aufbaus ist alles andere als ein formaler Gag: Das hinter der angewinkelten Front gelegene Wohnzimmer öffnet sich mit einer raumbreiten Fensterfläche nach Sigmundskron zur Sonne.

Bürgerliches Schauspiel

Den Übergang von der Welt der Arbeit zum Reich der Familie hat der Architekt unspektakulär, aber prägnant in Szene gesetzt. Eingangsflur und Treppenhaus gehören vom Ausdruck her noch ganz zum Wirtschaftsgebäude. Unterstrichen wird der raue Charakter durch die Stahlgitterroste der zweiläufigen U-Treppe, die zum OG hinaufführt. Die hölzerne Wohnungstür markiert die Grenze. Dahinter liegt eine helle, geräumige Wohnung, die bestens auf die Bedürfnisse der vierköpfigen Familie zugeschnitten ist. Die Fensterrahmen aus Lärchenholz und ein durchgängiger Eichenboden sorgen für eine angenehme Atmosphäre. Der offene Wohnbereich mit Küche, Essplatz und dem Freisitz davor bietet reichlich Platz für gemeinsame Aktivitäten. Alles stimmt, sogar die Energiebilanz und die Perspektive: Martin Riegler hat ein Klimahaus der Klasse A errichtet, dessen begrüntes Flachdach eine spätere Aufstockung des Gebäudes erlaubt. Und die Extravaganz? Soll man sich darüber beschweren, dass dem brutalistisch rauen Vorspiel im Unterbau ein eher bürgerlich braves Schauspiel auf der Wohnbühne folgt? Ach was. Das Hybride am Rieglerhof macht gerade den Reiz dieser Architektur aus. Expressiver Überschwang, zweckrationale Beherrschung und pragmatische Kompromissbereitschaft fügen sich hier zu einem adäquaten Ausdruck unserer seltsam zerrissenen Zeit. Und was soll »modern« auch anderes bedeuten als zeitgemäß?

db, So., 2015.10.11



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db 2015|10 Südtirol

03. Mai 2015Klaus Meyer
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Musik drin

Im neuen Dorfhaus der Gemeinde Sankt Martin im Passeiertal gehen Konzerte über die Bühne. Doch es bietet auch Platz zum Feiern, Proben und Parken. Die Architektur fügt sich perfekt in das Umfeld ein – und offenbart ihre Stärken nicht zuletzt unter der Erde.

Im neuen Dorfhaus der Gemeinde Sankt Martin im Passeiertal gehen Konzerte über die Bühne. Doch es bietet auch Platz zum Feiern, Proben und Parken. Die Architektur fügt sich perfekt in das Umfeld ein – und offenbart ihre Stärken nicht zuletzt unter der Erde.

Zwei Wege führen nach Sankt Martin im Passeiertal. Der bequeme geht über Meran, der aufregende über die Berge. Wer also von München kommt und etwas erleben möchte, verlässt bei Sterzing die Brennerautobahn und folgt der Strada Statale 44 in Richtung Jaufenpass. Die Straße schraubt sich in engen Serpentinen auf eine Höhe von über 2 000 m. Während Ende März im Tal schon die Forsythien blühen, türmt sich auf der Passhöhe noch der Schnee. Die eisigen, lebensfeindlichen Gipfel der Stubaier, Ötztaler und Sarntaler Alpen vor Augen, sehnt man sich hier oben nach einem grünen Fleck. Auf den ersten Kilometern der steilen Abfahrt dann, macht das Tal der Passer den Eindruck einer gottverlassenen Schattenwelt. Dringt die Sonne überhaupt in diese enge, tiefe Schlucht? Der auf dem Flachländer lastende Alpdruck verflüchtigt sich erst unten in Sankt Leonhard, dem Geburtsort des Südtiroler Freiheitskämpfers Andreas Hofer. Sankt Martin liegt acht Kilometer entfernt. Es geht auf ebener Straße vorbei an saftigen Wiesen und einer Fabrik. Sobald man von der Staatsstraße ins Dorf abgebogen ist, steigt die Stimmung noch einmal. Viele Kinder und junge Mütter bewegen sich in den Gassen mit mächtigen, steinernen Häusern: Der 3 000-Seelen-Ort fühlt sich erfreulich lebendig und urban an – besonders in der Mitte, wo am neu geschaffenen Dorfplatz das im September 2013 eingeweihte Dorfhaus steht.

Schräg gegenüber lockt seit den Tagen Andreas Hofers die traditionsreiche Gastwirtschaft »Lamm« zur Einkehr. Zwei Häuser weiter lädt das Café »Platzl« zum Verweilen ein. Ferner grenzen das ehemalige »Turmhaus« und das alte »Feldhaus« an den Platz. Hinter dem in den Hang gebauten Dorfhaus erheben sich das ehrwürdige Widum (Pfarrhaus) von 1755 sowie der mit Holzbalkonen angehübschte Zweckbau des Altersheims St. Benedikt. Will sagen: Die Dorfmitte von Sankt Martin ist nicht die Piazza Navona, aber sie hat etwas zu bieten, und deshalb war hier wohl auch lange Zeit – ein Parkplatz.

Den Zusammenhalt stärken

Dass die Patentlösung der automobilverrückten Ära nicht der Weisheit letzter Schluss sein konnte, wusste man in der Gemeinde seit Langem. 2007 begannen die Planungen für eine Neugestaltung der Dorfmitte. Und von Anfang an war der Architekt Andreas Flora, damals Assistent am Institut für Gestaltung der Universität Innsbruck, an den Überlegungen beteiligt. Flora, heute Assistenzprofessor, engagiert sich für die nachhaltige Entwicklung der Dörfer seiner Südtiroler Heimat. Auch in den Alpentälern saugen Einkaufszentren und Einkaufsstädte das Leben aus den kleinen Ortschaften. »Wenn die Gemeinden nicht zu Schlafdörfern degenerieren sollen, muss man den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt der Menschen stärken«, sagt der Architekt. Aber kann der Neubau eines Musikpavillons dabei helfen?

Das war der Nukleus des Plans: Um der örtlichen Musikkapelle eine Bühne für sommerliche Freiluftkonzerte zu verschaffen, fasste man zunächst nur den Bau einer Art Konzertmuschel ins Auge. Doch weitergehende Ideen ließen nicht lange auf sich warten. Ein Probenraum für die Kapelle, ein Multifunktionsraum für Vereinsaktivitäten, ein Ratssaal, ein Parkplatz für Besucher, ein Ausschank für Feste: Das Raumprogramm, mit dem es Andreas Flora zu tun hatte, umfasste schließlich ein Gesamtvolumen von 9 500 m³. Das meiste davon, ca. 8 000 m³, verlegte der Architekt in den Untergrund.

Kein Musikantenstadl

Darum zeigt sich einem jetzt ein Gebäude, das nicht mit schierer Größe prahlt, dafür aber durch schöne Proportionen und Materialien besticht. Zum Dorfplatz hin präsentiert es sich, mit einem riesigen Tor auf der Giebelseite, als archetypisches Satteldachhaus. Die Natursteine des Mauerwerks stammen von einem Abbruchgebäude aus Sankt Leonhard. Zu den Außenwänden passen die bereits angegrauten Zirbelholzbretter, mit denen das zweischalige Dach gedeckt wurde, perfekt. Trotz des großen »Scheunentors«, der traditionellen Bauform und der rustikalen Baustoffe hat das Gebäude nichts von einem volkstümelnden Musikantenstadl. Durch Merkmale wie die scharfkantige Kubatur, die unregelmäßige Befensterung oder die in das Volumen geschnittene Eingangs-Loggia auf der Westseite gibt sich das Dorfhaus auf den ersten Blick als zeitgenössisches Bauwerk zu erkennen. Im Dialog mit den teils denkmalgeschützten Nachbarn duckt es sich weder weg noch schreit es seine Modernität heraus. Es behauptet sich mit einer Selbstverständlichkeit, die ihm 2013 den Südtiroler Architekturpreis eintrug.

Wenn das Tor effektvoll im Boden versinkt und der vollständig mit Zirbelholzpaneelen ausgekleidete Raum dahinter zum Vorschein kommt, verwandelt sich das Dorfhaus in ein Bühnenhaus und der Platz davor in einen Konzertsaal. Im Sommer spielt hier nicht nur die örtliche Kapelle auf, es finden auch Theateraufführungen, klassische Konzerte und Rockfestivals statt. Steht gerade keine Vorführung an, wird das Tor hochgefahren, woraufhin der Bühnenraum sich in einen mittelgroßen, zweigeschossigen Saal wandelt, in dem die Mitglieder der örtlichen Vereine tagen, tanzen oder proben können. Aus dem ursprünglich geplanten Schönwetter-Pavillon ist also eine ganzjährig bespielbare Plattform für unterschiedlichste Nutzungen geworden.

Vereinte Vielfalt

Der Zugang zum Saal und den anderen Innenräumen erfolgt nicht über das Haupttor. Zwar wäre es möglich gewesen, eine Tür in den hölzernen »Vorhang« zu integrieren, aber die teure und technisch aufwendige Maßnahme erschien keinem Beteiligten sinnvoll. Wozu das Bild des »Sesam, öffne dich!« verunklären, wenn es ohnehin bequemere Wege ins Innere gibt! Tatsächlich verfügt das Gebäude über fünf Eingänge. Durch die Tür an der Nordflanke gelangt man ohne Umstände ins rückwärtige Foyer und zu den – an Dorffesten naturgemäß viel frequentierten – Toiletten. Am Südrand des Platzes führt eine einläufige Treppe direkt in die Tiefgarage und weiter in den unterirdischen Trakt, der den Probenraum der Musikkapelle sowie weitere Vereinsräume birgt. Die Garagenzufahrt am Nordrand des Platzes verbirgt sich teilweise unter einer begrünten Aufschüttung, in die auch der Ausschank integriert wurde. Der markante Eingang auf der dem Pfarrhaus zugewandten Giebelseite führt in ein Zwischengeschoss, von dem Treppen zum Foyer hinunter und zum (ebenfalls vielfältig nutzbaren) Ratssaal unterm Dach hinaufgehen. Wer schlecht zu Fuß ist, muss sich nicht erst ins Entrée begeben, sondern kann gleich vom Vorplatz aus in den Lift steigen.

Zirbelkiefer ist allgegenwärtig in den Innenräumen – und zwar nicht nur an Wänden, Decken und Böden, sondern auch in der Nase, weil das unbehandelte Holz einen süßlichen, jedoch nicht unangenehmen Duft verströmt. Im Bühnensaal und im Probenraum, von dessen Dimensionen und klanglichen Qualitäten manch ein städtisches Orchester nur träumen kann, wurden die meisten Paneele aus akkustischen Gründen perforiert. Einen belebenden Kontrast zu den Holzoberflächen bilden knallrot gestrichene Nischen im Vereinslokal sowie eine ausklappbare Bar im Foyer. Der bemerkenswerteste Aspekt im Innern ist jedoch genuin architektonischer Natur: Klug platzierte Oberlichter und Glastüren bringen Tageslicht in die unterirdischen Räume und sorgen an vielen Stellen für überraschende Durch- und Ausblicke.

Qualität hat ihren Preis. Rund 4,3 Mio. Euro hat der Bau des Dorfhauses gekostet, wobei die Gemeinde den größten Teil der Finanzierung aus Eigenmitteln bestritten hat. Laut Bürgermeisterin Rosmarie Pamer sind allerdings »80 % der Aufwendungen und damit der Wertschöpfung im Tal geblieben«. Tatsächlich ist das Gebäude von Maurern, Zimmerleuten, Tischlern und Elektrikern aus Sankt Martin und Umgebung errichtet worden. Man hat zusammen geplant und zusammen gearbeitet, jetzt feiert man zusammen. Architektur als Ausdruck eines kommunitären Ideals: Was gibt es Besseres!

db, So., 2015.05.03



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db 2015|05 Feiern und zusammenkommen

01. März 2015Klaus Meyer
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Alles auf Rot

Einfache Form, einheitliche Farbgebung: In der heterogenen Umgebung am Stadtrand von Sterzing wirkt das neue »Pfarrmesnerhaus« zunächst wie ein beinah fremdartiger Solitär – doch die Putzfassade in Porphyrrot stellt den Bezug zur Region her.

Einfache Form, einheitliche Farbgebung: In der heterogenen Umgebung am Stadtrand von Sterzing wirkt das neue »Pfarrmesnerhaus« zunächst wie ein beinah fremdartiger Solitär – doch die Putzfassade in Porphyrrot stellt den Bezug zur Region her.

Laut Eigenwerbung ist Sterzing ist nicht irgendeine Stadt, sondern die »Alpinstadt«, die »Fuggerstadt«, die nördlichste Stadt Italiens mit »einer der schönsten Altstädte« des Landes. Wer den gleich unterhalb des Brennerpasses gelegenen Ort, der im Italienischen Vipiteno heißt, vom Bahnhof aus zu Fuß erkundet, stellt jedoch zunächst einmal ernüchtert fest, dass es hier ist wie überall: Vor lauter Häusern sieht man die Stadt nicht. Der Weg ins Zentrum führt durch öde Gewerbeparks und mittelprächtige Wohnsiedlungen, es geht vorbei an verlassenen Kasernen, marktschreierischen Hotels und nichtssagenden Zweckbauten. Leider währt auch die Freude an den historischen Putzfassaden der kompakten Innenstadt nicht lang, weil diese, ehe man sich’s versieht, durchschritten ist und das vielgestaltig-eintönige Drumherum von Neuem beginnt.

In solch einem Umfeld fällt jedes qualitätvolle Gebäude aus dem Rahmen. Hier am südlichen Stadtrand sind dies die vor wenigen Jahren errichtete Grundschule von Calderan Zanovello Architetti, die alte Pfarrkirche »Unsere Liebe Frau im Moos«, das noch ältere Ordenshaus der Deutschherren – und seit Neuestem ein monolithischer, viergeschossiger Quader in Porphyrrot.

Das 2014 fertiggestellte Mehrfamilienhaus beherbergt vier Wohnungen unterschiedlichen Zuschnitts. Die größte nimmt fast die gesamte südliche Hälfte des Baukörpers ein und erstreckt sich über alle vier Geschosse. Dort wohnt der Bauherr Helmut Zingerle mit seiner Frau und seinen drei Töchtern. Als die Familie das Grundstück von der Pfarrei erwarb, stand noch das in den 60er Jahren errichtete Mesnerhaus darauf, das zuletzt Bedürftigen als Notunterkunft diente. Der Abriss war von Anfang an beschlossene Sache. Um finanzielle Möglichkeiten und ästhetische Ansprüche in Einklang zu bringen, entschied man sich gegen das klassische Eigenheim und plante stattdessen ein Mehrfamilienhaus, dessen Bau sich durch den Verkauf dreier Wohnungen teilweise refinanzieren ließ.

Bis die Läden hochgehen

Von Beginn an waren Armin und Alexander Pedevilla, die im nahen Bruneck ein Architekturbüro betreiben, in die Planungen involviert. Zingerle kennt und schätzt die Brüder seit Langem. »Sie bauen kompromisslos modern und beziehen sich mit ihren Entwürfen zugleich auf den Ort und seine Geschichte«, sagt der Geometer, der sich mit seiner Firma auf Dienstleistungen für Architekturbüros spezialisiert hat. »Außerdem verstehen sie sich auf einfache und robuste Detaillösungen, die ästhetisch überzeugen.«

Das große Ganze wird dabei nie außer Acht gelassen, so wurden allen Wohnungen wegen des rauen Klimas Loggien als geschützte Außenbereiche zugeordnet. »Die individuellen und heterogenen Grundrisseinteilungen sollten«, so Alexander Pedevilla, »in einer einheitlichen Fassadengestaltung einen gemeinsamen Nenner finden.« Um den monolithische Charakter des Gebäudes zu betonen, das als Massivbau mit Stahlbetontragwerk und WDVS errichtet wurde, erhielten die Metalloberflächen der Blenden, Rollläden und Geländer jeweils Beschichtungen in exakt demselben Farbton wie der Anstrich des Außenputzes. Zudem wurden die Rollläden bündig mit den Außenwänden montiert, sodass sich bei geschlossenem Zustand das Bild eines vollkommen homogenen Quaders ergibt. Gehen die Jalousien nach oben, ändert sich der Eindruck. Denn die Öffnungen der Fenster und Loggien, die zwar jeweils auf einer Geschossebene liegen, aber unterschiedlich groß und unregelmäßig verteilt sind, brechen die geometrische Strenge des Baukörpers und beleben die Fassade ungemein.

Die Farbe zu Füssen

Um die plastische Qualität des Entwurfs optimal zur Geltung zu bringen, bedurfte es einer möglichst glatten Oberfläche. Für die Bauherren schieden Sichtbeton, Holz oder andere Fassadenmaterialien von vornherein aus. Putz sollte es sein, gern in Farbe, aber nicht mit »fleckiger« oder »wolkiger« Struktur. Die Architekten griffen die Wünsche ihrer Auftraggeber bereitwillig auf. Sie lieben Putzfassaden. 2012 überzogen sie die Schule in Rodeneck mit einem groben Putz, der wie ein Wollpullover anmutet; 2007 bereits gaben sie dem Rathaus in St. Lorenzen mit einem ausgewaschenen Putz den letzten Schliff; und auch beim aktuellen Wohnhausprojekt in Sand in Taufers ist die Putzfassade bestimmend.

Hinsichtlich der Farbgebung des Sterzinger Hauses plädierten die Architekten für einen erdigen Ton, der einen Bezug zur Region hat. Dass man die passende Farbe in dem rötlich-violetten Schimmer des Porphyrgesteins fand, ist wenig verwunderlich: Neben Quarzit und Dolomit zählt Porphyr zu den am häufigsten verwendeten Baumaterialien in Südtirol – nahezu jeder Gehweg ist damit gepflastert. Das Gestein selbst verwendeten die Architekten dann zwar nicht für den Fassadenputz, aber für die mannshohe Betonmauer, die das Grundstück zur Straße hin abgrenzt: Eine Beimischung von zermahlenem Porphyr verleiht dem ausgewaschenen Beton einen ungewöhnlichen, zwischen Purpur und Flieder changierenden Unterton. Die Mauer passt farblich hervorragend zum Haus, doch mit ihrer rauen Oberfläche bildet sie zugleich einen deutlichen Kontrast zur ebenmäßigen Fassade und ihren Metallteilen, die wiederum vollkommen glatt sind.

Modelliert von der Sonne

Während die Architekten bislang bevorzugt mit Kalkputzen gearbeitet hatten, entschieden sie sich in Sterzing für einen organischen Putz. Zum Einsatz kam ein feinkörniger Modellierputz, gefärbt mit der eigens entwickelten Sonderfarbe »Porphyr«. Ein auf die 20 cm dicke Mineralwollschicht des WDVS gespachteltes Trägergewebe bildet den Untergrund für den Putz. Die nach dem Putzauftrag geglättete Oberfläche erhielt durch die Bearbeitung mit einer Malerrolle eine feine Netzstruktur, deren Grate abgeschliffen wurden. Eine farblose Imprägnierung komplettiert die Oberfläche. Laut Bauherr und Architekt hat die Versiegelung auch den ästhetischen Effekt, dass die Fläche dadurch noch gleichmäßiger erscheint.

Besonders bei diffusem Licht wirkt die Wand völlig homogen. Bei Sonnenschein wird die Oberfläche durch den Schattenwurf der erhabenen Teile der Netzstruktur modelliert und gewinnt dann, v. a. aus einiger Entfernung betrachtet, an Tiefe. Im Hinblick auf ihre Witterungsbeständigkeit machen sich Bauherr und Architekten keine Sorgen. Zwar ist das Klima im 950 m über dem Meer gelegenen Sterzing rau, aber auch nicht arktisch; die äußere Haut des Gebäudes wurde daher lediglich hydrophobiert. Sollte sich die Oberfläche wider Erwarten verfärben, müsste sie erneut gestrichen werden. »Eine Patina ist unerwünscht«, sagt der Bauherr. »Die Fassade ist nicht auf Alterung hin konzipiert.«

Letztlich steht die harmonische Wirkung im Vordergrund: Sowohl die Deutschordenskommende und Teile der Pfarrkirche als auch die Wohnblöcke der Umgebung haben Putzfassaden – die Oberfläche schafft also eine Verbindung zwischen den disparaten Gebäuden des Viertels. Insofern fällt das neue Pfarrmesnerhaus gar nicht so sehr aus dem Rahmen, wie es zunächst scheint. Mit ihrer Vorliebe für den Putz bekennen sich die Pedevilla-Brüder zu einer Tradition, die italienische Stuckateure einst in Südtirol heimisch machten. In Sterzing zeigen sie erneut das große Potenzial dieser Art der Fassadengestaltung auf – und bereichern die Alpinstadt dadurch.

db, So., 2015.03.01



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02. November 2014Klaus Meyer
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Lichtung im Untergrund

Saniert, restrukturiert, optimiert: Mit viel Glas und gutem Licht verwandelten Auer Weber die U-Bahn-Verteilerebene am Münchner Hauptbahnhof vom unterirdischen Schmuddeleck in ein übersichtliches Schmuckstück.

Saniert, restrukturiert, optimiert: Mit viel Glas und gutem Licht verwandelten Auer Weber die U-Bahn-Verteilerebene am Münchner Hauptbahnhof vom unterirdischen Schmuddeleck in ein übersichtliches Schmuckstück.

Eine Natursteinbekleidung kann schön, aber auch hässlich sein. Auf die in den U-Bahn-Stationen des Münchner Hauptbahnhofs trifft jedoch weder das eine noch das andere zu: Sie ist schlicht und ergreifend das Grauen. In den finstersten Winkeln am Ende der Bahnsteige machen selbst saubere Oberflächen den Eindruck, als seien sie mit einer Tinktur aus altem Frittierfett lackiert worden. Allerdings hat das Grauen, das zur Entstehungszeit der Anlage Anfang der 80er Jahre als Gebot der praktischen Vernunft hoch im Kurs stand (Unempfindlichkeit!), wohl bald ein Ende. Schon jetzt kann man aufatmen, denn seit kurzem präsentiert sich zumindest das weitläufige Entree zur U-Bahn in neuem, gläsernen Design.

Die Sanierungsarbeiten an dem 6 000 m² großen, täglich von rund 200 000 Menschen frequentierten Zwischengeschoss unter dem Bahnhofsplatz dauerten drei Jahre. Da der Raum mit seinen Auf- und Abgängen zur Straßenbahn, zum Bahnhof und zu den U-Bahn-Stationen als zentrale Verteilerebene fungiert, mussten die Arbeiten unter laufendem Betrieb erfolgen. Den Anlass zur Modernisierung gab freilich nicht etwa die Unansehnlichkeit des Ambientes, es waren Schäden an der Bausubstanz, die eine grundlegende Sanierung des 1980 eröffneten Bauwerks erforderten. Da im Laufe der Jahre salzhaltiges Regenwasser zwischen Wand und Decke eingesickert war und an der Stahlbetonhülle des Objekts zu nagen begonnen hatte, mussten v. a. die Gebäudefugen – und zwar auf rund 440 m Länge – instand gesetzt werden. Die Münchner Verkehrsgesellschaft (MVG) als Betreiber und die Münchner Stadtwerke (SWM) als Eigner ergriffen die Gelegenheit beim Schopf und initiierten neben der Renovierung auch die Restrukturierung der Anlage. Innovationsbereitschaft mit Sinn für gute Gestaltung kann man den Unternehmen ohnehin nicht absprechen: Manche Münchner U-Bahnstationen wie »Westfriedhof« oder »Georg-Brauchle-Ring« gelten fast als touristische Sehenswürdigkeit. Die von Allmann Sattler Wappner entworfenen »Stachus Passagen« unter dem Karlsplatz gehören ebenfalls zu den Highlights im Münchner Untergrund.

Von der Budengasse zum Boulevard

Beim Hauptbahnhof-Projekt kam indes ein anderes renommiertes Münchner Architekturbüro zum Zuge: Auer Weber, die 2006 den Wettbewerb zum Neubau des Bahnhofsgebäudes gewonnen hatten und inzwischen mit Vorplanungen zu diesem Mammutvorhaben befasst sind, wurden direkt mit der Neugestaltung des Zwischengeschosses beauftragt. »Der Raum wirkte nicht nur abgenutzt und düster«, erinnert sich Projektleiter Dominik Fahr an seine Eindrücke vor Baubeginn, »durch die konzeptlose Platzierung von Läden im Mittelbereich war er auch verschachtelt und unübersichtlich geworden. Diese mittlere Zone von unnötigen Ein- und Anbauten zu befreien, war unser vordringlichstes Ziel.« Aus diesem naheliegenden Gedanken entwickelte sich schnell die Entwurfsidee der urbanen Straße, eines lebendigen Boulevards mit flankierenden Geschäften und öffentlichen Einrichtungen.

Um den Passanten die Orientierung zu erleichtern, entschieden sich die Planer für eine klare räumliche Trennung von Ladenflächen und sonstigen bahnhofstypischen Angeboten: An der stadtseitigen Ostwand wurden Fahrkartenautomaten, Infovitrinen und Geldautomaten in eine Lichtwand integriert; gegenüber auf der Bahnhofsseite 18 Shops und Gastronomie sowie das neue MVG-Kundencenter platziert. Mit 950 m² wuchs die kommerziell genutzte Fläche im Vergleich zu früher um mehr als das Doppelte. Weil diese Ausweitung mit räumlicher Konzentration, übersichtlicher Gliederung und modernisierter Gestaltung einhergeht, dürften die allermeisten Passanten sie als echten Zugewinn erleben.

Glas in allen Variationen

Gestalterische Qualität ist das Ergebnis einer Vielzahl von Entscheidungen, zu deren wichtigsten die Wahl der Werkstoffe zählt. Auer Weber arbeiteten mit verschiedenen: Die Abgänge zur U-Bahn sind mit silberfarbig emaillierten Stahlblechpaneelen bekleidet, den Boden bedecken großformatige, hellgraue Granitplatten, die bestehenden, von ihrer Natursteinummantelung befreiten Stützen werden in Sichtbeton gehüllt; die Fußleisten sind aus eloxiertem Aluminium, die Handläufe aus Stahl, die abgehängte Rasterdecke ebenfalls aus Metall. Der dominierende Werkstoff jedoch, das Material, das wirkt, ist Glas. Es wirkt als Schaufensterfront und Mosaiksteinchen, als transparente Einfassung und transluzente Wand, als glatte Fläche und gefugtes Feld – und darüber hinaus natürlich als robuste, preiswerte, wartungsfreundliche und ästhetisch langlebige, kurz: vernünftige Lösung.

In der Mittelzone, wo die beiden U-Bahn-Abgänge je eine raumhohe gläserne Einfassung erhielten, kann der Werkstoff seine Vorzüge besonders gut ausspielen. »Auf diese Weise entstehen neue Sichtachsen quer durch das Gebäude, was nicht zuletzt die Sicherheit erhöht«, sagt Fahr. Weniger um Sicherheit als um Attraktivität ging es bei dem gläsernen Band, das die Fassade der Ladenzeile bildet. Die geschosshohe, durchgängig transparente Fläche, ermöglicht durch eine pfostenlose Konstruktion, verhilft den Geschäften zu einem edlen Look. Durch die Gestaltungsvorgabe, die Ladenschilder hinter der Glasfassade zu positionieren, wird das einheitliche Erscheinungsbild zusätzlich gestärkt.

Die Ladenfront und die Lichtwand gegenüber stehen in einem spannungsreichen Kontrast zueinander. »Den ursprünglichen Plan, die Ostwand mit Fliesen zu verkleiden, haben wir nach einigen Versuchen aufgegeben«, so Fahr. Die Fläche sei im Vergleich zu der Schaufensterfront zu dunkel und fad gewesen. Man habe nach einer gleichwertigen Lösung gesucht. Und mit der hinterleuchteten Glaswand, in der die Automaten und Vitrinen wie zu schweben scheinen, fand man schließlich einen höchst attraktiven Kontrapunkt. Die Wand verleiht dem Raum auch insofern einen einzigartigen Charakter, als sie im Tagesverlauf ihren Farbton verändert und sogar mit den Passanten interagiert: Bei Aktivität an den Fahrkartenautomaten wechselt der Farbton zur Komplementärfarbe.

Ein Spot auf das exzellente Licht

Überhaupt kommt der von den Lichtplanungsbüros Bartenbach und Vogt & Partner konzipierten Beleuchtung eine besondere Bedeutung zu. Erstmals wurde ein U-Bahn-Zwischengeschoss komplett mit LED-Leuchten ausgestattet: Rund 4 900 in der Rasterdecke integrierte Spots sorgen für eine überaus angenehme, blendfreie Grundbeleuchtung bei deutlich weniger Energiebedarf im Vergleich zu den früher eingesetzten Leuchtstoffröhren. Hinzu kommen Lichtstreifen an den Rolltreppen, LED-Spots an den Handläufen der Treppen sowie aus jeweils 16 LED-Leuchten zusammengesetzte »künstliche Sonnen«, die an den Zugängen zum Zwischengeschoss den Kontrast zwischen dem hellen Tageslicht und dem Kunstlicht im unterirdischen Gebäude mildern sollen. Zusätzlich beleuchtet werden sämtliche Schilder des Leit- und Informationssystems, was eine optimale Lesbarkeit schon von ferne gewährleistet.

Die ingeniöse Beleuchtung und die in weiten Teilen geradezu immateriell wirkende Materialität schaffen einen in Form und Farbe ruhigen Rahmen, in dem sich die Passanten sicher bewegen können, notwendige Informationen schnell erfassen und Service-Angebote problemlos finden. Mehr wäre in dem relativ niedrigen Raum zu viel gewesen. Doch trotz der optimierten Aufenthaltsqualität bleibt der Bereich natürlich ein Durchgangsraum, aus dem es einen nach einer Weile wieder zurück ins Freie zieht. Auf der Rolltreppe gibt es Gelegenheit, die Arbeit der Architekten ein letztes Mal zu würdigen: Die Wände sind mit weißen Glasmosaiksteinchen bekleidet – das Grauen von früher hat sich in ein kleines Alltagsglück verwandelt.

db, So., 2014.11.02



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01. September 2014Klaus Meyer
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Freiräume für Kinder

Hochwertige Materialien, lichte Räume, prägnante Konturen: Das Kinderhaus in Tettnang überzeugt in vielerlei Hinsicht. Besonders eindrucksvoll nehmen sich die breiten, das Fassadenbild prägenden Loggien aus. Dabei sehen die Öffnungen nicht nur gut aus – sie sind auch bestens zu bespielen.

Hochwertige Materialien, lichte Räume, prägnante Konturen: Das Kinderhaus in Tettnang überzeugt in vielerlei Hinsicht. Besonders eindrucksvoll nehmen sich die breiten, das Fassadenbild prägenden Loggien aus. Dabei sehen die Öffnungen nicht nur gut aus – sie sind auch bestens zu bespielen.

Das ehemalige Transformatorenhaus, das sich wie ein Bergfried auf einem Hügel im Spielgarten erhebt, hat keine Fenster; Licht dringt nur durch eine schmale Tür ins Innere. Das Turmgemach ist kaum größer als ein Altbauklo, aber über 10 m hoch und knallrot gestrichen – für die Kinder wird es ein magischer Ort sein. Auch im frisch angelegten Garten gibt es jetzt schon Ecken und Winkel mit großem zauberischen Potenzial. Zu nennen wäre der fast 50 m lange Weidentunnel zwischen den Spielinseln. Und das jüngst bezogene Kinderhaus selbst? Wird es für die Kleinen mehr sein als ein geräumiger Aufenthaltsort, ein temporäres Dach über dem Kopf? Wird es ihnen etwas bedeuten? Schwer zu sagen. Deshalb wird der Rezensent diese Frage erst einmal zurückstellen und sich bei der Bewertung des Bauwerks an die üblichen, immer etwas zu abstrakten Kriterien der Erwachsenen halten.

Doch zunächst noch zu den Fakten: Das Josefine-Kramer-Haus, benannt nach einer in Tettnang geborenen Psychologin und Heilpädagogin (1906-94), wurde zwar bereits im Januar 2014 fertiggestellt, ist aber erst seit Ende der Sommer- ferien voll besetzt. Es bietet Platz für bis zu 50 Kindergartenkinder in zwei Gruppen und rund 30 Krippenkinder in drei Gruppen. Hinzu kommen Räumlichkeiten, die von Kindern und Eltern der Initiative »Spatzennest« sowie dem »Familientreff Tettnang« genutzt werden. 1 600 m² Nutzfläche, 8 700 m³ umbauter Raum, 3 300 m² Grundstücksfläche: Für einen Kindergarten sind das stolze Zahlen. Und für eine Kommune wie das oberschwäbische Tettnang mit seinen knapp 20 000 Einwohnern ist der Bau solch eines Kindergartens naturgemäß eine große Sache – erst recht, wenn das Projekt an einem städtebaulich sensiblen Ort realisiert werden soll.

Dialog mit der Umgebung

Das Grundstück an der Wilhelmstraße heißt noch immer Hopfenareal, obwohl dort schon längst kein Hopfen mehr verarbeitet wird. Auch der Bahnhof, der die Industriebrache im Osten abschloss, wurde schon vor Jahren abgerissen. Die Wunde im Stadtbild schmerzte umso mehr, als das Gelände am Ende eines Grünangers mit verschiedenen öffentlichen Nutzungen liegt, der sich in ostwestlicher Richtung durch Tettnang zieht. Die letzten intakten Glieder in der Kette waren die zur Stadtkirche Sankt Gallus gehörigen Pfarrgebäude. Dahinter erstreckte sich eine von mittelprächtigen Einfamilienhäusern gefasste Schneise bis zu einem klobigen Getreidesilo. Die Herausforderung für die Planer des Kinderhauses bestand also nicht zuletzt darin, für die grüne Suite ein neues, imposantes Finale zu komponieren.

Das ist Martin Bächle, Karin Meid-Bächle und ihrem Team nach Meinung aller Experten hervorragend gelungen. Zunächst einmal konnte das Konstanzer Büro Bächle Meid den Entwurfswettbewerb, zu dem die Stadt Tettnang im September 2011 zwölf Architekturbüros eingeladen hatte, klar für sich entscheiden. Mittlerweile hat ihr Werk auch andere Juroren überzeugt. Bislang wurde das Projekt mit dem Label »best architects 15« und dem Hugo-Häring-Preis 2014 geehrt. Und das Kinderhaus spricht nicht nur Fachleute an, es gefällt eigentlich jedem, den man fragt.

Für die allgemeine Akzeptanz gibt es viele Gründe. Der augenfälligste ist die fulminante Ziegelfassade. Bächle Meid verwendeten dafür »Tallinn«-Klinker auf ungewöhnliche Weise: Indem sie die Rückseite der Ziegel mit ihren produktionsbedingten Unregelmäßigkeiten nach außen kehren, ergibt sich ein wunderbar lebendiges Mauerbild, das an alte Backsteinfassaden erinnert. Neben der Hülle ist es die Kubatur des Gebäudes, die umso mehr begeistert, je genauer man sie studiert. Auf den ersten Blick macht der lang gestreckte Baukörper den Eindruck eines autonomen, den Kontext ignorierenden Gebildes. Erst allmählich bemerkt man, wie vielfältig und sensibel der Entwurf auf die Umgebung reagiert: Im Südosten folgt die Außenwand dem schnurgeraden Straßenverlauf; gegenüber im Nordwesten erfüllt ihre Zickzackbewegung teils öffnende teils schützende Funktionen; im Süden zur Sankt-Gallus-Kirche hin formt das Volumen mit dem vorkragenden OG und dem exponierten Eingang eine unkonventionelle, doch suggestive Willkommensgeste; im Norden, wo das zweigeschossige Haus in eine mannshohe Mauer übergeht, kommuniziert der Neubau schließlich auf gleicher Augenhöhe mit der angrenzenden Wohnsiedlung. Einen subtilen Dialog mit den traditionellen Häusern im weiteren Umkreis führt auch das gefaltete Dachrelief mit seinen flachen Giebeln.

Loggien als Spielplätze

Selbst mit den großen Loggien, die das Erscheinungsbild des Gebäudes ebenso stark prägen wie die Ziegelwände und das Faltdach, nehmen die Architekten Bezug zur Umgebung. »Die Loggien bilden eine serielle Struktur, genau wie die Fenster der Lochfassaden ringsum«, sagt Martin Bächle. Freilich erschöpft sich die ästhetische Bedeutung der Öffnungen nicht in der Reminiszenz an traditionelle Symmetrien. Im Vordergrund steht sogar ein gegenteiliger Effekt, sind es doch v. a. die enorm breiten, teils verglasten teils offenen Freiräume, die dem Baukörper seine dezidiert zeitgemäße Anmutung verleihen. »Ohne sie würde der murale Charakter der Fassade viel zu stark dominieren«, sagt der Architekt. Ein weiterer reizvoller Aspekt ist die skulpturale Wirkung, die durch die tiefen Einschnitte in die Gebäudefront erzielt wird. In Bächles Worten: »Die Fassade wird zum Gehäuse.«

Die überzeugende Außenwirkung hat innere Ursachen: Im Grunde reicht die Kausalkette zurück bis zur Entscheidung über die Platzierung des Gebäudes auf dem Grundstück. Bächle Meid haben es nach Südosten an die Straße herangerückt, sodass der Spielgarten im schattigen Nordwesten liegt. »Das ist natürlich ein Nachteil, und einige Mitbewerber haben die Freifläche deshalb tatsächlich auf die Sonnenseite verlegt«, sagt Bächle. Doch sprachen entscheidende Argumente für den Vorschlag des Konstanzer Büros. Zum einen schirmt das an der Straße errichtete Haus den Spielgarten ab, sodass sich eine zusätzliche Abgrenzung erübrigt; zum anderen macht das Gebäude an der Straße stadträumlich eindeutig eine bessere Figur als ein Garten, der aufgrund notwendiger Einhegungen nicht einmal richtig einsehbar gewesen wäre. Die gewählte Verteilung der Funktionen stellte die Planer allerdings auch vor eine besondere Herausforderung. Wie sollten sie die Gruppenräume nach Süden zur Sonne hin öffnen? Mit großen, fassadenbündigen Fensterfronten? Licht hätte es dann zur Genüge gegeben, aber keinen Austritt an die frische Luft. Genau dies schaffen die Loggien: zusätzliche Spielplätze im Freien.

Einmal erdacht und für gut befunden, entwickelte sich die Lösung für ein Einzelproblem schnell zum seriell eingesetzten Gestaltungselement, das den Charakter des gesamten Gebäudes bestimmt. Austritte finden sich nicht nur auf der Sonnenseite, sondern auch zum Garten hin. Dabei wird jeder der fünf durchgesteckten Gruppenräume von je einer 6 m breiten Loggia flankiert. So bedeutsam diese Öffnungen in funktioneller und gestalterischer Hinsicht sind – als Elemente der Statik fallen sie nicht ins Gewicht: »Die Loggien haben mit dem Tragwerk überhaupt nichts zu tun, sondern sind eingestellt«, so der Architekt.

Räume mit Atmosphäre

Natürlich hat das Josefine-Kramer-Haus viel mehr zu bieten als seine Freiräume. Ein weitläufiges Foyer z. B., das die Erschließung des Gebäudes auf den ersten Blick erkennen lässt: Links führt eine Treppe zu den Räumlichkeiten des »Spatzennests« im OG, während sich im Parterre unmittelbar die Cafeteria anschließt; rechts geht es zum Kindergarten im EG und treppauf in den Krippenbereich. Den Kindern stehen nicht allein die hellen Gruppenräume zur Verfügung. Es gibt Materialräume, eine Kinderküche, einen großen Bewegungsraum. Zu jedem Gruppenraum gehört ein Ruhezimmer sowie eine Garderoben-Nische, jeweils versehen mit sehr praktischen und schönen Holzeinbauten. Ohnehin überzeugen Materialität und Mobiliar auf der ganzen Linie. Der Kunststoffboden im zarten Sandton, die weiß gestrichenen Metallgeländer, die Kindermöbel, die auch innen allgegenwärtigen Ziegelwände: Das alles muss man einfach mögen – zumindest als Erwachsener.

Und die Kinder? Ihr Gefühl zu diesem Haus wird wohl weniger von architektonischen als von sozialen Gegebenheiten bestimmt werden. Trotzdem wird auch die Architektur einen prägenden Einfluss ausüben, und es macht sicher einen Unterschied, ob man in einer übersichtlich-sauberen oder einer geheimnisvoll-wilden Umgebung aufwächst. Das eine hat etwas für sich, das andere aber auch. Und deshalb war es eine glückliche Entscheidung, den alten Transformatorenturm nicht abzureißen und nicht zu modernisieren, sondern innen in glühendes Rot zu tauchen. Kinder brauchen Freiräume – und magische Orte.

db, Mo., 2014.09.01



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db 2014|09 Balkone und Loggien

06. Juli 2014Klaus Meyer
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Die neue Achtsamkeit

Vielfalt erhalten und Einheit stiften: Dieses Kunststück gelang Meili, Peter Architekten mit dem Projekt »Hofstatt« in der Münchner Innenstadt. Trotz starker Verdichtung und neuer Durchwegung blieb die Bebauungsstruktur eines Altstadtquartiers unangetastet.

Vielfalt erhalten und Einheit stiften: Dieses Kunststück gelang Meili, Peter Architekten mit dem Projekt »Hofstatt« in der Münchner Innenstadt. Trotz starker Verdichtung und neuer Durchwegung blieb die Bebauungsstruktur eines Altstadtquartiers unangetastet.

Es war einmal eine Sackgasse namens Hofstatt. Sie ging vom Färbergraben ab und stieß in südwestlicher Richtung mitten ins Viertel hinein. Der Straßenname geht auf einen im 13. Jahrhundert erstmals urkundlich erwähnten Adelshof zurück; Denkmalpfleger Harald Gieß spricht von »einem der ganz frühen Kristallisationspunkte der Stadt München«. Nun ist von diesem Gehöft keine Spur erhalten geblieben. Und die Altstadtgasse degenerierte nach dem Zweiten Weltkrieg infolge von Zerstörung, Überbauung und Umnutzung des Areals zur schnöden Lieferantenzufahrt. Die Hofstatt, das war eigentlich nur noch etwas für Lokalhistoriker und Geschichtenerzähler. Dass es sie seit gut einem Jahr wieder gibt, als Einkaufspassage und Flaniermeile, als Wohn- und Geschäftsadresse, als Goldader für Investoren und Inspirationsort für Stadtentwickler, kurz: als einen der jüngsten Kristallisationspunkte urbanen Lebens in München, das ist eine Geschichte für sich.

Ihr Schauplatz ist ein Quartier, das sich im Südwesten an den innersten Kern der Münchner Altstadt anschließt. Bis zum Marienplatz, dem Viktualienmarkt oder der Frauenkirche sind es jeweils nur wenige Minuten zu Fuß. Umschlossen wird der Häuserblock von Färbergraben, Hotter- und Hackenstraße sowie der südwestlich verlaufenden Sendlinger Straße, die seit der Stadterweiterung im 13. Jahrhundert das Sendlinger Tor mit dem Zentrum verbindet. Als innerstädtische Einkaufszone steht die Sendlinger Straße bislang noch im Schatten der ausschließlich auf Konsum getrimmten Kaufinger Straße, hat dafür aber mehr Charme und verfügt mit der barocken Asamkirche über eine der bedeutendsten architektonischen Attraktionen der Stadt. Ein weiteres prominentes Baudenkmal ist das ehemalige Redaktionsgebäude der Süddeutschen Zeitung, 1905 nach Plänen von Max Littmann für die Münchner Neuesten Nachrichten errichtet und im Zuge des Hofstatt-Projekts aufwendig restauriert. ›

Durchwachsenes Filetstück

Der Süddeutsche Verlag besaß und betrieb ein ganzes Häuserkonglomerat in dem Quartier. Dazu gehörte das imposante Druckereigebäude im Innern des Gevierts, das in den 20er Jahren als betonummantelter Stahlskelettbau mit Sichtziegelfassade rund um einen überglasten Lichthof entstanden war. Ferner das Verlagshaus am Färbergraben, einer von Detlef Schreiber, Herbert Groethuysen und Gernot Sachsse in den 60er Jahren entworfenen »Mies-Kiste«, die als Schwarzes Haus bekannt wurde und unter Freunden klassisch modernen Bauens naturgemäß als »eines der herausragendsten Beispiele der Nachkriegsarchitektur in München« gilt. Hinzu kamen weitere verlagseigene Bürohäuser an der Hotterstraße sowie ein denkmalgeschütztes Wohnhaus an der Hackenstraße. 2004 veräußerte der Verlag seinen gesamten Immobilienbesitz im Quartier an die Entwicklungsgesellschaft LEG Baden-Württemberg, das Vorgängerunternehmen der heutigen LBBW Immobilien GmbH.

Da die Zeitungsmacher den nunmehr angemieteten Firmensitz bis 2008 nutzen durften, blieb den Investoren genügend Zeit für umfangreiche Vorplanungen. Nachdem sie gemeinsam mit der Landeshauptstadt München neue Nutzungskonzepte für das Quartier entwickelt hatten, die neben dem Einzelhandel und dem Büroraum auch das Wohnen (30 %) berücksichtigte, initiierten sie in Abstimmung mit dem Referat für Stadtplanung und Bauordnung einen Gestaltungswettbewerb, zu dem 13 Architekturbüros aus dem In- und Ausland eingeladen wurden. Die Geschichte nahm ihren ordungsgemäßen Verlauf, und nicht wenigen Kritikern erschien das Ende vorhersehbar: Eine liebenswerte Mélange unterschiedlicher Fassaden, Volumina, Funktionen und Atmosphären würde sich unweigerlich in eine pure Geldmaschine verwandeln, die sich von anderen puren Geldmaschinen allenfalls durch die Verkleidung unterschied. Glas, Stahl, Aluminium? Schwarz, weiß, grau? Egal. Das Ziel lautete Gewinnmaximierung, die Architektur lieferte nur das Branding.

Aber es kam anders. Der Masterplan des Züricher Büros Meili, Peter Architekten, für den die Jury am 28. September 2006 einstimmig votierte, überzeugte zum einen durch das klare Bekenntnis zu einem respektvollen Umgang mit dem Bestand, zum anderen durch eine bestechende Idee zur räumlichen Verklammerung der disparaten Bauten. »Wir wollten keinen radikalen Eingriff, weil darin die geschützten Teile nur als Störungen oder Fremdkörper erschienen wären«, erinnert sich Marcel Meili. Vielmehr habe man sich vorgenommen, die einzelnen Bauten behutsam zusammenzuführen, »ohne sie in einer mächtigen Geste versinken zu lassen«. Den Zusammenhalt sollte eine dreiarmige, in eleganten Schwüngen durch das Geviert mäandernde Einkaufspassage gewährleisten, die auch die Büronutzungen erschließt und neue Wegeverbindungen zu angrenzenden Stadtvierteln schafft. »Wir wollten eine weiche Bewegung durch das Areal führen, die den Charakter des Hinzugefügten möglichst offenlegt«, so Meili.

Glück gehört auch dazu

So weit, so brillant. Allerdings bereitete der konkrete Verlauf der Passage den Planern noch zwei Jahre lang Kopfzerbrechen. Klarheit brachte erst eine weitere Investition seitens der LBBW Immobilien: 2008 erwarb sie die drei an der Sendlinger Straße gelegenen Häuser, in denen zuvor die Redaktion der Münchner Abendzeitung untergebracht war. Die beiden südlichen, im Kern spätmittelalterlichen Bürgerhäuser wurden restauriert bzw. in historischer Kubatur neu errichtet; das nördliche, an das ehemalige SZ-Redaktionshaus grenzende Gebäude wich einem Neubau, in den nun der ursprünglich für den Littmann-Bau vorgesehene Passagenzugang verlegt werden konnte. Ein Glücksfall aus mehreren Gründen. Erstens wäre das symmetrische Fassadenbild des Littmann-Baus durch eine linksseitige Toröffnung empfindlich gestört worden, zweitens liegt der jetzige Zugang vis-à-vis der Dultstraße und somit auf einer Sichtachse zum attraktiven St.-Jakobs-Platz, drittens konnte nun ein Problem gelöst werden, das sowohl Architekten als auch Denkmalschützern und Projektentwicklern erhebliche Sorgen bereitet hatte: Der Knotenpunkt der drei Passagenwege, im Ursprungsentwurf innerhalb des Stützenfelds der ehemaligen Druckerei gelegen, ließ sich jetzt in den glasgedeckten Lichthof des Industriebaus verschieben und befindet sich damit schlicht ganz selbstverständlich am richtigen Ort.

Der richtige Ort ist auch ein schöner Platz. Der fließende Passagenraum bildet hier gleichsam einen Wirbel, der einem ein wenig Zeit zum Schauen lässt, bevor man weitergezogen wird. Die Wände mit ihren gegeneinander schwingenden Glasbändern, die Deckenleuchten, der Natursteinboden mit seinen unregelmäßig verlegten Platten: Das alles ergänzt sich zu einer höchst eindrucksvollen Raumfigur. Einzig der Blick nach oben wirft Fragen auf. Schaut man nämlich durch die ellipsenförmige, mit einem dichtmaschigen Metallgitter abgeriegelte Deckenöffnung, lässt sich das Mauerwerk des Druckereigebäudes dahinter allenfalls erahnen. Warum hat man die Sicht auf den zentralen Bestandsbau ausgerechnet im historischen Lichthof derart kaschiert? Andreas Müsseler, der zusammen mit Florian Hartmann und Oliver Noak das Münchner Büro von Meili, Peter Architekten leitet, zögert nicht mit der Antwort: »Ein extremer Tageslichteinfall an dieser Stelle hätte die atmosphärische Balance der ganzen Passage gestört. Die Gänge, die jetzt hell und einladend wirken, kämen einem wie Höhlen vor.«

Anderenorts immerhin präsentiert sich der fünfgeschossige »Ankerbau« des Areals unverstellt und in voller Größe. Hinter dem Littmann-Bau etwa bildet seine schmucke Klinkerfassade eine stimmungsvolle Kulisse für die Restaurant-Terrasse auf dem großen Innenhof. Gleiches gilt für das Café im zweiten, kleineren Hof.

Koinzidenz der Gegensätze

An das Druckereigebäude als dem Dreh- und Angelpunkt des Entwurfs gliedern sich alle weiteren Gebäude der Hofstatt an. Jedes von ihnen wurde seiner Lage im Stadtgefüge und seiner Funktion folgend individuell entwickelt und als eigenständiges Gebilde entworfen – getreu Meilis Maxime, jede gleichmacherische Geste zu vermeiden.

Am Färbergraben wurde das Schwarze Haus durch ein repräsentatives Büro- und Geschäftshaus mit Keramikfassade ersetzt, das sich aus zwei unterschiedlichen Gebäudeteilen zusammensetzt, die jedoch eine starke Familienähnlichkeit aufweisen. Dabei betont der Kontrast zwischen roten und grünen, konkav und konvex geschwungenen Keramikelementen (s. Detail S. 23) die Differenz, während Materialität, Rasterung und Proportionen beiden Geschwistern gemein sind. Alles andere als monolithisch wirkt auch der neu errichtete vier- bis sechsgeschossige Wohnhauskomplex an der Hotterstraße. Hier lässt sich die Unterteilung in vier Einzelgebäude, die jeweils über ein eigenes Treppenhaus erschlossen werden, beispielsweise an den unterschiedlichen Putzstrukturen der Fassaden ablesen. Das denkmalgeschützte, neubarocke Wohnhaus an der Hackenstraße schließlich erhielt im Hof einen großflächig verglasten Anbau, der die historische Kammerstruktur des Altbaus um modern geschnittene Wohnbereiche ergänzt.

Bleibt der Neubau mit dem Passagenzugang an der Sendlinger Straße. Mit seiner reliefartig gestaffelten Fassade kann er sich zwischen dem schlichten Bürgerhaus zur Linken und dem markanten Littmann-Bau zur Rechten mühelos behaupten. Aber er fällt auf, ohne aus dem Rahmen zu fallen. Er steht für sich und geht trotzdem auf die Nachbarn ein. Er wirkt zeitgemäß und vermittelt zugleich zwischen den Zeiten. Eigenständigkeit und Achtsamkeit koinzidieren aber nicht nur in diesem Fassadenbild auf solch erstaunliche Weise. Historischer Sinn und Erneuerungswille gehen im ganzen Hofstatt-Quartier wunderbar zusammen und erzeugen genau die Spannung, die eine gute Geschichte braucht.

db, So., 2014.07.06



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db 2014|07-08 Stadt quar tiere

02. Januar 2006Klaus Meyer
db

Neun Hüllen für ein Haus

Neun Gebäudestreifen, mal schmaler, mal breiter, mal kalt und hart, mal warm und weich, direkt aneinander liegend oder mit einigen Metern Abstand voneinander, silbrig glänzend, in kräftigem Rot, mattem Schwarz oder aus edlem Holz: Das »Barcode-House« in München hat viele Gesichter.

Neun Gebäudestreifen, mal schmaler, mal breiter, mal kalt und hart, mal warm und weich, direkt aneinander liegend oder mit einigen Metern Abstand voneinander, silbrig glänzend, in kräftigem Rot, mattem Schwarz oder aus edlem Holz: Das »Barcode-House« in München hat viele Gesichter.

Barcode-House? Dem unbefangenen Passanten gibt sich das Gebäude kaum als solches zu erkennen. Von der Straße aus sieht er nicht viel mehr als eine silbrig glänzende Wand, besprenkelt mit schwarzen Tupfen. Eine weiche Wand bei näherer Betrachtung, in der die schwarzen Hartplastikknöpfe versinken wie Noppen in einem Polstermöbel. Was soll das sein? Ein Verpackungskunstwerk? Die Hommage eines architekturbeflissenen Chesterfield-Sofaliebhabers an das Objekt seiner Begierde? Bildeten nicht schmale Fugen in der Silberwand die Kontur eines Garagentores, man stünde vor einem Rätsel. So aber fühlt man sich ermutigt, nach einem Eingang zu suchen. An die Silberwand schließt sich links ein hoher, aus rohen Brettern dicht gefügter Zaun an, in den eine Gartenpforte eingepasst ist. Erst wer hier Einlass findet, sieht klarer.Zwei Kuben mit einem Freiraum dazwischen bilden zusammen einen langen Riegel, der sich nach Süden in den Garten erstreckt. So schlicht die Form, so kunterbunt und vielgestaltig präsentiert sich die Fassade. Silber, Rot und Schwarz, Glas, Stahl, Holz und Kunststoff, hermetisch-geschlossene und transluzente Abschnitte, schmale und breite Partien, verspielte und strenge Wandgliederungen: Zusammen ergibt das ein Streifenmuster, das an die computerlesbare Signatur erinnert, die wir von Lebensmittelpackungen kennen. Zum Garten hin offenbart es sich, das Barcode-House.

Hintergrund

Der Mitte 2005 fertig gestellte Komplex, der sich – grob gesagt – aus einem Wohnhaus und einem Atelierhaus mit Garage zusammensetzt, steht in Solln, einem grünen Münchner Stadtteil mit gepflegten Straßen, Häusern und Bürgern. Im Sommer 2004 wurde mit dem Bau begonnen, die Planungen reichen jedoch bis ins Jahr 2001 zurück. Die Bauherrschaft, ein Paar mit Kindern, hatte sich nach dem Erwerb des Grundstücks eingehend mit dem Projekt auseinander gesetzt und ein detailliertes Briefing für die Architekten entwickelt. Vor allem bestand der Wunsch, ökologisch sauber zu bauen. Arbeiten und Wohnen galt es zu trennen, die Küche sollte das Herzstück des Wohnbereichs werden, gleichwertige Kinderzimmer waren einzuplanen und im Bürotrakt wollte man multifunktionale, loftartige Räume haben.Mehrere Architektenteams wurden um erste Ideen gebeten. Wirklich überzeugt hat die Bauherren der Entwurf von MVRDV. »Viele Entwürfe waren rein ästhetisch geprägt« erläutern die Bauherren. »Die Leute von MVRDV brachten eine wirklich konzeptionelle Idee. Gemeinsam mit Jacob van Rijs und den Architekten von Stadler und Partner haben wir das Konzept der Enfilade dann derart weiterentwickelt, dass es unseren Anforderungen entspricht«.

Die aus Massivholzmauern konstruierten Boxen des Wohn- und Ateliergebäudes wurden in insgesamt neun Häuser unterteilt, ihnen wurde jeweils eine bestimmte Funktion zugeordnet. Park-, Treppen-, Service- und Lofthaus folgen im nördlichen Kubus aufeinander, nach dem luftigen Zwischenglied des Patiohauses beschließen im südlichen Block Kinder-, Treppen-, Eltern- und Wohnhaus die Enfilade. Jede Einheit hat ihren eigenen, auf die Funktion zugeschnittenen Grundriss, jede ist innen wie außen durch eine eigene Materialität gekennzeichnet. »An manchen Stellen«, so die Bauherren, »fühlt sich das Haus wie eine Villa an, an anderen wie ein Industrieloft oder eine Kindertagesstätte.« Die Hülle jedes Abschnitts sollte auf die jeweilige Nutzung anspielen. Nicht zuletzt deshalb wurde die Fassadengestaltung heiß diskutiert. Die Architekten von MVRDV, ihre Kollegen vom Münchner Büro Stadler und Partner, aber auch die Bauherren fahndeten bis kurz vor Baubeginn nach dem optimalen Material. Jacob van Rijs spricht deshalb von »demokratischem Fassadendesign«.Hüllen Der Fassadenaufbau ist in allen Partien weitgehend identisch. Auf die massive Holzwand folgt eine Weichfaserdämmschicht, die durch Windpapier geschützt wird. Die darauf angebrachte Lattung dient als Hinterlüftungsebene und Träger der Hülle. Im südlichen Abschnitt, dem Wohnhaus, ist das eine Haut aus Rimex-Edelstahl – ein für Bedachungen und Außenwandverkleidungen vielfach erprobtes Material. Spiegelglatt wünschten sich die Bauherren die Fassade zunächst. Dies hätte allerdings sehr starke Lichtreflexionen impliziert. Daher entschieden sie sich für eine mit einem geprägten Karo-Muster versehene Oberfläche, die das einfallende Sonnenlicht vielfach bricht und so die Blendwirkung minimiert.Das anschließende Elternhaus ist mit massivem Zebrano-Holz verkleidet – und zwar nicht nur außen, sondern auch innen. Die erstaunliche Gleichmäßigkeit des charakteristischen braun-gelben Streifenmusters rührt daher, dass die Bretter aus einem einzigen Baum geschnitten wurden. Auf der Westseite öffnet sich die im Erdgeschoss befindliche Küche vollständig zum Garten: In einen Stahlrahmen ist hier ein geschosshohes und die gesamte Raumbreite einnehmendes Tor-Fenster eingepasst, dass sich motorgetrieben liften lässt.

Zwischen Eltern- und Kinderhaus vermittelt das Treppenhaus, vor dessen Glasfassade ein Verschattungssystem aus Aluminium-Lamellen angebracht ist. Das rote Kinderhaus bildet mit seinen wulstigen Fensterrahmen einen kräftigen Akzent innerhalb der Barcode-Struktur. Die Hülle besteht aus sorgsam verspachtelten OSB-Platten, auf die vor Ort eine hauchdünne Polyurethanschicht gespritzt wurde. Dieser, in der Betonsanierung häufig eingesetzte Kunststoff ist äußerst witterungsbeständig und langlebig, eignet sich daher im Prinzip hervorragend für den Einsatz bei Hausfassaden. Da er extrem schnell aushärtet, erfordert die Verarbeitung allerdings das handwerkliche Geschick eines Spezialisten. – In ähnlicher Weise wie beim Barcode-House hat MVRDV das Material übrigens beim Thonik Studio (Amsterdam, 2001) eingesetzt. – Ebenfalls mit Kunststoff, diesmal mit orange eingefärbten Polycarbonatplatten, wurde das Lofthaus ummantelt. Das üblicherweise für Fabrikhallenfassaden verwendete Sandwich-Material wird in Planken geliefert, die einfach ineinander gesteckt werden. Sehr schön wirkt die transluzente Hülle, wo sie ohne jede Kaschierung als Balkonbrüstung eingesetzt ist. Wo sie dicht auf der Wand aufliegt, zeichnet sich unter ihr die Bedruckung der Windfolie ab, was manch einer als störend empfinden oder aber als Zeichen materialgerechter Baukultur schätzen kann. Ganz in Schwarz präsentiert sich die Trespa-Fassade des anschließenden Servicehauses – wenigstens wenn alle Schotten dicht sind. Die bündig zur Außenwand eingesetzten Türen und Fensterläden mit ihren schmalen Fugen heben hier jegliche Fassadengliederung auf und vermitteln den Eindruck eines monolithischen Blocks. Einsichten, wenn auch nur schattenhafte, gewährt dagegen das Treppenhaus, das mit einer Hülle aus satiniertem Glas ausgestattet ist.Bleibt die Silberwand des Parkhauses, eine mit Schaumstoff unterfütterte und mit schwarzen Tellerhaltern am Untergrund befestigte Lkw-Plane. Eine wahrhaft experimentelle Lösung, die naturgemäß gewisse Risiken birgt: »Ein Schnitt mit einem scharfen Messer, und schon klafft da ein Schlitz«, sagt Jacob van Rijs. Wenn die Fassade auch kaum vor Vandalismus gefeit ist, so scheint sie immerhin der Witterung hinreichend lange standzuhalten. Zehn Jahre Garantie gibt der Hersteller. »Was dann passiert, weiß kein Mensch«, sagen die Bauherren. Dem gegenwärtigen Lebensgefühl einen adäquaten Ausdruck zu verschaffen war ihm wichtiger als für die Ewigkeit zu bauen.

db, Mo., 2006.01.02



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