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25. August 2017Hansjörg Gadient
TEC21

Gerettete Pläne

Der Landsitz Ury in Berlin wurde 1944 zerstört – samt der Parkanlage, die Leberecht Migge 1915 realisiert hatte. Migges Familie hatte seine Bürounterlagen schon zehn Jahre früher vernichtet. Doch 2016 tauchten 46 Pläne zum Projekt auf und ermöglichen eine faszinierende Spurensuche.

Der Landsitz Ury in Berlin wurde 1944 zerstört – samt der Parkanlage, die Leberecht Migge 1915 realisiert hatte. Migges Familie hatte seine Bürounterlagen schon zehn Jahre früher vernichtet. Doch 2016 tauchten 46 Pläne zum Projekt auf und ermöglichen eine faszinierende Spurensuche.

Private Haus-, Guts- und Villengärten stellen den Schwerpunkt des Konvoluts von Leberecht Migge dar, das 2016 im Archiv für Schweizer Landschaftsarchitektur ASLA entdeckt wurde. Die meisten dieser Gärten waren bisher unbekannt, weil sie zu Migges Lebzeiten nicht publiziert worden waren. Doch selbst bei publizierten Projekten war die Dokumentation spärlich: Zeitgenössische Artikel zeigten Gärten meist mit wenigen Abbildungen, in der Regel mit Publikationsplan und ergänzenden Fotos oder Perspektiven.

Die Projektdokumentation über den Landsitz Ury im Archiv für Schweizer Landschaftsarchitektur ist daher einzigartig. Sie stammt aus dem Nachlass des Schweizer Landschaftsarchitekten Walter Leder (1892–1985), der bei Migge gearbeitet hatte, nach der Auflösung des Büros in die Schweiz zurückkehrte und dabei Pläne mitnahm (diese Pläne wurden 2016 im Archiv des ASLA gefunden). Leder kam allerdings erst etwa fünf Jahre nach Fertigstellung des Gartens Ury ins Büro Migge. Warum er so viele Darstellungen zu einem Projekt, an dem er selber nicht gearbeitet hat, in die Schweiz mitgenommen hat, ist unklar.

Die 46 Blätter zum Garten Ury zeigen den gesamten Arbeitsprozess, von den ersten topografischen Aufnahmen des Grundstücks über verschiedene Projektvarianten bis zu den Ausführungsplänen der Bauten und den Pflanzplänen. Das ermöglicht einen einmalig tiefen Einblick in die Arbeitsweise des Büros Migge. Der Bauherr war der Kaufmann Moritz Ury; die Villa entwarf der bekannte Theaterarchitekt Oskar Kaufmann. Das Haus wurde im Februar 1914 fertiggestellt, der Garten 1915. Die Pläne zu der knapp 7000 m² grossen Anlage am Koenigssee in Berlin stammen aus einem Zeitraum zwischen 1913 und 1915.

Migge beginnt das Projekt als Angestellter in der Gartenbaufirma Jacob Ochs; die früheste Version ist noch von Ochs unterschrieben. Kurze Zeit später macht sich Migge selbstständig und legt eine zweite, viel gewagtere Variante vor. Diese ist dem Bauherrn vermutlich zu neuartig, er lehnt sie ab. Migge schlägt weitere, weniger aussergewöhnliche, dafür aber repräsentativere Entwürfe vor, von denen einer weiter modifiziert und schliesslich ausgeführt wird. Zu vielen Einzelelementen, etwa zu den raumbildenden Wänden der Zufahrt oder zum Wasserpavillon, existieren reiche Detailstudien in Varianten.

TEC21, Fr., 2017.08.25



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2017|34 Leberecht Migges Erbe

03. Mai 2013Hansjörg Gadient
TEC21

Spuren, Sporen, Spolien

Kann ein Stadtpark der Bevölkerung Freiräume bieten und zugleich Naturschutzgebiet sein? Lassen sich unter dem steigenden Nutzungsdruck in den dichter werdenden Quartieren ökologisch wertvolle Standorte erhalten? Nicht abgetrennt und eingezäunt, sondern in die Nutzflächen übergehend? Im Basler ­Erlenmattpark zeigt der Landschaftsarchitekt und Stadtplaner Raymond Vogel, dass es geht und wie städtische Freiräume künftig funktionieren könnten – nicht als ­entleerte Designikonen, sondern als ökologisch, sozial und historisch gedachte, ganzheitlich geplante Lebensräume.

Kann ein Stadtpark der Bevölkerung Freiräume bieten und zugleich Naturschutzgebiet sein? Lassen sich unter dem steigenden Nutzungsdruck in den dichter werdenden Quartieren ökologisch wertvolle Standorte erhalten? Nicht abgetrennt und eingezäunt, sondern in die Nutzflächen übergehend? Im Basler ­Erlenmattpark zeigt der Landschaftsarchitekt und Stadtplaner Raymond Vogel, dass es geht und wie städtische Freiräume künftig funktionieren könnten – nicht als ­entleerte Designikonen, sondern als ökologisch, sozial und historisch gedachte, ganzheitlich geplante Lebensräume.

Die Form folgt der Funktion! Ornament ist Verbrechen! Weniger ist mehr! Die Moderne hatte noch Rezepte. In der Architektur stellten Postmoderne und Dekonstruktivismus die starren Dogmen infrage. Robert Venturis «Komplexität und Widerspruch in der Architektur» ­machte Furore. Ausdrücklich wandte sich Venturi gegen Mies van der Rohes «less is more» und plädierte für Mehrschichtigkeit. Er zitierte den Literaturwissenschaftler Cleanth Brooks (1906–1994) und sagte mit ihm: «Wir sind gefangen in der übermächtigen Tradition des ‹Entweder-oder› und entbehren der geistigen Beweglichkeit [...], welche es uns erlauben würde, den feineren Unterscheidungen und den subtileren Möglichkeiten nachzugehen, die uns die Tradition des ‹Sowohl-als-auch› aufschliesst.»[1] Ákos Moravánszky bezeichnet diese Aussage als Kern von Venturis Theorie. Er sagt: «Eine both-and-(sowohl-als auch)-Attitüde soll laut Venturi die Entweder-oder-Ästhetik des Funktionalismus ersetzen, um eine reichere, interessantere und damit populärere Architektur zu schaffen, wo Mies van der Rohes Diktum «less is more» nicht mehr akzeptiert werden muss.»[2]

Sowohl-als-auch

Weniger ist also wieder weniger, und mehr ist wieder mehr – wenigstens in der Architektur. In der Landschaftsarchitektur dagegen setzen noch immer zu viele Projekte auf Ent- leerung und Reduktion. Sie wiederholen damit ein Rezept, das in der Architektur seit vierzig Jahren infrage gestellt ist. Die landschaftsarchitektonischen Projekte, die nach dieser ­simplizistischen Vorstellung realisiert wurden, sehen zwar auf den Plänen gut aus und gewinnen in den Wettbewerben, aber beim Publikum fallen sie durch. Sie stehen leer und ­werden schon nach wenigen Jahren umgebaut und den real vorhandenen Bedürfnissen angepasst. Glücklicherweise haben sich in den letzten Jahren auch andere Auffassungen durchgesetzt, wie etwa bei der Parkanlage Brünnengut in Bern (vgl. TEC21 11/2011), beim Brixpark in Berlin, beim Landschaftspark Duisburg-Nord oder beim Hyde Park in London. Es sind Projekte einer höheren Komplexität, nicht mehr dem Entweder-oder, sondern dem ­Sowohl-als-auch verpflichtet. Es gelingt in ihnen, scheinbar unvereinbare Anforderungen an einen Ort zu einer Synthese zu führen. Vor dem Hintergrund zunehmender baulicher ­Verdichtung und erhöhter Ansprüche an die Ökologie sind solche Ansätze von erheblicher Bedeutung.

Sukzessionen

Der Erlenmattpark in Basel ist das vorläufig letzte Glied in einer Kette von Veränderungsprozessen an diesem Ort. Ursprünglich mäandrierte hier der Rhein und schuf kontinuierlich neue Schotterbänke. Wärmeliebende Tiere und Pionierpflanzen nahmen sie in Besitz, bis die natürliche Sukzession sie mit Büschen und Bäumen besetzte. Ende des 19. und im 20. Jahrhundert wurde der Rhein reguliert, das angrenzende Land beackert. Ab 1855 kam die Bahn und mit ihr die Stadt, bis 1998 war die Erlenmatt ein Güterbahnhof der Deutschen Bahn. Solche Bahnareale sind oft wertvolle Sekundärbiotope, in denen sich die sandigen Magerrasen und offenen Schotterfluren wieder finden, die in den begradigten Gewässern fehlen. Hier finden sich Ruten-Knorpelsalat und Pfeilblättriges Schlangenmaul, Weinhähnchen und Mauereidechse (vgl. Kasten). 420 Arten wurden in der Erlenmatt nachgewiesen, darunter auch 73, die auf der Roten Liste des Schweizer Mittellands stehen.[3] Heute könnte man den Erlenmattpark als Tertiärbiotop bezeichnen, ein menschgemachter Ersatz für das Sekundärbiotop Bahngelände. Denn der ausserordentliche Artenreichtum und der Schutzstatus vieler Tiere und Pflanzen haben dazu geführt, dass hier das Prinzip des Sowohl-als-auch fruchtbar gemacht wurde.

Umformungsprozess

Der 5.7 Hektaren grosse Erlenmattpark ist 2001 aus einem Wettbewerb hervorgegangen. Das Gelände bildet den Kern der Aussenräume eines rund zwanzig Hektaren grossen ­Entwicklungsgebiets mit Wohn- und Bürobauten. Der zentrale Park ist in vier Zonen gegliedert, die von Süden nach Norden an Nutzungsintensität ab- und an ökologischem Wert ­zunehmen. Im bereits fertiggestellten südlichen Teil dominiert die menschliche Nutzung; er heisst «Menschenmitte». Im noch zu realisierenden nördlichen Teil wird dem Natur-schutz der Vorrang gegeben; er wird «Florenarena» heissen. Dazwischen bilden «Kissenhain» und «Träumerholz» Übergangszonen, in denen sich menschliche Nutzung und ­Naturschutz überlagern. Bis 2023 sollen alle Bauabschnitte realisiert sein. Der Umformungsprozess zu einem Stadtquartier hat begonnen und wird die nächsten Jahrzehnte weiter fortschreiten.

Genius loci

1728 schrieb Alexander Pope: «Wer einen Garten anlegt, muss zuallererst auf eines achten: den Genius Loci.»[4] Den Geist des Orts zum Ausgangspunkt aller Überlegungen zu machen, um Vorgefundenes zu verstärken und zu überhöhen, das war neu. Pope war ein Zeitgenosse von Lancelot «Capability» Brown, dem Landschaftsarchitekten, der seinen Spitznamen seiner Fähigkeit verdankt, die Möglichkeiten eines vorgefundenen Orts am besten zu erkennen und zu entwickeln. Die Website von Raymond Vogel heisst www.capability.ch, was man ohne Hintergrundwissen als anmassend empfinden kann. Aber Vogel vergleicht sich nicht mit Capability Brown, sondern hat sich dessen Vorgehen zum Vorbild genommen, die Möglichkeiten eines Orts bestmöglich zu nutzen. Der Geist des Orts leistet viel für den Entwurf des Erlenmattparks. Aus der Analogie zu Eisschollen, die auf einem Fluss treiben, ist das Konzept des ganzen Stadtquartiers entstanden, das frei treibende Schollen von Baublöcken und Grünflächen aneinanderschiebt. Der Güterbahnhof mit seiner «billigen» und rüden Materialität wurde zur Inspiration für das, was schön sein könnte in diesem Stadtteil. Das Sekundärbiotop des Orts wird zum Leitbild für die Ökologie des neuen Parks. Der ­Genius Loci bestimmt seine Gestalt.

Im Verlauf der Baumassnahmen wurden die für ein Bahnhofareal typischen grossformatigen Betonplatten ausgebaut und zwischengelagert. Dasselbe geschah mit dem vorhandenen Boden­substrat. Diese physische Umschichtung und Wiederverwendung von Material diente in ­beiden Fällen dem Erhalt von Information. Im Falle der Betonplatten wurde die Erinnerung an den früheren Ortscharakter konserviert. Es sind Spolien, d. h. bauliche Elemente, die nicht nur wegen ihres materiellen, sondern auch wegen ihres Erinnerungswerts erneut in ­einem Bauwerk verwendet werden.[5] Die Platten bilden heute den Bodenbelag des neuen Platzes; ihre Bemalung, die durch die zufällige Verlegung keinen Sinn mehr ergibt, durchbricht die Regelhaftigkeit des Musters und wirkt durch diese formale Freiheit aktuell und anregend. Und doch schwingt der industrielle Charakter mit. Für manche Besucher mag er zu rüde sein. Doch vermutlich kommt das dem Gestalter entgegen. Ist das nun ein Platz oder ein Lastwagenparkplatz? Vogel sucht die Nähe zum ehemaligen Güterbahnhof und nähert sich damit der Strategie von Lancelot Brown an.[6]

Durch die Wiederverwendung des vor Ort vorhandenen Oberbodens wurden Saatgut und Sporen darin erhalten. So konnten die Pflanzen, die sich hier auf dem Sekundärbiotop angesiedelt hatten, ihre genetische Information erhalten und weitergeben. Dieser Erhalt von sogenannten regionalen Ökotypen ist für die Biodiversität eines Orts von entscheidender Bedeutung. Die gleiche Massnahme dient also auf zwei ganz unterschiedlichen Ebenen dem Erhalt von Erinnerung und wird so zu einem Paradebeispiel für eine ganzheitliche Sicht und Handlungsweise.

Beziehung – nicht nur Flirt

Unlängst hat das Bundesamt für Raumentwicklung die Möglichkeit skizziert, dass in der Schweiz zehn Millionen Menschen leben könnten. Doch schon heute kommen wir nicht umhin, den Lebensraum mit Tieren und Pflanzen zu teilen und die Anliegen von Flora und Fauna denen der Menschen gleichzustellen und nicht unterzuordnen. Die Integration von ökologischen Anliegen muss selbstverständlich werden und mehr als modische Attitüde sein. Vittorio Magnago Lampugnani konstatierte 1995 eine Serie von Flirts der Architektur mit verschiedenen Disziplinen. So habe sie sich am Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Technik verbunden, in den 1960er-Jahren mit der Soziologie, in den 1970ern mit der Semiotik und in den 1980ern mit der Geschichte. In den 1990ern habe sie dann ihren bis heute anhaltenden Flirt mit der Ökologie begonnen. Mittlerweile hat sich auch die Landschaftsarchitektur in diesen Flirt verstricken lassen. Für beide Sparten gilt Lampugnanis Wort: «Jetzt scheint die Ökologie an der Reihe zu sein. Es würde uns schmerzen, eine weitere oberflächliche und flüchtige Liebelei miterleben zu müssen. Denn wir glauben, dass das Engagement für den sparsamen Umgang mit Ressourcen und für den Schutz unserer Umwelt vor Verseuchung und Zerstörung eine Verpflichtung ist, der sich niemand entziehen kann. Und wir glauben, dass die Entwerfer die ersten sind, die sich diese Verpflichtung zu eigen machen müssen.»[7]


Anmerkungen:
[01] Robert Venturi: Komplexität und Widerspruch in der Architektur. Braunschweig 1978, S. 37. Das Original erschien 1966 unter dem Titel Complexity and Contradiction in Architecture.
[02] Ákos Moravánszky: Architekturtheorie im 20. Jahrhundert. Wien/New York 2003, S. 531.
[03] Michèle Büttner: «Zwischen Schiene und Schotter», in TEC21 3-4/2003, S. 24.
[04] Brief an die Prinzessin von Wales, zit. nach Penelope Hobhouse: Der Garten. London 2002, S. 206.
[05] Vgl. dazu Hans-Rudolf Meier: «Vom Siegeszeichen zum Lüftungsschacht. Spolien als Erinnerungsträger in der Architektur» in: ders. u. a.: Bauten und Orte als Träger von Erinnerung. Zürich 2000, S. 87 ff.
[06] Sir William Chambers, Architekt und Gartenentwerfer, kritisierte 1772, Browns Parkgestaltungen «differ very little from common fields, so closely is nature copied in most of them», zit. nach: Patrick Taylor: The Oxford Companion to the Garden. Oxford 2006, S. 77.
[07] Vittorio Magnano Lampugnani: Die Modernität des Dauerhaften. Essays zu Stadt, Architektur und Design. Berlin 1995, S. 77.

TEC21, Fr., 2013.05.03



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2013|19 Grün in der Dichte

11. März 2011Hansjörg Gadient
TEC21

«Einheimische» Pflanzen?

«Einheimische Pflanzen» ist ein unbrauchbarer Begriff, obwohl er auch in der Fachwelt immer mehr Verbreitung findet. Aber nicht nur der Ausdruck ist fragwürdig, sondern auch das Konzept dahinter, denn damit wird der ganze Reichtum der Gartenkultur negiert.

«Einheimische Pflanzen» ist ein unbrauchbarer Begriff, obwohl er auch in der Fachwelt immer mehr Verbreitung findet. Aber nicht nur der Ausdruck ist fragwürdig, sondern auch das Konzept dahinter, denn damit wird der ganze Reichtum der Gartenkultur negiert.

Polentamais stammt nicht aus dem Tessin, sondern aus Amerika, und die ersten Röstikartoffeln wuchsen nicht im Emmental, sondern auf einer peruanischen Hochebene. Nicht einmal das Rüebli stammt aus dem Aargau, sondern aus Afghanistan. Würden wir auf die Vielfalt unserer Lebensmittel verzichten wollen, weil sie aus eingeführten Pflanzen stammen? Es bliebe eine trostlos schmale Auswahl an Getreide und Gemüse übrig. Ebenso eintönig und langweilig sähen unsere Gärten und Parks aus, wenn wir auf eingeführte und züchterisch veränderte Pflanzen verzichten würden. Trotzdem taucht der Begriff in Wettbewerbsausschreibungen[1] oder Bauprogrammen immer häufiger auf und formuliert einen Anspruch, den niemand einlösen kann. Wenn stattdessen «standortgerecht» benutzt und im weitesten Sinn ernst genommen wird, wird er zum Mittel, um nicht nur ökologische, sondern auch soziale und wirtschaftliche Faktoren in der Pflanzenverwendung zu berücksichtigen und zu einer ganzheitlicheren Sicht des Themas zu gelangen.

Pflanzen wandern, z.B. die Waldföhre

Alle Pflanzen haben einen «Migrationshintergrund». Sie wandern mittels Ablegern, Ausläufern und Samen und erreichen dabei erstaunliche Geschwindigkeiten. Die schnellsten sind Pioniere wie die Waldföhre (Pinus sylvatica), deren Bestände Wandergeschwindigkeiten von 1.5 bis 2 km pro Jahr erreichen.[2] Pflanzen sind seit Beginn des Ackerbaus auch mit dem Menschen gewandert. Eine Sippe, die weiterzog, nahm ihr Saatgut und ihre Pfropfhölzer mit, Samen von Getreidepflanzen, die grössere Körner als die Wildform hervorbrachten, und Zweige von veredelten Obstsorten, die am neuen Siedlungsort auf wilde Unterlagen gepfropft wurden. Ausser mit wandernden Volksstämmen verbreiteten sich Pflanzen auch in den Satteltaschen von Kriegshelden. So brachte Alexander der Grosse die Baumwolle aus Kleinasien nach Griechenland. Die Römer verbreiteten nördlich der Alpen nicht nur ihre Sprache, sondern auch Süsskirsche, Buchs und Wein. Die Kreuzritter zogen ins Morgenland und brachten von dort die Linse und die Quitte nach Hause. Mit der Ausbreitung des Islam gelangten Zitronen, Orangen, Flieder und Tulpe nach Europa. Und schliesslich brachten Menschen auch aus Freude an fremden Gewächsen Samen mit nach Hause und säten sie in Gärten und Parks.

Pflanzen auf hoher See, z.B. der Tee

Das älteste Bildzeugnis für einen Pflanzentransport ist ein 3500 Jahre altes Relief im Tempel der ägyptischen Königin Hatschepsut. Es zeigt 31 Myrrhebäume, die per Schiff aus dem heutigen Somalia[3] nach Ägypten reisten. 1494 landete Christoph Kolumbus in Amerika und brachte auf der Rückreise die ersten lebenden Pflanzen auf den alten Kontinent. England, Frankreich, Spanien und Portugal züchteten in ihren Kolonien verschiedene Nutzpflanzen wie Hanf, Zucker, Kaffee, Tee, Gummi und Chinarinde und versuchten immer wieder, deren Setzlinge per Schiff von einer Kolonie in die andere zu bringen, um dort den Anbau auszuweiten. Auf den oft mehr als sechs Monate langen Reisen gingen die Setzlinge jedoch wegen Wassermangels, durch Rattenverbiss oder wegen der Salzgischt ein. 1830 machte der Londoner Arzt Nathaniel Ward eine Erfindung, die den Pflanzentransport revolutionierte, den wardschen Kasten (Abb. 1). In diesen verglasten und luftdicht versiegelten Behältern überlebten auch empfindliche Setzlinge Schiffsreisen ohne jegliche Pflege. Wards Erfindung[4] machte exotische Zierpflanzen für jedermann erschwinglich und revolutionierte alle auf Pflanzen basierenden Wirtschaftszweige. Bisher gab es beispielsweise Tee (Camellia sinensis) in Indien nur in ganz kleinen Vorkommen, die kommerziell unbedeutend waren. 1848 erreichte die erste Sendung Teepflanzen das Land. Der schottische Botaniker Robert Fortune hatte sie in China gesammelt und in wardschen Kästen nach Indien verschifft. So wurde England von chinesischen Exporten unabhängig, und der Tee, der heute aus Indien zu uns gelangt, stammt praktisch ausschliesslich von diesen Pflanzen ab.

Pflanzen mit Gartenwert, z. B. der Roseneibisch

Warum setzen wir eingeführte Pflanzen in unsere Gärten? Weil sie etwas bieten, was es bei uns in der Natur nicht gibt: Sie haben «Gartenwert». Der Roseneibisch (Hibiscus syriacus) kam vor 1600, also lange vor dem wardschen Kasten, nach Europa (Abb. 3). Er blüht im Juli und August in auffallenden, grossen, roten, weissen oder violetten Blüten. Fast alle in Mitteleuropa beheimateten Sträucher blühen zwischen Anfang April und Ende Juni, und mit Ausnahme der Heckenrose (Rosa canina) reicht die Farbe ihrer Blüten von Reinweiss über Crème bis Hellgelb. Ein Strauch also, der spät im Jahr noch mit roten oder lila Blüten aufwarten kann, hat einen besonderen Gartenwert – bestimmendes Kriterium für die Aufnahme einer Pflanze in eine Gartengestaltung, seit es Ziergärten gibt. Drei Arten von Pflanzen sind aussergewöhnlich genug, um wegen ihrer Besonderheit im Garten gepflegt zu werden: 1. eingeführte Pflanzen, 2. Mutationen von einheimischen Pflanzen und 3. züchterisch veränderte einheimische oder eingeführte Pflanzen.

Mutationen, z. B. die Säuleneibe

Die eingeführten Pflanzen wurden erst nach und nach erschwinglich. Vorher suchte man in der Natur nach interessanten Abweichungen für den Garten. Dazu gehörten Mutationen wie zum Beispiel die Rotlaubigkeit, die es bei vielen unserer heimischen Gehölze, so bei Buche, Ahorn, Birke, Hasel, Holunder, Berberitze und vielen anderen, gibt. Mutationen haben in der Regel aus ökologischer Sicht keine andere Wirkung auf ihr Umfeld als die Normalform. Sie wachsen aber meist langsamer, sind deshalb gegenüber der grünlaubigen Form im direkten Konkurrenzkampf unterlegen und darum selten. Auch die Säulenform ist eine Mutation, die es bei vielen Gehölzen gibt. Eine besonders spektakuläre ist die der Eibe (Taxus baccata «Fastigiata», Abb. 2). 1780 fand man in der irischen Grafschaft Fermanagh eine wilde Eibe, deren Zweige eng anliegend nach oben strebten und so dem Baum eine sehr schlanke und grafisch reizvolle Form gaben. Die Pflanze wurde über Stecklinge vegetativ vermehrt und trat wegen ihrer faszinierenden grafischen Erscheinung als «Irish Yew» einen Siegeszug um die halbe Welt an. Nach dem strengen Kriterium «einheimisch» dürfte sie nirgends mehr verwendet werden, obschon es den Vögeln ziemlich egal ist, auf welcher Form von Eibe ihre Beeren wachsen.

Züchtungen, z.B. die Aurikel

Die Beschränkung auf «einheimische» Pflanzen schliesst auch die Verwendung züchterisch veränderter, ursprünglich einheimischer Arten aus und negiert damit oft hunderte Jahre Gartenkultur. Viele bekannte Arten wie zum Beispiel das Veilchen, die Rose oder die Iris mutieren gern und lassen sich leicht kreuzen und vermehren. Die Alpenaurikel (Primula auricula, Abb. 8) gehörte einmal zu den bekanntesten Gartenblumen in Europa. Das Pflänzchen, das in der Natur eine unscheinbare, gelbe Blüte zeigt, lässt sich zu den unglaublichsten Farben und Formvarianten heranzüchten (Abb. 7). Bauern im Tirol hatten das schon im 16. Jahrhundert entdeckt und genutzt. Im Biedermeier erreichte der Aurikel-Boom bei den Blumisten[5] seinen Höhepunkt mit Katalogen, die über 1000 Sorten nannten, gefüllte und ungefüllte, in allen Farben. Mitte des 19. Jahrhunderts erlosch die Mode, aber noch heute werden die spektakulärsten Varianten auf Züchtershows gezeigt.[6]

Zurück zur Natur, z.B. die Wiesenmargerite

Der wichtigste Grund für die Verwendung einheimischer Pflanzen ist ihre Funktion als Futter für die einheimischen Tiere. Sie sind darauf angewiesen, um zu überleben, vor allem die Spezialisten unter ihnen. Deshalb steht es auch ausser Frage, dass in der freien Natur Anpflanzungen ausschliesslich mit einheimischen Arten erfolgen sollen – und müssen, denn das Ausbringen anderer Arten ist dort gesetzlich nicht zulässig.[7] Warum aber in Gärten und Parks nur Einheimisches verwendet werden soll, ist schwer zu verstehen. Denn hier geht es nicht nur um ökologische Anliegen, sondern auch um soziale. Es geht um den Erhalt der Gartenkultur und um die Freude an den aussergewöhnlichen Gewächsen, die seit Jahrhunderten im geschützten Raum der Gartenanlagen gehegt wurden. Will man den Gärtnerinnen und Gärtnern wirklich die Lust an der gezüchteten Rose, an der Korkenzieherhasel und am aus dem nahen Osten stammenden Flieder verbieten, weil sie allesamt nicht «einheimisch» sind?[8] Wann immer viel gebaut wird, blüht die Wiesenmargerite auf. Nicht weil sie in verdichteten Siedlungsgebieten besonders gut gedeihen würde – sie liebt volle Sonne –, sondern weil als Reaktion auf die überhitzte Bautätigkeit allerorten der Ruf nach Magerwiesen ertönt. Man versucht den Verlust an wirklicher Naturnähe durch Bilder zu ersetzen, die Naturnähe suggerieren, und sät Magerwiesen in die Vorgärten. Die einem breiten Publikum als «Blumenwiese » angepriesenen Saatmischungen zeigen unfehlbar immer ein Bild mit einer Wiesenmargerite als Vordergrund. Auffällig ist, dass die heutige Tendenz zu einheimischen Pflanzen eine Parallele zur Schweizer Naturgartenbewegung der 1970er-Jahre aufweist: Beiden gemein ist der Hang zu gesicherten Werten, dem Bekannten und Vertrauten in Zeiten gesellschaftlicher Veränderungen.1973 erscheint in der Schweiz «Alle Jahre wieder saust der Presslufthammer nieder», die bekannte Serie von Zeichnungen, mit denen Jörg Müller zeigte, wie sich eine idyllische Agrarlandschaft in eine übel verbaute Agglomerationsszenerie verwandelt. In dieser Zeit gewinnen Umweltthemen eine hohe Aufmerksamkeit, und die Naturgartenbewegung findet ein enormes Echo. Zu Koryphäen dieses Trends werden der Holländer Luis le Roy und der Solothurner Urs Schwarz, deren Publikationen weite Verbreitung fanden. Vor allem Schwarz war in seiner Forderung nach der ausschliesslichen Verwendung von einheimischen Pflanzen rigoros.

Die «heimische» Pflanze, z.B. die Stileiche (Quercus robur)

Was in England «English Oak» heisst, ist in Deutschland die «Deutsche Eiche», nämlich die Stileiche, Quercus robur. Dass Pflanzenverwendung politisch instrumentalisiert werden kann, ist überraschend, aber nicht neu. Besonders der Begriff «heimische Pflanzen» und die Forderung danach haben einen unangenehmen geschichtlichen Beigeschmack. Im Dritten Reich waren rassische Reinheit und die Forderung nach «heimischen» Pflanzen Blüten aus derselben Wurzel. Joachim Wolschke-Bulmahn beschreibt in einem lesenswerten Aufsatz die Zusammenhänge zwischen Nazi-Ideologie und Gartengestaltung sehr eindrücklich, unter anderem auch die Forderung, nur heimische Pflanzen zu verwenden. Er schreibt: Joseph Pertl (1899 –1989), von 1935 bis 1945 Stadtgartendirektor von Berlin (…), diffamierte die Ver- wendung ausländischer Pflanzen in der Gartenarchitektur als quasi »entartete» Gartenkunst. Er schrieb 1939: «Die kulturellen Schaumschläger waren es, die das Volk einmal anlernten, nur noch nach exotischen Reizen zu jagen und die heimischen und bodenständigen und daher wirklichen Werte gering schätzend beiseite zu schieben. Vom Exotischen bis zum gänzlich Abnormen ist aber nur noch ein ganz kleiner Schritt, und tatsächlich sind wir auch durch den Exotenfimmel in eine wahre Abnormitätspsychose verfallen, von der wir noch lange nicht geheilt sind.»[9]

Einheimisch, seit wann? Z.B. die Sonnenblume

Pflanzen haben sich verbreitet und wurden transportiert; die Definition, was eine einheimische Pflanze ist und was nicht, erfordert also eine zeitliche Grenzziehung. Auch der Mädchenhaarbaum (Ginkgo biloba) war hierzulande einmal einheimisch, es ist aber schon lange her, etwa 150 Millionen Jahre. Schönste Versteinerungen von Ginkgoblättern finden sich zum Beispiel im Solnhofer Plattenkalk. Ist diese Grenzziehung absurder als andere? Vielleicht. Beliebte andere Zeitschwellen sind das Ende der letzten Eiszeit vor etwa 12 000 Jahren, als die Flora in Mitteleuropa mit noch etwa 1000 Arten übersichtlich war und die Rotbuche etwa nur in Habitaten südlich der Alpen vorkam. Näher an unserer Zeit liegt die Invasion der Römer, die für die Verbreitung von vielen Pflanzenarten sorgten, die wir heute als einheimisch ansehen. Nach dieser Logik wären weder Buchs noch Wein oder Süsskirsche einheimisch. Die Entdeckung Amerikas 1492 ist ein weiteres historisches Ereignis, das oft als Zeitschwelle dient, d.h., dass alles, was später eingeführt wurde, nicht einheimisch ist. Als «Neophyten» bezeichnet die schweizerische Kommission für die Erhaltung von Wildpflanzen Arten, die nach 1500 eingeführt wurden. Aus einem korrekten einheimischen Garten entfernt werden müsste dann auch die Sonnenblume (Helianthus annus), die 1596 aus Amerika eingeführt wurde.[10] Weitere wichtige Ereignisse wären die Erfindung des wardschen Kastens (1830) oder die Öffnung Chinas (1856), die neue Schübe von Pflanzeneinführungen brachten. Absurd sind alle diese Einteilungen, denn man weiss nur von den wenigsten Pflanzen zuverlässig, wann und woher sie eingeführt wurden oder eingewandert sind.

Wo einheimisch? Z.B. die Heckenrose

Arbiträr bis absurd ist auch der Versuch, eine räumliche Eingrenzung für den Begriff «einheimisch » zu finden. Einige Gutachten fordern deshalb die Verwendung von sogenannten regionalen Ökotypen. Der Begriff ist ungenau definiert, meint aber im Grunde, dass Pflanzen verwendet werden, deren Saatgut aus regionalen Beständen stammt. Das lässt sich meist aber nicht mehr herleiten, weil beispielsweise hochstämmige Bäume, die gross genug sind, um als Strassenbaum Verwendung zu finden, oft schon durch mindestens drei spezialisierte Baumschulen in mehreren Ländern gewandert sind. Oder man müsste jeden einzelnen Baum gentechnisch auf seine Verwandtschaft mit regionalen und überregionalen Beständen vergleichen. Beides ist in der Realität völlig unpraktikabel. In Deutschland versucht man das Problem gesetzlich zu lösen: Das am 29. Juli 2009 revidierte Bundesnaturschutzgesetz fordert, dass ab März 2020 nur noch Pflanzen in der freien Natur ausgebracht werden dürfen, deren genetischer Ursprung in dem betreffenden Herkunftsgebiet liegt. Dafür wird das Land nun in solche Herkunftsgebiete aufgeteilt. Genetische Untersuchungen an verschiedenen Arten zeigten, dass Herkunftsgebiet und genetische Identität bei weitem nicht immer übereinstimmen. Populationen der Hundsrose (Rosa canina) in Brandenburg zeigten etwa, dass einzelne Pflanzen unter sich weniger eng verwandt waren als mit Individuen aus Vergleichspopulationen in der Türkei, Spanien, Algerien und Griechenland. Beim roten Hartriegel (Cornus sanguinea) zeigten solche Untersuchungen, dass die 637 untersuchten Proben aus ganz Europa genetisch so ähnlich waren, dass sie kaum durch die natürliche Verbreitung einer nacheiszeitlichen Wanderung entstanden sein konnten.[11] Die Vermutung liegt nahe, dass die Pflanzen ihre Verbreitung dem Menschen verdanken.

Spezialisten, z.B. die Herbstanemone

Wir brauchen eingeführte Pflanzen nicht nur, weil sie Träger einer langen Gartentradition sind, sondern auch, weil es viele Aufgaben gibt, besonders im urbanen Umfeld, die mit einheimischen Pflanzen nicht zu lösen sind. Ein Beispiel sind die Strassenbäume. Mit dem Effekt der globalen Erwärmung können immer weniger einheimische Bäume in unseren ohnehin schon heissen und trockenen Städten gedeihen. Deshalb braucht es eingeführte Gehölze, die mit dem Hitzestress fertig werden. Ein anderes Beispiel sind schwierige Situationen wie Hauseingänge auf der Nordseite von hohen Gebäuden. Das ist der Ort der Aussenanlage, der am meisten genutzt wird und wo Blumenschmuck meist erwünscht wäre. Eher trockene Standorte im tiefen Schatten sind bei uns in der Natur aber selten, und aus dem heimischen Artenspektrum gibt es kaum attraktiv Blühendes dafür, mit Ausnahme des Waldgeissbartes (Aruncus dioicus). Deshalb muss es erlaubt und möglich sein, mit eingeführten Pflanzen zu arbeiten. Dafür bietet sich der Mittelmeerschneeball (Viburnum tinus) an (Abb. 6), der immergrün ist und vom Spätwinter bis in den Frühling mit duftenden zartrosa Blütendolden aufwartet. Ihm könnten im Sommer die Blüten von Waldgeissbart und Hortensie (Hydrangea) und im September jene der Herbstanemonen (Anemone hupehensis) folgen (Abb. 4). Diese anspruchslosen Stauden hat der englische Botaniker Robert Fortune 1844 in China gefunden und nach England gebracht.[12] Ihr überragender Gartenwert hat sie zu einer der beliebtesten Neueinführungen des 19. Jahrhunderts gemacht. Mit der geschilderten Bepflanzung hätten die Bewohner und Bewohnerinnen während der ganzen Vegetationsperiode einen sich immer wieder verändernden Gartenschmuck.

Standortgerecht statt einheimisch, z.B. Forsythie vs. Schlehe

Statt des Begriffs «einheimisch» sollte der Begriff «standortgerecht» Verwendung finden. Dafür muss er über seine konventionelle Verwendung hinaus erweitert werden. Heute meint er die Berücksichtigung von pH-Wert, Feuchtigkeit des Bodens und der Besonnung des Ortes. Eigentlich gehören aber auch weitere ökologische sowie ökonomische und soziale Aspekte dazu. Wer die einheimischen Singvögel fördern will, wird eine Eberesche (Sorbus aucuparia) pflanzen und dabei bedenken, dass ihre Blüten stinken und dass der Abwart laubende Pflanzen hasst … Auf die invasiven Neophyten[13] wird man verzichten und auf einem Kinderspielplatz keinen Seidelbast (Daphne mezereum)[14] pflanzen, auch wenn er noch so hübsch blüht und duftet. Wohl ist es ökologisch verdienstvoll, in einer Siedlung eine Wildhecke aus Schlehen (Prunus spinosa) anzulegen, aber man tut gut daran, den Standort mit Bedacht zu wählen. Schlehen sind eigenwillige Gesellen, und manche Mieterschaft wird sie am falschen Ort als Gestrüpp empfinden und ihre Ablehnung durch «Littering» kundtun. Was ökologisch wünschbar ist, kann sozial und wirtschaftlich falsch, also nicht standortgerecht sein. In der freien Natur dagegen kann man Schlehen an vielen Orten pflanzen – zumal sie eines der wertvollsten Vogelschutz- und Nährgehölze sind, die es hierzulande gibt. Das Goldglöckchen, besser bekannt unter seinem Namen Forsythie (Forsythia), der wohl verbreitetste Zierstrauch, scheidet die Geister wie kaum ein anderer.[15] Wer die Forsythie liebt, beschreibt die Überfülle von gelben Blüten als «goldgelb» und rühmt ihre faszinierende Herbstfärbung. Wer sie hasst, findet das gelb ordinär, weil knallig, und verteufelt die Blüten, da sie unserer einheimischen Fauna nichts zu bieten haben. In der freien Natur ist sie falsch platziert. «Standortgerecht» hingegen ist der Strauch als grosse frei wachsende Gruppe in einem städtischen Park, wo er ungehemmt die Eleganz seiner zweijährigen Triebe und deren feurige Herbstfärbung zeigen darf – und vor allem natürlich, wo er als goldgelbe Blütenwolke den Frühling ankündigt.

TEC21, Fr., 2011.03.11



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TEC21 2011|11 Sämling und Steckling

11. März 2011Hansjörg Gadient
TEC21

Berner Rosen

Die Parkanlage Brünnengut in Bern basiert auf dem Konzept einer robusten äusseren Gestalt, die einer differenzierten Bespielung im «Innern» Raum gibt. Die Landschaftsarchitektengemeinschaft David Bosshard, Bern, und Andreas Tremp, Zürich, verbindet ökologische Verträglichkeit mit sozialer Toleranz.

Die Parkanlage Brünnengut in Bern basiert auf dem Konzept einer robusten äusseren Gestalt, die einer differenzierten Bespielung im «Innern» Raum gibt. Die Landschaftsarchitektengemeinschaft David Bosshard, Bern, und Andreas Tremp, Zürich, verbindet ökologische Verträglichkeit mit sozialer Toleranz.

Bern hat eine institutionalisierte Form der Bürgerbeteiligung mit Mitwirkungsrechten, die im Baugesetz geregelt sind. In Brünnen ist dies die Quartierkommission Bümpliz/Bethlehem (QBB).[1] 27 Vertreterinnen und Vertreter aus dem Quartier treffen sich monatlich und äussern sich regelmässig auch zu Planungsvorhaben. Die Stadt Bern konsultiert die QBB, und aus der Zusammenarbeit erwuchs bereits 1995 der Wunsch, den erforderlichen Grünflächenanteil des neuen Quartiers als einen zentralen Park zu planen. Die 55 000 m² grosse Fläche ging für 6 Mio. Fr. in den Besitz der Stadt Bern über – ein niedriger Preis, mit dem ein Teil des Planungsgewinnes der Landeigentümer abgeschöpft wurde. Das Ergebnis einer breiten Vernehmlassung bei der Bevölkerung und bei interessierten und betroffenen Gruppen wurde im Bericht der Quartierkommission zur Planung dieses Parks zusammengefasst. Erst zehn Jahre später allerdings wurde der internationale landschaftsplanerische Ideenwettbewerb ausgeschrieben. Eine Überprüfung des Berichtes zeigte, dass seine Forderungen immer noch aktuell waren. Sie fanden als verbindliche Punkte Eingang ins Wettbewerbsprogramm und der Vertreter der Quartierkommission, Hans Stucki, war Mitglied der Jury. So wurde gesichert, dass die Forderungen aus der Bevölkerung auch bei der Bewertung der Arbeiten Gehör fand.

Widersprüchliche Vorstellungen – realisierte Kompromisse

Natürlich habe es «widerläufige» Forderungen der verschiedenen Interessengruppen gegeben, so Stucki, aber man habe sich in der Kommission doch auf Kompromisse einigen können. So wollte beispielsweise der Fussballclub ursprünglich einen künstlichen Rasen, die Gegenseite am liebsten gar kein Spielfeld. Der Kompromiss, ein konventioneller Rasen, wurde ins Programm aufgenommen und schliesslich auch gebaut. Ohne Abstriche haben die Forderungen des Quartiers Eingang in den erstplatzierten Entwurf der Landschaftsarchitekten David Bosshard und Andreas Tremp gefunden.[2] Unter dem poetischen Namen «Rose de Berne» schlugen die beiden ein auf den ersten Blick einfaches, robustes und leicht verständliches Konzept vor, das soziale, ökonomische und ökologische Forderungen zu einer zeitgemässen und starken Synthese führt. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass sie nicht nur die Forderungen erfüllen, sondern eine räumlich und gestalterisch überzeugende Antwort gefunden haben auf die Frage, wie heute ein Stadtpark aussehen könnte.[3] Die «Rose de Berne» oder «Berner Rose» ist eine alte Sorte, ein dunkelroter Tafelapfel, dessen Fleisch «grünlichweiss, ziemlich feinzellig, saftig, mit typisch würzigem Aroma und von erfrischendem Geschmack» sei.[4] Der Titel des Wettbewerbsbeitrages bezieht sich auf eine der Entwurfsideen, nämlich im Zentrum der Anlage Obstbäume mit alten Sorten anzupflanzen. Als Streuobstwiese umgeben sie locker die bestehenden Altbauten, die in den Park integriert sind und heute das Herz der Anlage bilden. Den äusseren Rahmen bildet ein U-förmiger, mehrreihiger Kordon aus aufgeasteten Sommerlinden auf einer chaussierten Fläche (Abb. 1). Diese starke Geste fasst alle Elemente des Entwurfs räumlich zusammen und betont dessen Typologie als Park. Das unterscheidet die Parkanlage Brünnengut wohltuend von anderen neuen Parkanlagen, die an einer typologisch unklaren Haltung leiden und oft mehr Platz als Park sind, mit entsprechend eingeschränkter Nutzbarkeit.[5]

Lichtung für Aktivität, Panorama für Beschaulichkeit

Die Nordostecke ist mit einer Rasenzunge besetzt, deren Baumrand sie von der Umgebung abschirmt und zu einer intimen Lichtung macht. Auf dieser ebenen Fläche sind Feste und Veranstaltungen möglich. So gastieren hier der Kinderzirkus Wunderplunder und das Bern- West Fest. Die Nordseite des Parks bleibt offen und erlaubt den Blick auf die Landschaft mit ihren heterogenen Elementen aus Land- und Forstwirtschaft und den Wohnbauten aus den 1960er- und 1970er-Jahren im Vordergrund. Den klaren Raum, den der vorhandene Gehölzrahmen im Osten und das umlaufende Lindenband bilden (Abb. 2, 3), besetzen verschiedene Elemente in freier Anordnung. Im Zentrum liegt ein von Herrenhaus und Pavillon gefasstes, viergeteiltes Buchs- und Rasenparterre, das weniger alt ist, als es aussieht (Abb. 8). Darunter liegt die Autobahn A1, nach deren Bau diese Fläche neu angelegt wurde. Hier soll eine zusammen mit Pro Specie Rara geplante Staudenpflanzung das zurzeit noch etwas sterile Bild beleben. Im Herrenhaus wird nach einer Sanierung eine Kinderkrippe einziehen, deren Aussenspielflächen nördlich und westlich angrenzen werden. Auch der zum Herrenhaus gehörige Bauernhof ist erhalten, für seine künftige Nutzung ist noch kein definitiver Entscheid gefallen. Die Pfrundscheune kann man als Veranstaltungsort mieten, genauso wie den Pavillon gegenüber dem Herrenhaus. Eingefasst wird die Bautengruppe von dem beschriebenen Hain aus Hochstamm-Obstbäumen, in dem ausser Äpfeln auch Birnen, Zwetschgen und weitere Früchte in alten Sorten gezogen werden. Sie stehen auf einer Magerwiese, die ein bis zwei Mal pro Jahr geschnitten wird (Abb. 4). Wo Wege erforderlich sind, werden sie in diese Wiese eingemäht. Ein gebautes Hauptwegenetz erschliesst die Elemente des Parks und verbindet die aussen ankommenden Wege und Strassen miteinander.

sen und zwischen ihren Stämmen wunderbare Hallenräume mit einem dunklen, grünen Licht bieten. Schon jetzt ahnt man diese Qualität im Bereich des Kinderspielplatzes, wo die Spielflächen zwischen die fünf Reihen von Linden integriert sind. Auch die Hartriegel- und Buchenhecken der beiden Themengärten werden bald dicht genug sein, um die gewünschte Raumwirkung zu entfalten. Nur die Obstbäume sind noch sehr jung; ihnen wird man mehr Zeit geben müssen, bis sich das leicht nostalgische Bild einer blühenden Obstwiese einstellen wird. Auf jeden Fall arbeitet die Zeit für diesen Entwurf. Die Vielfalt räumlicher Strukturen, die ausschliesslich mit Pflanzen geschaffen wurde, ist faszinierend: die Säulenhalle aus Lindenstämmen, die mit leichten Birkengruppen besetzte Lichtung im Nordostteil (Abb. 5), die Intimität vermittelnden Heckenräume oder der frei fliessende Raum des Obsthains.

Biodiversität

Ein wichtiges Anliegen war auch der ökologische Wert des neuen Parks. Auf verschiedenen Ebenen wurde für eine hohe Biodiversität gesorgt. Bestehende Bäume wie die aus dem 18. Jahrhundert stammenden Linden beim Herrenhaus wurden geschont, sie bieten vielen Tieren eine Nahrungsgrundlage und Nistmöglichkeiten. Ein wichtiger Entscheid war, die Hauptfläche nicht als konventionellen Rasen, sondern als selten gemähte Magerwiese anzulegen. Solche Wiesen weisen eine viel höhere Biodiversität auf und sind sowohl ökologisch als auch ökonomisch im Unterhalt vorteilhafter. Manchmal sind es einzelne Entscheide, die eine grosse Wirkung haben: Die zweihundert neu gepflanzten Linden sind Sämlinge, d. h., sie sind genetisch nicht völlig identisch, wie es sortenrein vermehrte Bäume wären.[7] Wenn dem Planer vor allem am Design-Effekt seines Entwurfes liegt, wird er wegen deren Einheitlichkeit Klone vorziehen, also genetisch und optisch identische Pflanzen. Wenn die Biodiversität ein wichtiges Kriterium ist, dürfen es wie in Brünnen auch leicht verschiedene Sämlinge sein. Und hier wird sichtbar, was einen besonderen Wert des Entwurfs ausmacht: Die gestalterische Geste des Lindenrahmens ist so stark, dass sie leichte Unterschiede der Baumindividuen gut verkraftet. Der Entscheid für eine robuste Form ermöglicht also Toleranz auf der Ebene der Pflanzenwahl.

Nutzungsdruck und Partizipation

Der Park ist für rund 12 000 Menschen im näheren Einzugsgebiet konzipiert, also für die Einwohnerschaft einer Kleinstadt. Das ist trotz seiner Grösse eine nicht zu unterschätzende Zahl, die einen hohen Nutzungsdruck auf die Anlage ausüben wird. Alois Zuber, Gesamtprojektleiter bei der Stadtgärtnerei, wünscht sich, dass hier wirklich eine Oase für die Bewohnerinnen und Bewohner der angrenzenden Quartiere entstehe, ein Ort, an dem Menschen jeden Alters und verschiedenster Herkunft sich gerne begegnen und sich wohl fühlen.[8] Der Entwurf leistet dazu alles, was es braucht. Aber die künftige Attraktivität ist auch vom Nutzungskonzept abhängig. Nicht nur bei der Planung des Parks, sondern auch bei seinem Betrieb sollten die Quartierbewohner deshalb aktiv beteiligt werden. Schon in der Zusammenfassung der Anwohnerwünsche von 1995 hatten sie selbst gefordert, dass der Betrieb des künftigen Parks in der Verantwortung des Quartiers liegen müsse. Der Wunsch konnte realisiert werden. Was einfach klingt, ist aber wegen der insgesamt 18 Interessengruppen, Träger und Behörden, die involviert sind, ziemlich kompliziert. So obliegen beispielsweise allein die Reinigung und Pflege der Anlage drei Trägern: dem Tiefbauamt, der Stadtgärtnerei und dem vom Quartierverein beauftragten und von einem Sozialprojekt bezahlten Pflegeassistenten. An wen wendet sich also eine Anwohnerin, die findet, es werde zu wenig geputzt? Oder an wen wendet sich der Fussballklub, der ein Vereinsfest veranstalten will, wenn er wissen will, was sonst noch an diesem Samstagnachmittag im Park geplant ist? Und wie kann ich absichern, dass für mein Geburtstagspicknick im August genau diejenige Grillstelle frei ist, die ich mir dafür wünsche? Für alle Anliegen der Parknutzenden wurde deshalb ein virtueller Schalter eingerichtet. Per Brief, E-Mail oder Telefon erreichen die Anfragen den sogenannten «Guichet». Ein Teilzeitangestellter, der eine Ausbildung als Gärtner und als Erwachsenenbildner hat, kümmert sich um alle diese Anliegen, koordiniert Termine und «nimmt sich der Sache an». Die Trägerin und Betreiberin des «Guichet» ist die Stiftung B, die im Auftrag der Stadt Bern nicht nur von aussen an sie herangetragene Anliegen behandelt, sondern selber auch Aktivitäten initiiert, die den Park beleben. Konkret heisst das zum Beispiel, dass die Stiftung die «Obstbaumgruppe» ins Leben gerufen hat, die sich später um die Ernte der Früchte kümmern wird. Auch die Gruppe der Pflanzer hat die Stiftung zusammengeführt und hilft ihr bei ihren Anliegen. Hier und im Fussballklub kommt auch der Wunsch der Integration von Nachbarn aus anderen Ländern zum Tragen. Insgesamt soll die aktive Aneignung der Quartierbewohner gestärkt werden, unter anderem auch, um Vandalismus und übermässigem Littering vorzubeugen. Das Ziel der Stiftung sei, so ihr Geschäftsführer Hans Stucki, dass sich möglichst viele Menschen des neuen Parkes annehmen.

[ Hansjörg Gadient, dipl. Architekt ETH, Landschaftsarchitekt ]

TEC21, Fr., 2011.03.11



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TEC21 2011|11 Sämling und Steckling

14. Mai 2010Hansjörg Gadient
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Promenade zum Rhein

Der Rheinfall ist und bleibt ein grandioses Spektakel. Doch sein Zugang auf Zürcher Seite durch das Schloss Laufen war völlig veraltet. Ein beträchtlicher Besucherrückgang veranlasste den Kanton Zürich, die Anlagen umfassend zu sanieren. Ein Spaziergang zeigt, was gebaut und wie das Naturtheater neu inszeniert wurde.

Der Rheinfall ist und bleibt ein grandioses Spektakel. Doch sein Zugang auf Zürcher Seite durch das Schloss Laufen war völlig veraltet. Ein beträchtlicher Besucherrückgang veranlasste den Kanton Zürich, die Anlagen umfassend zu sanieren. Ein Spaziergang zeigt, was gebaut und wie das Naturtheater neu inszeniert wurde.

Am Anfang des Besuchs überrascht ein Gebäude, das zugleich ganz gegenwärtig-aktuell und zeitlos-einfach wirkt: eine schlichte Hausform wie aus einem Märchenbuch mit Techno- Touch (Abb. 3, rechts). Die Architekten Leuppi und Schafroth haben aus einem hässlichen Personalhaus, das seine letzte Erneuerung vor rund sechzig Jahren gesehen hat, eine Schatulle mit nobler Auskleidung gemacht. Dafür haben sie den vorhandenen Altbau um die Hälfte verlängert und in eine Hülle aus wetterfestem Stahl verpackt. Hinter der Idee stand eine Mischung aus Bildern: das Plattnerwerk eines Harnischs, Schweizer Stickereien und die Vorstellung einer warmen, lebendigen Oberflächenfarbigkeit. «Swissness» signalisiert nun das Ornament der Fassade; es sind leicht verfremdete Schweizerkreuze, die aus den Metallplatten geschnitten wurden und Licht und Luft zu den dahinter liegenden Räumen gelangen lassen. Die rostrote Hülle schliesst bündig an die alten Biberschwanzziegel der Dachtraufe an. So entsteht ein Haus von einfacher Form und schönen Proportionen. Das ist gelungen, ist so doch die ganze Biederkeit des Altbaus einem Eindruck von eleganter und doch ländlicher Grosszügigkeit gewichen. Ursprünglich war vorgesehen, die Vordächer aufklappbar auszugestalten, sodass sie im geschlossenen Zustand die Kompaktheit der Form noch unterstrichen hätten. Wie an anderen Orten zwang der Kostenrahmen zu Vereinfachungen. Die Vordächer sind fest montiert; das Visier des Harnischs bleibt offen.

Die vorgesetzte Fassadenschicht führt zu raumhaltigen Aussenwänden, in die Schalter, vitrinenartige Schaufenster oder – im Café – Sitznischen eingelassen sind, eine nicht zu unterschätzende Bereicherung. Innen ist die metallene Schatulle mit einem sorgfältig detaillierten Ausbau in Lärchen- und Eichenholz ausgekleidet. Zusätzlich trägt die Intervention im Dachgeschoss zur Analogie einer feinen Schatulle bei: Der von Zugbändern frei gehaltene Zeltraum ist ganz mit Filz kaschiert (siehe Abb. 6), eine nicht nur akustisch, sondern auch ästhetisch überzeugende Idee. Wer hier eine Veranstaltung besucht, kommt in ihren Genuss. Der Weg führt zurück in den Aussenraum. Auch hier haben die Architekten vereinfachend und klärend eingegriffen, vor allem mit einer Stützmauer aus gestocktem Beton, in den Kalkstein in der Farbe des alten Mauerwerks eingelassen wurde. Die Mauer schwingt sich um die Rückseite des Gebäudes und endet als Sitzgelegenheit neben der Bestuhlung des Cafés. Von hier aus fällt der Blick auf das Schloss und seine Wehranlagen.

Mikado im Wald, Magnolie im Schloss

Ausser der Attraktivitätssteigerung gab es ein zweites Ziel der Sanierung: Die Aufenthaltsdauer der Gäste sollte markant erhöht werden. Und wer drängt zum Gehen, wenn es langweilig wird? Die Kinder. Für sie haben Schmid Landschaftsarchitekten hier an strategisch bester Stelle, zwischen Restaurant und Besucherzentrum, einen grosszügigen Spielplatz angelegt. Im abschüssigen Terrain verbinden sie die Geländestufen mit einem riesigen Mikado aus Baumstämmen, eine thematische Referenz an den nahe liegenden Wald und eine Einladung an die Kinder, ihren Gleichgewichtssinn zu erproben. Einige der Stämme sind beweglich und entpuppen sich als Wippen und schwankende Stege. Eine Drehscheibe und einige Wippteller ergänzen im Wortsinn punktuell die Linien der Stämme. Die Spielgeräte bleiben niedrig, so vermeiden die Landschaftsarchitekten geschickt den Zwang, die hässlichen Fallschutzbeläge anlegen zu müssen, die Sicherheitsvorschriften heute fordern. Und während sich die Kinder auf dem Spielplatz austoben, kann der beschauliche Spaziergang durch das Schloss beginnen.

Schon im ersten Hof stimmen Abbildungen des Rheinfalls aus verschiedenen Epochen auf das Thema der Ausstellung im ehemaligen Wohnhaus ein. Aber zuvor empfängt einen der eigentliche Schlosshof, der Dreh- und Angelpunkt der ganzen Begehung. Er hat – wie die Bauten selbst – im Laufe der Geschichte viele Umgestaltungen erfahren. Vor der Sanierung machten Asphalt, Rasen und eine heterogene Bepflanzung den Hof zu einer Kreuzung aus Vorfahrt und Garten. Wie die Architekten beim Besucherzentrum klärend wirkten, haben auch die Landschaftsarchitekten die Lösung in der Vereinfachung gefunden. Rasen und Asphalt wurden entfernt und der Rand des Hofes mit einer Fortsetzung der vorhandenen Pflästerungen ergänzt. Einzig die majestätische Magnolie im Zentrum blieb erhalten; als veritabler Solitär steht sie inmitten des entleerten Hofes in einem neuen Beet (Abb. 8). Würde und Ruhe sind wiederhergestellt.

Hier wird eine Entscheidung fällig: gleich hinunter zum Wasserfall? Und wenn ja, per Lift oder zu Fuss? Oder doch zuerst ins Museum, das keines ist? – Wir wollen die Vorfreude auf das Naturereignis verlängern und entscheiden uns für das Museum.

Cataracta Rheni

Es ist kein Museum, wie die Gestalter der Ausstellung, Bellprat Associates, betonen, sondern ein «Historama». Wie andernorts fordert der Zeitgeist nicht nur Information, sondern auch Unterhaltung. Den Autoren ist der Anspruch mit einem Rückgriff auf die Welt der Schausteller gelungen. Ihre Aufarbeitung der Themen sind als Klanginstallationen, als Kulissenräume und als bewegliche Kleintheater gestaltet. Den Rahmen für diese Einbauten haben wiederum die Architekten Leuppi und Schafroth mit einer denkmalpflegerisch sorgfältigen und zurückhaltenden Renovation geschaffen, am besten zu beobachten im Eingangsraum, dem historisierenden Treppenhaus und dem sogenannten Bleulersaal (Abb. 9 und 10). Beide sind auf den historischen Bestand zurückgeführt, die nötigen technischen Einbauten geschickt hinter den Verkleidungen versteckt.

Von Raum zu Raum spielt sich nun eine Folge von publikumswirksamen Inszenierungen einzelner Themen ab. Am Anfang steht das Bild des Rheinfalls. Das Naturschauspiel zieht seit einem halben Jahrtausend Reisende aus Europa und der ganzen Welt an. Viele von ihnen haben ihre Eindrücke in Kohle, Öl und Wasserfarben festgehalten. Die erste bekannte Darstellung des «Cataracta Rheni» erscheint in der «Cosmographia» des Sebastian Münster (1455–1552) und legt den Grundstein für dessen Berühmtheit: «Zehen oder zwoelff clafftern hoch falt er strack oben abher, es ist ein grausam Ding zusehen, es wirt das wasser, so es oben abher schusst, zuo einem gantzen schaum, do mag kein schiff abher kommen, anderst es zerfiel in tausend stuck», schreibt Munster. Ihm folgen viele Berühmtheiten, unter anderem Michel de Montaigne, Kaiserin Sisi und William Turner. Ihnen gemeinsam ist das Interesse am Rheinfall als Naturschauspiel. Sie kommen um der Betrachtung willen. Den Gegenpol dazu bilden diejenigen, die vor allem den technischen Nutzen – oder die Verhinderung desselben durch das Hindernis Rheinfall – gesehen haben. Die ersten waren holländische Kaufleute, die 1609 vorschlugen, den Rheinfall zu sprengen. So liesse sich Holz viel einfacher flössen, als wenn es – wie alle Waren – umständlich oberhalb aus dem Wasser gebracht und unterhalb wieder verladen werden müsste. Sie hatten keinen Erfolg, nicht zuletzt weil die Anwohner von dieser Arbeit lebten und sich entsprechend vehement widersetzten. Rund um den Rheinfall entwickelten sich im Laufe der Zeit die verschiedensten ökonomischen Interessen; die Nutzung der Wasserkraft und der Tourismus sind die wichtigsten. Ein Besuch im neuen Historama klärt vergnüglich und erstaunlich effizient darüber auf. Etwa zwanzig Minuten haben Bellprat Associates dafür vorgesehen, man kann – und sollte – sich aber mehr Zeit nehmen.

Fast am Ende des Rundganges findet sich eine besonders gelungene Synthese von Architektur und Inszenierung. Das von der Feuerwehr beanstandete zweite Treppenhaus musste ersetzt werden. Aus diesem funktional notwendigen Element haben die Architekten eine ausnehmend interessante Raumschöpfung gemacht, in der Treppen und Fluchtkorridore auf der verwinkelten Geometrie der Grundfläche zu einem faszinierenden dreidimensionalen Gefüge geworden sind (Abb. 13). Die Ausstellungsmacher haben einen Teil davon in dunkelgrauer Eisenglimmerfarbe gestrichen, weil hier die Rolle der Eisenbahn für den Rheinfall gezeigt wird. Dieser Anstrich betont die räumlichen Qualitäten, und aus der banalen Notwendigkeit einer Fluchttreppe wird einer der architektonisch interessantesten Räume des Historamas.

Aus dem letzen Raum des Rundganges fällt endlich der Blick fast unbehindert auf das tosende Schauspiel dort draussen. Es ist der frühere Weg, der in Windungen und unterbrochen von Kanzeln und Aussichtspunkten wieder genutzt wird. Erneuert, ergänzt und wo notwendig aufgefrischt führt er durch das steile Gelände. Bellprat Associates und Schmid Landschaftsarchitekten haben mit feinen Eingriffen den Weg selbst und seine Bezüge zum Wasserfall überhöht und damit aufgewertet. André Schmid betonte von bestimmten Stellen des Wegnetzes aus den Ausblick in die Landschaft, andere deckte er mit Gehölzen ab.

So lenkt er den Blick an Wegbiegungen gezielt in die Weite, auf das Becken oberhalb des Falles, auf das Schloss Wörth am gegenüberliegenden Ufer und endlich auf den Fall und seine malerischen Felsen selbst. Andere Partien werden mit jungen Bäumen dicht bepflanzt, und man schreitet durch waldähnliche Partien, bevor sich ein neuer Blick eröffnet. Das ist gestalterisch geschickt und – wenn man bedenkt, wie viele Vorgaben von Naturschutz, Heimatschutz und touristischem Verwertungsinteresse gleichzeitig zu beachten waren – Respekt erheischend (vgl. Kasten S. 22).

Die Stimmen des Rheinfalls

Unversehens trifft man an einer Stelle auf eine Reihe von neun schlanken Rohren, die über das Geländer heraufragen. Die Rohre sind unterschiedlich lang; wer an ihnen lauscht, hört den Rheinfall eine Tonleiter singen. Das ist eine entzückende Idee, zurückhaltend realisiert und auf einer historischen Tatsache beruhend. Denn als es in Europa noch sehr viel ruhiger war als heute, war der Rheinfall auch ein akustisches Phänomen. Man reiste dahin, um dieses ungeheuerliche Tosen zu hören! Und wirklich: Nach der Einstimmung an den Klangröhren ist das Ohr geschärft für den Gesang des Wassers. Man lauscht im Dröhnen den verschiedenen Frequenzen und Melodien, und aus dem Lärm ist Musik geworden. So ist die eigentliche Begegnung mit dem Wasserfall historisch und sinnlich vorbereitet, wenn man zuunterst auf der Kanzel steht, vor sich diesen Berg aus Wasserschaum.

Der Rückweg vom Wasserfall kann über einen neuen Steg angetreten werden, der einen zum Lift und zurück zum Schlosshof führt (Abb. 14 sowie Bilder S. 25–27). Gebaut wurden Steg und Lift allerdings nicht nur zur Entlastung des alten Weges, vielmehr sollte der Zugang zum Wasserfall auch Gehbehinderten, Rollstuhlfahrern und Familien mit Kinderwagen vom Schloss aus möglich sein. Ihnen steht deshalb im Schlosshof der Zugang zum Lift offen, der sie auf den nur flach geneigten Steg führt. Die SBB-Station kann allerdings weiterhin nur über Stufen erreicht werden. Dass der Lift einen nicht unerheblichen Eingriff ins Landschaftsbild bedeutet, hat zu einiger Opposition geführt. Deshalb wurde er an einer möglichst unauffälligen Stelle positioniert und mit schnell wachsenden Weiden umpflanzt. Die Fahrt in einer der voll verglasten Kabinen erlaubt noch einmal einen bewegten und bewegenden Blick zurück auf den grössten Wasserfall Europas. Augen, Ohren und vielleicht sogar das Herz voller Eindrücke, kehrt man in den Schlosshof zurück und lenkt die Schritte zurück zu Spielplatz und Besucherzentrum, wo diese Promenade architecturale endet.

TEC21, Fr., 2010.05.14



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TEC21 2010|20 Naturtheater

25. September 2009Hansjörg Gadient
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Neu geordnet, wiederbelebt

Der Bellevueplatz im Zentrum von Zürich liegt an einer städtebaulichen Schlüsselstelle zwischen See und Limmat. Seinen Namen hat er vom ehemaligen «Grandhotel Bellevue», 1856–1858 erbaut von Leonhard Zeugheer.
Im Laufe der Jahre war der Solitärbau durch Alterung und Umbauten stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Martin Spühler und seine Mitarbeiter haben ihn in siebenjähriger Planungs- und Bauzeit wieder in Wert gesetzt.

Der Bellevueplatz im Zentrum von Zürich liegt an einer städtebaulichen Schlüsselstelle zwischen See und Limmat. Seinen Namen hat er vom ehemaligen «Grandhotel Bellevue», 1856–1858 erbaut von Leonhard Zeugheer.
Im Laufe der Jahre war der Solitärbau durch Alterung und Umbauten stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Martin Spühler und seine Mitarbeiter haben ihn in siebenjähriger Planungs- und Bauzeit wieder in Wert gesetzt.

Ursprünglich als Hotel erstellt, wurde das Gebäude bereits 1921 zum Geschäftshaus mit Kino umgebaut. Alterung, An- und Einbauten, Teilabrisse und Transformationen hatten ihm über die Jahre jedoch so zugesetzt, dass sich die Bauherrschaft gezwungen sah, den Werterhalt mit mehr als einer Pinselrenovation langfristig zu sichern. Die Bauherrschaft vergab den Auftrag für eine Machbarkeitsstudie an Martin Spühler Architekten aus Zürich. Dabei standen von einem Neubau über ein Entkernen bis zu einer Revitalisierung des historischen Bestandes alle Möglichkeiten zur Debatte. In enger Zusammenarbeit mit der Städtischen Denkmalpflege entschied man sich für Letzteres – ein Neubau an so prominenter Lage wäre für die Stadt nur mit einer bedeutenden öffentlichen Nutzung zu rechtfertigen gewesen.

Belebungsstrategie

Zusammen mit einer - so Projektleiter Peter Trachsler - ebenso entscheidungsfreudigen wie begeisterungsfähigen Projektsteuerungsgruppe aus Auftraggeberin und Planern entwickelten die Architekten eine Strategie der Revitalisierung, die sich auf vier Haupteingriffe konzentrierte: die Wiederherstellung der Arkade auf der Limmatseite, den Einbau eines neuen Treppenhauses, den Ausbau des Dachgeschosses zu Wohnungen und, als eher kleinen, aber symbolträchtigen Eingriff, die Wiederherstellung der zweiläufigen Treppenanlage am Eingang Limmatquai 1 (Abb. 1). Die Interventionen sollten sich der Substanz unterordnen und mit ihr zu einem neuen Ganzen verschmelzen. Die besondere Schwierigkeit bestand in der Heterogenität des Baus, die es verunmöglichte, der komplexen Aufgabe mit fixen Rezepten zu begegnen. Der Bestand sei völlig «unberechenbar» gewesen, Pläne lückenhaft, Sondierungen im vermieteten Zustand kaum möglich. Gut erhaltene und reizvolle Jugendstildetails standen neben einer teilweise desolaten Bausubstanz. Die Abrisse und Einbauten der 1960er- und 1970er-Jahre hatten viel zerstört, und die gesamte Haustechnik war veraltet. Den heutigen Brand- und Schallschutzstandards entsprach das alte Bellevue längst nicht mehr. Orts- und problembezogen wurden in Zusammenarbeit mit der Denkmalpflege Lösungen gefunden, die von Konservierung über Restaurierung und Renovierung bis zu Ergänzung und Neubau reichten. Neben den Ausbauten im Inneren wurde auch die Fassade denkmalgerecht saniert.

Als «Operation am offenen Herzen» bezeichnet Sylvia Kirsten, die Vertreterin der Bauherrschaft, das 50-Millionen-Vorhaben – auf einer Verkehrsinsel, möchte man ergänzen. Der Bau blieb während des gesamten Eingriffes teilweise vermietet. Die auf allen Seiten von stark befahrenen Strassen begrenzte Baustelle bot keinerlei Flächen für Lager oder Installa tionen. Und es ging um mehr als einen neuen Innenausbau: Unter anderem mussten die bestehenden Pfahlfundationen mit 230 Stahlbetonpfählen ergänzt, die Bodenplatte abgesenkt und eine Seewasserzuleitung für Heizung und Kühlung von der Limmat her erstellt werden.

Plakativ und versöhnlich?

Ein Beispiel für den Umgang im Inneren ist die Treppe beim Eingang Limmatquai. Einer der brachialeren Umbauten hatte eine Hälfte des symmetrischen Treppenhauses entfernt. Wieder aufbauen? Oder mit dem Verlust spielerisch umgehen? Erste Konzepte schlugen eine Spiegelwand vor, die den alten Teil bildnerisch zum Ganzen ergänzen würde. Oder ein Wiederaufbau des zweiten Laufs mit einem Materialwechsel, um das Neue zu zeigen?

Zur Ausführung gelangte eine dem bestehenden Teil entsprechende Rekonstruktion in den gleichen Materialien, Marmor und Stuck. Auf den ersten Blick ist alles «beim Alten», auf den zweiten zeigen die fehlenden Gebrauchsspuren der neuen Hälfte ihre heutige Entstehungszeit. Ein zweites Beispiel: Die bestehenden Schmiedeeisengitter eines Treppenabsatzes hätten einer neuen Wand weichen müssen. Sie wurden nicht abgebrochen, sondern in die Wand integriert: Künftige Generationen werden sie vielleicht beim nächsten Umbau finden. Auch grössere Eingriffe in die Substanz waren nötig. Die Belle Epoque legte Treppen vor allem nach repräsentativen Gesichtspunkten an, gross und breit in den unteren Geschossen, schmal und irgendwo verstreut in den oberen. Heute bestimmen funktionale Liftanlagen und kurze Fluchtwege das Layout. Eine weitere wichtige Intervention betraf daher das Errichten eines neuen, durchgängigen Treppenhauses. Das Studium der historischen Pläne zeigte, dass die Fassade zum Bellevueplatz ursrprünglich eine starke Mittelbetonung aufwies. Historisch folgerichtig und erschliessungstechnisch günstig wurde hier der neue Zugang zum Gebäude angeordnet.

Auch die neue Haustechnik stellte die Planenden aufgrund der beschränkten Platzverhältnisse vor einige Herausforderungen; an vielen Stellen waren Eingriffe in das Tragwerk nötig, um sie zu integrieren. Mittels Seewasser wird der sanierte Bau nun gekühlt und beheizt. Nirgends treten diese Neuerungen aufdringlich in Erscheinung. So wie aussen konnte der Bau auch innen seine Gestalt und seine Würde wahren.

Für das bisher als Abstellraum genutzte Dachgeschoss dagegen waren neue Ideen gefragt; hier sollten Wohnungen entstehen. Keine leichte Aufgabe, waren doch die einzigen vorhandenen Fenster die kleinen Öffnungen im Kniestock und die spärlichen Dachfenster des ehemaligen Estrichs. Grosse Öffnungen zu schaffen, kam nicht in Frage. Die Lösung war massgeschneidert. Die Architekten kamen von der ersten Vorstellung, auf der riesigen Fläche sechs Wohnungen zu schaffen, ab und schlugen drei – mit 280 bis 370 m² aussergewöhnlich grosszügige – Einheiten vor. So konnten sie jeder Wohnung einen zweigeschossigen Turm und einen privaten Aussenraum zuordnen. Dank dem Entgegenkommen der Denkmalpflege entstanden in der Dachschräge auf der Westseite zwei Terrassen; man kann sie als «Belohnung» für die dem öffentlichen Raum zurückgegebene Loggia im Erdgeschoss verstehen. Die dritte Wohnung erhielt eine innen liegende intime Dachterrasse. Das Defizit der niedrigen, kleinen Fenster kompensieren die grossflächigen Öffnungen zu diesen Terrassen und die anstelle der alten Dachluken eingesetzten «Lichtkanonen». Die als Raumkontinuum ausgebildeten Grundrisse mit ihren weiten Sichtbezügen entschädigen für die teilweise recht niedrigen Decken. Die Materialisierung entspricht Lage und Fläche der Wohnungen – ohne zu protzen. Die Mieten der Wohnungen von monatlich 20 000 Franken haben in der Tagespresse zu Schlagzeilen geführt. Heute sind alle drei vergeben; das Konzept ist aufgegangen – auch im Ganzen. Der Bauherrschaft steht wieder eine hochwertige Immobilie zur Verfügung, und der Stadt ist ihr geschätzter Solitär erhalten geblieben. Neu gefasst und geschliffen leuchtet er in dem, was man gewöhnlich als «den alten Glanz» bezeichnet. Es ist aber ein neuer Glanz: der eines zeitgemässen, sorgfältigen und sensiblen Umgangs mit einem historischen Stück Stadt.

TEC21, Fr., 2009.09.25



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tec21 2009|39 Schicht für Schicht

03. April 2009Hansjörg Gadient
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Lehren lernen

Das Projekt Architektur und Schule des Bundes Schweizer Architekten bemüht sich seit vielen Jahren, Architektur als Thema in der Volksschule zu etablieren. In Pilotprojekten auf allen Schulstufen hat es viele Erfahrungen gesammelt. Dabei hat sich der anfängliche Fokus auf architektonisches Gestalten weit geöff net zugunsten einer breiten Sensibilisierung der Schülerinnen und Schüler für ihre gestaltete Umwelt. Zurzeit entstehen zwei Lehrmittel, die das Thema in den regulären Unterricht integrieren helfen.

Das Projekt Architektur und Schule des Bundes Schweizer Architekten bemüht sich seit vielen Jahren, Architektur als Thema in der Volksschule zu etablieren. In Pilotprojekten auf allen Schulstufen hat es viele Erfahrungen gesammelt. Dabei hat sich der anfängliche Fokus auf architektonisches Gestalten weit geöff net zugunsten einer breiten Sensibilisierung der Schülerinnen und Schüler für ihre gestaltete Umwelt. Zurzeit entstehen zwei Lehrmittel, die das Thema in den regulären Unterricht integrieren helfen.

Die mittlerweile über zehnjährige Geschichte des Schulprojektes ist eine Geschichte des Lernens, wie Architektur erfolgreich vermittelt werden kann. Im Zentrum der ersten Pilotprojekte standen kleine Entwurfsaufgaben, die von Architektinnen und Architekten im Unterricht begleitet wurden. Die Jugendlichen schätzten diese Begegnungen und die Arbeit am eigenen Projekt sehr; die Lehrpersonen fühlten sich sicher mit den sorgfältig vorbereiteten Übungen. Von Seiten der Architektenschaft allerdings wurden Vorbehalte laut, dass die Architektur durch die didaktisch notwendige Vereinfachung zu sehr banalisiert werde. Ein praktischer Nachteil war, dass sich die Aufgaben wegen des Aufwandes vor allem für den Projektunterricht innerhalb einer Woche eigneten und weniger für den regulären Stundenplan. Einer grossen Verbreitung dieser Übungen stand ausserdem die Tatsache im Wege, dass eine architektonisch vorgebildete Person für den Unterricht notwendig war.

Didaktische Grundsätze

Aus diesen und anderen Erfahrungen liessen sich einige Grundsätze ableiten, die in den weiteren Pilotprojekten verfolgt wurden. Die Übungen sollten kürzer sein, sodass sie im normalen Unterrichtsschema Platz finden würden. Aus mehreren Aufgaben sollten modular aufgebaute Kurse zusammengestellt werden können, die sich über kürzere oder längere Zeiträume erstrecken. Auf allen Stufen sollten neben dem gestalterischen auch andere Zugänge zu Architektur und Umweltgestaltung geschaffen werden, etwa über planerische, soziale oder ökonomische Fragestellungen. Wichtig war es auch, Unterrichtseinheiten zu entwickeln, die ohne eine Begleitung durch Fachleute auskommen und den Lehrpersonen die grosse Scheu vor der Profession Architektur nehmen können.

Auch diese Ansätze bergen Gefahren, unter anderem die, dass Übungen nicht unbedingt im Sinne der Verfasser durchgeführt werden und dass unter Umständen Gewichtungen entstehen, die aus fachlicher Sicht nicht unbedingt gerechtfertigt sind. Damit muss aber jede Fachdisziplin leben, die ihre Inhalte in den Schulunterricht tragen will, insbesondere wenn es sich nicht um eine exakte Wissenschaft handelt.

Entscheidend für den didaktischen Erfolg ist neben einer spannenden Übungsanlage die Stufengerechtigkeit. In allen Pilotprojekten wurde deshalb intensiv mit den Lehrpersonen zusammengearbeitet, um sicher zu sein, dass die Lehrinhalte und der Ablauf des Unterrichts auf die jeweilige Alterstufe abgestimmt sind. Sehr wichtig ist auch, dass die Kinder und Jugendlichen nicht nur mit Informationen «gefüttert» werden, sondern sich aktiv beteiligen können. So erleben sie, dass Gestaltung «gemacht» wird, und erinnern sich später leichter an das Gelernte.

Zugänge ermöglichen

Als Maxime dient der Begriff der Sensibilisierung. Die Kinder sollen Zugangsmöglichkeiten zum Thema erhalten, aber es kann nicht darum gehen, ihnen in Tagen ein Fachwissen zu vermitteln, für dessen Erarbeitung Studierende mindestens fünf Jahre Vollstudium brauchen. Eines der wichtigsten Ziele ist es, Kinder und Jugendliche auf das Thema aufmerksam zu machen und ihr Interesse zu wecken. Aus der Dissertation des deutschen Psychologen Riklef Rambow weiss man, dass Laien, insbesondere auch Kinder und Jugendliche, praktisch blind sind für ihre gestaltete Umwelt.[1] Sie erleben sie als schicksalshaft und kommen kaum auf den Gedanken, dass es sich um absichtsvolle und begründete Gestaltung handelt. Erst wenn ein Neubau farblich oder formal besonders auffällt oder wenn er in irgendeinem Sinn «stört», wird er wahrgenommen. Neben diesem ernüchternden Befund gibt die Studie aber auch Anlass zu Hoffnung. Es sei nämlich vergleichsweise einfach, Kinder und Jugendliche auf die Gestaltung ihrer gebauten Umwelt aufmerksam zu machen. Sie liessen sich sehr schnell auf das Thema ein und begännen, sich aktiv damit zu beschäftigen. Die Erfahrungen der Fachstelle Architektur und Schule bestätigen diese Aussage. Selbst Zehnjährige beginnen nach wenigen Vorübungen, sich in ihrem Wohnort umzuschauen und ihre Beobachtungen auszutauschen. So spazierte beispielsweise eine vierte Primarschulklasse nach ihrem Pilotprojekt zum Thema Wohnen durch eine andere Stadt und diskutierte eifrig, ob in der Altstadt noch Leute wohnten oder alles nur noch Läden und Büros seien.

Verankerung im Unterricht

Von nicht zu unterschätzender Bedeutung sind die Sachzwänge des Unterrichtsbetriebes. Bei der Wahl von Lehrmitteln haben die Lehrenden einen untrüglichen Sinn für Machbarkeit entwickelt. Schwer zu realisierende Übungen, die viel Vorbereitung erfordern, Inhalte, die zu viel Fachwissen voraussetzen oder materiell zu aufwendig sind, haben daher keine Chance auf Akzeptanz und Verbreitung. Ausserdem muss ein Thema in den Lehrplan passen. Deshalb kann es nicht darum gehen, ein Fach «Architektur und Umweltgestaltung» anzustreben. Vielmehr sollen die Übungen zu diesem Thema im Schema der bestehenden Fächer und in der Logik der Lehrpläne Platz finden. Steht im Lehrplan für Bildnerisches Gestalten zum Beispiel Farbe auf dem Programm, soll das Architektur-Lehrmittel Übungen bereithalten, in denen Farbe anhand von Architektur behandelt werden kann.

Lehrmittel wohnen

Das gegenwärtig wichtigste Vorhaben der Fachstelle Architektur und Schule ist die Erarbeitung von zwei Lehrmitteln, um das Thema im allgemeinen Unterricht zu verankern. Das erste entsteht im Auftrag des Bundesamtes für Wohnungswesen. Es ist dem Thema Wohnen und dessen vielfältigen Abhängigkeiten und Bezügen gewidmet. Die Zielgruppe ist die Sekundar- I-Stufe, das heisst Kinder im Alter von 11 bis 14 Jahren. In einem Schuber werden sechs Hefte mit je sechs Lernmodulen zu einem Thema zusammengestellt. Mit ihnen soll auch fachübergreifendes Lernen möglich sein. Die Themen sind: Wohnumfeld und Aussenraum, Lebensweise und Wohnform, Haushaltsformen und Raumangebot, Landverbrauch und Flächennutzung, Heimat und Zersiedelung, Infrastruktur und leibliches Wohl. Die darin enthaltenen Übungen beruhen alle auf Pilotprojekten, die auf dieser Stufe mit Erfolg durchgeführt wurden. Dabei zeigt die Erfahrung, dass oft schon kleine Korrekturen der Aufgabenstellung zu wesentlich besseren Ergebnissen, grösserem Lernerfolg und einem spannenderen Lernerlebnis führen können. Als Beispiel sei die Übung «Mein Lieblingsraum, wenn ich 25 bin» genannt. Die Kinder sollen lernen, eigene Wünsche und Bedürfnisse zu formulieren, diese Wunschvorstellung räumlich umzusetzen und in einer perspektivischen Skizze zu bearbeiten. Dazu schreiben sie ein Szenario und ergänzen es mit einer Zeichnung. Sie überlegen sich, was ihr Lieblingsraum sein wird, wie gross er ist, was es für eine Aussicht gibt, was für eine Form er hat und welchen Funktionen er dient. Mit diesen Vorstellungen bauen sie ein Modell, das sie mit bereitgestellten Klötzchen möblieren. Der Blick in dieses Modell wird mit der zugehörigen Aussicht fotografiert und schwarzweiss ausgedruckt und dient als Grundlage für eine farbige Überarbeitung, die mit Referenzbildern zu Materialien, Farben, Möbeln oder Funktionen ergänzt wird. So gelingt es den Schülern, ihre Vorstellungen stufengerecht umzusetzen.

Die Kinder sollen sich aber nicht nur auf der gestalterischen Ebene mit der Wohnung beschäftigen. So studieren sie beispielsweise in Zeitungen und im Internet den Wohnungsmarkt und suchen für eine imaginäre Patchworkfamilie, die zusammenziehen will, eine geeignete Wohnung. Dazu gehört auch die Berechnung der Miete, die sich die Familie aufgrund der Einkommen und der Lebenshaltungskosten leisten kann. Im Modul «Ist die Schweiz eine Stadt?» beschäftigen sie sich im Fach Mathematik mit Bevölkerungsstatistik und Flächenverbrauch in den verschiedenen Siedlungsformen. Im Modul «Auch draussen wird gewohnt» gibt es ein Rollenspiel, in dem die Bewohner einer Siedlung aushandeln, wie der gemeinsame Aussenraum genutzt werden soll. So lernen die Kinder das Thema Wohnen auf verschiedensten Ebenen kennen.

Lehrmittel Architektur und Umweltgestaltung

Das zweite Lehrmittel in Vorbereitung richtet sich an Sekundarschulen und Gymnasien mit Schülerinnen und Schülern im Alter von 14 bis 20 Jahren. In einem Schuber werden 80 Bildkarten mit architektonischen und ingenieurbautechnischen Werken, Städten, Gärten und Landschaften enthalten sein. Auf der Vorderseite steht jeweils eine prägnante und möglichst vielfältig lesbare Abbildung, auf der Rückseite sind zusätzliche Bilder, Pläne, Textinforma tionen und Quellenhinweise zu finden. Diese Bildkarten bilden den Ausgangspunkt für die Übungen, die im beigelegten Heft für die Lehrperson beschrieben sind. Sie können aber auch frei verwendet werden, zum Beispiel für kurze Vortragsübungen oder eine Einführungsdiskussion. Das Übungsheft enthält konkrete Angaben für die Lehrpersonen, wie sie eine Unterrichtseinheit durchführen können, dazu Variationsmöglichkeiten und Abbildungen von Schülerarbeiten aus den durchgeführten Tests.

Auch dieses Lehrmittel kann in verschiedenen Fächern eingesetzt werden. Im Bildnerischen Gestalten beispielsweise wird das Thema Licht als Material der Architektur behandelt. Anhand der Bildkarten zur Kapelle von Ronchamp, zum Centre du Monde Arabe, zum Farnsworth House, zu einem Engadiner Bauernhaus, zu Franz Füegs Kirche in Meggen und weiteren Gebäuden lernen die Schüler die unterschiedliche Behandlung von Licht kennen. Darauf schneiden sie aus einem Kartonwürfel Lichtöffnungen und fotografieren den Innenraum. Resultat sind die so entstandenen «Lichtbilder». Die Übung kann ergänzt werden durch zeichnerische Übungen von Licht und Schatten im Schulhaus oder durch Kurzvorträge der Schüler zu je einer der genannten Bauten.

Im Fach Mensch und Umwelt schlägt eine Übung vor, eine historische Abbildung der Landschaft am Wohnort auszuwählen und am selben Ort heute eine Aufnahme zu machen. Diese werden verglichen und diskutiert. In einem dritten Schritt gestalten die Schülerinnen und Schüler eine Collage mit der zukünftigen Entwicklung, oder sie schreiben einen Text darüber. Als Vorbereitung dienen Bildkarten, die die Entwicklung der Schweizer Landschaft zeigen oder die sich sonst mit Erscheinungsformen von Siedlungen und Landschaft beschäftigen. Eine Übung widmet sich dem Thema Einfamilienhaus und Zersiedelung. In einer Diskussion übernehmen die Schülerinnen und Schüler die Rollen von verschiedenen Interessengruppen wie Landbesitzer, Investor, Kaufinteressentin, Umweltschützer, Gemeindeverwaltung usw. und diskutieren die Vor- und Nachteile einer Einfamilienhausbebauung. Der Test einer solchen Diskussionsrunde zur Planung des Hardturmstadions in Zürich hat wider Erwarten sehr erfreuliche Ergebnisse gezeigt. Die Schüler vertiefen sich in die Motive ihrer Rolle und schwelgen in ihren schauspielerischen Talenten; gleichzeitig lernen sie, dass Architektur und Umweltgestaltung nicht von Einzelnen bestimmt, sondern immer von vielen Akteuren beeinflusst werden.

Hohe Anforderungen an Lehrmittel

Lehrmittel müssen sich auf dem Markt behaupten. Verlage und Interessengruppen – vom WWF bis zu den Milchproduzenten – buhlen um die Aufmerksamkeit der Lehrpersonen. Ein neues Lehrmittel muss nicht nur ein relevantes Thema behandeln, sondern attraktiv und niederschwellig sein und die Lehrenden mit guten Übungsbeispielen animieren. Es muss erschwinglich, möglichst offen und modular gegliedert sein und Raum lassen für eigene Anwendungen. Dies gilt insbesondere für Lehrmittel in den Fächern Bildnerisches Gestalten, Sprache oder Mensch und Umwelt, in denen Architektur und Umweltgestaltung Platz finden sollen. Diese Rahmenbedingungen musste die Fachstelle Architektur und Schule erst kennen lernen und in die Konzeption ihrer Lehrmittel integrieren. Der Schulverlag, der voraussichtlich die beiden geplanten Lehrmittel produzieren und vertreiben wird, hat da mit seinem didaktischen und merkantilen Wissen entscheidend mitgeholfen. Die Fachstelle Architektur und Schule plant, nach der Einführung ihrer ersten beiden Lehrmittel in der Deutschschweiz französische und italienische Versionen zu erarbeiten.

Trotz dem Fortschritt bei der Etablierung des Vereins «Spacespot» und der Erarbeitung der Lehrmittel bleibt der Erfolg einer breit abgestützten Sensibilisierung für die gebaute Umwelt auch weiterhin von den Anstrengungen der Fachleute abhängig, die sich im Schulunterricht engagieren. Die Fachstelle Architektur und Schule ruft sie deshalb auf, jede Gelegenheit zu nutzen, interessierte Lehrpersonen mit Rat und Tat zu unterstützen. Die persönliche Begegnung mit Architektinnen oder Ingenieuren im Unterricht ist eine der wirksamsten Methoden, Schüler und Schülerinnen für das Thema zu begeistern.


Anmerkung:
[1] Riklef Rambow: Experten-Laien-Kommunikation in der Architektur. Münster, 2000

TEC21, Fr., 2009.04.03



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27. März 2009Hansjörg Gadient
TEC21

Zwischensaison

Mit zwei Gästen wurde am 15. Juni 1908 das Hotel Waldhaus in Sils-Maria in Betrieb genommen. Nach 16 Jahren erfuhr es den ersten Umbau. Seither ist – mit Unterbrüchen – die Zwischensaison Bausaison und das Non-Finito der Normalzustand in einem Haus, das für seine Gäste ewig unverändert erscheint.

Mit zwei Gästen wurde am 15. Juni 1908 das Hotel Waldhaus in Sils-Maria in Betrieb genommen. Nach 16 Jahren erfuhr es den ersten Umbau. Seither ist – mit Unterbrüchen – die Zwischensaison Bausaison und das Non-Finito der Normalzustand in einem Haus, das für seine Gäste ewig unverändert erscheint.

Die Geschichte des Grandhotels Waldhaus ist auch eine Geschichte der Umbauten. Komfortansprüche ändern sich; der sich wandelnde Zeitgeschmack führt zu ästhetischer Obsolenz; der technische Fortschritt verändert Infrastrukturen, Arbeitsweisen und -abläufe. Nicht zuletzt sind soziale Vorstellungen und Verhaltensweisen einem permanenten Wandel unterworfen, zum Beispiel die Zimmerwünsche der Gäste: In der Belle Epoque war das erste Obergeschoss als Bel-Etage das vornehmste, man verlangte Zimmer nach Osten und Norden, denn man war vornehm blass. Die Zimmer der oberen Geschosse waren weniger gefragt, zuoberst lagen die Personalzimmer. Heute verlangen die Gäste sonnige Zimmer möglichst hoch oben mit viel Ausblick, mit Balkon, auf der Süd- und der Westseite.

Irisierendes Flirren der Zeit

Die Zeitläufte zwingen die Eigentümer, Schritt zu halten, wenn sie nicht – wie so viele andere – den Anschluss verlieren wollen.[1] Heute betreibt die vierte Generation der Familie[2] das Haus mit seinen 150 Zimmern und seinen fast 10 000 Gäste-Ankünften pro Jahr. Die enge Verbindung mit der Tradition gibt die Haltung und die Strategie vor: eine permanente und diskrete Erneuerung, mit der sich der Bau und seine Einrichtung ähnlich einem Zellorganismus ständig verjüngen und dabei immer demselben Plan folgen. Dass in jeder Zwischensaison eine Baustelle eröffnet wird und Investitionen in Millionenhöhe getätigt werden, merken die Gäste kaum. Sie sollen wiederkommen und sich zu Hause fühlen, sie sollen nicht verschreckt werden durch spektakuläres Design oder prahlerische Neubauten. Das Waldhaus sehe zu ihrer Freude, so Direktor Urs Kienberger, nicht nur noch so aus wie einst, sondern es lebe und funktioniere in vielen Belangen auch noch so.[3] Das Erstaunliche an diesem «wie einst» ist, dass das «Einst» nicht zu bezeichnen ist und – notabene – nie war. Bereits der erste Bau von Karl Koller[4] oszilliert zwischen einem gemässigten Jugendstil mit englischen Einflüssen und dem sich ankündigenden nüchternen Bündner Heimatstil. Die erhaltenen Dekorationen sind oft Kombinationen von Stilen, in denen bauhausartige Nüchternheit und neobarocke Pracht unvermittelt nebeneinander stehen, so zum Beispiel im Plafond des zweiten Speisesaals. Spätere Einbauten bereichern und verwirren das Spiel zusätzlich. Manche Elemente wirken wegen ihrer einfachen Formensprache völlig zeitlos; einige sind stark historisierend, aber kaum je aus der Zeit, die sie vorstellen. Was in dieser Beschreibung als heilloses Durcheinander erscheinen mag, fügt sich zu einem von der Magie des Waldhauses zusammengehaltenen Ganzen. So ist das Hotel nicht nur örtlich dem Alltag entzogen, sondern auch zeitlich. Es herrscht eine Art irisierend flirrendes Zeitkontinuum. Die Zeit scheint stillgestanden, aber niemand kann sagen, wann.

Vergangenheit und Zukunft verweben

In dieses Palimpsest fügen sich organisch auch die Einbauten von Miller und Maranta als Signaturen unserer Zeit. Quintus Miller geht so weit zu sagen, dass wir ohne Erinnerung nicht wahrnehmen könnten.[5] Als konzeptionellen Ansatz im Umgang mit historischer Substanz verfolgen die Architekten im Fall des Waldhauses eine Art von Verweben von Alt und Neu zu einem Dritten. Der explizite Kontrast interessiere sie kaum, weil er Vertrautheit ausschliesse. Hinzu kommt die Absicht, den Entwurf mit einem möglichst reichen semantischen Referenzsystem aufzuladen. So werden die heutigen baulichen Beiträge vielfältig lesbar und bleiben langfristig interessant. Wenn man sich vor Augen hält, wie wir im Unterschied zu unserer Vätergeneration heute bestimmte Zeitepochen lesen und bewerten, kann man diese Erwartung nur bestätigen. Teil der Aufladung mit möglichen Bedeutungen sind auch subtile Verschiebungen oder Brüche. Sie sollen analog dem Brecht’schen Verfremdungseffekt die Wahrnehmung irritieren und das Selbstverständliche dem Übersehenwerden entziehen. Dies kann die gefaltete Form eines Vordaches sein oder ganz einfach ein Farbton, der leicht neben dem Erwarteten liegt.

Zeitlose Zurückhaltung

Ausser diesem Aufladen des Werks mit reichen Lesbarkeiten steht die selbstverständliche Einordnung in den Bestand im Vordergrund. Obschon es kein «Retro-Design» gibt und die Formensprache immer modern ist, fügen sich die jüngeren Schichten in den Bestand ein und tragen zum Teil zum Effekt der zeitlichen Irritation bei. Die neu eingesetzten Brandabschnitt- Türen zum Beispiel könnten sehr ähnlich auch von 1930 stammen oder von 1960. Ein anderes Beispiel ist der neue Vorraum zum Lesezimmer, räumlich das Ende eines Flurs mit bildhaften Aussichtsfenstern auf eine malerische Felswand. Der Raum ist vom Boden bis zur Decke getäfert und verbindet dadurch zwischen den Nachbarräumen. Das neue Täfer ist analog einem historischen in Zonen gegliedert, aber nicht profiliert, sondern ohne Schattenfugen gestossen. Die planen Holzflächen betonen Farbe und Maserung des Holzes; die Aufmerksamkeit wird auf die «Fensterbilder» gelenkt. An einer anderen Stelle entfällt diese gediegene Zurückhaltung. Das Treppenhaus von der vierten in die fünfte Etage ist im Zuge der Umbauten von Personalzimmern zu Gästezimmern entstanden, an einer historisch uninteressanten Stelle. Hier haben Miller & Maranta den Zeitschichten des Waldhauses eine Treppenskulptur implantiert, die spielerisch zwischen Moderne und Dekonstruktivismus oszilliert. Bei manchen Details verweben sich in einem einzigen Objekt Vergangenheit und Gegenwart. Die Lampen der renovierten Flure sollten erhalten bleiben, waren aber technisch überholt, und ihr Licht war zu dunkel. So wurden sie teilweise renoviert und teilweise erneuert. Heute hängen die erhaltenen Glasstäbchen ihrer Ecken neben den ersetzten Glasscheiben und fassen diskret die neuen Leuchtmittel.

Etappierte Grossbaustellen

Meist geht es bei den Umbauten aber nicht um Lampendetails, sondern um Grossbaustellen. In den letzten Jahren haben Miller & Maranta unter anderem den gesamten Bar bereich einschliesslich Office und eines völlig neuen Trakts mit Seminarräumen darunter gebaut. Sie haben die Eingangshalle saniert und ihr wieder den Blick auf den Wald zurückgegeben. Mit Jürg Conzett haben sie die Vorfahrt mit einem Faltwerk aus Beton bekrönt und für das Gepäck einen kecken Vorbau ans Personaltreppenhaus angeschlossen. Sie haben den gesamten Küchentrakt erneuert und dabei das historische Kernstück, die zweigeschossige Halle der Kochbrigade, erhalten. Dass das eine erheblich teurere Lüftungsanlage und andere kostspielige Kompromisse bedingte, haben die Bauherren in Kauf genommen. Rundherum wurde der Bau auf den Rohbau zurückgeführt, unterfangen, an- und umgebaut und anschliessend mit der neuesten Küchenlogistik ausgestattet. Doch nicht nur: Inmitten der neuen Chromstahl-Herrlichkeit steht wieder der hundertjährige Holzofengrill[6], auf dem seit hundert Jahren die Fleischstücke garen.

Jährlich werden etwa zehn Zimmer erneuert, wenn immer möglich solche, die übereinanderliegen, sodass Eingriffe in die Statik und die Leitungen koordiniert werden können. Einige Räume, deren Erhaltungszustand es erlaubt, werden mit originalen Möbeln des Hotels in einen Zustand, der dem historischen von 1908 entspricht, zurückgeführt. Wo grosse Eingriffe nötig sind oder kein erhaltenswerter Bestand vorhanden ist, sind Umbau und Ausstattung modern.

Bergeller und andere Zimmer

Seit 2003 sind Ruinelli Associati Architetti mit dieser Aufgabe betraut. Armando Ruinelli beschreibt seine Entwurfsarbeit als Übersetzung dessen, was er in der Tradition des Hauses sieht, in eine zeitgemässe Formensprache.[7] Er sucht eine innere Verbindung von Alt und Neu, indem er beispielsweise für die nach Entwurf gefertigten Möbel die gleichen Mate rialien und Oberflächen wählt wie diejenigen der historischen im benachbarten Zimmer. So spüren Gäste, die beide Zimmer gemietet haben, eine Verwandtschaft, ohne dass sich das Neue anbiedert. Bei Zimmern, die ganz neu gestaltet werden, leiten Themen die Entwurfsarbeit.

Bei einer Serie ist dies etwa das Bergell, dessen Quarzit im Badezimmer verbaut wird. Die Möbel und Bodenbeläge werden aus dem lokalen Kastanienholz gefertigt, und die Stoffe und Farben erinnern an regionale Traditionen, aber immer in völlig zeitgemässer Art. Beim Umbau der Bäder wird vor allem auf eine optische Beruhigung gezielt, um die Räume grosszügiger wirken zu lassen. Elemente werden zusammengefasst und verschmolzen, Oberflächen vereinheitlicht. Statt eines Glashalters an der Wand dient beispielsweise eine eingefräste Vertiefung im Stein des Waschtischs als Halterung. Immer ist ein optimaler Ausgleich zwischen Ästhetik, Funktionalität und Unterhalt zu suchen. Beim ersten Badezimmer wurde ein 1:1-Modell gebaut, um alle diese Ansprüche zu vereinen. Nicht zuletzt müssen die neuen Materialien der strengen Prüfung durch die Hausdame genügen, die sie mit Ölen, Säuren, Wasser und manch anderem traktiert und auf Beständigkeit und Pflegeleichtigkeit testet. Aber auch die Gestaltung soll möglichst lange aktuell bleiben. Die Architekten pflegen deshalb eine zurückhaltende Sprache und setzen primär auf die Raumwirkung selbst. Das Neue soll nicht als spektakuläres Design in Erscheinung treten, sondern zurückhaltend und atmosphärisch dicht wirken. Aus Sicht der Bauherrschaft muss auch in den neuen Zimmern dieser schwer zu fassende Geist einer zeitentrückten Ruhe in Erscheinung treten.

Zwischensaison

Keinen zusätzlichen Tag schliesst das Hotel für einen Umbau. Das Zeitfenster ist die Zwischensaison mit ihren sechs bis acht Wochen. Jede Massnahme muss beim Eintreffen der Gäste so weit abgeschlossen sein, dass sie nichts Störendes wahrnehmen. Für die Zimmer gilt dies absolut. Jeder Umbau, selbst wenn er wegen Zusammenlegungen oder Leitungsbauten tief in die Bausubstanz eingreift, muss innerhalb dieser kurzen Zeit abgeschlossen sein. Für die grossen Massnahmen in den Gemeinschaftsräumen und im Küchentrakt war dies nicht möglich, sie mussten auf drei Etappen verteilt werden. Wenn man sich 22 Köche, die 300 Essen an einem Abend zubereiten müssen, auf einem Baustellenprovisorium vorstellt, ahnt man, was das heisst. Viele der Umbauten waren mit Eingriffen bis unter die Fundamente, mit Sprengungen des Felsens und Unterfangungen des Altbaus und einer komplett neuen Statik verbunden. In einer Zwischensaison wurde 1991 die gesamte Halle abgerissen und um 5.5 Meter erweitert wieder aufgebaut, einschliesslich aller Ausbauten. Die Gäste kamen an und bemerkten die neuen Vorhänge… Wenn das Hotel die Saison pünktlich eröffnet, ist jede Baustelle abgedichtet und hinter provisorischen Einbauten verborgen; die Mitarbeiter haben hinter den Kulissen improvisiert und halten für die Gäste den Eindruck des immerwährenden Normalzustandes aufrecht. Die Eigentümer schätzen die Mehrkosten, die durch das beschleunigte Bauen und die Provisorien entstehen, auf etwa 20–25 % der Baukosten. Die Gesamtkosten liegen jedes Jahr bei durchschnittlich 3.5 Mio. Franken. Möglich seien solche Umbauten nur mit einer äusserst disziplinierten Planung aller Bauabläufe, so Quintus Miller. Meist erhalten die Handwerker Zeitfenster nicht von Tagen, sondern von Stunden. Für Verzögerungen gibt es keine Toleranz. Armando Ruinelli ergänzt: Möglich seien solche Abläufe nur mit eingespielten Teams von Fachleuten. Mit ihnen – und mit den Bauherren – habe sich eine Kultur des Teamworks entwickelt, die er hoch schätze.

Werte

Es geht um Werte und Haltungen. Nicht Wachstum und Wertvermehrung, so Direktor Felix Dietrich, sondern der Werterhalt stünde bei allen Erneuerungen im Zentrum.[8] Die Gewinne werden regelmässig ins Haus reinvestiert. Über dem Sanierungsprogramm für die künftigen Jahre steht auf der ersten Zeile: «Nicht nur technokratisch investieren, sondern mit Fantasie, Innovation und Voraussicht.»[9] Respekt für das Vorhandene und Wertschätzung stehen hinter dieser Strategie. Die Tradition soll weitergeführt werden, als die «Family Affair», mit der das Haus für sich wirbt; die nächste Generation steht bereit. Regelmässig werden auch lukrativste Kaufangebote von Interessenten und Hotelketten höflich abgelehnt. «Shareholder Value» hat hier eine ganz eigene Bedeutung. Hoch ist nicht nur die Wertschätzung der Tradition und des baulichen Erbes, sondern auch des sozialen. Jeder Gast wird persönlich von einem Direktionsmitglied begrüsst und verabschiedet. Eine Marotte? – Eine Geste. Es gibt Gäste, deren Eltern, Grosseltern und Urgrosseltern bereits regelmässig ins Waldhaus kamen. Aber auch die Wertschätzung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gehört dazu. Zum 100-Jahr- Jubiläum ist ein Buch[10] entstanden, das von den Lieblingsorten vieler Angestellter im Haus und einiger ihrer Heimatorte erzählt, an die sie immer wieder zurückkehren, in der Zwischensaison, wenn das Waldhaus zur Baustelle wird und sich für die Zukunft rüstet.


Anmerkungen
[01] Nach dem Zweiten Weltkrieg und der nachfolgenden Krisenzeit erlitt das Haus schwere Einbussen und kämpfte um seinen Erhalt. Erst der Bau des Hallenbades von Otto Glaus 1970 brachte den erneuten Aufschwung
[02] Das Hotel ist im Eigentum einer ausschliesslich aus Familienmitgliedern gebildeten Aktiengesellschaft . Die Direktion besteht aus Felix und Maria Dietrich-Kienberger und Urs Kienberger, den Urenkeln der Gründer, Josef und Amalie Giger-Nigg
[03] Text der Medieninformation zum hundertjährigen Bestehen des Hauses
[04] Über die Baugeschichte des Waldhauses ist eine sehr informative Broschüre erschienen: Roland Flückiger-Seiler: Hotel Waldhaus Sils-Maria. Schweizerische Kunstführer GSK, Bern 2005
[05] Gespräch mit dem Verfasser vom 20. 2. 2009
[06] Das Hotel hat ein reizendes hauseigenes Museum, das der Künstler Giuseppe Reichmuth mit Filmen und mechanischen Skulpturen animiert hat
[07] Gespräch mit dem Verfasser vom 4. 3. 2009
[08] Gespräch mit dem Verfasser vom 5. 3. 2009
[09] Die Besitzerfamilie führt ein Journal im Hinblick auf kommende Um- und Ausbauten. Darin finden sich u. a. Wünsche der Gäste, aber auch der Erneuerungsbedarf, der aus betrieblicher oder bautechnischer Sicht notwendig werden wird. Neben der weiteren Renovation von Gästezimmern stehen in den nächsten Jahren die Renovation des Speisesaals und der Ausbau des Wellness-Bereiches auf dieser Liste
[10] Waldhaus Sils. A Family Aff air since 1908. Ein Grandhotel wird hundert. Zora del Buono und Stefan Pielow, Sils-Maria, 2008

TEC21, Fr., 2009.03.27



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Presseschau 12

25. August 2017Hansjörg Gadient
TEC21

Gerettete Pläne

Der Landsitz Ury in Berlin wurde 1944 zerstört – samt der Parkanlage, die Leberecht Migge 1915 realisiert hatte. Migges Familie hatte seine Bürounterlagen schon zehn Jahre früher vernichtet. Doch 2016 tauchten 46 Pläne zum Projekt auf und ermöglichen eine faszinierende Spurensuche.

Der Landsitz Ury in Berlin wurde 1944 zerstört – samt der Parkanlage, die Leberecht Migge 1915 realisiert hatte. Migges Familie hatte seine Bürounterlagen schon zehn Jahre früher vernichtet. Doch 2016 tauchten 46 Pläne zum Projekt auf und ermöglichen eine faszinierende Spurensuche.

Private Haus-, Guts- und Villengärten stellen den Schwerpunkt des Konvoluts von Leberecht Migge dar, das 2016 im Archiv für Schweizer Landschaftsarchitektur ASLA entdeckt wurde. Die meisten dieser Gärten waren bisher unbekannt, weil sie zu Migges Lebzeiten nicht publiziert worden waren. Doch selbst bei publizierten Projekten war die Dokumentation spärlich: Zeitgenössische Artikel zeigten Gärten meist mit wenigen Abbildungen, in der Regel mit Publikationsplan und ergänzenden Fotos oder Perspektiven.

Die Projektdokumentation über den Landsitz Ury im Archiv für Schweizer Landschaftsarchitektur ist daher einzigartig. Sie stammt aus dem Nachlass des Schweizer Landschaftsarchitekten Walter Leder (1892–1985), der bei Migge gearbeitet hatte, nach der Auflösung des Büros in die Schweiz zurückkehrte und dabei Pläne mitnahm (diese Pläne wurden 2016 im Archiv des ASLA gefunden). Leder kam allerdings erst etwa fünf Jahre nach Fertigstellung des Gartens Ury ins Büro Migge. Warum er so viele Darstellungen zu einem Projekt, an dem er selber nicht gearbeitet hat, in die Schweiz mitgenommen hat, ist unklar.

Die 46 Blätter zum Garten Ury zeigen den gesamten Arbeitsprozess, von den ersten topografischen Aufnahmen des Grundstücks über verschiedene Projektvarianten bis zu den Ausführungsplänen der Bauten und den Pflanzplänen. Das ermöglicht einen einmalig tiefen Einblick in die Arbeitsweise des Büros Migge. Der Bauherr war der Kaufmann Moritz Ury; die Villa entwarf der bekannte Theaterarchitekt Oskar Kaufmann. Das Haus wurde im Februar 1914 fertiggestellt, der Garten 1915. Die Pläne zu der knapp 7000 m² grossen Anlage am Koenigssee in Berlin stammen aus einem Zeitraum zwischen 1913 und 1915.

Migge beginnt das Projekt als Angestellter in der Gartenbaufirma Jacob Ochs; die früheste Version ist noch von Ochs unterschrieben. Kurze Zeit später macht sich Migge selbstständig und legt eine zweite, viel gewagtere Variante vor. Diese ist dem Bauherrn vermutlich zu neuartig, er lehnt sie ab. Migge schlägt weitere, weniger aussergewöhnliche, dafür aber repräsentativere Entwürfe vor, von denen einer weiter modifiziert und schliesslich ausgeführt wird. Zu vielen Einzelelementen, etwa zu den raumbildenden Wänden der Zufahrt oder zum Wasserpavillon, existieren reiche Detailstudien in Varianten.

TEC21, Fr., 2017.08.25



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TEC21 2017|34 Leberecht Migges Erbe

03. Mai 2013Hansjörg Gadient
TEC21

Spuren, Sporen, Spolien

Kann ein Stadtpark der Bevölkerung Freiräume bieten und zugleich Naturschutzgebiet sein? Lassen sich unter dem steigenden Nutzungsdruck in den dichter werdenden Quartieren ökologisch wertvolle Standorte erhalten? Nicht abgetrennt und eingezäunt, sondern in die Nutzflächen übergehend? Im Basler ­Erlenmattpark zeigt der Landschaftsarchitekt und Stadtplaner Raymond Vogel, dass es geht und wie städtische Freiräume künftig funktionieren könnten – nicht als ­entleerte Designikonen, sondern als ökologisch, sozial und historisch gedachte, ganzheitlich geplante Lebensräume.

Kann ein Stadtpark der Bevölkerung Freiräume bieten und zugleich Naturschutzgebiet sein? Lassen sich unter dem steigenden Nutzungsdruck in den dichter werdenden Quartieren ökologisch wertvolle Standorte erhalten? Nicht abgetrennt und eingezäunt, sondern in die Nutzflächen übergehend? Im Basler ­Erlenmattpark zeigt der Landschaftsarchitekt und Stadtplaner Raymond Vogel, dass es geht und wie städtische Freiräume künftig funktionieren könnten – nicht als ­entleerte Designikonen, sondern als ökologisch, sozial und historisch gedachte, ganzheitlich geplante Lebensräume.

Die Form folgt der Funktion! Ornament ist Verbrechen! Weniger ist mehr! Die Moderne hatte noch Rezepte. In der Architektur stellten Postmoderne und Dekonstruktivismus die starren Dogmen infrage. Robert Venturis «Komplexität und Widerspruch in der Architektur» ­machte Furore. Ausdrücklich wandte sich Venturi gegen Mies van der Rohes «less is more» und plädierte für Mehrschichtigkeit. Er zitierte den Literaturwissenschaftler Cleanth Brooks (1906–1994) und sagte mit ihm: «Wir sind gefangen in der übermächtigen Tradition des ‹Entweder-oder› und entbehren der geistigen Beweglichkeit [...], welche es uns erlauben würde, den feineren Unterscheidungen und den subtileren Möglichkeiten nachzugehen, die uns die Tradition des ‹Sowohl-als-auch› aufschliesst.»[1] Ákos Moravánszky bezeichnet diese Aussage als Kern von Venturis Theorie. Er sagt: «Eine both-and-(sowohl-als auch)-Attitüde soll laut Venturi die Entweder-oder-Ästhetik des Funktionalismus ersetzen, um eine reichere, interessantere und damit populärere Architektur zu schaffen, wo Mies van der Rohes Diktum «less is more» nicht mehr akzeptiert werden muss.»[2]

Sowohl-als-auch

Weniger ist also wieder weniger, und mehr ist wieder mehr – wenigstens in der Architektur. In der Landschaftsarchitektur dagegen setzen noch immer zu viele Projekte auf Ent- leerung und Reduktion. Sie wiederholen damit ein Rezept, das in der Architektur seit vierzig Jahren infrage gestellt ist. Die landschaftsarchitektonischen Projekte, die nach dieser ­simplizistischen Vorstellung realisiert wurden, sehen zwar auf den Plänen gut aus und gewinnen in den Wettbewerben, aber beim Publikum fallen sie durch. Sie stehen leer und ­werden schon nach wenigen Jahren umgebaut und den real vorhandenen Bedürfnissen angepasst. Glücklicherweise haben sich in den letzten Jahren auch andere Auffassungen durchgesetzt, wie etwa bei der Parkanlage Brünnengut in Bern (vgl. TEC21 11/2011), beim Brixpark in Berlin, beim Landschaftspark Duisburg-Nord oder beim Hyde Park in London. Es sind Projekte einer höheren Komplexität, nicht mehr dem Entweder-oder, sondern dem ­Sowohl-als-auch verpflichtet. Es gelingt in ihnen, scheinbar unvereinbare Anforderungen an einen Ort zu einer Synthese zu führen. Vor dem Hintergrund zunehmender baulicher ­Verdichtung und erhöhter Ansprüche an die Ökologie sind solche Ansätze von erheblicher Bedeutung.

Sukzessionen

Der Erlenmattpark in Basel ist das vorläufig letzte Glied in einer Kette von Veränderungsprozessen an diesem Ort. Ursprünglich mäandrierte hier der Rhein und schuf kontinuierlich neue Schotterbänke. Wärmeliebende Tiere und Pionierpflanzen nahmen sie in Besitz, bis die natürliche Sukzession sie mit Büschen und Bäumen besetzte. Ende des 19. und im 20. Jahrhundert wurde der Rhein reguliert, das angrenzende Land beackert. Ab 1855 kam die Bahn und mit ihr die Stadt, bis 1998 war die Erlenmatt ein Güterbahnhof der Deutschen Bahn. Solche Bahnareale sind oft wertvolle Sekundärbiotope, in denen sich die sandigen Magerrasen und offenen Schotterfluren wieder finden, die in den begradigten Gewässern fehlen. Hier finden sich Ruten-Knorpelsalat und Pfeilblättriges Schlangenmaul, Weinhähnchen und Mauereidechse (vgl. Kasten). 420 Arten wurden in der Erlenmatt nachgewiesen, darunter auch 73, die auf der Roten Liste des Schweizer Mittellands stehen.[3] Heute könnte man den Erlenmattpark als Tertiärbiotop bezeichnen, ein menschgemachter Ersatz für das Sekundärbiotop Bahngelände. Denn der ausserordentliche Artenreichtum und der Schutzstatus vieler Tiere und Pflanzen haben dazu geführt, dass hier das Prinzip des Sowohl-als-auch fruchtbar gemacht wurde.

Umformungsprozess

Der 5.7 Hektaren grosse Erlenmattpark ist 2001 aus einem Wettbewerb hervorgegangen. Das Gelände bildet den Kern der Aussenräume eines rund zwanzig Hektaren grossen ­Entwicklungsgebiets mit Wohn- und Bürobauten. Der zentrale Park ist in vier Zonen gegliedert, die von Süden nach Norden an Nutzungsintensität ab- und an ökologischem Wert ­zunehmen. Im bereits fertiggestellten südlichen Teil dominiert die menschliche Nutzung; er heisst «Menschenmitte». Im noch zu realisierenden nördlichen Teil wird dem Natur-schutz der Vorrang gegeben; er wird «Florenarena» heissen. Dazwischen bilden «Kissenhain» und «Träumerholz» Übergangszonen, in denen sich menschliche Nutzung und ­Naturschutz überlagern. Bis 2023 sollen alle Bauabschnitte realisiert sein. Der Umformungsprozess zu einem Stadtquartier hat begonnen und wird die nächsten Jahrzehnte weiter fortschreiten.

Genius loci

1728 schrieb Alexander Pope: «Wer einen Garten anlegt, muss zuallererst auf eines achten: den Genius Loci.»[4] Den Geist des Orts zum Ausgangspunkt aller Überlegungen zu machen, um Vorgefundenes zu verstärken und zu überhöhen, das war neu. Pope war ein Zeitgenosse von Lancelot «Capability» Brown, dem Landschaftsarchitekten, der seinen Spitznamen seiner Fähigkeit verdankt, die Möglichkeiten eines vorgefundenen Orts am besten zu erkennen und zu entwickeln. Die Website von Raymond Vogel heisst www.capability.ch, was man ohne Hintergrundwissen als anmassend empfinden kann. Aber Vogel vergleicht sich nicht mit Capability Brown, sondern hat sich dessen Vorgehen zum Vorbild genommen, die Möglichkeiten eines Orts bestmöglich zu nutzen. Der Geist des Orts leistet viel für den Entwurf des Erlenmattparks. Aus der Analogie zu Eisschollen, die auf einem Fluss treiben, ist das Konzept des ganzen Stadtquartiers entstanden, das frei treibende Schollen von Baublöcken und Grünflächen aneinanderschiebt. Der Güterbahnhof mit seiner «billigen» und rüden Materialität wurde zur Inspiration für das, was schön sein könnte in diesem Stadtteil. Das Sekundärbiotop des Orts wird zum Leitbild für die Ökologie des neuen Parks. Der ­Genius Loci bestimmt seine Gestalt.

Im Verlauf der Baumassnahmen wurden die für ein Bahnhofareal typischen grossformatigen Betonplatten ausgebaut und zwischengelagert. Dasselbe geschah mit dem vorhandenen Boden­substrat. Diese physische Umschichtung und Wiederverwendung von Material diente in ­beiden Fällen dem Erhalt von Information. Im Falle der Betonplatten wurde die Erinnerung an den früheren Ortscharakter konserviert. Es sind Spolien, d. h. bauliche Elemente, die nicht nur wegen ihres materiellen, sondern auch wegen ihres Erinnerungswerts erneut in ­einem Bauwerk verwendet werden.[5] Die Platten bilden heute den Bodenbelag des neuen Platzes; ihre Bemalung, die durch die zufällige Verlegung keinen Sinn mehr ergibt, durchbricht die Regelhaftigkeit des Musters und wirkt durch diese formale Freiheit aktuell und anregend. Und doch schwingt der industrielle Charakter mit. Für manche Besucher mag er zu rüde sein. Doch vermutlich kommt das dem Gestalter entgegen. Ist das nun ein Platz oder ein Lastwagenparkplatz? Vogel sucht die Nähe zum ehemaligen Güterbahnhof und nähert sich damit der Strategie von Lancelot Brown an.[6]

Durch die Wiederverwendung des vor Ort vorhandenen Oberbodens wurden Saatgut und Sporen darin erhalten. So konnten die Pflanzen, die sich hier auf dem Sekundärbiotop angesiedelt hatten, ihre genetische Information erhalten und weitergeben. Dieser Erhalt von sogenannten regionalen Ökotypen ist für die Biodiversität eines Orts von entscheidender Bedeutung. Die gleiche Massnahme dient also auf zwei ganz unterschiedlichen Ebenen dem Erhalt von Erinnerung und wird so zu einem Paradebeispiel für eine ganzheitliche Sicht und Handlungsweise.

Beziehung – nicht nur Flirt

Unlängst hat das Bundesamt für Raumentwicklung die Möglichkeit skizziert, dass in der Schweiz zehn Millionen Menschen leben könnten. Doch schon heute kommen wir nicht umhin, den Lebensraum mit Tieren und Pflanzen zu teilen und die Anliegen von Flora und Fauna denen der Menschen gleichzustellen und nicht unterzuordnen. Die Integration von ökologischen Anliegen muss selbstverständlich werden und mehr als modische Attitüde sein. Vittorio Magnago Lampugnani konstatierte 1995 eine Serie von Flirts der Architektur mit verschiedenen Disziplinen. So habe sie sich am Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Technik verbunden, in den 1960er-Jahren mit der Soziologie, in den 1970ern mit der Semiotik und in den 1980ern mit der Geschichte. In den 1990ern habe sie dann ihren bis heute anhaltenden Flirt mit der Ökologie begonnen. Mittlerweile hat sich auch die Landschaftsarchitektur in diesen Flirt verstricken lassen. Für beide Sparten gilt Lampugnanis Wort: «Jetzt scheint die Ökologie an der Reihe zu sein. Es würde uns schmerzen, eine weitere oberflächliche und flüchtige Liebelei miterleben zu müssen. Denn wir glauben, dass das Engagement für den sparsamen Umgang mit Ressourcen und für den Schutz unserer Umwelt vor Verseuchung und Zerstörung eine Verpflichtung ist, der sich niemand entziehen kann. Und wir glauben, dass die Entwerfer die ersten sind, die sich diese Verpflichtung zu eigen machen müssen.»[7]


Anmerkungen:
[01] Robert Venturi: Komplexität und Widerspruch in der Architektur. Braunschweig 1978, S. 37. Das Original erschien 1966 unter dem Titel Complexity and Contradiction in Architecture.
[02] Ákos Moravánszky: Architekturtheorie im 20. Jahrhundert. Wien/New York 2003, S. 531.
[03] Michèle Büttner: «Zwischen Schiene und Schotter», in TEC21 3-4/2003, S. 24.
[04] Brief an die Prinzessin von Wales, zit. nach Penelope Hobhouse: Der Garten. London 2002, S. 206.
[05] Vgl. dazu Hans-Rudolf Meier: «Vom Siegeszeichen zum Lüftungsschacht. Spolien als Erinnerungsträger in der Architektur» in: ders. u. a.: Bauten und Orte als Träger von Erinnerung. Zürich 2000, S. 87 ff.
[06] Sir William Chambers, Architekt und Gartenentwerfer, kritisierte 1772, Browns Parkgestaltungen «differ very little from common fields, so closely is nature copied in most of them», zit. nach: Patrick Taylor: The Oxford Companion to the Garden. Oxford 2006, S. 77.
[07] Vittorio Magnano Lampugnani: Die Modernität des Dauerhaften. Essays zu Stadt, Architektur und Design. Berlin 1995, S. 77.

TEC21, Fr., 2013.05.03



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11. März 2011Hansjörg Gadient
TEC21

«Einheimische» Pflanzen?

«Einheimische Pflanzen» ist ein unbrauchbarer Begriff, obwohl er auch in der Fachwelt immer mehr Verbreitung findet. Aber nicht nur der Ausdruck ist fragwürdig, sondern auch das Konzept dahinter, denn damit wird der ganze Reichtum der Gartenkultur negiert.

«Einheimische Pflanzen» ist ein unbrauchbarer Begriff, obwohl er auch in der Fachwelt immer mehr Verbreitung findet. Aber nicht nur der Ausdruck ist fragwürdig, sondern auch das Konzept dahinter, denn damit wird der ganze Reichtum der Gartenkultur negiert.

Polentamais stammt nicht aus dem Tessin, sondern aus Amerika, und die ersten Röstikartoffeln wuchsen nicht im Emmental, sondern auf einer peruanischen Hochebene. Nicht einmal das Rüebli stammt aus dem Aargau, sondern aus Afghanistan. Würden wir auf die Vielfalt unserer Lebensmittel verzichten wollen, weil sie aus eingeführten Pflanzen stammen? Es bliebe eine trostlos schmale Auswahl an Getreide und Gemüse übrig. Ebenso eintönig und langweilig sähen unsere Gärten und Parks aus, wenn wir auf eingeführte und züchterisch veränderte Pflanzen verzichten würden. Trotzdem taucht der Begriff in Wettbewerbsausschreibungen[1] oder Bauprogrammen immer häufiger auf und formuliert einen Anspruch, den niemand einlösen kann. Wenn stattdessen «standortgerecht» benutzt und im weitesten Sinn ernst genommen wird, wird er zum Mittel, um nicht nur ökologische, sondern auch soziale und wirtschaftliche Faktoren in der Pflanzenverwendung zu berücksichtigen und zu einer ganzheitlicheren Sicht des Themas zu gelangen.

Pflanzen wandern, z.B. die Waldföhre

Alle Pflanzen haben einen «Migrationshintergrund». Sie wandern mittels Ablegern, Ausläufern und Samen und erreichen dabei erstaunliche Geschwindigkeiten. Die schnellsten sind Pioniere wie die Waldföhre (Pinus sylvatica), deren Bestände Wandergeschwindigkeiten von 1.5 bis 2 km pro Jahr erreichen.[2] Pflanzen sind seit Beginn des Ackerbaus auch mit dem Menschen gewandert. Eine Sippe, die weiterzog, nahm ihr Saatgut und ihre Pfropfhölzer mit, Samen von Getreidepflanzen, die grössere Körner als die Wildform hervorbrachten, und Zweige von veredelten Obstsorten, die am neuen Siedlungsort auf wilde Unterlagen gepfropft wurden. Ausser mit wandernden Volksstämmen verbreiteten sich Pflanzen auch in den Satteltaschen von Kriegshelden. So brachte Alexander der Grosse die Baumwolle aus Kleinasien nach Griechenland. Die Römer verbreiteten nördlich der Alpen nicht nur ihre Sprache, sondern auch Süsskirsche, Buchs und Wein. Die Kreuzritter zogen ins Morgenland und brachten von dort die Linse und die Quitte nach Hause. Mit der Ausbreitung des Islam gelangten Zitronen, Orangen, Flieder und Tulpe nach Europa. Und schliesslich brachten Menschen auch aus Freude an fremden Gewächsen Samen mit nach Hause und säten sie in Gärten und Parks.

Pflanzen auf hoher See, z.B. der Tee

Das älteste Bildzeugnis für einen Pflanzentransport ist ein 3500 Jahre altes Relief im Tempel der ägyptischen Königin Hatschepsut. Es zeigt 31 Myrrhebäume, die per Schiff aus dem heutigen Somalia[3] nach Ägypten reisten. 1494 landete Christoph Kolumbus in Amerika und brachte auf der Rückreise die ersten lebenden Pflanzen auf den alten Kontinent. England, Frankreich, Spanien und Portugal züchteten in ihren Kolonien verschiedene Nutzpflanzen wie Hanf, Zucker, Kaffee, Tee, Gummi und Chinarinde und versuchten immer wieder, deren Setzlinge per Schiff von einer Kolonie in die andere zu bringen, um dort den Anbau auszuweiten. Auf den oft mehr als sechs Monate langen Reisen gingen die Setzlinge jedoch wegen Wassermangels, durch Rattenverbiss oder wegen der Salzgischt ein. 1830 machte der Londoner Arzt Nathaniel Ward eine Erfindung, die den Pflanzentransport revolutionierte, den wardschen Kasten (Abb. 1). In diesen verglasten und luftdicht versiegelten Behältern überlebten auch empfindliche Setzlinge Schiffsreisen ohne jegliche Pflege. Wards Erfindung[4] machte exotische Zierpflanzen für jedermann erschwinglich und revolutionierte alle auf Pflanzen basierenden Wirtschaftszweige. Bisher gab es beispielsweise Tee (Camellia sinensis) in Indien nur in ganz kleinen Vorkommen, die kommerziell unbedeutend waren. 1848 erreichte die erste Sendung Teepflanzen das Land. Der schottische Botaniker Robert Fortune hatte sie in China gesammelt und in wardschen Kästen nach Indien verschifft. So wurde England von chinesischen Exporten unabhängig, und der Tee, der heute aus Indien zu uns gelangt, stammt praktisch ausschliesslich von diesen Pflanzen ab.

Pflanzen mit Gartenwert, z. B. der Roseneibisch

Warum setzen wir eingeführte Pflanzen in unsere Gärten? Weil sie etwas bieten, was es bei uns in der Natur nicht gibt: Sie haben «Gartenwert». Der Roseneibisch (Hibiscus syriacus) kam vor 1600, also lange vor dem wardschen Kasten, nach Europa (Abb. 3). Er blüht im Juli und August in auffallenden, grossen, roten, weissen oder violetten Blüten. Fast alle in Mitteleuropa beheimateten Sträucher blühen zwischen Anfang April und Ende Juni, und mit Ausnahme der Heckenrose (Rosa canina) reicht die Farbe ihrer Blüten von Reinweiss über Crème bis Hellgelb. Ein Strauch also, der spät im Jahr noch mit roten oder lila Blüten aufwarten kann, hat einen besonderen Gartenwert – bestimmendes Kriterium für die Aufnahme einer Pflanze in eine Gartengestaltung, seit es Ziergärten gibt. Drei Arten von Pflanzen sind aussergewöhnlich genug, um wegen ihrer Besonderheit im Garten gepflegt zu werden: 1. eingeführte Pflanzen, 2. Mutationen von einheimischen Pflanzen und 3. züchterisch veränderte einheimische oder eingeführte Pflanzen.

Mutationen, z. B. die Säuleneibe

Die eingeführten Pflanzen wurden erst nach und nach erschwinglich. Vorher suchte man in der Natur nach interessanten Abweichungen für den Garten. Dazu gehörten Mutationen wie zum Beispiel die Rotlaubigkeit, die es bei vielen unserer heimischen Gehölze, so bei Buche, Ahorn, Birke, Hasel, Holunder, Berberitze und vielen anderen, gibt. Mutationen haben in der Regel aus ökologischer Sicht keine andere Wirkung auf ihr Umfeld als die Normalform. Sie wachsen aber meist langsamer, sind deshalb gegenüber der grünlaubigen Form im direkten Konkurrenzkampf unterlegen und darum selten. Auch die Säulenform ist eine Mutation, die es bei vielen Gehölzen gibt. Eine besonders spektakuläre ist die der Eibe (Taxus baccata «Fastigiata», Abb. 2). 1780 fand man in der irischen Grafschaft Fermanagh eine wilde Eibe, deren Zweige eng anliegend nach oben strebten und so dem Baum eine sehr schlanke und grafisch reizvolle Form gaben. Die Pflanze wurde über Stecklinge vegetativ vermehrt und trat wegen ihrer faszinierenden grafischen Erscheinung als «Irish Yew» einen Siegeszug um die halbe Welt an. Nach dem strengen Kriterium «einheimisch» dürfte sie nirgends mehr verwendet werden, obschon es den Vögeln ziemlich egal ist, auf welcher Form von Eibe ihre Beeren wachsen.

Züchtungen, z.B. die Aurikel

Die Beschränkung auf «einheimische» Pflanzen schliesst auch die Verwendung züchterisch veränderter, ursprünglich einheimischer Arten aus und negiert damit oft hunderte Jahre Gartenkultur. Viele bekannte Arten wie zum Beispiel das Veilchen, die Rose oder die Iris mutieren gern und lassen sich leicht kreuzen und vermehren. Die Alpenaurikel (Primula auricula, Abb. 8) gehörte einmal zu den bekanntesten Gartenblumen in Europa. Das Pflänzchen, das in der Natur eine unscheinbare, gelbe Blüte zeigt, lässt sich zu den unglaublichsten Farben und Formvarianten heranzüchten (Abb. 7). Bauern im Tirol hatten das schon im 16. Jahrhundert entdeckt und genutzt. Im Biedermeier erreichte der Aurikel-Boom bei den Blumisten[5] seinen Höhepunkt mit Katalogen, die über 1000 Sorten nannten, gefüllte und ungefüllte, in allen Farben. Mitte des 19. Jahrhunderts erlosch die Mode, aber noch heute werden die spektakulärsten Varianten auf Züchtershows gezeigt.[6]

Zurück zur Natur, z.B. die Wiesenmargerite

Der wichtigste Grund für die Verwendung einheimischer Pflanzen ist ihre Funktion als Futter für die einheimischen Tiere. Sie sind darauf angewiesen, um zu überleben, vor allem die Spezialisten unter ihnen. Deshalb steht es auch ausser Frage, dass in der freien Natur Anpflanzungen ausschliesslich mit einheimischen Arten erfolgen sollen – und müssen, denn das Ausbringen anderer Arten ist dort gesetzlich nicht zulässig.[7] Warum aber in Gärten und Parks nur Einheimisches verwendet werden soll, ist schwer zu verstehen. Denn hier geht es nicht nur um ökologische Anliegen, sondern auch um soziale. Es geht um den Erhalt der Gartenkultur und um die Freude an den aussergewöhnlichen Gewächsen, die seit Jahrhunderten im geschützten Raum der Gartenanlagen gehegt wurden. Will man den Gärtnerinnen und Gärtnern wirklich die Lust an der gezüchteten Rose, an der Korkenzieherhasel und am aus dem nahen Osten stammenden Flieder verbieten, weil sie allesamt nicht «einheimisch» sind?[8] Wann immer viel gebaut wird, blüht die Wiesenmargerite auf. Nicht weil sie in verdichteten Siedlungsgebieten besonders gut gedeihen würde – sie liebt volle Sonne –, sondern weil als Reaktion auf die überhitzte Bautätigkeit allerorten der Ruf nach Magerwiesen ertönt. Man versucht den Verlust an wirklicher Naturnähe durch Bilder zu ersetzen, die Naturnähe suggerieren, und sät Magerwiesen in die Vorgärten. Die einem breiten Publikum als «Blumenwiese » angepriesenen Saatmischungen zeigen unfehlbar immer ein Bild mit einer Wiesenmargerite als Vordergrund. Auffällig ist, dass die heutige Tendenz zu einheimischen Pflanzen eine Parallele zur Schweizer Naturgartenbewegung der 1970er-Jahre aufweist: Beiden gemein ist der Hang zu gesicherten Werten, dem Bekannten und Vertrauten in Zeiten gesellschaftlicher Veränderungen.1973 erscheint in der Schweiz «Alle Jahre wieder saust der Presslufthammer nieder», die bekannte Serie von Zeichnungen, mit denen Jörg Müller zeigte, wie sich eine idyllische Agrarlandschaft in eine übel verbaute Agglomerationsszenerie verwandelt. In dieser Zeit gewinnen Umweltthemen eine hohe Aufmerksamkeit, und die Naturgartenbewegung findet ein enormes Echo. Zu Koryphäen dieses Trends werden der Holländer Luis le Roy und der Solothurner Urs Schwarz, deren Publikationen weite Verbreitung fanden. Vor allem Schwarz war in seiner Forderung nach der ausschliesslichen Verwendung von einheimischen Pflanzen rigoros.

Die «heimische» Pflanze, z.B. die Stileiche (Quercus robur)

Was in England «English Oak» heisst, ist in Deutschland die «Deutsche Eiche», nämlich die Stileiche, Quercus robur. Dass Pflanzenverwendung politisch instrumentalisiert werden kann, ist überraschend, aber nicht neu. Besonders der Begriff «heimische Pflanzen» und die Forderung danach haben einen unangenehmen geschichtlichen Beigeschmack. Im Dritten Reich waren rassische Reinheit und die Forderung nach «heimischen» Pflanzen Blüten aus derselben Wurzel. Joachim Wolschke-Bulmahn beschreibt in einem lesenswerten Aufsatz die Zusammenhänge zwischen Nazi-Ideologie und Gartengestaltung sehr eindrücklich, unter anderem auch die Forderung, nur heimische Pflanzen zu verwenden. Er schreibt: Joseph Pertl (1899 –1989), von 1935 bis 1945 Stadtgartendirektor von Berlin (…), diffamierte die Ver- wendung ausländischer Pflanzen in der Gartenarchitektur als quasi »entartete» Gartenkunst. Er schrieb 1939: «Die kulturellen Schaumschläger waren es, die das Volk einmal anlernten, nur noch nach exotischen Reizen zu jagen und die heimischen und bodenständigen und daher wirklichen Werte gering schätzend beiseite zu schieben. Vom Exotischen bis zum gänzlich Abnormen ist aber nur noch ein ganz kleiner Schritt, und tatsächlich sind wir auch durch den Exotenfimmel in eine wahre Abnormitätspsychose verfallen, von der wir noch lange nicht geheilt sind.»[9]

Einheimisch, seit wann? Z.B. die Sonnenblume

Pflanzen haben sich verbreitet und wurden transportiert; die Definition, was eine einheimische Pflanze ist und was nicht, erfordert also eine zeitliche Grenzziehung. Auch der Mädchenhaarbaum (Ginkgo biloba) war hierzulande einmal einheimisch, es ist aber schon lange her, etwa 150 Millionen Jahre. Schönste Versteinerungen von Ginkgoblättern finden sich zum Beispiel im Solnhofer Plattenkalk. Ist diese Grenzziehung absurder als andere? Vielleicht. Beliebte andere Zeitschwellen sind das Ende der letzten Eiszeit vor etwa 12 000 Jahren, als die Flora in Mitteleuropa mit noch etwa 1000 Arten übersichtlich war und die Rotbuche etwa nur in Habitaten südlich der Alpen vorkam. Näher an unserer Zeit liegt die Invasion der Römer, die für die Verbreitung von vielen Pflanzenarten sorgten, die wir heute als einheimisch ansehen. Nach dieser Logik wären weder Buchs noch Wein oder Süsskirsche einheimisch. Die Entdeckung Amerikas 1492 ist ein weiteres historisches Ereignis, das oft als Zeitschwelle dient, d.h., dass alles, was später eingeführt wurde, nicht einheimisch ist. Als «Neophyten» bezeichnet die schweizerische Kommission für die Erhaltung von Wildpflanzen Arten, die nach 1500 eingeführt wurden. Aus einem korrekten einheimischen Garten entfernt werden müsste dann auch die Sonnenblume (Helianthus annus), die 1596 aus Amerika eingeführt wurde.[10] Weitere wichtige Ereignisse wären die Erfindung des wardschen Kastens (1830) oder die Öffnung Chinas (1856), die neue Schübe von Pflanzeneinführungen brachten. Absurd sind alle diese Einteilungen, denn man weiss nur von den wenigsten Pflanzen zuverlässig, wann und woher sie eingeführt wurden oder eingewandert sind.

Wo einheimisch? Z.B. die Heckenrose

Arbiträr bis absurd ist auch der Versuch, eine räumliche Eingrenzung für den Begriff «einheimisch » zu finden. Einige Gutachten fordern deshalb die Verwendung von sogenannten regionalen Ökotypen. Der Begriff ist ungenau definiert, meint aber im Grunde, dass Pflanzen verwendet werden, deren Saatgut aus regionalen Beständen stammt. Das lässt sich meist aber nicht mehr herleiten, weil beispielsweise hochstämmige Bäume, die gross genug sind, um als Strassenbaum Verwendung zu finden, oft schon durch mindestens drei spezialisierte Baumschulen in mehreren Ländern gewandert sind. Oder man müsste jeden einzelnen Baum gentechnisch auf seine Verwandtschaft mit regionalen und überregionalen Beständen vergleichen. Beides ist in der Realität völlig unpraktikabel. In Deutschland versucht man das Problem gesetzlich zu lösen: Das am 29. Juli 2009 revidierte Bundesnaturschutzgesetz fordert, dass ab März 2020 nur noch Pflanzen in der freien Natur ausgebracht werden dürfen, deren genetischer Ursprung in dem betreffenden Herkunftsgebiet liegt. Dafür wird das Land nun in solche Herkunftsgebiete aufgeteilt. Genetische Untersuchungen an verschiedenen Arten zeigten, dass Herkunftsgebiet und genetische Identität bei weitem nicht immer übereinstimmen. Populationen der Hundsrose (Rosa canina) in Brandenburg zeigten etwa, dass einzelne Pflanzen unter sich weniger eng verwandt waren als mit Individuen aus Vergleichspopulationen in der Türkei, Spanien, Algerien und Griechenland. Beim roten Hartriegel (Cornus sanguinea) zeigten solche Untersuchungen, dass die 637 untersuchten Proben aus ganz Europa genetisch so ähnlich waren, dass sie kaum durch die natürliche Verbreitung einer nacheiszeitlichen Wanderung entstanden sein konnten.[11] Die Vermutung liegt nahe, dass die Pflanzen ihre Verbreitung dem Menschen verdanken.

Spezialisten, z.B. die Herbstanemone

Wir brauchen eingeführte Pflanzen nicht nur, weil sie Träger einer langen Gartentradition sind, sondern auch, weil es viele Aufgaben gibt, besonders im urbanen Umfeld, die mit einheimischen Pflanzen nicht zu lösen sind. Ein Beispiel sind die Strassenbäume. Mit dem Effekt der globalen Erwärmung können immer weniger einheimische Bäume in unseren ohnehin schon heissen und trockenen Städten gedeihen. Deshalb braucht es eingeführte Gehölze, die mit dem Hitzestress fertig werden. Ein anderes Beispiel sind schwierige Situationen wie Hauseingänge auf der Nordseite von hohen Gebäuden. Das ist der Ort der Aussenanlage, der am meisten genutzt wird und wo Blumenschmuck meist erwünscht wäre. Eher trockene Standorte im tiefen Schatten sind bei uns in der Natur aber selten, und aus dem heimischen Artenspektrum gibt es kaum attraktiv Blühendes dafür, mit Ausnahme des Waldgeissbartes (Aruncus dioicus). Deshalb muss es erlaubt und möglich sein, mit eingeführten Pflanzen zu arbeiten. Dafür bietet sich der Mittelmeerschneeball (Viburnum tinus) an (Abb. 6), der immergrün ist und vom Spätwinter bis in den Frühling mit duftenden zartrosa Blütendolden aufwartet. Ihm könnten im Sommer die Blüten von Waldgeissbart und Hortensie (Hydrangea) und im September jene der Herbstanemonen (Anemone hupehensis) folgen (Abb. 4). Diese anspruchslosen Stauden hat der englische Botaniker Robert Fortune 1844 in China gefunden und nach England gebracht.[12] Ihr überragender Gartenwert hat sie zu einer der beliebtesten Neueinführungen des 19. Jahrhunderts gemacht. Mit der geschilderten Bepflanzung hätten die Bewohner und Bewohnerinnen während der ganzen Vegetationsperiode einen sich immer wieder verändernden Gartenschmuck.

Standortgerecht statt einheimisch, z.B. Forsythie vs. Schlehe

Statt des Begriffs «einheimisch» sollte der Begriff «standortgerecht» Verwendung finden. Dafür muss er über seine konventionelle Verwendung hinaus erweitert werden. Heute meint er die Berücksichtigung von pH-Wert, Feuchtigkeit des Bodens und der Besonnung des Ortes. Eigentlich gehören aber auch weitere ökologische sowie ökonomische und soziale Aspekte dazu. Wer die einheimischen Singvögel fördern will, wird eine Eberesche (Sorbus aucuparia) pflanzen und dabei bedenken, dass ihre Blüten stinken und dass der Abwart laubende Pflanzen hasst … Auf die invasiven Neophyten[13] wird man verzichten und auf einem Kinderspielplatz keinen Seidelbast (Daphne mezereum)[14] pflanzen, auch wenn er noch so hübsch blüht und duftet. Wohl ist es ökologisch verdienstvoll, in einer Siedlung eine Wildhecke aus Schlehen (Prunus spinosa) anzulegen, aber man tut gut daran, den Standort mit Bedacht zu wählen. Schlehen sind eigenwillige Gesellen, und manche Mieterschaft wird sie am falschen Ort als Gestrüpp empfinden und ihre Ablehnung durch «Littering» kundtun. Was ökologisch wünschbar ist, kann sozial und wirtschaftlich falsch, also nicht standortgerecht sein. In der freien Natur dagegen kann man Schlehen an vielen Orten pflanzen – zumal sie eines der wertvollsten Vogelschutz- und Nährgehölze sind, die es hierzulande gibt. Das Goldglöckchen, besser bekannt unter seinem Namen Forsythie (Forsythia), der wohl verbreitetste Zierstrauch, scheidet die Geister wie kaum ein anderer.[15] Wer die Forsythie liebt, beschreibt die Überfülle von gelben Blüten als «goldgelb» und rühmt ihre faszinierende Herbstfärbung. Wer sie hasst, findet das gelb ordinär, weil knallig, und verteufelt die Blüten, da sie unserer einheimischen Fauna nichts zu bieten haben. In der freien Natur ist sie falsch platziert. «Standortgerecht» hingegen ist der Strauch als grosse frei wachsende Gruppe in einem städtischen Park, wo er ungehemmt die Eleganz seiner zweijährigen Triebe und deren feurige Herbstfärbung zeigen darf – und vor allem natürlich, wo er als goldgelbe Blütenwolke den Frühling ankündigt.

TEC21, Fr., 2011.03.11



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11. März 2011Hansjörg Gadient
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Berner Rosen

Die Parkanlage Brünnengut in Bern basiert auf dem Konzept einer robusten äusseren Gestalt, die einer differenzierten Bespielung im «Innern» Raum gibt. Die Landschaftsarchitektengemeinschaft David Bosshard, Bern, und Andreas Tremp, Zürich, verbindet ökologische Verträglichkeit mit sozialer Toleranz.

Die Parkanlage Brünnengut in Bern basiert auf dem Konzept einer robusten äusseren Gestalt, die einer differenzierten Bespielung im «Innern» Raum gibt. Die Landschaftsarchitektengemeinschaft David Bosshard, Bern, und Andreas Tremp, Zürich, verbindet ökologische Verträglichkeit mit sozialer Toleranz.

Bern hat eine institutionalisierte Form der Bürgerbeteiligung mit Mitwirkungsrechten, die im Baugesetz geregelt sind. In Brünnen ist dies die Quartierkommission Bümpliz/Bethlehem (QBB).[1] 27 Vertreterinnen und Vertreter aus dem Quartier treffen sich monatlich und äussern sich regelmässig auch zu Planungsvorhaben. Die Stadt Bern konsultiert die QBB, und aus der Zusammenarbeit erwuchs bereits 1995 der Wunsch, den erforderlichen Grünflächenanteil des neuen Quartiers als einen zentralen Park zu planen. Die 55 000 m² grosse Fläche ging für 6 Mio. Fr. in den Besitz der Stadt Bern über – ein niedriger Preis, mit dem ein Teil des Planungsgewinnes der Landeigentümer abgeschöpft wurde. Das Ergebnis einer breiten Vernehmlassung bei der Bevölkerung und bei interessierten und betroffenen Gruppen wurde im Bericht der Quartierkommission zur Planung dieses Parks zusammengefasst. Erst zehn Jahre später allerdings wurde der internationale landschaftsplanerische Ideenwettbewerb ausgeschrieben. Eine Überprüfung des Berichtes zeigte, dass seine Forderungen immer noch aktuell waren. Sie fanden als verbindliche Punkte Eingang ins Wettbewerbsprogramm und der Vertreter der Quartierkommission, Hans Stucki, war Mitglied der Jury. So wurde gesichert, dass die Forderungen aus der Bevölkerung auch bei der Bewertung der Arbeiten Gehör fand.

Widersprüchliche Vorstellungen – realisierte Kompromisse

Natürlich habe es «widerläufige» Forderungen der verschiedenen Interessengruppen gegeben, so Stucki, aber man habe sich in der Kommission doch auf Kompromisse einigen können. So wollte beispielsweise der Fussballclub ursprünglich einen künstlichen Rasen, die Gegenseite am liebsten gar kein Spielfeld. Der Kompromiss, ein konventioneller Rasen, wurde ins Programm aufgenommen und schliesslich auch gebaut. Ohne Abstriche haben die Forderungen des Quartiers Eingang in den erstplatzierten Entwurf der Landschaftsarchitekten David Bosshard und Andreas Tremp gefunden.[2] Unter dem poetischen Namen «Rose de Berne» schlugen die beiden ein auf den ersten Blick einfaches, robustes und leicht verständliches Konzept vor, das soziale, ökonomische und ökologische Forderungen zu einer zeitgemässen und starken Synthese führt. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass sie nicht nur die Forderungen erfüllen, sondern eine räumlich und gestalterisch überzeugende Antwort gefunden haben auf die Frage, wie heute ein Stadtpark aussehen könnte.[3] Die «Rose de Berne» oder «Berner Rose» ist eine alte Sorte, ein dunkelroter Tafelapfel, dessen Fleisch «grünlichweiss, ziemlich feinzellig, saftig, mit typisch würzigem Aroma und von erfrischendem Geschmack» sei.[4] Der Titel des Wettbewerbsbeitrages bezieht sich auf eine der Entwurfsideen, nämlich im Zentrum der Anlage Obstbäume mit alten Sorten anzupflanzen. Als Streuobstwiese umgeben sie locker die bestehenden Altbauten, die in den Park integriert sind und heute das Herz der Anlage bilden. Den äusseren Rahmen bildet ein U-förmiger, mehrreihiger Kordon aus aufgeasteten Sommerlinden auf einer chaussierten Fläche (Abb. 1). Diese starke Geste fasst alle Elemente des Entwurfs räumlich zusammen und betont dessen Typologie als Park. Das unterscheidet die Parkanlage Brünnengut wohltuend von anderen neuen Parkanlagen, die an einer typologisch unklaren Haltung leiden und oft mehr Platz als Park sind, mit entsprechend eingeschränkter Nutzbarkeit.[5]

Lichtung für Aktivität, Panorama für Beschaulichkeit

Die Nordostecke ist mit einer Rasenzunge besetzt, deren Baumrand sie von der Umgebung abschirmt und zu einer intimen Lichtung macht. Auf dieser ebenen Fläche sind Feste und Veranstaltungen möglich. So gastieren hier der Kinderzirkus Wunderplunder und das Bern- West Fest. Die Nordseite des Parks bleibt offen und erlaubt den Blick auf die Landschaft mit ihren heterogenen Elementen aus Land- und Forstwirtschaft und den Wohnbauten aus den 1960er- und 1970er-Jahren im Vordergrund. Den klaren Raum, den der vorhandene Gehölzrahmen im Osten und das umlaufende Lindenband bilden (Abb. 2, 3), besetzen verschiedene Elemente in freier Anordnung. Im Zentrum liegt ein von Herrenhaus und Pavillon gefasstes, viergeteiltes Buchs- und Rasenparterre, das weniger alt ist, als es aussieht (Abb. 8). Darunter liegt die Autobahn A1, nach deren Bau diese Fläche neu angelegt wurde. Hier soll eine zusammen mit Pro Specie Rara geplante Staudenpflanzung das zurzeit noch etwas sterile Bild beleben. Im Herrenhaus wird nach einer Sanierung eine Kinderkrippe einziehen, deren Aussenspielflächen nördlich und westlich angrenzen werden. Auch der zum Herrenhaus gehörige Bauernhof ist erhalten, für seine künftige Nutzung ist noch kein definitiver Entscheid gefallen. Die Pfrundscheune kann man als Veranstaltungsort mieten, genauso wie den Pavillon gegenüber dem Herrenhaus. Eingefasst wird die Bautengruppe von dem beschriebenen Hain aus Hochstamm-Obstbäumen, in dem ausser Äpfeln auch Birnen, Zwetschgen und weitere Früchte in alten Sorten gezogen werden. Sie stehen auf einer Magerwiese, die ein bis zwei Mal pro Jahr geschnitten wird (Abb. 4). Wo Wege erforderlich sind, werden sie in diese Wiese eingemäht. Ein gebautes Hauptwegenetz erschliesst die Elemente des Parks und verbindet die aussen ankommenden Wege und Strassen miteinander.

sen und zwischen ihren Stämmen wunderbare Hallenräume mit einem dunklen, grünen Licht bieten. Schon jetzt ahnt man diese Qualität im Bereich des Kinderspielplatzes, wo die Spielflächen zwischen die fünf Reihen von Linden integriert sind. Auch die Hartriegel- und Buchenhecken der beiden Themengärten werden bald dicht genug sein, um die gewünschte Raumwirkung zu entfalten. Nur die Obstbäume sind noch sehr jung; ihnen wird man mehr Zeit geben müssen, bis sich das leicht nostalgische Bild einer blühenden Obstwiese einstellen wird. Auf jeden Fall arbeitet die Zeit für diesen Entwurf. Die Vielfalt räumlicher Strukturen, die ausschliesslich mit Pflanzen geschaffen wurde, ist faszinierend: die Säulenhalle aus Lindenstämmen, die mit leichten Birkengruppen besetzte Lichtung im Nordostteil (Abb. 5), die Intimität vermittelnden Heckenräume oder der frei fliessende Raum des Obsthains.

Biodiversität

Ein wichtiges Anliegen war auch der ökologische Wert des neuen Parks. Auf verschiedenen Ebenen wurde für eine hohe Biodiversität gesorgt. Bestehende Bäume wie die aus dem 18. Jahrhundert stammenden Linden beim Herrenhaus wurden geschont, sie bieten vielen Tieren eine Nahrungsgrundlage und Nistmöglichkeiten. Ein wichtiger Entscheid war, die Hauptfläche nicht als konventionellen Rasen, sondern als selten gemähte Magerwiese anzulegen. Solche Wiesen weisen eine viel höhere Biodiversität auf und sind sowohl ökologisch als auch ökonomisch im Unterhalt vorteilhafter. Manchmal sind es einzelne Entscheide, die eine grosse Wirkung haben: Die zweihundert neu gepflanzten Linden sind Sämlinge, d. h., sie sind genetisch nicht völlig identisch, wie es sortenrein vermehrte Bäume wären.[7] Wenn dem Planer vor allem am Design-Effekt seines Entwurfes liegt, wird er wegen deren Einheitlichkeit Klone vorziehen, also genetisch und optisch identische Pflanzen. Wenn die Biodiversität ein wichtiges Kriterium ist, dürfen es wie in Brünnen auch leicht verschiedene Sämlinge sein. Und hier wird sichtbar, was einen besonderen Wert des Entwurfs ausmacht: Die gestalterische Geste des Lindenrahmens ist so stark, dass sie leichte Unterschiede der Baumindividuen gut verkraftet. Der Entscheid für eine robuste Form ermöglicht also Toleranz auf der Ebene der Pflanzenwahl.

Nutzungsdruck und Partizipation

Der Park ist für rund 12 000 Menschen im näheren Einzugsgebiet konzipiert, also für die Einwohnerschaft einer Kleinstadt. Das ist trotz seiner Grösse eine nicht zu unterschätzende Zahl, die einen hohen Nutzungsdruck auf die Anlage ausüben wird. Alois Zuber, Gesamtprojektleiter bei der Stadtgärtnerei, wünscht sich, dass hier wirklich eine Oase für die Bewohnerinnen und Bewohner der angrenzenden Quartiere entstehe, ein Ort, an dem Menschen jeden Alters und verschiedenster Herkunft sich gerne begegnen und sich wohl fühlen.[8] Der Entwurf leistet dazu alles, was es braucht. Aber die künftige Attraktivität ist auch vom Nutzungskonzept abhängig. Nicht nur bei der Planung des Parks, sondern auch bei seinem Betrieb sollten die Quartierbewohner deshalb aktiv beteiligt werden. Schon in der Zusammenfassung der Anwohnerwünsche von 1995 hatten sie selbst gefordert, dass der Betrieb des künftigen Parks in der Verantwortung des Quartiers liegen müsse. Der Wunsch konnte realisiert werden. Was einfach klingt, ist aber wegen der insgesamt 18 Interessengruppen, Träger und Behörden, die involviert sind, ziemlich kompliziert. So obliegen beispielsweise allein die Reinigung und Pflege der Anlage drei Trägern: dem Tiefbauamt, der Stadtgärtnerei und dem vom Quartierverein beauftragten und von einem Sozialprojekt bezahlten Pflegeassistenten. An wen wendet sich also eine Anwohnerin, die findet, es werde zu wenig geputzt? Oder an wen wendet sich der Fussballklub, der ein Vereinsfest veranstalten will, wenn er wissen will, was sonst noch an diesem Samstagnachmittag im Park geplant ist? Und wie kann ich absichern, dass für mein Geburtstagspicknick im August genau diejenige Grillstelle frei ist, die ich mir dafür wünsche? Für alle Anliegen der Parknutzenden wurde deshalb ein virtueller Schalter eingerichtet. Per Brief, E-Mail oder Telefon erreichen die Anfragen den sogenannten «Guichet». Ein Teilzeitangestellter, der eine Ausbildung als Gärtner und als Erwachsenenbildner hat, kümmert sich um alle diese Anliegen, koordiniert Termine und «nimmt sich der Sache an». Die Trägerin und Betreiberin des «Guichet» ist die Stiftung B, die im Auftrag der Stadt Bern nicht nur von aussen an sie herangetragene Anliegen behandelt, sondern selber auch Aktivitäten initiiert, die den Park beleben. Konkret heisst das zum Beispiel, dass die Stiftung die «Obstbaumgruppe» ins Leben gerufen hat, die sich später um die Ernte der Früchte kümmern wird. Auch die Gruppe der Pflanzer hat die Stiftung zusammengeführt und hilft ihr bei ihren Anliegen. Hier und im Fussballklub kommt auch der Wunsch der Integration von Nachbarn aus anderen Ländern zum Tragen. Insgesamt soll die aktive Aneignung der Quartierbewohner gestärkt werden, unter anderem auch, um Vandalismus und übermässigem Littering vorzubeugen. Das Ziel der Stiftung sei, so ihr Geschäftsführer Hans Stucki, dass sich möglichst viele Menschen des neuen Parkes annehmen.

[ Hansjörg Gadient, dipl. Architekt ETH, Landschaftsarchitekt ]

TEC21, Fr., 2011.03.11



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14. Mai 2010Hansjörg Gadient
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Promenade zum Rhein

Der Rheinfall ist und bleibt ein grandioses Spektakel. Doch sein Zugang auf Zürcher Seite durch das Schloss Laufen war völlig veraltet. Ein beträchtlicher Besucherrückgang veranlasste den Kanton Zürich, die Anlagen umfassend zu sanieren. Ein Spaziergang zeigt, was gebaut und wie das Naturtheater neu inszeniert wurde.

Der Rheinfall ist und bleibt ein grandioses Spektakel. Doch sein Zugang auf Zürcher Seite durch das Schloss Laufen war völlig veraltet. Ein beträchtlicher Besucherrückgang veranlasste den Kanton Zürich, die Anlagen umfassend zu sanieren. Ein Spaziergang zeigt, was gebaut und wie das Naturtheater neu inszeniert wurde.

Am Anfang des Besuchs überrascht ein Gebäude, das zugleich ganz gegenwärtig-aktuell und zeitlos-einfach wirkt: eine schlichte Hausform wie aus einem Märchenbuch mit Techno- Touch (Abb. 3, rechts). Die Architekten Leuppi und Schafroth haben aus einem hässlichen Personalhaus, das seine letzte Erneuerung vor rund sechzig Jahren gesehen hat, eine Schatulle mit nobler Auskleidung gemacht. Dafür haben sie den vorhandenen Altbau um die Hälfte verlängert und in eine Hülle aus wetterfestem Stahl verpackt. Hinter der Idee stand eine Mischung aus Bildern: das Plattnerwerk eines Harnischs, Schweizer Stickereien und die Vorstellung einer warmen, lebendigen Oberflächenfarbigkeit. «Swissness» signalisiert nun das Ornament der Fassade; es sind leicht verfremdete Schweizerkreuze, die aus den Metallplatten geschnitten wurden und Licht und Luft zu den dahinter liegenden Räumen gelangen lassen. Die rostrote Hülle schliesst bündig an die alten Biberschwanzziegel der Dachtraufe an. So entsteht ein Haus von einfacher Form und schönen Proportionen. Das ist gelungen, ist so doch die ganze Biederkeit des Altbaus einem Eindruck von eleganter und doch ländlicher Grosszügigkeit gewichen. Ursprünglich war vorgesehen, die Vordächer aufklappbar auszugestalten, sodass sie im geschlossenen Zustand die Kompaktheit der Form noch unterstrichen hätten. Wie an anderen Orten zwang der Kostenrahmen zu Vereinfachungen. Die Vordächer sind fest montiert; das Visier des Harnischs bleibt offen.

Die vorgesetzte Fassadenschicht führt zu raumhaltigen Aussenwänden, in die Schalter, vitrinenartige Schaufenster oder – im Café – Sitznischen eingelassen sind, eine nicht zu unterschätzende Bereicherung. Innen ist die metallene Schatulle mit einem sorgfältig detaillierten Ausbau in Lärchen- und Eichenholz ausgekleidet. Zusätzlich trägt die Intervention im Dachgeschoss zur Analogie einer feinen Schatulle bei: Der von Zugbändern frei gehaltene Zeltraum ist ganz mit Filz kaschiert (siehe Abb. 6), eine nicht nur akustisch, sondern auch ästhetisch überzeugende Idee. Wer hier eine Veranstaltung besucht, kommt in ihren Genuss. Der Weg führt zurück in den Aussenraum. Auch hier haben die Architekten vereinfachend und klärend eingegriffen, vor allem mit einer Stützmauer aus gestocktem Beton, in den Kalkstein in der Farbe des alten Mauerwerks eingelassen wurde. Die Mauer schwingt sich um die Rückseite des Gebäudes und endet als Sitzgelegenheit neben der Bestuhlung des Cafés. Von hier aus fällt der Blick auf das Schloss und seine Wehranlagen.

Mikado im Wald, Magnolie im Schloss

Ausser der Attraktivitätssteigerung gab es ein zweites Ziel der Sanierung: Die Aufenthaltsdauer der Gäste sollte markant erhöht werden. Und wer drängt zum Gehen, wenn es langweilig wird? Die Kinder. Für sie haben Schmid Landschaftsarchitekten hier an strategisch bester Stelle, zwischen Restaurant und Besucherzentrum, einen grosszügigen Spielplatz angelegt. Im abschüssigen Terrain verbinden sie die Geländestufen mit einem riesigen Mikado aus Baumstämmen, eine thematische Referenz an den nahe liegenden Wald und eine Einladung an die Kinder, ihren Gleichgewichtssinn zu erproben. Einige der Stämme sind beweglich und entpuppen sich als Wippen und schwankende Stege. Eine Drehscheibe und einige Wippteller ergänzen im Wortsinn punktuell die Linien der Stämme. Die Spielgeräte bleiben niedrig, so vermeiden die Landschaftsarchitekten geschickt den Zwang, die hässlichen Fallschutzbeläge anlegen zu müssen, die Sicherheitsvorschriften heute fordern. Und während sich die Kinder auf dem Spielplatz austoben, kann der beschauliche Spaziergang durch das Schloss beginnen.

Schon im ersten Hof stimmen Abbildungen des Rheinfalls aus verschiedenen Epochen auf das Thema der Ausstellung im ehemaligen Wohnhaus ein. Aber zuvor empfängt einen der eigentliche Schlosshof, der Dreh- und Angelpunkt der ganzen Begehung. Er hat – wie die Bauten selbst – im Laufe der Geschichte viele Umgestaltungen erfahren. Vor der Sanierung machten Asphalt, Rasen und eine heterogene Bepflanzung den Hof zu einer Kreuzung aus Vorfahrt und Garten. Wie die Architekten beim Besucherzentrum klärend wirkten, haben auch die Landschaftsarchitekten die Lösung in der Vereinfachung gefunden. Rasen und Asphalt wurden entfernt und der Rand des Hofes mit einer Fortsetzung der vorhandenen Pflästerungen ergänzt. Einzig die majestätische Magnolie im Zentrum blieb erhalten; als veritabler Solitär steht sie inmitten des entleerten Hofes in einem neuen Beet (Abb. 8). Würde und Ruhe sind wiederhergestellt.

Hier wird eine Entscheidung fällig: gleich hinunter zum Wasserfall? Und wenn ja, per Lift oder zu Fuss? Oder doch zuerst ins Museum, das keines ist? – Wir wollen die Vorfreude auf das Naturereignis verlängern und entscheiden uns für das Museum.

Cataracta Rheni

Es ist kein Museum, wie die Gestalter der Ausstellung, Bellprat Associates, betonen, sondern ein «Historama». Wie andernorts fordert der Zeitgeist nicht nur Information, sondern auch Unterhaltung. Den Autoren ist der Anspruch mit einem Rückgriff auf die Welt der Schausteller gelungen. Ihre Aufarbeitung der Themen sind als Klanginstallationen, als Kulissenräume und als bewegliche Kleintheater gestaltet. Den Rahmen für diese Einbauten haben wiederum die Architekten Leuppi und Schafroth mit einer denkmalpflegerisch sorgfältigen und zurückhaltenden Renovation geschaffen, am besten zu beobachten im Eingangsraum, dem historisierenden Treppenhaus und dem sogenannten Bleulersaal (Abb. 9 und 10). Beide sind auf den historischen Bestand zurückgeführt, die nötigen technischen Einbauten geschickt hinter den Verkleidungen versteckt.

Von Raum zu Raum spielt sich nun eine Folge von publikumswirksamen Inszenierungen einzelner Themen ab. Am Anfang steht das Bild des Rheinfalls. Das Naturschauspiel zieht seit einem halben Jahrtausend Reisende aus Europa und der ganzen Welt an. Viele von ihnen haben ihre Eindrücke in Kohle, Öl und Wasserfarben festgehalten. Die erste bekannte Darstellung des «Cataracta Rheni» erscheint in der «Cosmographia» des Sebastian Münster (1455–1552) und legt den Grundstein für dessen Berühmtheit: «Zehen oder zwoelff clafftern hoch falt er strack oben abher, es ist ein grausam Ding zusehen, es wirt das wasser, so es oben abher schusst, zuo einem gantzen schaum, do mag kein schiff abher kommen, anderst es zerfiel in tausend stuck», schreibt Munster. Ihm folgen viele Berühmtheiten, unter anderem Michel de Montaigne, Kaiserin Sisi und William Turner. Ihnen gemeinsam ist das Interesse am Rheinfall als Naturschauspiel. Sie kommen um der Betrachtung willen. Den Gegenpol dazu bilden diejenigen, die vor allem den technischen Nutzen – oder die Verhinderung desselben durch das Hindernis Rheinfall – gesehen haben. Die ersten waren holländische Kaufleute, die 1609 vorschlugen, den Rheinfall zu sprengen. So liesse sich Holz viel einfacher flössen, als wenn es – wie alle Waren – umständlich oberhalb aus dem Wasser gebracht und unterhalb wieder verladen werden müsste. Sie hatten keinen Erfolg, nicht zuletzt weil die Anwohner von dieser Arbeit lebten und sich entsprechend vehement widersetzten. Rund um den Rheinfall entwickelten sich im Laufe der Zeit die verschiedensten ökonomischen Interessen; die Nutzung der Wasserkraft und der Tourismus sind die wichtigsten. Ein Besuch im neuen Historama klärt vergnüglich und erstaunlich effizient darüber auf. Etwa zwanzig Minuten haben Bellprat Associates dafür vorgesehen, man kann – und sollte – sich aber mehr Zeit nehmen.

Fast am Ende des Rundganges findet sich eine besonders gelungene Synthese von Architektur und Inszenierung. Das von der Feuerwehr beanstandete zweite Treppenhaus musste ersetzt werden. Aus diesem funktional notwendigen Element haben die Architekten eine ausnehmend interessante Raumschöpfung gemacht, in der Treppen und Fluchtkorridore auf der verwinkelten Geometrie der Grundfläche zu einem faszinierenden dreidimensionalen Gefüge geworden sind (Abb. 13). Die Ausstellungsmacher haben einen Teil davon in dunkelgrauer Eisenglimmerfarbe gestrichen, weil hier die Rolle der Eisenbahn für den Rheinfall gezeigt wird. Dieser Anstrich betont die räumlichen Qualitäten, und aus der banalen Notwendigkeit einer Fluchttreppe wird einer der architektonisch interessantesten Räume des Historamas.

Aus dem letzen Raum des Rundganges fällt endlich der Blick fast unbehindert auf das tosende Schauspiel dort draussen. Es ist der frühere Weg, der in Windungen und unterbrochen von Kanzeln und Aussichtspunkten wieder genutzt wird. Erneuert, ergänzt und wo notwendig aufgefrischt führt er durch das steile Gelände. Bellprat Associates und Schmid Landschaftsarchitekten haben mit feinen Eingriffen den Weg selbst und seine Bezüge zum Wasserfall überhöht und damit aufgewertet. André Schmid betonte von bestimmten Stellen des Wegnetzes aus den Ausblick in die Landschaft, andere deckte er mit Gehölzen ab.

So lenkt er den Blick an Wegbiegungen gezielt in die Weite, auf das Becken oberhalb des Falles, auf das Schloss Wörth am gegenüberliegenden Ufer und endlich auf den Fall und seine malerischen Felsen selbst. Andere Partien werden mit jungen Bäumen dicht bepflanzt, und man schreitet durch waldähnliche Partien, bevor sich ein neuer Blick eröffnet. Das ist gestalterisch geschickt und – wenn man bedenkt, wie viele Vorgaben von Naturschutz, Heimatschutz und touristischem Verwertungsinteresse gleichzeitig zu beachten waren – Respekt erheischend (vgl. Kasten S. 22).

Die Stimmen des Rheinfalls

Unversehens trifft man an einer Stelle auf eine Reihe von neun schlanken Rohren, die über das Geländer heraufragen. Die Rohre sind unterschiedlich lang; wer an ihnen lauscht, hört den Rheinfall eine Tonleiter singen. Das ist eine entzückende Idee, zurückhaltend realisiert und auf einer historischen Tatsache beruhend. Denn als es in Europa noch sehr viel ruhiger war als heute, war der Rheinfall auch ein akustisches Phänomen. Man reiste dahin, um dieses ungeheuerliche Tosen zu hören! Und wirklich: Nach der Einstimmung an den Klangröhren ist das Ohr geschärft für den Gesang des Wassers. Man lauscht im Dröhnen den verschiedenen Frequenzen und Melodien, und aus dem Lärm ist Musik geworden. So ist die eigentliche Begegnung mit dem Wasserfall historisch und sinnlich vorbereitet, wenn man zuunterst auf der Kanzel steht, vor sich diesen Berg aus Wasserschaum.

Der Rückweg vom Wasserfall kann über einen neuen Steg angetreten werden, der einen zum Lift und zurück zum Schlosshof führt (Abb. 14 sowie Bilder S. 25–27). Gebaut wurden Steg und Lift allerdings nicht nur zur Entlastung des alten Weges, vielmehr sollte der Zugang zum Wasserfall auch Gehbehinderten, Rollstuhlfahrern und Familien mit Kinderwagen vom Schloss aus möglich sein. Ihnen steht deshalb im Schlosshof der Zugang zum Lift offen, der sie auf den nur flach geneigten Steg führt. Die SBB-Station kann allerdings weiterhin nur über Stufen erreicht werden. Dass der Lift einen nicht unerheblichen Eingriff ins Landschaftsbild bedeutet, hat zu einiger Opposition geführt. Deshalb wurde er an einer möglichst unauffälligen Stelle positioniert und mit schnell wachsenden Weiden umpflanzt. Die Fahrt in einer der voll verglasten Kabinen erlaubt noch einmal einen bewegten und bewegenden Blick zurück auf den grössten Wasserfall Europas. Augen, Ohren und vielleicht sogar das Herz voller Eindrücke, kehrt man in den Schlosshof zurück und lenkt die Schritte zurück zu Spielplatz und Besucherzentrum, wo diese Promenade architecturale endet.

TEC21, Fr., 2010.05.14



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TEC21 2010|20 Naturtheater

25. September 2009Hansjörg Gadient
TEC21

Neu geordnet, wiederbelebt

Der Bellevueplatz im Zentrum von Zürich liegt an einer städtebaulichen Schlüsselstelle zwischen See und Limmat. Seinen Namen hat er vom ehemaligen «Grandhotel Bellevue», 1856–1858 erbaut von Leonhard Zeugheer.
Im Laufe der Jahre war der Solitärbau durch Alterung und Umbauten stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Martin Spühler und seine Mitarbeiter haben ihn in siebenjähriger Planungs- und Bauzeit wieder in Wert gesetzt.

Der Bellevueplatz im Zentrum von Zürich liegt an einer städtebaulichen Schlüsselstelle zwischen See und Limmat. Seinen Namen hat er vom ehemaligen «Grandhotel Bellevue», 1856–1858 erbaut von Leonhard Zeugheer.
Im Laufe der Jahre war der Solitärbau durch Alterung und Umbauten stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Martin Spühler und seine Mitarbeiter haben ihn in siebenjähriger Planungs- und Bauzeit wieder in Wert gesetzt.

Ursprünglich als Hotel erstellt, wurde das Gebäude bereits 1921 zum Geschäftshaus mit Kino umgebaut. Alterung, An- und Einbauten, Teilabrisse und Transformationen hatten ihm über die Jahre jedoch so zugesetzt, dass sich die Bauherrschaft gezwungen sah, den Werterhalt mit mehr als einer Pinselrenovation langfristig zu sichern. Die Bauherrschaft vergab den Auftrag für eine Machbarkeitsstudie an Martin Spühler Architekten aus Zürich. Dabei standen von einem Neubau über ein Entkernen bis zu einer Revitalisierung des historischen Bestandes alle Möglichkeiten zur Debatte. In enger Zusammenarbeit mit der Städtischen Denkmalpflege entschied man sich für Letzteres – ein Neubau an so prominenter Lage wäre für die Stadt nur mit einer bedeutenden öffentlichen Nutzung zu rechtfertigen gewesen.

Belebungsstrategie

Zusammen mit einer - so Projektleiter Peter Trachsler - ebenso entscheidungsfreudigen wie begeisterungsfähigen Projektsteuerungsgruppe aus Auftraggeberin und Planern entwickelten die Architekten eine Strategie der Revitalisierung, die sich auf vier Haupteingriffe konzentrierte: die Wiederherstellung der Arkade auf der Limmatseite, den Einbau eines neuen Treppenhauses, den Ausbau des Dachgeschosses zu Wohnungen und, als eher kleinen, aber symbolträchtigen Eingriff, die Wiederherstellung der zweiläufigen Treppenanlage am Eingang Limmatquai 1 (Abb. 1). Die Interventionen sollten sich der Substanz unterordnen und mit ihr zu einem neuen Ganzen verschmelzen. Die besondere Schwierigkeit bestand in der Heterogenität des Baus, die es verunmöglichte, der komplexen Aufgabe mit fixen Rezepten zu begegnen. Der Bestand sei völlig «unberechenbar» gewesen, Pläne lückenhaft, Sondierungen im vermieteten Zustand kaum möglich. Gut erhaltene und reizvolle Jugendstildetails standen neben einer teilweise desolaten Bausubstanz. Die Abrisse und Einbauten der 1960er- und 1970er-Jahre hatten viel zerstört, und die gesamte Haustechnik war veraltet. Den heutigen Brand- und Schallschutzstandards entsprach das alte Bellevue längst nicht mehr. Orts- und problembezogen wurden in Zusammenarbeit mit der Denkmalpflege Lösungen gefunden, die von Konservierung über Restaurierung und Renovierung bis zu Ergänzung und Neubau reichten. Neben den Ausbauten im Inneren wurde auch die Fassade denkmalgerecht saniert.

Als «Operation am offenen Herzen» bezeichnet Sylvia Kirsten, die Vertreterin der Bauherrschaft, das 50-Millionen-Vorhaben – auf einer Verkehrsinsel, möchte man ergänzen. Der Bau blieb während des gesamten Eingriffes teilweise vermietet. Die auf allen Seiten von stark befahrenen Strassen begrenzte Baustelle bot keinerlei Flächen für Lager oder Installa tionen. Und es ging um mehr als einen neuen Innenausbau: Unter anderem mussten die bestehenden Pfahlfundationen mit 230 Stahlbetonpfählen ergänzt, die Bodenplatte abgesenkt und eine Seewasserzuleitung für Heizung und Kühlung von der Limmat her erstellt werden.

Plakativ und versöhnlich?

Ein Beispiel für den Umgang im Inneren ist die Treppe beim Eingang Limmatquai. Einer der brachialeren Umbauten hatte eine Hälfte des symmetrischen Treppenhauses entfernt. Wieder aufbauen? Oder mit dem Verlust spielerisch umgehen? Erste Konzepte schlugen eine Spiegelwand vor, die den alten Teil bildnerisch zum Ganzen ergänzen würde. Oder ein Wiederaufbau des zweiten Laufs mit einem Materialwechsel, um das Neue zu zeigen?

Zur Ausführung gelangte eine dem bestehenden Teil entsprechende Rekonstruktion in den gleichen Materialien, Marmor und Stuck. Auf den ersten Blick ist alles «beim Alten», auf den zweiten zeigen die fehlenden Gebrauchsspuren der neuen Hälfte ihre heutige Entstehungszeit. Ein zweites Beispiel: Die bestehenden Schmiedeeisengitter eines Treppenabsatzes hätten einer neuen Wand weichen müssen. Sie wurden nicht abgebrochen, sondern in die Wand integriert: Künftige Generationen werden sie vielleicht beim nächsten Umbau finden. Auch grössere Eingriffe in die Substanz waren nötig. Die Belle Epoque legte Treppen vor allem nach repräsentativen Gesichtspunkten an, gross und breit in den unteren Geschossen, schmal und irgendwo verstreut in den oberen. Heute bestimmen funktionale Liftanlagen und kurze Fluchtwege das Layout. Eine weitere wichtige Intervention betraf daher das Errichten eines neuen, durchgängigen Treppenhauses. Das Studium der historischen Pläne zeigte, dass die Fassade zum Bellevueplatz ursrprünglich eine starke Mittelbetonung aufwies. Historisch folgerichtig und erschliessungstechnisch günstig wurde hier der neue Zugang zum Gebäude angeordnet.

Auch die neue Haustechnik stellte die Planenden aufgrund der beschränkten Platzverhältnisse vor einige Herausforderungen; an vielen Stellen waren Eingriffe in das Tragwerk nötig, um sie zu integrieren. Mittels Seewasser wird der sanierte Bau nun gekühlt und beheizt. Nirgends treten diese Neuerungen aufdringlich in Erscheinung. So wie aussen konnte der Bau auch innen seine Gestalt und seine Würde wahren.

Für das bisher als Abstellraum genutzte Dachgeschoss dagegen waren neue Ideen gefragt; hier sollten Wohnungen entstehen. Keine leichte Aufgabe, waren doch die einzigen vorhandenen Fenster die kleinen Öffnungen im Kniestock und die spärlichen Dachfenster des ehemaligen Estrichs. Grosse Öffnungen zu schaffen, kam nicht in Frage. Die Lösung war massgeschneidert. Die Architekten kamen von der ersten Vorstellung, auf der riesigen Fläche sechs Wohnungen zu schaffen, ab und schlugen drei – mit 280 bis 370 m² aussergewöhnlich grosszügige – Einheiten vor. So konnten sie jeder Wohnung einen zweigeschossigen Turm und einen privaten Aussenraum zuordnen. Dank dem Entgegenkommen der Denkmalpflege entstanden in der Dachschräge auf der Westseite zwei Terrassen; man kann sie als «Belohnung» für die dem öffentlichen Raum zurückgegebene Loggia im Erdgeschoss verstehen. Die dritte Wohnung erhielt eine innen liegende intime Dachterrasse. Das Defizit der niedrigen, kleinen Fenster kompensieren die grossflächigen Öffnungen zu diesen Terrassen und die anstelle der alten Dachluken eingesetzten «Lichtkanonen». Die als Raumkontinuum ausgebildeten Grundrisse mit ihren weiten Sichtbezügen entschädigen für die teilweise recht niedrigen Decken. Die Materialisierung entspricht Lage und Fläche der Wohnungen – ohne zu protzen. Die Mieten der Wohnungen von monatlich 20 000 Franken haben in der Tagespresse zu Schlagzeilen geführt. Heute sind alle drei vergeben; das Konzept ist aufgegangen – auch im Ganzen. Der Bauherrschaft steht wieder eine hochwertige Immobilie zur Verfügung, und der Stadt ist ihr geschätzter Solitär erhalten geblieben. Neu gefasst und geschliffen leuchtet er in dem, was man gewöhnlich als «den alten Glanz» bezeichnet. Es ist aber ein neuer Glanz: der eines zeitgemässen, sorgfältigen und sensiblen Umgangs mit einem historischen Stück Stadt.

TEC21, Fr., 2009.09.25



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tec21 2009|39 Schicht für Schicht

03. April 2009Hansjörg Gadient
TEC21

Lehren lernen

Das Projekt Architektur und Schule des Bundes Schweizer Architekten bemüht sich seit vielen Jahren, Architektur als Thema in der Volksschule zu etablieren. In Pilotprojekten auf allen Schulstufen hat es viele Erfahrungen gesammelt. Dabei hat sich der anfängliche Fokus auf architektonisches Gestalten weit geöff net zugunsten einer breiten Sensibilisierung der Schülerinnen und Schüler für ihre gestaltete Umwelt. Zurzeit entstehen zwei Lehrmittel, die das Thema in den regulären Unterricht integrieren helfen.

Das Projekt Architektur und Schule des Bundes Schweizer Architekten bemüht sich seit vielen Jahren, Architektur als Thema in der Volksschule zu etablieren. In Pilotprojekten auf allen Schulstufen hat es viele Erfahrungen gesammelt. Dabei hat sich der anfängliche Fokus auf architektonisches Gestalten weit geöff net zugunsten einer breiten Sensibilisierung der Schülerinnen und Schüler für ihre gestaltete Umwelt. Zurzeit entstehen zwei Lehrmittel, die das Thema in den regulären Unterricht integrieren helfen.

Die mittlerweile über zehnjährige Geschichte des Schulprojektes ist eine Geschichte des Lernens, wie Architektur erfolgreich vermittelt werden kann. Im Zentrum der ersten Pilotprojekte standen kleine Entwurfsaufgaben, die von Architektinnen und Architekten im Unterricht begleitet wurden. Die Jugendlichen schätzten diese Begegnungen und die Arbeit am eigenen Projekt sehr; die Lehrpersonen fühlten sich sicher mit den sorgfältig vorbereiteten Übungen. Von Seiten der Architektenschaft allerdings wurden Vorbehalte laut, dass die Architektur durch die didaktisch notwendige Vereinfachung zu sehr banalisiert werde. Ein praktischer Nachteil war, dass sich die Aufgaben wegen des Aufwandes vor allem für den Projektunterricht innerhalb einer Woche eigneten und weniger für den regulären Stundenplan. Einer grossen Verbreitung dieser Übungen stand ausserdem die Tatsache im Wege, dass eine architektonisch vorgebildete Person für den Unterricht notwendig war.

Didaktische Grundsätze

Aus diesen und anderen Erfahrungen liessen sich einige Grundsätze ableiten, die in den weiteren Pilotprojekten verfolgt wurden. Die Übungen sollten kürzer sein, sodass sie im normalen Unterrichtsschema Platz finden würden. Aus mehreren Aufgaben sollten modular aufgebaute Kurse zusammengestellt werden können, die sich über kürzere oder längere Zeiträume erstrecken. Auf allen Stufen sollten neben dem gestalterischen auch andere Zugänge zu Architektur und Umweltgestaltung geschaffen werden, etwa über planerische, soziale oder ökonomische Fragestellungen. Wichtig war es auch, Unterrichtseinheiten zu entwickeln, die ohne eine Begleitung durch Fachleute auskommen und den Lehrpersonen die grosse Scheu vor der Profession Architektur nehmen können.

Auch diese Ansätze bergen Gefahren, unter anderem die, dass Übungen nicht unbedingt im Sinne der Verfasser durchgeführt werden und dass unter Umständen Gewichtungen entstehen, die aus fachlicher Sicht nicht unbedingt gerechtfertigt sind. Damit muss aber jede Fachdisziplin leben, die ihre Inhalte in den Schulunterricht tragen will, insbesondere wenn es sich nicht um eine exakte Wissenschaft handelt.

Entscheidend für den didaktischen Erfolg ist neben einer spannenden Übungsanlage die Stufengerechtigkeit. In allen Pilotprojekten wurde deshalb intensiv mit den Lehrpersonen zusammengearbeitet, um sicher zu sein, dass die Lehrinhalte und der Ablauf des Unterrichts auf die jeweilige Alterstufe abgestimmt sind. Sehr wichtig ist auch, dass die Kinder und Jugendlichen nicht nur mit Informationen «gefüttert» werden, sondern sich aktiv beteiligen können. So erleben sie, dass Gestaltung «gemacht» wird, und erinnern sich später leichter an das Gelernte.

Zugänge ermöglichen

Als Maxime dient der Begriff der Sensibilisierung. Die Kinder sollen Zugangsmöglichkeiten zum Thema erhalten, aber es kann nicht darum gehen, ihnen in Tagen ein Fachwissen zu vermitteln, für dessen Erarbeitung Studierende mindestens fünf Jahre Vollstudium brauchen. Eines der wichtigsten Ziele ist es, Kinder und Jugendliche auf das Thema aufmerksam zu machen und ihr Interesse zu wecken. Aus der Dissertation des deutschen Psychologen Riklef Rambow weiss man, dass Laien, insbesondere auch Kinder und Jugendliche, praktisch blind sind für ihre gestaltete Umwelt.[1] Sie erleben sie als schicksalshaft und kommen kaum auf den Gedanken, dass es sich um absichtsvolle und begründete Gestaltung handelt. Erst wenn ein Neubau farblich oder formal besonders auffällt oder wenn er in irgendeinem Sinn «stört», wird er wahrgenommen. Neben diesem ernüchternden Befund gibt die Studie aber auch Anlass zu Hoffnung. Es sei nämlich vergleichsweise einfach, Kinder und Jugendliche auf die Gestaltung ihrer gebauten Umwelt aufmerksam zu machen. Sie liessen sich sehr schnell auf das Thema ein und begännen, sich aktiv damit zu beschäftigen. Die Erfahrungen der Fachstelle Architektur und Schule bestätigen diese Aussage. Selbst Zehnjährige beginnen nach wenigen Vorübungen, sich in ihrem Wohnort umzuschauen und ihre Beobachtungen auszutauschen. So spazierte beispielsweise eine vierte Primarschulklasse nach ihrem Pilotprojekt zum Thema Wohnen durch eine andere Stadt und diskutierte eifrig, ob in der Altstadt noch Leute wohnten oder alles nur noch Läden und Büros seien.

Verankerung im Unterricht

Von nicht zu unterschätzender Bedeutung sind die Sachzwänge des Unterrichtsbetriebes. Bei der Wahl von Lehrmitteln haben die Lehrenden einen untrüglichen Sinn für Machbarkeit entwickelt. Schwer zu realisierende Übungen, die viel Vorbereitung erfordern, Inhalte, die zu viel Fachwissen voraussetzen oder materiell zu aufwendig sind, haben daher keine Chance auf Akzeptanz und Verbreitung. Ausserdem muss ein Thema in den Lehrplan passen. Deshalb kann es nicht darum gehen, ein Fach «Architektur und Umweltgestaltung» anzustreben. Vielmehr sollen die Übungen zu diesem Thema im Schema der bestehenden Fächer und in der Logik der Lehrpläne Platz finden. Steht im Lehrplan für Bildnerisches Gestalten zum Beispiel Farbe auf dem Programm, soll das Architektur-Lehrmittel Übungen bereithalten, in denen Farbe anhand von Architektur behandelt werden kann.

Lehrmittel wohnen

Das gegenwärtig wichtigste Vorhaben der Fachstelle Architektur und Schule ist die Erarbeitung von zwei Lehrmitteln, um das Thema im allgemeinen Unterricht zu verankern. Das erste entsteht im Auftrag des Bundesamtes für Wohnungswesen. Es ist dem Thema Wohnen und dessen vielfältigen Abhängigkeiten und Bezügen gewidmet. Die Zielgruppe ist die Sekundar- I-Stufe, das heisst Kinder im Alter von 11 bis 14 Jahren. In einem Schuber werden sechs Hefte mit je sechs Lernmodulen zu einem Thema zusammengestellt. Mit ihnen soll auch fachübergreifendes Lernen möglich sein. Die Themen sind: Wohnumfeld und Aussenraum, Lebensweise und Wohnform, Haushaltsformen und Raumangebot, Landverbrauch und Flächennutzung, Heimat und Zersiedelung, Infrastruktur und leibliches Wohl. Die darin enthaltenen Übungen beruhen alle auf Pilotprojekten, die auf dieser Stufe mit Erfolg durchgeführt wurden. Dabei zeigt die Erfahrung, dass oft schon kleine Korrekturen der Aufgabenstellung zu wesentlich besseren Ergebnissen, grösserem Lernerfolg und einem spannenderen Lernerlebnis führen können. Als Beispiel sei die Übung «Mein Lieblingsraum, wenn ich 25 bin» genannt. Die Kinder sollen lernen, eigene Wünsche und Bedürfnisse zu formulieren, diese Wunschvorstellung räumlich umzusetzen und in einer perspektivischen Skizze zu bearbeiten. Dazu schreiben sie ein Szenario und ergänzen es mit einer Zeichnung. Sie überlegen sich, was ihr Lieblingsraum sein wird, wie gross er ist, was es für eine Aussicht gibt, was für eine Form er hat und welchen Funktionen er dient. Mit diesen Vorstellungen bauen sie ein Modell, das sie mit bereitgestellten Klötzchen möblieren. Der Blick in dieses Modell wird mit der zugehörigen Aussicht fotografiert und schwarzweiss ausgedruckt und dient als Grundlage für eine farbige Überarbeitung, die mit Referenzbildern zu Materialien, Farben, Möbeln oder Funktionen ergänzt wird. So gelingt es den Schülern, ihre Vorstellungen stufengerecht umzusetzen.

Die Kinder sollen sich aber nicht nur auf der gestalterischen Ebene mit der Wohnung beschäftigen. So studieren sie beispielsweise in Zeitungen und im Internet den Wohnungsmarkt und suchen für eine imaginäre Patchworkfamilie, die zusammenziehen will, eine geeignete Wohnung. Dazu gehört auch die Berechnung der Miete, die sich die Familie aufgrund der Einkommen und der Lebenshaltungskosten leisten kann. Im Modul «Ist die Schweiz eine Stadt?» beschäftigen sie sich im Fach Mathematik mit Bevölkerungsstatistik und Flächenverbrauch in den verschiedenen Siedlungsformen. Im Modul «Auch draussen wird gewohnt» gibt es ein Rollenspiel, in dem die Bewohner einer Siedlung aushandeln, wie der gemeinsame Aussenraum genutzt werden soll. So lernen die Kinder das Thema Wohnen auf verschiedensten Ebenen kennen.

Lehrmittel Architektur und Umweltgestaltung

Das zweite Lehrmittel in Vorbereitung richtet sich an Sekundarschulen und Gymnasien mit Schülerinnen und Schülern im Alter von 14 bis 20 Jahren. In einem Schuber werden 80 Bildkarten mit architektonischen und ingenieurbautechnischen Werken, Städten, Gärten und Landschaften enthalten sein. Auf der Vorderseite steht jeweils eine prägnante und möglichst vielfältig lesbare Abbildung, auf der Rückseite sind zusätzliche Bilder, Pläne, Textinforma tionen und Quellenhinweise zu finden. Diese Bildkarten bilden den Ausgangspunkt für die Übungen, die im beigelegten Heft für die Lehrperson beschrieben sind. Sie können aber auch frei verwendet werden, zum Beispiel für kurze Vortragsübungen oder eine Einführungsdiskussion. Das Übungsheft enthält konkrete Angaben für die Lehrpersonen, wie sie eine Unterrichtseinheit durchführen können, dazu Variationsmöglichkeiten und Abbildungen von Schülerarbeiten aus den durchgeführten Tests.

Auch dieses Lehrmittel kann in verschiedenen Fächern eingesetzt werden. Im Bildnerischen Gestalten beispielsweise wird das Thema Licht als Material der Architektur behandelt. Anhand der Bildkarten zur Kapelle von Ronchamp, zum Centre du Monde Arabe, zum Farnsworth House, zu einem Engadiner Bauernhaus, zu Franz Füegs Kirche in Meggen und weiteren Gebäuden lernen die Schüler die unterschiedliche Behandlung von Licht kennen. Darauf schneiden sie aus einem Kartonwürfel Lichtöffnungen und fotografieren den Innenraum. Resultat sind die so entstandenen «Lichtbilder». Die Übung kann ergänzt werden durch zeichnerische Übungen von Licht und Schatten im Schulhaus oder durch Kurzvorträge der Schüler zu je einer der genannten Bauten.

Im Fach Mensch und Umwelt schlägt eine Übung vor, eine historische Abbildung der Landschaft am Wohnort auszuwählen und am selben Ort heute eine Aufnahme zu machen. Diese werden verglichen und diskutiert. In einem dritten Schritt gestalten die Schülerinnen und Schüler eine Collage mit der zukünftigen Entwicklung, oder sie schreiben einen Text darüber. Als Vorbereitung dienen Bildkarten, die die Entwicklung der Schweizer Landschaft zeigen oder die sich sonst mit Erscheinungsformen von Siedlungen und Landschaft beschäftigen. Eine Übung widmet sich dem Thema Einfamilienhaus und Zersiedelung. In einer Diskussion übernehmen die Schülerinnen und Schüler die Rollen von verschiedenen Interessengruppen wie Landbesitzer, Investor, Kaufinteressentin, Umweltschützer, Gemeindeverwaltung usw. und diskutieren die Vor- und Nachteile einer Einfamilienhausbebauung. Der Test einer solchen Diskussionsrunde zur Planung des Hardturmstadions in Zürich hat wider Erwarten sehr erfreuliche Ergebnisse gezeigt. Die Schüler vertiefen sich in die Motive ihrer Rolle und schwelgen in ihren schauspielerischen Talenten; gleichzeitig lernen sie, dass Architektur und Umweltgestaltung nicht von Einzelnen bestimmt, sondern immer von vielen Akteuren beeinflusst werden.

Hohe Anforderungen an Lehrmittel

Lehrmittel müssen sich auf dem Markt behaupten. Verlage und Interessengruppen – vom WWF bis zu den Milchproduzenten – buhlen um die Aufmerksamkeit der Lehrpersonen. Ein neues Lehrmittel muss nicht nur ein relevantes Thema behandeln, sondern attraktiv und niederschwellig sein und die Lehrenden mit guten Übungsbeispielen animieren. Es muss erschwinglich, möglichst offen und modular gegliedert sein und Raum lassen für eigene Anwendungen. Dies gilt insbesondere für Lehrmittel in den Fächern Bildnerisches Gestalten, Sprache oder Mensch und Umwelt, in denen Architektur und Umweltgestaltung Platz finden sollen. Diese Rahmenbedingungen musste die Fachstelle Architektur und Schule erst kennen lernen und in die Konzeption ihrer Lehrmittel integrieren. Der Schulverlag, der voraussichtlich die beiden geplanten Lehrmittel produzieren und vertreiben wird, hat da mit seinem didaktischen und merkantilen Wissen entscheidend mitgeholfen. Die Fachstelle Architektur und Schule plant, nach der Einführung ihrer ersten beiden Lehrmittel in der Deutschschweiz französische und italienische Versionen zu erarbeiten.

Trotz dem Fortschritt bei der Etablierung des Vereins «Spacespot» und der Erarbeitung der Lehrmittel bleibt der Erfolg einer breit abgestützten Sensibilisierung für die gebaute Umwelt auch weiterhin von den Anstrengungen der Fachleute abhängig, die sich im Schulunterricht engagieren. Die Fachstelle Architektur und Schule ruft sie deshalb auf, jede Gelegenheit zu nutzen, interessierte Lehrpersonen mit Rat und Tat zu unterstützen. Die persönliche Begegnung mit Architektinnen oder Ingenieuren im Unterricht ist eine der wirksamsten Methoden, Schüler und Schülerinnen für das Thema zu begeistern.


Anmerkung:
[1] Riklef Rambow: Experten-Laien-Kommunikation in der Architektur. Münster, 2000

TEC21, Fr., 2009.04.03



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27. März 2009Hansjörg Gadient
TEC21

Zwischensaison

Mit zwei Gästen wurde am 15. Juni 1908 das Hotel Waldhaus in Sils-Maria in Betrieb genommen. Nach 16 Jahren erfuhr es den ersten Umbau. Seither ist – mit Unterbrüchen – die Zwischensaison Bausaison und das Non-Finito der Normalzustand in einem Haus, das für seine Gäste ewig unverändert erscheint.

Mit zwei Gästen wurde am 15. Juni 1908 das Hotel Waldhaus in Sils-Maria in Betrieb genommen. Nach 16 Jahren erfuhr es den ersten Umbau. Seither ist – mit Unterbrüchen – die Zwischensaison Bausaison und das Non-Finito der Normalzustand in einem Haus, das für seine Gäste ewig unverändert erscheint.

Die Geschichte des Grandhotels Waldhaus ist auch eine Geschichte der Umbauten. Komfortansprüche ändern sich; der sich wandelnde Zeitgeschmack führt zu ästhetischer Obsolenz; der technische Fortschritt verändert Infrastrukturen, Arbeitsweisen und -abläufe. Nicht zuletzt sind soziale Vorstellungen und Verhaltensweisen einem permanenten Wandel unterworfen, zum Beispiel die Zimmerwünsche der Gäste: In der Belle Epoque war das erste Obergeschoss als Bel-Etage das vornehmste, man verlangte Zimmer nach Osten und Norden, denn man war vornehm blass. Die Zimmer der oberen Geschosse waren weniger gefragt, zuoberst lagen die Personalzimmer. Heute verlangen die Gäste sonnige Zimmer möglichst hoch oben mit viel Ausblick, mit Balkon, auf der Süd- und der Westseite.

Irisierendes Flirren der Zeit

Die Zeitläufte zwingen die Eigentümer, Schritt zu halten, wenn sie nicht – wie so viele andere – den Anschluss verlieren wollen.[1] Heute betreibt die vierte Generation der Familie[2] das Haus mit seinen 150 Zimmern und seinen fast 10 000 Gäste-Ankünften pro Jahr. Die enge Verbindung mit der Tradition gibt die Haltung und die Strategie vor: eine permanente und diskrete Erneuerung, mit der sich der Bau und seine Einrichtung ähnlich einem Zellorganismus ständig verjüngen und dabei immer demselben Plan folgen. Dass in jeder Zwischensaison eine Baustelle eröffnet wird und Investitionen in Millionenhöhe getätigt werden, merken die Gäste kaum. Sie sollen wiederkommen und sich zu Hause fühlen, sie sollen nicht verschreckt werden durch spektakuläres Design oder prahlerische Neubauten. Das Waldhaus sehe zu ihrer Freude, so Direktor Urs Kienberger, nicht nur noch so aus wie einst, sondern es lebe und funktioniere in vielen Belangen auch noch so.[3] Das Erstaunliche an diesem «wie einst» ist, dass das «Einst» nicht zu bezeichnen ist und – notabene – nie war. Bereits der erste Bau von Karl Koller[4] oszilliert zwischen einem gemässigten Jugendstil mit englischen Einflüssen und dem sich ankündigenden nüchternen Bündner Heimatstil. Die erhaltenen Dekorationen sind oft Kombinationen von Stilen, in denen bauhausartige Nüchternheit und neobarocke Pracht unvermittelt nebeneinander stehen, so zum Beispiel im Plafond des zweiten Speisesaals. Spätere Einbauten bereichern und verwirren das Spiel zusätzlich. Manche Elemente wirken wegen ihrer einfachen Formensprache völlig zeitlos; einige sind stark historisierend, aber kaum je aus der Zeit, die sie vorstellen. Was in dieser Beschreibung als heilloses Durcheinander erscheinen mag, fügt sich zu einem von der Magie des Waldhauses zusammengehaltenen Ganzen. So ist das Hotel nicht nur örtlich dem Alltag entzogen, sondern auch zeitlich. Es herrscht eine Art irisierend flirrendes Zeitkontinuum. Die Zeit scheint stillgestanden, aber niemand kann sagen, wann.

Vergangenheit und Zukunft verweben

In dieses Palimpsest fügen sich organisch auch die Einbauten von Miller und Maranta als Signaturen unserer Zeit. Quintus Miller geht so weit zu sagen, dass wir ohne Erinnerung nicht wahrnehmen könnten.[5] Als konzeptionellen Ansatz im Umgang mit historischer Substanz verfolgen die Architekten im Fall des Waldhauses eine Art von Verweben von Alt und Neu zu einem Dritten. Der explizite Kontrast interessiere sie kaum, weil er Vertrautheit ausschliesse. Hinzu kommt die Absicht, den Entwurf mit einem möglichst reichen semantischen Referenzsystem aufzuladen. So werden die heutigen baulichen Beiträge vielfältig lesbar und bleiben langfristig interessant. Wenn man sich vor Augen hält, wie wir im Unterschied zu unserer Vätergeneration heute bestimmte Zeitepochen lesen und bewerten, kann man diese Erwartung nur bestätigen. Teil der Aufladung mit möglichen Bedeutungen sind auch subtile Verschiebungen oder Brüche. Sie sollen analog dem Brecht’schen Verfremdungseffekt die Wahrnehmung irritieren und das Selbstverständliche dem Übersehenwerden entziehen. Dies kann die gefaltete Form eines Vordaches sein oder ganz einfach ein Farbton, der leicht neben dem Erwarteten liegt.

Zeitlose Zurückhaltung

Ausser diesem Aufladen des Werks mit reichen Lesbarkeiten steht die selbstverständliche Einordnung in den Bestand im Vordergrund. Obschon es kein «Retro-Design» gibt und die Formensprache immer modern ist, fügen sich die jüngeren Schichten in den Bestand ein und tragen zum Teil zum Effekt der zeitlichen Irritation bei. Die neu eingesetzten Brandabschnitt- Türen zum Beispiel könnten sehr ähnlich auch von 1930 stammen oder von 1960. Ein anderes Beispiel ist der neue Vorraum zum Lesezimmer, räumlich das Ende eines Flurs mit bildhaften Aussichtsfenstern auf eine malerische Felswand. Der Raum ist vom Boden bis zur Decke getäfert und verbindet dadurch zwischen den Nachbarräumen. Das neue Täfer ist analog einem historischen in Zonen gegliedert, aber nicht profiliert, sondern ohne Schattenfugen gestossen. Die planen Holzflächen betonen Farbe und Maserung des Holzes; die Aufmerksamkeit wird auf die «Fensterbilder» gelenkt. An einer anderen Stelle entfällt diese gediegene Zurückhaltung. Das Treppenhaus von der vierten in die fünfte Etage ist im Zuge der Umbauten von Personalzimmern zu Gästezimmern entstanden, an einer historisch uninteressanten Stelle. Hier haben Miller & Maranta den Zeitschichten des Waldhauses eine Treppenskulptur implantiert, die spielerisch zwischen Moderne und Dekonstruktivismus oszilliert. Bei manchen Details verweben sich in einem einzigen Objekt Vergangenheit und Gegenwart. Die Lampen der renovierten Flure sollten erhalten bleiben, waren aber technisch überholt, und ihr Licht war zu dunkel. So wurden sie teilweise renoviert und teilweise erneuert. Heute hängen die erhaltenen Glasstäbchen ihrer Ecken neben den ersetzten Glasscheiben und fassen diskret die neuen Leuchtmittel.

Etappierte Grossbaustellen

Meist geht es bei den Umbauten aber nicht um Lampendetails, sondern um Grossbaustellen. In den letzten Jahren haben Miller & Maranta unter anderem den gesamten Bar bereich einschliesslich Office und eines völlig neuen Trakts mit Seminarräumen darunter gebaut. Sie haben die Eingangshalle saniert und ihr wieder den Blick auf den Wald zurückgegeben. Mit Jürg Conzett haben sie die Vorfahrt mit einem Faltwerk aus Beton bekrönt und für das Gepäck einen kecken Vorbau ans Personaltreppenhaus angeschlossen. Sie haben den gesamten Küchentrakt erneuert und dabei das historische Kernstück, die zweigeschossige Halle der Kochbrigade, erhalten. Dass das eine erheblich teurere Lüftungsanlage und andere kostspielige Kompromisse bedingte, haben die Bauherren in Kauf genommen. Rundherum wurde der Bau auf den Rohbau zurückgeführt, unterfangen, an- und umgebaut und anschliessend mit der neuesten Küchenlogistik ausgestattet. Doch nicht nur: Inmitten der neuen Chromstahl-Herrlichkeit steht wieder der hundertjährige Holzofengrill[6], auf dem seit hundert Jahren die Fleischstücke garen.

Jährlich werden etwa zehn Zimmer erneuert, wenn immer möglich solche, die übereinanderliegen, sodass Eingriffe in die Statik und die Leitungen koordiniert werden können. Einige Räume, deren Erhaltungszustand es erlaubt, werden mit originalen Möbeln des Hotels in einen Zustand, der dem historischen von 1908 entspricht, zurückgeführt. Wo grosse Eingriffe nötig sind oder kein erhaltenswerter Bestand vorhanden ist, sind Umbau und Ausstattung modern.

Bergeller und andere Zimmer

Seit 2003 sind Ruinelli Associati Architetti mit dieser Aufgabe betraut. Armando Ruinelli beschreibt seine Entwurfsarbeit als Übersetzung dessen, was er in der Tradition des Hauses sieht, in eine zeitgemässe Formensprache.[7] Er sucht eine innere Verbindung von Alt und Neu, indem er beispielsweise für die nach Entwurf gefertigten Möbel die gleichen Mate rialien und Oberflächen wählt wie diejenigen der historischen im benachbarten Zimmer. So spüren Gäste, die beide Zimmer gemietet haben, eine Verwandtschaft, ohne dass sich das Neue anbiedert. Bei Zimmern, die ganz neu gestaltet werden, leiten Themen die Entwurfsarbeit.

Bei einer Serie ist dies etwa das Bergell, dessen Quarzit im Badezimmer verbaut wird. Die Möbel und Bodenbeläge werden aus dem lokalen Kastanienholz gefertigt, und die Stoffe und Farben erinnern an regionale Traditionen, aber immer in völlig zeitgemässer Art. Beim Umbau der Bäder wird vor allem auf eine optische Beruhigung gezielt, um die Räume grosszügiger wirken zu lassen. Elemente werden zusammengefasst und verschmolzen, Oberflächen vereinheitlicht. Statt eines Glashalters an der Wand dient beispielsweise eine eingefräste Vertiefung im Stein des Waschtischs als Halterung. Immer ist ein optimaler Ausgleich zwischen Ästhetik, Funktionalität und Unterhalt zu suchen. Beim ersten Badezimmer wurde ein 1:1-Modell gebaut, um alle diese Ansprüche zu vereinen. Nicht zuletzt müssen die neuen Materialien der strengen Prüfung durch die Hausdame genügen, die sie mit Ölen, Säuren, Wasser und manch anderem traktiert und auf Beständigkeit und Pflegeleichtigkeit testet. Aber auch die Gestaltung soll möglichst lange aktuell bleiben. Die Architekten pflegen deshalb eine zurückhaltende Sprache und setzen primär auf die Raumwirkung selbst. Das Neue soll nicht als spektakuläres Design in Erscheinung treten, sondern zurückhaltend und atmosphärisch dicht wirken. Aus Sicht der Bauherrschaft muss auch in den neuen Zimmern dieser schwer zu fassende Geist einer zeitentrückten Ruhe in Erscheinung treten.

Zwischensaison

Keinen zusätzlichen Tag schliesst das Hotel für einen Umbau. Das Zeitfenster ist die Zwischensaison mit ihren sechs bis acht Wochen. Jede Massnahme muss beim Eintreffen der Gäste so weit abgeschlossen sein, dass sie nichts Störendes wahrnehmen. Für die Zimmer gilt dies absolut. Jeder Umbau, selbst wenn er wegen Zusammenlegungen oder Leitungsbauten tief in die Bausubstanz eingreift, muss innerhalb dieser kurzen Zeit abgeschlossen sein. Für die grossen Massnahmen in den Gemeinschaftsräumen und im Küchentrakt war dies nicht möglich, sie mussten auf drei Etappen verteilt werden. Wenn man sich 22 Köche, die 300 Essen an einem Abend zubereiten müssen, auf einem Baustellenprovisorium vorstellt, ahnt man, was das heisst. Viele der Umbauten waren mit Eingriffen bis unter die Fundamente, mit Sprengungen des Felsens und Unterfangungen des Altbaus und einer komplett neuen Statik verbunden. In einer Zwischensaison wurde 1991 die gesamte Halle abgerissen und um 5.5 Meter erweitert wieder aufgebaut, einschliesslich aller Ausbauten. Die Gäste kamen an und bemerkten die neuen Vorhänge… Wenn das Hotel die Saison pünktlich eröffnet, ist jede Baustelle abgedichtet und hinter provisorischen Einbauten verborgen; die Mitarbeiter haben hinter den Kulissen improvisiert und halten für die Gäste den Eindruck des immerwährenden Normalzustandes aufrecht. Die Eigentümer schätzen die Mehrkosten, die durch das beschleunigte Bauen und die Provisorien entstehen, auf etwa 20–25 % der Baukosten. Die Gesamtkosten liegen jedes Jahr bei durchschnittlich 3.5 Mio. Franken. Möglich seien solche Umbauten nur mit einer äusserst disziplinierten Planung aller Bauabläufe, so Quintus Miller. Meist erhalten die Handwerker Zeitfenster nicht von Tagen, sondern von Stunden. Für Verzögerungen gibt es keine Toleranz. Armando Ruinelli ergänzt: Möglich seien solche Abläufe nur mit eingespielten Teams von Fachleuten. Mit ihnen – und mit den Bauherren – habe sich eine Kultur des Teamworks entwickelt, die er hoch schätze.

Werte

Es geht um Werte und Haltungen. Nicht Wachstum und Wertvermehrung, so Direktor Felix Dietrich, sondern der Werterhalt stünde bei allen Erneuerungen im Zentrum.[8] Die Gewinne werden regelmässig ins Haus reinvestiert. Über dem Sanierungsprogramm für die künftigen Jahre steht auf der ersten Zeile: «Nicht nur technokratisch investieren, sondern mit Fantasie, Innovation und Voraussicht.»[9] Respekt für das Vorhandene und Wertschätzung stehen hinter dieser Strategie. Die Tradition soll weitergeführt werden, als die «Family Affair», mit der das Haus für sich wirbt; die nächste Generation steht bereit. Regelmässig werden auch lukrativste Kaufangebote von Interessenten und Hotelketten höflich abgelehnt. «Shareholder Value» hat hier eine ganz eigene Bedeutung. Hoch ist nicht nur die Wertschätzung der Tradition und des baulichen Erbes, sondern auch des sozialen. Jeder Gast wird persönlich von einem Direktionsmitglied begrüsst und verabschiedet. Eine Marotte? – Eine Geste. Es gibt Gäste, deren Eltern, Grosseltern und Urgrosseltern bereits regelmässig ins Waldhaus kamen. Aber auch die Wertschätzung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gehört dazu. Zum 100-Jahr- Jubiläum ist ein Buch[10] entstanden, das von den Lieblingsorten vieler Angestellter im Haus und einiger ihrer Heimatorte erzählt, an die sie immer wieder zurückkehren, in der Zwischensaison, wenn das Waldhaus zur Baustelle wird und sich für die Zukunft rüstet.


Anmerkungen
[01] Nach dem Zweiten Weltkrieg und der nachfolgenden Krisenzeit erlitt das Haus schwere Einbussen und kämpfte um seinen Erhalt. Erst der Bau des Hallenbades von Otto Glaus 1970 brachte den erneuten Aufschwung
[02] Das Hotel ist im Eigentum einer ausschliesslich aus Familienmitgliedern gebildeten Aktiengesellschaft . Die Direktion besteht aus Felix und Maria Dietrich-Kienberger und Urs Kienberger, den Urenkeln der Gründer, Josef und Amalie Giger-Nigg
[03] Text der Medieninformation zum hundertjährigen Bestehen des Hauses
[04] Über die Baugeschichte des Waldhauses ist eine sehr informative Broschüre erschienen: Roland Flückiger-Seiler: Hotel Waldhaus Sils-Maria. Schweizerische Kunstführer GSK, Bern 2005
[05] Gespräch mit dem Verfasser vom 20. 2. 2009
[06] Das Hotel hat ein reizendes hauseigenes Museum, das der Künstler Giuseppe Reichmuth mit Filmen und mechanischen Skulpturen animiert hat
[07] Gespräch mit dem Verfasser vom 4. 3. 2009
[08] Gespräch mit dem Verfasser vom 5. 3. 2009
[09] Die Besitzerfamilie führt ein Journal im Hinblick auf kommende Um- und Ausbauten. Darin finden sich u. a. Wünsche der Gäste, aber auch der Erneuerungsbedarf, der aus betrieblicher oder bautechnischer Sicht notwendig werden wird. Neben der weiteren Renovation von Gästezimmern stehen in den nächsten Jahren die Renovation des Speisesaals und der Ausbau des Wellness-Bereiches auf dieser Liste
[10] Waldhaus Sils. A Family Aff air since 1908. Ein Grandhotel wird hundert. Zora del Buono und Stefan Pielow, Sils-Maria, 2008

TEC21, Fr., 2009.03.27



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tec21 2009|13 Non-Finito

13. Februar 2009Hansjörg Gadient
TEC21

Geliehene Landschaft

Das Wort Landschaft, Paysage, Landscape bezeichnet in vielen Sprachen so wohl das Bild selbst als auch seinen Gegenstand. Die lange Tradition der Landschaftsbetrachtung und -gestaltung zeigt in der Schweiz bis heute keine Wirkung. Angesichts der zunehmenden Verstädterung und Zersiedelung fehlt es immer schmerzlicher an einer Landschaft splanung in der dritten Dimension.

Das Wort Landschaft, Paysage, Landscape bezeichnet in vielen Sprachen so wohl das Bild selbst als auch seinen Gegenstand. Die lange Tradition der Landschaftsbetrachtung und -gestaltung zeigt in der Schweiz bis heute keine Wirkung. Angesichts der zunehmenden Verstädterung und Zersiedelung fehlt es immer schmerzlicher an einer Landschaft splanung in der dritten Dimension.

«Geliehene Landschaft»[1] – Jie Jing – nennen die Chinesen seit über tausend Jahren eine Szenerie ausserhalb des Gartens, die von einem bevorzugten Ort innerhalb des Gartens aus zu sehen ist. Ihr Bild wird in dessen Gestaltung einbezogen. Schon der Garten selbst ist eine Abfolge von kunstvoll gestalteten dreidimensionalen Bildern, die über ein Wegenetz erschlossen wird. Diese Ansichten sollen sich dem Spaziergänger nach und nach zeigen, wie sich die Bilder auf einer Tuschrolle enthüllen. Das entwerferische Denken ist bildhaft und eng verknüpft mit der Malerei, die ihrerseits bestehende und imaginäre Gärten abbildet. Im 18. Jahrhundert gelangen erstmals Abbildungen von chinesischen Gartenan lagen[2] nach England und fördern dort die Mode des sino-englischen Landschaftsgartens.

Auch die zweite gartenarchitektonische Mode dieser Zeit, die Antike-Sehnsucht, ergeht sich in Bildern. Reisende bringen von ihrer Grand Tour nach Italien Ansichten von arkadischen Landschaften mit. Befördert von dem auch im Westen starken Bezug zwischen Malerei und Landschaftsarchitektur werden in den grossen Landschaftsparks solche Bilder nachgebaut. Man errichtet antikisierende Bauten, um Bilder der mediterranen Sehnsuchtsorte auferstehen zu lassen.[3] Während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts emanzipiert sich die Gartenarchitektur, vor allem mit den Arbeiten von Lancelot Brown, vom Diktat der Antike; auf Bauten und Statuen wird verzichtet, das Bild der Landschaft genügt ohne Verweis auf mythische oder geschichtliche Orte. Stattdessen widmet man sich ausschliesslich der Gestaltung der Landschaftselemente Topografie und Bepflanzung. Unter enormem Aufwand werden Seen ausgehoben, Hügel aufgeschüttet und Flüsse verlegt, um bestimmte Bilder zu erzeugen.

Wege durchziehen diese Landschaften und führen zu den schönsten Veduten. Die Bepflanzung dient zur Betonung der räumlichen Tiefe und dazu, malerische Effekte hervorzurufen. Aber sie wird auch genutzt, um hässliche Teile der sichtbaren Landschaft abzudecken. Wo Waldstücke oder Einzelbäume reizvolle Szenerien verdecken, werden sie entfernt.[4]

Vom zweidimensionalen Bild zur dreidimensionalen Landschaft

Die Idee, die Landschaft nach ästhetischen Kriterien umzugestalten, hat zwar auch in England nie den als Garten oder Park definierten Raum verlassen, aber die Dimensionen der Eingriffe sprengten den Begriff des Gartens durchaus. Für Europa ist dies einmalig. In China erreichten die Dimensionen der Gärten hingegen schon viel früher diejenigen einer Landschaft.[5] Aus der Gartengestaltung ist Landschaftsarchitektur geworden. Aus der Betrachtung und der zweidimensionalen Abbildung der Landschaft wird ein aktives dreidimensionales Umgestalten nach bildnerischen Kriterien.

Der Bündner Künstler Florio Puenter[6] hat fotografische Panoramen des Engadins geschaffen, in denen er Betrachtung und Veränderung verbindet (siehe «Nie gesehene Bilder», S. 22). Er bildet die Landschaft ab und greift in sie ein. Die entstandenen Bilder zeigen Landschaften vor dem Eingriff des Menschen: Geht es hier um die Sehnsucht nach der vollkommenen Natur? Enthalten darin ist der Schmerz über die Beeinträchtigung, wenn nicht Zerstörung dieser grossartigen Landschaft. Das Entfernen der zivilisatorischen Eingriffe macht ihre Erhabenheit wieder sichtbar. Die Idee und die Bilder sind grossartig; wegweisend ist der Ansatz: Landschaft muss wieder wahrgenommen und als Bild aktiv gestaltet werden – statt nur eine Fläche zu sein, die genutzt und verwaltet wird.

Planung im „Flachland“

Ein merkwürdiges Versäumnis der Planung wird hier sichtbar. Orts-, Regional- und Landesplanung sind mit wenigen Ausnahmen eine rein zweidimensionale Angelegenheit. Zonen werden definiert, Art und Mass der Nutzung festgelegt. Das alles passiert in der Regel nach rein ökonomischen und politisch-pragmatischen Gesichtspunkten. Was auf dem Massstab der Landschaft als Bild daraus resultiert, ist weder Gegenstand des Planungsprozesses noch des resultierenden Planes. Wie seltsam! Man stelle sich zum Vergleich einen Architekten vor, der nur die Grundrisse seines Gebäudes entwirft und die Fassaden den Handwerkern überlässt. Planung hat in der Schweiz einen schweren Stand, vor allem wo ihr ureigenstes Anliegen, die geordnete Entwicklung des Raumes, auf den harten Widerstand von finanziellen und politischen Interessen stösst. In der Verfassung und im Raumplanungsgesetz sind zwar hehre Ziele definiert, aber in der Praxis sieht es anders aus. Der Jurist Martin Bertschi weist in seiner Dissertation nach, dass die Bauzonen fast in allen Kantonen massiv und gesetzwidrig überdimensioniert sind und dass es vor allem am politischen Willen fehlt, diesen Missständen zu begegnen.[7] Nicht einmal das wichtigste Ziel, die Trennung von Bau- und Nichtbauzonen, wird erreicht. Wo stärkere Interessen wirken, kann Nichtbauland bebaut werden. Dafür sorgen von der Bauernlobby bis zu potenten Investoren eine lange Reihe ausschliesslich von Profitmaximierung Geleiteter. Bei Galmiz hat es trotz der Willfährigkeit aller beteiligten Behörden nicht funktioniert, beim Andermatter Resort des Spekulanten Sawiris schon.

Im letzten halben Jahrhundert haben wir mehr gebaut als in allen Jahrhunderten zuvor. Die damit verbundene Zersiedelung hat in breiten Kreisen der Bevölkerung zu Unwillen geführt. Die Landschaftsschutzinitiative ist eine Frucht dieser Entwicklung, und ihre Befürworter haben sich das Bild der Landschaft zum Argument gemacht. Ihr Ziel soll hier nicht debattiert werden, aber ihr Verdienst ist zweifellos, einen Missstand zum Thema zu machen, dem politisch und planerisch begegnet werden muss: das desolate Bild unserer Umwelt. Wir müssen uns um die Erscheinung unserer Landschaft kümmern. Nicht nur Aufteilung und Nutzung der Flächen dürfen die Planung leiten. Neue Fragen sind notwendig, so zum Beispiel: Wo soll die Kontur einer Siedlung verlaufen, damit sie als abgegrenzt und definiert erscheint? Welche Flächen müssen frei bleiben, damit Dorf, Stadt und Siedlung einen Rand haben? Wo könnten Aufforstungen Räume schaffen, die eine Landschaft wieder gliedern und strukturieren? Wo müsste zurückgebaut werden, wenn Einzelbauten, Industrie ruinen oder nutzlos gewordene Infrastrukturbauten die Landschaft beeinträchtigen? Ganz wichtig ist dabei auch eine erweiterte Sichtweise. Wo bisher praktisch ausschliesslich die bebauten Bereiche im Fokus standen, muss auch die Gestalt der nicht bebauten Bereiche definiert und geplant werden. Zuerst aber muss die Trennung von Bau- und Nichtbauzonen durchgesetzt werden. Mit der Schleifung der barocken Befestigungsanlagen um 1800 begann das Ausufern der Stadt auf die Landschaft, ein Prozess, der überhitzt und unumkehrbar zur heutigen Situation mit all ihren Schwächen und Problemen geführt hat. Nur prozesshaft kann die Landschaft weiterentwickelt werden. Ob allerdings die fatalistische Akzeptanz und die theoretische Über höhung der Agglomeration zur «Zwischenstadt»[8] oder «Metropolitanregion » genügen, ist zu bezweifeln. Das sind Worte und Ansätze, die kaum mehr zeigen als die Kapitulation vor dem Ist-Zustand.

Neue Sichtweisen und Instrumente der Planung sind nötig. Während Architekten bei planerischen Projekten oft Ansichten als Arbeitsinstrument nutzen, ist dies im normalen Planungsbetrieb höchst unüblich. Und das in einem Land, dessen bewegte Topografie zu einem bildnerischen Ansatz nicht nur verpflichtet, sondern geradezu einlädt. Wie könnten mit Bildern, Szenerien oder Veduten planerische Ziele und langfristige Prozesse festgelegt werden? Wie kann in einem so dicht besiedelten Land wie der Schweiz tatsächlich ein zukunftsfähiges Gleichgewicht zwischen baulicher und nichtbaulicher Nutzung gesichert werden? Die drei Aspekte der Nachhaltigkeit – ökologische, ökonomische und soziale – müssen um einen vierten, den ästhetischen, erweitert werden, wenn unsere Umwelt lebenswert bleiben soll.

In die Vertikale kippen verstellt den Blick über den Tellerand

Nötig ist nicht nur die Erweiterung der Arbeitsmittel, sondern auch der Betrachtungsweisen. Bisher ist das Bild der Landschaft fast völlig von ihrer Nutzung bestimmt. Das hat eine lange Tradition, auf die hier nicht eingetreten werden soll. Der Verbrauch an Landschaft durch Be bauung und deren Bewertung muss ein wichtiges Thema werden. Naiv wirkt die Äusserung von Thomas Held, Direktor von Avenir Suisse, zum geplanten Turm auf der Davoser Schatzalp: «Die vorgeschlagene [...] Lösung geht ja gerade von der Idee des Landschaftsschutzes aus. Die Schatzalp, die aufgrund der geltenden Bestimmungen mit den üblichen Chalets gesprenkelt werden könnte, soll von einer solchen Streusiedlung verschont werden.

Mit dem genialen Kunstgriff, das Volumen dieser Häuschen in einem Baukörper zusammenzufassen und gleichzeitig die horizontale Gestalt des alten Sanato riums beziehungsweise des bestehenden Hotels in die Vertikale zu kippen, wird die Alp als öffentlicher Erholungsraum und als Landschaft bewahrt [...].»[9] Held behauptet also, dass der Turm die Landschaft schütze, weil sein Fussabdruck im Vergleich mit niedrigen Bauten gleichen Volumens klein sei. Hier fehlt im Wortsinn der Blick über den Tellerrand. Der Turm wäre das ganze Landwassertal auf und ab sichtbar. Von allen umgebenden Bergflanken aus gesehen würde er die Davoser Landschaft dominieren. Der Verbrauch an bebautem Boden ist in der Tat gering, der Konsum an Landschaft aber enorm: ein ganzes Tal als Hintergrund für einen Bau. Dieses von ästhetischen Bedenken unbeleckte Verbrauchen von Landschaft ist die Regel und traditionell gewachsen. Der bäuerischen Gesellschaft der Schweiz war Landschaft Objekt der Nutzung bis zur Ausbeutung. So wurde beispielsweise im Unterengadin jahrhundertelang fast der gesamte Tannenwald abgeholzt und ins Tirol zum Salzsieden verkauft.[10] Die Lärchen, die die kahlen Hänge daraufhin als Pioniere wieder besiedelten, sind heute «typisch». Aber eigentlich sind es späte Zeugen eines Raubbaus.

Als im 19. Jahrhundert im Zuge der Entdeckung der Landschaft und ihrer Erhabenheit der Tourismus in die Berg- und Seenregionen Einzug hielt, bestückte man die Landschaften, die zu bestaunen die Fremden gekommen waren, ganz selbstverständlich mit den grössten Hotelpalästen, vorzugsweise an landschaftlich besonders exponierten Stellen. Landschaft war ja genug da, man dachte sich nichts dabei. Der Blick aus den Zimmern dieser Paläste zeigte eine spärlich besiedelte agrarische Landschaft, die als Idylle galt.

Wenn heute mit einer ähnlichen Attitüde ein Turm in die Alpenlandschaft gestellt werden soll, ist das ein Anachronismus, denn hundert Jahre später hat sich die Situation der Landschaft radikal geändert. Nur die rücksichtslos ökonomisierte Sichtweise ist dieselbe wie vor hundert Jahren geblieben. Immer stärker wird es aber um das Bild der Landschaft und dessen Wert gehen.11 Bereits gibt es Bestrebungen, den ästhetischen Wert der Landschaft mittels Rastern und Punktsystemen zu erfassen und zu ökonomisieren. Was «bringt» eine Landschaft als Erholungsraum, wie viel als Tourismusdestination? Aus dem Wert soll ein Preis werden, der Landschaft handelbar und Eingriffe «kompensierbar» macht.

Geliehen

Wie hoch ist der Verlust an Landschaft zu bewerten, wenn entlang der Anflugschneisen des Flughafens Zürich und auf exponierten Hügelkuppen entlang der Autobahn in Hektargrösse für Taschenmesser, Handyfirmen oder Möbelhäuser geworben wird?12 Wie viel darf oder muss eine Jurahöhe in ihrer heutigen Erscheinung kosten? Und wie viel vom Preis ist abzuschreiben, wenn man sie mit Windmühlen spickt? Wie niedrig müssten die Preise von Landschaft angesetzt werden, damit deren Beeinträchtigungen «bezahlbar», die Gewinne aus Energieertrag oder Werbung höher bleiben als die Kompensationszahlung? Die Idee ist absurd; Landschaft hat einen Wert, keinen Preis. Um sie zu entwickeln und zu schützen, muss ihre Erscheinung zu einem zentralen Argument ihrer Nutzung und Gestaltung werden. Wir zehren vom Kapital Landschaft. Statt sie klug zu nutzen, verbrauchen wir sie. Aber wir besitzen sie nicht, unsere Kinder und Enkel haben sie uns nur geliehen.


Anmerkungen
[1] Der Begriff der geliehenen Landschaft oder Szenerie, Jie Jing, erscheint in der Zeit der Nördlichen Song-Dynastie (960–1279 n. Chr.). Diese Epoche gilt als Zeit der Hochblüte der chinesischen Gartenkultur. Zum Begriff selbst s.borrowed landscape in: Patrick Taylor. The Oxford Companion to the Garden. S. 55. Zur Entwicklung der chinesischen Gartentradition s. «Die Gärten Chinas», in: Penelope Hobhouse. Der Garten. Eine Kulturgeschichte. London 2002. S. 319 ff .
[2] 1724 bringt der Missionar Matteo Ripa 36 Kupferstiche des kaiserlichen Sommer palastes in Chengde nach England
[3] Im Park von Wörlitz liess Fürst Friedrich Franz von Anhalt-Dessau sogar den Vesuv in Miniaturform nachbauen, der richtig Feuer spucken konnte. S. Frank Maier-Solgk und Andreas Greuter in Landschaft sgärten in Deutschland. Stuttgart 1997. S. 76
[4] (…) so much Beauty depending on the size of the trees and the colour of their leaves to produce the effect of light and shade so very essential to perfect in a good plan: as also the hideing of what is disagreeable and whewing what is beautifull (…) (sic) Lancelot Brown in einem Brief an einen Auftraggeber. Zit. In: Elli Mosayebi und Christian Müller Inderbitzin: The Picturesque – Synthese im Bildhaften. Pamphlet Nr. 9 des Instituts für Landschaftsarchitektur. Professur Christophe Girot. S. 32
[5] S. Hobhouse. Der Garten. Op.cit.
[6] Vgl. Thomas Kaiser. Kunstrenaturierung. In: Bündner Tagblatt vom 1. April 2006. S. 18
[7] Vgl. Martin Bertschi: Die Umsetzung von Art. 15 lit.b RPG über die Dimensionierung der Bauzonen: Bundesrecht, föderalistische Realität und ihre Wechselwirkungen. Zürcher Studien zum öffentlichen Recht, Nr. 144, Zürich 2001
[8] gl. Thomas Sieverts. Zwischenstadt. Basel, Boston, Berlin 1997
[9] Thomas Held. Ein Leuchtturm für die Verdichtung. In: Anthos Nr. 2, 2008. S. 52
[10] S. Christian Küchli: Wurzeln und Visionen. Promenaden durch den Schweizer Wald. Aarau, Stuttgart 1993. S. 104 ff .
[11] Zur Wahrnehmung von Landschaft vgl. Lucius Burckhardt: Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft. Kassel, o. J.
[12] Vgl. Tages-Anzeiger vom 15. Juli 2008

TEC21, Fr., 2009.02.13



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13. Februar 2009Hansjörg Gadient
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Nie gesehene Bilder

Florio Puenter[1] schafft Bilder von Landschaften, wie sie nie ein Mensch gesehen hat. Als Standorte für seine Fotografien wählt er Positionen und Ausschnitte, die vor ihm schon viele Maler oder Fotografen genutzt haben. Er bildet Landschaften ab, wie sie von Plakaten und Postkarten seit Langem bekannt sind. Es sind Motive, deren Häufung ihren Inhalt verbraucht hat bis zu Überdruss und Unsichtbarkeit. Seine Eingriffe verwandeln sie zu Bildern, in denen die im doppelten Sinn verbrauchte Landschaft wieder erscheint, unberührt, grösser, erhabener und ergreifender als in allen ihren früheren Abbildungen.

Florio Puenter[1] schafft Bilder von Landschaften, wie sie nie ein Mensch gesehen hat. Als Standorte für seine Fotografien wählt er Positionen und Ausschnitte, die vor ihm schon viele Maler oder Fotografen genutzt haben. Er bildet Landschaften ab, wie sie von Plakaten und Postkarten seit Langem bekannt sind. Es sind Motive, deren Häufung ihren Inhalt verbraucht hat bis zu Überdruss und Unsichtbarkeit. Seine Eingriffe verwandeln sie zu Bildern, in denen die im doppelten Sinn verbrauchte Landschaft wieder erscheint, unberührt, grösser, erhabener und ergreifender als in allen ihren früheren Abbildungen.

Das Vorgehen ist einfach. Der Künstler entfernt die Spuren der Zivilisation. Er radiert die Häuser, Bahnen und Strassen aus; auf die Weiden und Äcker pflanzt er Fichten, Arven und Lärchen. Es sind Landschaften des Engadins, die er so in einen Zustand versetzt, wie ihn vielleicht einmal die allerersten Siedler gesehen haben könnten, lange bevor es Medien der Abbildung gab und lange bevor Menschen begannen, die Landschaft als Bild wahrzunehmen. Der Blick schweift von Muottas Muragl (Bild 1) über das Oberengadin; wo sonst die Dörfer von St. Moritz, Silvaplana und Sils dem Auge Anhaltspunkte geben, sind im dichten Wald nur die Seen und der Fluss zu sehen, Seen und ein Fluss, die keine Namen haben, weil es niemanden gibt, der sie benennt. So hat diese Landschaft vor dem Menschen ausgesehen, und so wird sie aussehen, wenn sich – nach langer Zeit von Verfall und natürlicher Sukzession – der Wald wieder alle Standorte zwischen Seeufer und Waldgrenze zurückerobert haben wird. In einer Zeit, wo es wieder keine Menschen geben wird.

Ein Bild zeigt den Blick vom Julierpass hinunter auf St. Moritz: eine Bergkette, zu deren Füssen die Topografie in flachere Formationen übergeht, an der tiefsten Stelle ein See, scheinbar klein wie ein Teich. Es fehlen die Hochhäuser, die Wohnblöcke, die Hotelpaläste. Es fehlt jeder massstäbliche Anhaltspunkt von Bauten. Keine Bahnen schneiden sich in die Berghänge, keine Strassen winden sich durch die Ebene. Sichtbar werden die Konturen der Bergflanken, der langsame Übergang des Waldes in Magerrasen und darüber der nackte Fels. Sichtbar werden die kühle Luft und die Erosion an einem der Hänge. Sichtbar wird die sanfte Wellenbewegung der Hügel. Und das Bild führt über seine Ränder hinweg weiter; die Landschaft setzt sich unendlich weit fort. Es ist ein Bild, das zeitlich und räumlich über alle menschlichen Begrenzungen, Kategorien, Namen und Orte hinausführt.

Ein Bild (Bild 3) zeigt einen kahlen Felsen vor einer kegelförmigen, dicht bewaldeten Bergflanke: Schloss Tarasp ohne Schloss. Wo nichts ist, ist des Bildes Brauchbarkeit.[2] Ein anderes (Bild 2) zeigt eine Flussaue, aus der sich wie eine Insel ein flacher Felsrücken erhebt, von einem Tannenhain besetzt: der Kirchhügel von San Gian bei Celerina, ohne Kirche. Schloss Tarasp und die Kirche San Gian sind uralte Orte der Kultur. Seit Generationen sind diese Landschaften von den Gebäuden besetzt und nicht mehr von ihnen zu trennen. Aber wo die längst zu Bild motiven gewordenen Bauten den Blick nicht mehr binden, wird er frei, die Landschaft zu sehen.

Der Künstler sieht seine Arbeit nicht als Zivilisationskritik. Diese Vermutung läge bei einigen Arbeiten nahe, die zwischen Naturzustand und menschlichem Eingriff changieren. Es gibt ein Panoramabild in vier Teilen, auf dem das ganze Engadin zu sehen ist. Darin sind zwar alle Häuser und Infrastrukturbauten entfernt, aber die Wiesen sind nicht bewaldet. Es ist ein seltsames Bild von einem Zustand, in dem unsichtbare Menschen eine agrarisch geprägte Landschaft mit Weidewirtschaft pflegen. In einem anderen Bild (Bild 5) sieht man den Ort, wo das Dorf Silvaplana stehen würde. Die Häuser sind von den Wiesen entfernt, aber sie spiegeln sich wie ein irrer Traum noch immer im Wasser. Das offene Non-Finito dieser Arbeit zeigt den Prozess der Veränderung einer Landschaft. Zu sehen ist zugleich die Agrarlandschaft und was mit ihr durch Bauten geschehen ist. Das Entfernen der Bauten macht durch das Wieder-Erscheinen der Landschaft den Prozess des Verlustes von Landschaft sichtbar. Die Bilder zeigen aber auch das «Material» Landschaft, mit dem planerisch ganz anders umgegangen werden könnte. Diese Varianten von Puenters Arbeit betonen im Vergleich mit den völlig bewaldeten Panoramen die ergreifende Erhabenheit einer von zivilisatorischen Eingriffen entblössten Natur. Schon der Rauch des Lagerfeuers der ersten Siedler hat begonnen, diese Erhabenheit zu zerstören. Das ist paradox, denn Erhabenheit ist eine menschliche Kategorie, und ohne Betrachter gibt es sie nicht. Puenter macht uns zu paradoxen Betrachtern.

Er beschreibt sein Vorgehen als Korrekturarbeit. Er entferne, was ihn störe, so wie er einen Kratzer auf einem Negativ retuschieren würde. Wenn ihn die Spuren der Zivilisation stören, so folgt er einem inneren, idealen Bild einer Landschaft, deren Reinheit überwältigt. Dabei illustriert der Künstler nicht botanisch korrekt den mutmasslichen Urzustand. Er nimmt sich auch die Freiheit, im Vordergrund Waldstücke einzusetzen, wo es keine geben kann, um einem Bild mehr Tiefe zu geben. Die Bilder sind hochartifiziell, nicht um einen natürlichen Zustand zu zeigen, sondern eine Sehnsucht.

Es ist die ungeheure Sehnsucht nach der Verschmelzung mit dieser Natur. Genau das aber ist nicht möglich, denn nur ohne den Menschen sieht diese Landschaft so aus. Der Schmerz, der diesen Landschaftsbildern innewohnt, ist die Trauer des Betrachters, dass er so vollständig ausgeschlossen ist. Florio Puenter schafft Bilder von Landschaften, wie sie nie ein Mensch sehen wird.


Anmerkungen
[1] Florio Puenter (1964) ist im Engadin aufgewachsen. Er lebt und arbeitet im St.Moritz und New York. Seit 2000 beschäft igt ihn das Thema der Engadiner Landschaft. Er fotografiert mit einer Grossformatkamera analog und bearbeitet seine Bilder in zeitaufwendigen Verfahren am Computer und analog weiter. Ausstellungen im In- und Ausland.
[2] «Der Speichen dreimal zehn / Auf einer Nabe stehn. / Eben dort, wo sie nicht sind, / Ist des Wagens Brauchbarkeit.» Erste Strophe aus dem 11. Kapitel des Tao-Tê-King des Lao-Tse (Übersetzung von Günther Debon, Stuttgart 1961, S. 35)

TEC21, Fr., 2009.02.13



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20. Oktober 2008Hansjörg Gadient
TEC21

Wörtergarten

Schriftsteller wie Plinius der Ältere und der Jüngere, Johann Wolfgang von Goethe oder Vita Sackville-West haben ihrer Liebe zu den Pflanzen und zum Artefakt Garten mit Worten Denkmäler gesetzt. Diese Texte haben den Garten im europäischen Raum[1] als Kulturgut etabliert. Eines der poetischsten Beispiele unserer Zeit für das Sprechen über den Garten ist das Buch des Filmemachers Derek Jarman[2] über seinen eigenen Garten[3] in Dungeness. Jarman hat in den acht Jahren vor seinem Tod in Dungeness, einer wüstenhaften Gegend an der Südküste von Kent, einen Garten geschaffen, der heute jedes Jahr von einer Viertelmillion Menschen besucht und bewundert wird. Sein Buch hat den Ruf der kleinen Anlage in der ganzen Welt verbreitet.

Schriftsteller wie Plinius der Ältere und der Jüngere, Johann Wolfgang von Goethe oder Vita Sackville-West haben ihrer Liebe zu den Pflanzen und zum Artefakt Garten mit Worten Denkmäler gesetzt. Diese Texte haben den Garten im europäischen Raum[1] als Kulturgut etabliert. Eines der poetischsten Beispiele unserer Zeit für das Sprechen über den Garten ist das Buch des Filmemachers Derek Jarman[2] über seinen eigenen Garten[3] in Dungeness. Jarman hat in den acht Jahren vor seinem Tod in Dungeness, einer wüstenhaften Gegend an der Südküste von Kent, einen Garten geschaffen, der heute jedes Jahr von einer Viertelmillion Menschen besucht und bewundert wird. Sein Buch hat den Ruf der kleinen Anlage in der ganzen Welt verbreitet.

Die Form des Buches ist banal: ein Gartentagebuch. Sein Inhalt ist weit mehr, nicht nur eine Sammlung von Beobachtungen und Reflexionen über den Garten und seine Kultur, sondern auch ein Buch über Sterben, Vergänglichkeit und Transzendenz. Jarman hat die Fischerkate namens «Prospect Cottage» 1987 am Strand von Dungeness in Kent entdeckt und gekauft. Noch im selben Jahr lässt er sich auf HIV testen und erfährt, dass er positiv ist, ein Todesurteil ohne Datum. Trotzdem renoviert er das Häuschen und beginnt, einen Garten anzulegen. Seine Diagnose treibt ihn zuerst in eine Depression, nach einer Phase von Rückzug, Wut und Trauer beginnt er wieder zu arbeiten. In schneller Folge nutzt er die verbleibende Zeit, um die eindringlichsten und besten seiner Filme fertigzustellen: «Eduard II», «Wittgenstein», «Blue» und «The Garden».

Und er beginnt sein Gartentagebuch. Es fängt an mit Erinnerungen. Schon als Kind konnte er sich einfach eine Pflanze ansehen. Gegen Ende seines Gartentagebuchs beschreibt er sich selbst: «Ich kann eine Stunde lang eine Pflanze anschauen, das gibt mir Frieden. Ich stehe bewegungslos und starre.»[4]

Erinnerungen lassen ihn bestimmte Pflanzen im Garten ansiedeln: Die Farbe Rot hat einen Geruch, den des rot blühenden Storchenschnabels. Baldrian ist eine sexy Pflanze, weil sie ihn an seinen ersten Liebhaber erinnert, den Flieger Johnny, der ihn auf seinem Motorrad in den verwilderten Garten am Stadtrand mit seinem blühenden Baldrian entführt hatte. Zu Beginn spielen Pflanzen nur Nebenrollen. Das Grundstück liegt zwischen dem Strand und dem ausgedehnten Naturschutzgebiet der Halbinsel Dungeness, der grössten Kiesfläche der Welt. «Diese Landschaft ist wie das Gesicht, das man übersieht, das Gesicht eines Engels mit einem Grinsen.»[5] Der karge Untergrund und die mit Salzgischt geladenen Ostwinde unterdrücken jedes Höhenwachstum. Bäume gibt es keine, Büsche werden nur hüfthoch: Stech- und Besenginster.

Das Fischerhäuschen steht in einer Fläche von rosa-ockerfarbenem und grauem Kies. Jarman beginnt seine langen Spaziergänge am Strand und bringt jedes Mal aussergewöhnliche Steine zum Haus. Sie sind grösser oder farbiger als die gewöhnlichen, oder sie sind aus besonderem Material wie Feuerstein. Damit formt er in der Kiesfläche Beete, Rechtecke und Kreise. Er stellt die Steine vom Strand aufrecht. So beginnt sein Garten. «Die Steine, vor allem die Kreise, erinnern mich an Dolmen, stehende Steine. Sie haben dieselbe rätselhafte Anziehungskraft. – Ich habe alle geheimnisvollen Bücher über Erdlinien und Kreise gelesen. Ich habe die Kreise mit diesem Wissen im Hinterkopf gebaut.»[6] In einer Landschaft ohne Vertikalen ist schon ein aufgestellter Stein ein Zeichen für Menschenwerk. Jarman ist sich dessen bewusst. Später legt er auch Kreise aus dem gelb blühenden Stechginster an, in deren Mitte er Treibgutpfähle aufrichtet wie Totems.

Gethsemane und Eden Dem Rechteck und dem Steinkreis folgen weitere geometrische Figuren auf der Eingangsseite und auf der Westseite des Hauses. Die Frontseite sei «formal», also geometrisch, die Rückseite dagegen zufällig. Jarman kennt die englische Gartengeschichte gut und bezieht sich mit den beiden unterschiedlichen Gartenteilen darauf. Er will keinen «manikürten» Garten, er will einen struppigen, in dem die Pflanzen üppig ineinander übergehen. «Wenn ein Garten nicht struppig ist, kann man ihn vergessen.»[7] Struppig ist in seinem eigenen Garten vor allem die Rückseite, wo der Zufall herrscht. Hier sammelt er Strandgut und stellt es auf: Holzpfähle, verrostete Schiffsteile, Bojen und viele andere Objekte, die er reizvoll findet. Begonnen hat diese Sammlung mit einem rostigen Stab, den er als Stütze für eine Hundrose einsteckte. Zwischen diese malerischen Objekte setzt er seine Lieblingspflanzen.

Im Buch reiht er ihre Namen zu Gedichten: «Thyme and oregano, hyssop, lavender, rue, fennel and rosemary, caraway, artemisia, pinks, a few sweet peas, night-scented stock, rows of lamb’s tongue, purslane, peas, radish, onion, lettuce, spinach and purple rock.»[8] Immer wieder nennt und beschreibt er einzelne davon wie Kostbarkeiten, den Meerkohl (crambe maritima) zum Beispiel. Er schildert, wie im März die ersten Sprossen von tintenlila Farbe aus dem ockerfarbenen Kies hervorstossen, wie die Blätter sich ausbreiten und alle Tönungen von Graugrün annehmen, wie im Juni über der Blattrosette ein Schleier feiner weisser Blüten schwebt und wie daraus im Herbst der Samenstand mit seinen sandfarbenen Kügelchen wird. Im Spätherbst endlich faulen und verfallen die Blätter; die Pflanze hat sich zum Überwintern in die Erde zurückgezogen. Zum Zeitpunkt, als Jarman diesen Lebenszyklus beschreibt, ist er bereits krank. Viele seiner Freunde sind an Aids gestorben, und er weiss, dass es auch für ihn keine Heilung geben wird. Sein Schreiben wird zunehmend düster, und die Realität des Sterbens nimmt immer mehr Raum ein. Die Sprache wird reduzierter und poetischer, bis die Prosa ganz von langen Gedichten verdrängt wird – Verse, in denen Jarman verschiedenste Reflexionen collagiert: Beobachtungen im Garten, Erinnerungen an Erlebnisse, Philosophisches zu Zeit und Endlichkeit, Klagen über seine Krankheit und Liebeserklärungen an seine Muse Tilda Swinton und seinen Freund Keith. In alles mischt sich die Kälte als Metapher für Sterben und Tod. Der Refrain eines der Gedichte ist: «Kalt, kalt, kalt. Sie sterben so still.»[9]

Während er schwächer wird, wird der Garten immer schöner, karg und üppig zugleich. «Die Stürme haben salzige Tränen hergeweht, meinen Garten verbrannt, Gethsemane und Eden.»[10] Jarman erblindet langsam, und die Infektion schwächt ihn immer mehr. Mit dem Gedanken an Sterben und Tod wird alles wichtig, was dieses Sterben transzendiert. Es ist nicht der Nachruhm, an den Jarman nicht glaubt und den er nicht will. Er glaubt an die Liebe. Ein Freund hilft ihm, auf der Westfassade des Hauses das Gedicht «The Sunne Rising» von John Donne11 anzubringen. In schwarzen, aus Sperrholz ausgeschnittenen Buchstaben stehen dort die Zeilen, in denen unbekannte Liebende die aufgehende Sonne beschimpfen, weil sie sie im Bett aufscheucht. Die Liebe aber kenne keine Stunden, Tage oder Monate, diese Fetzen von Zeit.[12]

Jarmans verbleibender Fetzen dieser Zeit ist kurz. Noch kann er Filme realisieren. Einer davon ist «The Garden»[13], von dem er viele Teile im Garten und am Strand dreht. Auch hier verwebt er Themen des Gartens mit anderen Aspekten seines Lebens und seiner Überzeugungen, mit religiösen Anspielungen, dem Kampf gegen Aids und und immer wieder seine Muse, Tilda Swinton. Vieles mutet an wie ein Traum, anderes hat den Charakter von Super-8- Heimkino. Heute wirkt «The Garden» fast historisch, ein Dokument für die Experimentierlust der 1980er- und 1990er-Jahre des unabhängigen Kinos in England.

Ganz anders dagegen das Buch über den Garten. Hier hat Jarman eine Sprache gefunden, die noch immer gegenwärtig wirkt, dank ihrer poetischen Kraft und ihrer Direktheit. Das Buch wird noch lange von der Schönheit des Gartens sprechen, wenn es ihn selbst längst nicht mehr geben wird.

Anmerkungen
[1] Eine weit reichere Kultur der literarischen Beschäftigung mit dem Garten hat China. Gelehrte und Dichter beschäftigten sich gleichermassen mit Poesie, Kalligrafie, Gärten und Steinen
[2] Derek Jarman, 1942–1994. Die Kunsthalle Zürich zeigt bis 2.11. eine Ausstellung: Derek Jarman. Brutal Beauty. Kuratiert von Isaac Julien
[3] Derek Jarmans Garden. London 1995, ISBN 0-500-01656-9. Die deutsche Ausgabe, «Derek Jarmans Garten», gibt es nur noch antiquarisch
[4] «I can look at one plant for an hour, this brings me great peace. I stand motionless and stare.» In: Derek Jarmans Garden, S. 57
[5] «This landscape is like the face you overlook, the face of an angel with a naughty smile.» Ibid. S. 118
[6] «The stones, especially the circles, remind me of dolmens, standing stones. They have the same mysterious power to attract.» S. 24. «I have read all the mystical books about ley lines and circles – I built the circles with this behind my mind.» Ibid. S. 47
[7] «If a garden is not shaggy, forget it.» Ibid. S. 41
[8] Ibid. S. 57
[9] «Cold cold cold, they die so silently.» Ibid. S. 81
[10] «The storms have blown salt tears, burning my garden, Gethsemane and Eden.» Ibid. S. 82
[11] John Donne, 1572–1631. Bedeutendster der «Metaphysical Poets»
[12] «Love, all alike, no season knowes, nor clyme, nor houres, dayes, moneths, which are the rags of time... » Jarman, S. 117 13 Der Film ist als DVD erhältlich: «Derek Jarman. The Garden»

TEC21, Mo., 2008.10.20



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18. August 2008Hansjörg Gadient
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Verschütteter Schatz

Das Napoleonmuseum in Salenstein am Bodensee ist ein atmosphärisch dichtes und beredt sprechendes Denkmal aus der Zeit des Empire und Biedermeier. Sein Park, das Gut Arenenberg, ist ein gartenhistorisches Juwel von überregionaler Bedeutung mit reichen Bezügen zur Geschichte des 19. Jahrhunderts und zur Entwicklung der Landschaftsarchitektur in dieser Zeit.

Das Napoleonmuseum in Salenstein am Bodensee ist ein atmosphärisch dichtes und beredt sprechendes Denkmal aus der Zeit des Empire und Biedermeier. Sein Park, das Gut Arenenberg, ist ein gartenhistorisches Juwel von überregionaler Bedeutung mit reichen Bezügen zur Geschichte des 19. Jahrhunderts und zur Entwicklung der Landschaftsarchitektur in dieser Zeit.

Als Hortense de Beauharnais 1815 im «Goldenen Adler» in Konstanz Logis nahm, hatte sie eine bewegte Zeit hinter sich. Ihr Stiefvater und Schwager Napoleon Bonaparte hatte in Waterloo seine letzte Niederlage erlitten und war endgültig nach St. Helena verbannt worden. Hortense hatte Napoleons jüngeren Bruder geheiratet und war dadurch Königin von Holland geworden. Das Paar verstand sich allerdings nicht und lebte getrennt. Ihren Titel als Königin von Holland konnte sie nicht mehr führen; sie reiste als Herzogin von St. Leu. Mit ihr war ihr siebenjähriger Sohn Louis Napoleon nach Konstanz gekommen, der 1852 als französischer Kaiser Napoleon III. ausgerufen werden sollte. Noch aber lebte er mit seiner Mutter im Exil. Auf einer Ausflugsfahrt 1816 entdeckte Hortense das Landgut Arenenberg und wollte es kaufen.

Noch bevor der Kauf abgeschlossen war, begann sie schon Skizzen anzufertigen, um das Anwesen als Landschaftspark nach englischem Vorbild umzugestalten. Von ihr sind Sepiazeichnungen erhalten, die zeigen, dass sie eine gute Beobachterin war und sensibel die Schönheiten und Charakteristika von Landschaften und Pflanzen wiedergeben konnte.[1] Sie war im Bild über die aktuellen Tendenzen der Landschaftsarchitektur und kannte viele Pärke und Gärten. Aufgewachsen war sie im Garten von Malmaison bei Paris, dem Schloss ihrer Mutter Joséphine, der ersten Frau Napoleons. Joséphine war eine Gartenenthusiastin mit einer grossen Sammelleidenschaft. Sie entsandte Expeditionen nach Südafrika und Australien, um exotische Pflanzen zu beschaffen. Aus einer dieser Expeditionen stammten auch die ersten australischen Schwarzschwäne, die je in Europa gehalten wurden. Sie sind auf vielen Ansichten von Malmaison abgebildet, zusammen mit den importierten Rhododendren, Araukarien und Säulenpappeln. In einem für damalige Verhältnisse enormen Glashaus liess Joséphine die tropischen und subtropischen Pflanzen anpflanzen.

Komponiert wie auf einer Leinwand

In diesem Ambiente war Hortense, ihre Tochter aus erster Ehe, aufgewachsen. Es ist wahrscheinlich, wenn auch nicht ausdrücklich belegt, dass sie viele Vorlieben ihrer Mutter teilte und diese in ihren eigenen Gärten umsetzte, so zum Beispiel die Säulenpappel als Symbol für Italien. Schon bald nach dem Kauf des Arenenbergs liess sie diese schlanken Bäume anpflanzen, um dem Park eine südländische Anmutung zu geben. Die Sehnsucht nach der Antike und nach allem Italienischen ist charakteristisch für das Empire, seine Mode und seine Architektur, aber auch für seine Gärten. Man versuchte, ideale arkadische Landschaften zu gestalten, und stattete sie mit Statuen, Hermen, Tempeln, Ruinen und Grotten aus, die an antike Vorbilder erinnern sollten.

Zur Zeit des Empire hatte sich auf dem Kontinent eine Gartenmode durchgesetzt, die in England schon seit einigen Jahrzehnten der vorherrschende Stil war.[2] Seit etwa 1740 wurden dort die Pärke der grossen Güter, die bisher formalen italienischen und französischen Vorbildern gefolgt waren, im landschaftlichen Stil umgestaltet. Man entfernte die formalen Elemente wie geschnittene Hecken und Parterres und scheute keinen Aufwand, um harmonisch komponierte Landschaftsszenerien anzulegen. Man versetzte Hügel, leitete Flüsse um und hob Senken für Seen aus. Eine ausgeklügelte Technik erlaubte es, selbst ausgewachsene Bäume zu verpflanzen.

Das Bestreben, aus dem Vorgefundenen eine ideale Landschaft zu machen, beruhte vor allem auf der Betrachtung der Landschaft als Bild. Man komponierte die Elemente wie auf einer Leinwand. Wo in der Ferne reizvolle Elemente wie ein malerisches Dorf oder ein Turm bereits vorhanden waren, pflanzte man im Vordergrund Bäume und Sträucher so, dass sie gerahmt und betont wurden. Ebenso wurde Hässliches eliminiert. Wo Waldteile reizvolle Aussichten verstellten, wurden sie abgeholzt: Der Garten sollte sich mit der Landschaft verbinden und so unbegrenzt erscheinen. Ein durchdachtes Netz von geschwungenen Wegen führte die Spaziergänger an besondere Aussichtsorte. Kleinbauten, so genannte Follies – oder im französischsprachigen Raum «fabriques» – bildeten malerische Bezugspunkte, wie etwa ein Neptunbrunnen, ein Venustempel oder eine Eremitage. Auch Ruinen waren beliebt und wurden oft kunstvoll so gebaut und bepflanzt, dass ihr vorgeschütztes Alter höchst glaubhaft wirkte.

Für grossflächige Anpflanzungen wählte man einheimische Arten, aber das Erstrebenswerte waren importierte Arten und Sorten, die unter enormen Kosten per Schiff aus Asien, Amerika und Australien eingeführt wurden. Eine einzige chinesische oder australische Pflanze, die England lebend erreichte und sich erfolgreich akklimatisierte, kam auf durchschnittlich 300 Pfund zu stehen, was heute etwa 35 000 Franken entspricht.[3] England profitierte dabei von seinem milden Klima und der Sammelleidenschaft der königlichen Gärten in Kew. Ab 1770 begann der englische Landschaftsgarten auch auf dem Kontinent Fuss zu fassen. Berichte von gebildeten Reisenden und die Schriften von Theoretikern wie Christian Cay Lorenz Hirschfeld (1742–92)[4] machten die englischen Vorbilder in Deutschland und Frankreich bekannt. In der Schweiz gilt die 1785 eröffnete Eremitage in Arlesheim als frühestes und bedeutendstes Beispiel eines solchen Landschaftsparks.[5]

Zwischen englisch und italienisch

Als sich Hortense de Beauharnais im Arenenberg an ihre Skizzen macht, arbeitet sie also mit dem Wissen um diesen Stil und mit ihren Erfahrungen in Malmaison. Was sie erreichen will, ist ein Landschaftspark nach englischem Vorbild. Für die Schweiz im Allgemeinen und für das Gebiet am Bodensee im Besonderen war ihr Vorhaben noch immer neu.

Am 10. Februar 1817 unterschreibt Hortense den Kaufvertrag für das Gut Arennenberg (sic!), das bereits eine längere Geschichte hat. Die ältesten archäologischen Funde stammen aus dem 1./2. Jahrhundert n. Chr., grautonige Gebrauchskeramik der römischen Besiedelung.[6] Die erste urkundliche Erwähnung findet sich zu Beginn des 15. Jahrhunderts, ein Weingut namens «Arnhalden», auch als «Narrenberg» bekannt, im Besitz von Konstanzer Patriziern. 1543 kauft es ein Sebastian Gaisberg und lässt sich ein «Schön Lusthus» bauen, einen dreigeschossigen Steinbau mit Treppengiebeln, umgeben von zinnenbesetzten Mauern und ausgestattet mit vier Rundtürmchen.[7] Das zugehörige Land ist landwirtschaftlich genutzt. In dieser Form bleibt das Gut, bis sich Hortense dafür interessiert. Ihre Vorleserin, Louise Cochelet, erinnert sich in ihren Memoiren: «Die Königin, in ihrem Kaufprojekt vertieft, zeichnete im Voraus schöne Wege in den charmanten Wald, der die Seiten des Hanges bedeckte. Anstelle des Hühnerstalles und -hofes wollte sie eine Blumenterrasse…»[8] Kurz nach dem Erwerb lässt sie das Anwesen zu einem englischen Landschaftsgarten umgestalten. Ob dies nur nach ihren eigenen Vorgaben geschieht hatte oder ob sie dem Gartenarchitekten ihrer Mutter, Louis-Martin Berthault, Skizzen geschickt und er die definitiven Pläne gezeichnet hat, ist nicht mehr zu eruieren. Belegt ist, dass er Pflanzen für den Park lieferte.[9] Das Gut lässt sie zu einem eleganten Landhaus umbauen, die Befestigungsmauer samt Türmchen und Zinnen entfernen. Westlich bleibt ein Teil der Mauer als Stützmauer mit Balustrade bestehen und bildet eine Terrasse, auf der die Bauherrin eine Rosskastanie pflanzen lässt, die heute noch steht. Südwestlich lässt sie den Hühnerhof abtragen und die Fläche mit Blumenbeeten, Trauerweiden und Säulenpappeln schmücken. Aus Aufzeichnungen von Besuchern zwischen 1817 und 1830 weiss man, dass es neben einem verschlungenen Wegenetz, exotischen Bäumen und Blumen sowie tragbaren Zelten mindestens einen Springbrunnen unterhalb des Schlosses und am Seeufer eine Badehütte gab.

Bis 1830 verbrachte Hortense den Winter mit ihren Söhnen in Italien. Nach einer Verschwörung gegen die Habsburger und den Papst, in welche die Bonapartes verwickelt waren und bei der der ältere Sohn, Napoleon Louis, ums Leben kam, war klar, dass Arenenberg zum ständigen Wohnsitz würde. In der Folge wurde das Haus erneut umgebaut. Unter anderem wurden die Porticos vor und hinter dem Esszimmer verglast und mit Heizungen versehen, so dass sie als Treibhäuser für exotische Pflanzen dienen konnten. Östlich neben dem Schloss entstand 1831/32 die neogotische Kapelle. Aber nicht nur das Haus erfuhr Veränderungen. Der Sohn beschäftigte sich im Park mit dem Bau einer Brücke. Ausserdem brauchte er eine Bahn, um seine Pferde zu trainieren. Dafür liess Hortense 1834 südlich des Hauses das stark abfallende Gelände teilweise aufschütten.

Besucher des Schlosses genossen diese Aussicht und betonten immer wieder, dass sie an Italien erinnere. Daher rührt auch die Bezeichnung des westlichen Parkteils als «italienischer Garten». So wurde der Untersee wahlweise zur Bucht von Neapel, Genua oder Barcelona. Sicher unterstützten auch die Säulenpappeln solche Assoziationen; allerdings begann Hortense bereits 1834, die ersten davon wieder fällen zu lassen.[10]

Verkauf , Rückkauf und Schenkung

Der Plan, der am verlässlichsten den mutmasslichen Zustand des Parkes um 1835 zeigt, ist eine kolorierte und mehrfach überarbeitete (1832/1861/1906 ) Feder- und Bleistiftzeichnung mit dem Titel «Schlossgut Arennenberg» (siehe Kasten).[11] Er zeigt die Anlage in einem Zustand, wie er beim Tod Hortenses 1837 vermutlich bestanden hat. Ihr Sohn, Louis Napoleon, blieb nur noch ein Jahr auf Arenenberg und verkaufte das Gut 1843 an einen Herrn Keller. Der schien das Gut landwirtschaftlich genutzt und partiell verkommen gelassen zu haben. Belegt ist, dass er den Wald nördlich des Schlosses schonungslos ausholzte. Am 12. April 1855 kaufte Louis Napoleon, nunmehr Kaiser Napoleon III, den Arenenberg zurück und begann mit der Instandstellung bzw. dem Rückbau in den Zustand beim Tode seiner Mutter. Aber er besuchte den Ort seiner Kindheit selten. Um 1860 nahm M. Wucherer, der Hoffotograf von Kaiserin Eugénie, der Frau Napoleons III., zehn Bilder des Arenenberges auf, darunter auch eine Aufnahme des Springbrunnens bei der Eremitage. Doch auch dieses Bild zeigt nicht, ob die Tuffstein-Grotte bereits existierte. Ohnehin ist die Zeit nach dem Rückkauf schlecht dokumentiert und nährt Spekulationen über Veränderungen und Einflüsse.[12] 1870 geriet Napoleon III. in deutsche Gefangenschaft, wurde im Jahr darauf entlassen und zog nach England ins Exil. Nach seinem Tod, 1873, reiste Eugénie mit dem Kronprinzen Napoleon Eugène auf den Arenenberg und beauftragte einige Umbauten. Zwischen 1873 und 1877 verbrachten die beiden jeweils den Sommer hier. Das gartendenkmalpflegerische Konzept von Staufer & Hasler Architekten mit Landschaftsarchitekt Martin Klauser datiert die – zur Entstehungszeit des Konzepts erst vermutete, aber noch nicht ausgegrabene – Grotte in diese Zeit.[13]

1878 starb der Kronprinz bei den Kämpfen der Franzosen gegen die Zulu in Südafrika. Seine Mutter schenkte den Arenenberg 1906 dem Kanton Thurgau mit der Auflage, ein Napoleonmuseum einzurichten und das Anwesen einem gemeinnützigen Zweck zuzuführen. Aus der von Eugénie geforderen Zweckbindung erwächst ausserdem die Verlegung der landwirtschaftlichen Winterschule an den Arenenberg. Das Schlösschen wurde instandgestellt, ebenso die unmittelbare Umgebung mit Pleasureground, südlicher und westlicher Terrasse (Bilder 3 und 4). Eine kolorierte Postkarte von 1930 zeigt die Südseite mit einem zentralen Brunnenbecken, begleitet von Wechselflorrabatten und Hochstammrosen. Das Gelände ist noch immer leicht abfallend wie zur Zeit des Todes von Hortense. So sorgfältig mit diesen Gartenbereichen umgegangen wurde, so rücksichtslos wurde der restliche Parkteilland- und forstwirtschaftlich genutzt.

Hortenses Lustgarten muss zwischen 1907 und 1949 vereinfacht und umgeformt worden sein.[14] Das Brunnenbecken wurde mit Erde zugeschüttet, nachdem sein steinerner Rand entfernt worden war. Ebenso wurden die meisten Wege verschüttet sowie die Grotte. Noch um 1900 ist sie – malerisch eingewachsen – auf einem Foto als Hintergrund einer Blaskapelle zu sehen.[15] Um 1950 erfährt die Anlage beim Schloss noch einmal eine erhebliche Veränderung, unter anderem wird das Zelt der Hortense auf der Ostseite des Parks als innen zeltartig bemalter Holzständerbau wiederhergestellt (Bild 2).

Den gröbsten Eingriff stellt allerdings der Bau des neuen Schulhauses 1973/74 dar. Sein Volumen verändert die räumliche Situation im Ostteil des Parks einschneidend und beeinträchtigt nachhaltig die bis anhin noch recht idyllische Gesamtanlage. Für unser heutiges Empfinden geradezu haarsträubend mutet der Umgang mit dem Aushub an. Er wurde neben der Baustelle über die nördliche Hangkante gekippt, der Lustgarten der Hortense wurde buchstäblich verschüttet und unter einem bis zu vier Meter hohen Schuttkegel begraben.

Anmerkungen
[1] Abbildung «Der Schlosspark von Ismaning». Sepiazeichnung von Hortense de Beauharnais. Vor 1824. SAABS: Dominik Gügel, «Die Exilgärten der Königin Hortense», in: Dominik Gügel, Christina Egli: Arkadien am Bodensee – Europäische Gartenkultur des beginnenden 19. Jahrhunderts. Verlag Huber, Frauenfeld, Stuttgart, Wien, 2005, S. 106
[2] Die Abkehr vom strengen französischen Stil begann kurz nach der Jahrhundertwende mit der Kritik an seinen Auswüchsen. Unter anderem forderte der Dichter und Satiriker Alexander Pope schon 1713 im «Guardian» die Rückkehr zur «liebreizenden Schlichtheit der schmucklosen Natur». Eine Naturrevolution. Der Englische Landschaftsgarten. In: Penelope Hobhouse. Der Garten. Eine Kulturgeschichte, London 2002, S. 206
[3] Collectors and Collecting. In: Ray Desmond. The History of the Royal Botanic Gardens Kew. Kew 2007
[4] Hirschfelds «Theorie der Gartenkunst in fünf Bänden. 1779–85» ist eine vehemente Streitschrift für den englischen Landschaftspark und war in Deutschland und Frankreich, wo gleichzeitig mit der deutschen Ausgabe eine viel beachtete französische Übersetzung erschienen war, das bekannteste und wichtigste theoretische Werk zu diesem Thema. Siehe: Hirschfeld, Christian Cay Lorenz. In: Patrick Taylor. The Oxford Companion to the Garden. Oxford 2006. S. 222
[5] Claudia Moll, «Das geheimnisvolle Tal», in: TEC 21, Nr. 11/2006, S. 5 ff .
[6] Regula Gubler Cornelissen: Archäologische Untersuchungen in der Gartenanlage von Schloss Arenenberg. Gutachten. Frauenfeld 2004
[7] Gutachten von Staufer & Hasler Architekten im Auftrag des Hochbauamtes des Kantons Thurgau: Napoleonmuseum Arenenberg. Landwirtschaftliches Bildungs- und Beratungszentrum Arenenberg. Grundlagen und Bestandserfassung. Frauenfeld 2002
[8] Dominik Gügel, «Schloss Arenenberg und sein Landschaft spark», in: Gügel, Egli, S. 111
[9] ibid., S. 112
[10] ibid., S. 128
[11] Die Datierung des Plans ist umstritten. Regula Gubler Cornelissen geht in ihrem Gutachten «Archäologische Untersuchungen in der Gartenanlage von Schloss Arenenberg» von 2004 von einer ersten Fassung des Plans um 1832 aus, der Entstehungszeit der Kapelle neben dem Schloss
[12] Dominik Gügel, «Schloss Arenenberg und sein Landschaft spark», in: Gügel, Egli, S. 161–163
[13] Gutachten Schlosspark Arenenberg. Staufer & Hasler Architekten mit Martin Klauser Landschaftsarchitekt. Im Auftrag des Hochbauamtes des Kantons Thurgau. Frauenfeld 2005. S. 86 ff .
[14] Gartendenkmalpflegerisches Konzept
[15] www.napoleonpark.ch/bildergalerie

TEC21, Mo., 2008.08.18



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18. August 2008Hansjörg Gadient
TEC21

Sorgfältige Bergung

Ein Jahrhundert lang war der Lustgarten der Hortense de Beauharnais, Königin von Holland und Mutter Napoleons III., vergessen. Im Wortsinn verschüttet, lag er unter einer dicken Decke Aushub begraben und wurde langsam von einem Wald überwachsen. Der Hinweis einer Expertin und die vereinten Anstrengungen aller Beteiligten haben dieses gartenhistorische Juwel wieder auferstehen lassen.

Ein Jahrhundert lang war der Lustgarten der Hortense de Beauharnais, Königin von Holland und Mutter Napoleons III., vergessen. Im Wortsinn verschüttet, lag er unter einer dicken Decke Aushub begraben und wurde langsam von einem Wald überwachsen. Der Hinweis einer Expertin und die vereinten Anstrengungen aller Beteiligten haben dieses gartenhistorische Juwel wieder auferstehen lassen.

Im Herbst des Jahres 2000 fragte das Thurgauer Hochbauamt die Landschaftsarchitektin und Leiterin der Zürcher Gartendenkmalpflege, Judith Rohrer-Amberg, um Rat für die Pflege der Wechselflorrabatten der Terrassen beim Schloss. Sie empfahl unter anderem, die direkt an den Schlossmauern liegenden Rabatten aufzuheben. So würde der Bau wieder in einer Kiesfläche stehen, was dem Zustand zu Hortenses Zeiten eher entsprach.

Bei ihren historischen Recherchen war die Spezialistin auf Pläne und Bilder gestossen, die sie auf die Bedeutung des ganzen Parks aufmerksam werden liessen. So schrieb sie: «Das eigentliche gartenhistorische Juwel – die Eremitage – lag nicht im hausnahen Bereich, sondern am steilen Nordhang bis zum Seeufer reichend. Der Plan aus 1860 dokumentiert noch in relativ umfangreicher Weise den ehemaligen Bestand, der heute nur noch fragmentarisch oder überhaupt nicht mehr vorhanden ist.» Und weiter: «Die wichtigste und kostbarste Voraussetzung ist jedoch gegeben: Der Park ist durch die Schenkung von 1906 in seinem gesamten Umfang erhalten und gesichert. Dies sollte für den Kanton Ansporn genug sein, diesen lange vernachlässigten Teil des Ensembles nun würdig zu pflegen und damit die Attraktivität des Napoleonmuseums noch massgebend zu steigern. […] Im Jahr 2006 jährt sich die Schenkung des Zrenenbergs zum hundertsten Mal. Dieses Jubiläum ist ein idealer Aufhänger für die Restaurierung des Schlossparkes!»[1] Mit diesem Bericht begann das aufwendige Unterfangen, den Lustgarten der Hortense auszugraben und aus seinem Dornröschenschlaf zu wecken. Für das Jubiläumsjahr 2006 reichte es nicht ganz, aber im August 2008 wird eine Anlage eingeweiht, die, genau wie es die Expertin vorhergesagt hatte, zur Aufwertung des Napoleonmuseums führen wird und das Manko des stark beeinträchtigten nahen Umfeldes des Schlosses zu einem guten Teil wettmachen kann.

Grabungen und Funde: Parfumflakons und Eisenhaken

2002 wurde das Frauenfelder Büro Staufer & Hasler Architekten mit einer Studie zu den Bauten und Anlagen des Napoleonmuseums und des landwirtschaftlichen Bildungs- und Beratungszentrums Arenenberg beauftragt. Ihre Befunde und der auf 1861 datierte Plan «Schlossgut Arennenberg» lieferten wichtige Hinweise für die Sondierungen. Zu diesem Zeitpunkt war der Garten der Hortense ein Mythos, von dem nichts zu sehen war. Einzig das gartendenkmalpflegerische Gutachten liess hoffen. Ob man aber unter dem Schuttkegel verlässliche Spuren finden würde und wenn ja, welche, war unklar. 2004 begannen die archäologischen Grabungsarbeiten im Bereich der Eremitage, nachdem einige Bäume und viel Unterholz entfernt worden waren. Mit 14 Sondierungsschnitten und weiteren Grabungen konnten die Archäologen entscheidende Hinweise für den unter dem Schuttkegel zu erwartenden Bestand und die Geschichte des Ortes erarbeiten.

Noch sichtbar waren zu diesem Zeitpunkt der Bogen der Eingangsgewandung zum Latrinenstollen und der Zugang zum Eiskeller. Von beiden Anlagen war aber nicht wirklich klar, wozu sie gedient hatten.[2] Die Funde zeigten nun, worum es sich handelte. Der Latrinenstollen führte zwanzig Meter tief in den Berg, wo er in einem Becken endete. Von oben führte eine Tonröhre von den Toiletten im Schloss zu diesem Becken, einer Fäkaliengrube. Darin fanden sich Toilettenartikel französischen Ursprungs aus dem späten 19. Jahrhundert, Zahnbürsten und zerbrochene Parfumflakons.

Eiskeller gehörten zu dieser Zeit zur üblichen Ausstattung eines Landhauses. Hier wurde das im Winter geschnittene Eis gelagert, das sich bis in den Spätsommer hielt. Abflussleitungen für Wasser, ein Eisenhaken über der Tür (als Aufhängung eines Flaschenzuges) und der Vergleich mit anderen Anlagen stellten sicher, dass es sich tatsächlich um einen ehemaligen Eiskeller handelt. Kaschiert wurde er als Grotte mit Tuffsteinbrocken. Dass Zugänge zu Eiskellern auch in anderen Anlagen als Tempelchen oder Grotten gestaltet wurden, ist belegt. In der Eiskammer fand sich eine originale Eisentür. Auf eine Abgrabung im Bereich der vermuteten Eremitage wurde verzichtet, weil hier die Schuttschicht noch sehr viel stärker war. Von der Grotte der Eugénie fanden sich in den Sondierungen keine Spuren.

Gussasphalt und Tuffstein

Der Fund des Springbrunnens war ein Glücksfall. Aufgrund der Position im historischen Plan wurde mit einem Schaufelbagger ein Graben angelegt, der unter einer vier Meter dicken Schicht aus Erdreich direkt auf die Reste des Brunnenbeckens stiess. Dabei fand man nicht nur das Becken mit einem Durchmesser von 7.6 Metern, sondern auch sein Zentrum mit Zuund Abfluss sowie einen Kontrollschacht. Die unterschiedlichen Schichten legten nahe, dass der Brunnen in einer ersten Phase wohl von Menschenhand mit einer lehmigen Erde abgedeckt wurde, auf der sich später der Humus eines Wald- oder Wiesenbodens gebildet hatte. Erst über dieser Schicht lag die etwa 3.5 Meter dicke Schuttschicht des Aushubs, der beim Bau der landwirtschaftlichen Winterschule von 1973/74 anfiel. Die Zu- und Ablaufrohre waren mit Holzstöpseln verschlossen, was auf eine sorgfältige Stilllegung schliessen lässt. Auch die Tatsache, dass der ganze Brunnenrand vor der Überdeckung völlig entfernt wurde, legt den Schluss nahe; erhalten war sein Fundament, das darauf hindeutete, dass der Rand etwa 30 bis 40 cm breit gewesen sein dürfte. Das Becken war sorgfältig aus Backsteinen gemauert und mit einer Lage aus Gussasphalt und Feinkies abgedichtet. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren Asphalt oder Natur-Bitumen ein ungewöhnliches Dichtungsmittel. Belegt ist ihre Verwendung um 1839 zusammen mit Kies oder Sand als Abdeckung von Trottoirs. Kurz nach der Schenkung – so kann nur vermutet werden – wurde der Brunnen stillgelegt und abgedeckt.

Von der Eremitage war in dieser Phase noch nichts gefunden worden. Angesichts der Grabungszeit von nur einem Monat und der beschränkten Mittel musste die Suche vertagt werden, zumal der Schuttkegel des Aushubs hier noch dicker war als über dem Brunnen. Die noch erkennbaren Baumstrünke wurden erfasst und nach Holzarten bestimmt. Leider liess der Zustand des Holzes aber kaum sichere Schlüsse auf den Zeitpunkt der pflanzung zu. Vergleiche von Befunden mit Abbildungen aus der Zeit waren für die Neubepflanzung jedoch eine wichtige Hilfe.

Basierend auf diesen Befunden beauftragte das Hochbauamt des Kantons Thurgau die Architekten zusammen mit dem Landschaftsarchitekten Martin Klauser noch im gleichen Jahr mit einer Projektskizze für die Wiederherstellung des Schlossparks. Darin bewerteten die Autoren den Park als bedeutendes Gartendenkmal und schlugen eine auf fünf Interventionsfelder verteilte schrittweise Wiederherstellung vor (s. Kasten «Die weiteren Schritte»). Der Lustgarten der Hortense sollte den Auftakt bilden.

Nachdem klar geworden war, welcher Schatz unter dem Schutt lag und welches Potenzial der Park aufwies, beschloss die Stiftung Napoleon III – 2001 mit dem Ziel gegründet, die Aktivitäten des Napoleonmuseums zu unterstützen –, sich in erster Linie der Wiederherstellung des Parkes zu widmen. Sie beauftragte das Büro Staufer & Hasler mit einem ersten Schritt. Nach der Entlassung eines Teiles des Aufwuchses aus der Festlegung als Wald konnten die Rodung und der Abtrag des riesigen Schuttkegels beauftragt werden. 2007 wurden 4500 m³ Erde und Bauschutt entfernt, um auf das ursprüngliche Terrain und zu den Resten der Bauten zu gelangen. Dabei kamen aber nicht nur die oben genannten Bauten zu Tage, sondern auch die als «Grotte der Eugénie» bezeichnete Tuffsteingrotte, allerdings in sehr schlechtem Zustand. Auch die in Tuffstein gestaltete Rückwand des eigentlichen Eremitage-Häuschens wurde gefunden. So wurde es mit Hilfe von Fotografien und Stichen möglich, alle relevanten Teile dieses Gartenteiles wiederherzustellen. Der Hang hinter der Grotte und der Eremitage allerdings sah kahler aus als erwartet, weil hier sehr viel nackter Fels anstand. Vom ehemals vorhandenen Weg zwischen Lustgarten und Kapelle war nichts mehr vorhanden. Der Rutschhang hatte alle Spuren verschüttet.

Hebung des Schatzes: Reparatur, Rekonstruktion, Neubau

Unter strengen Budgetvorgaben (siehe nebenstehenden Kasten) und mit einem engen Zeitplan sahen sich die Architekten und Landschaftsarchitekten vor die Aufgabe gestellt, diesen Teil des Gartens wiederherzustellen. Dabei waren von Reparaturarbeiten bis zu völlig neuen Anlageteilen alle Stufen von Wiederherstellung notwendig. An noch vorhandenen und weitgehend intakten Teilen wie dem Latrinenstollen wurden nur Sicherungs- und Reparaturarbeiten vorgenommen. Beim Eiskeller musste ausser der Sanierung des Gewölbes der Zugang neu gebaut werden; eine Fassung mit Stahlplatten in Analogie zur noch erhaltenen Eisentür macht den zeitgenössischen Eingriff sichtbar. Das Becken des Springbrunnes musste neu gebaut werden: Entsprechend der ursprünglichen Bautechnik wurde es neu gemauert und mit der historisch belegten Asphaltschicht abgedichtet. Auch die Speisung entspricht dem ursprünglichen Zustand, wird der Springstrahl doch von einer der vorhandenen Zisternen beim Schloss gespeist. Der fehlende Beckenrand schliesslich musste nach den historischen Abbildungen wiederhergestellt werden.

Das Eremitagehäuschen war durch die Rückwand lokalisiert und in seinen Schnittdimensionen nachweisbar. Zudem gab es eine alte Fotografie, die das Material und einzelne Details der Gestaltung erahnen liess. Nach diesem Befund entwarfen die Architekten die neue Eremitage und liessen sie als Holzständerbau in Thurgauer Eiche bauen und mit Zedernschindeln eindecken. Zu den traditionellen Zimmermannstechniken gesellte sich ein technologisches Element: die mit CNC-Frästechniken ornamentierten Paneele und Türen. Eingefräst ist ein leicht an keltische Ornamentik erinnerndes Muster, das die Flächen strukturiert und die Eremitage mit einem Hauch von Rätselhaftigkeit mystifiziert. Mit der Sanierung der Grotte wurde der Stuckateur und Gipser Stefan Meier betraut, der eine reiche Erfahrung mit der Wiederherstellung dieses in der Belle Epoque so beliebten Gartenelements hat. Für die Verkleidung beschaffte er Wasserkalke und Tuffsteinbrocken vor allem aus Slowenien. Die Grotte war ursprünglich mit Steinen aus der Hölloch-Grotte im Muothatal ausgekleidet gewesen, die heute nicht mehr zur Verfügung stehen. Angeleitet von dem einzigen erhaltenen Bild, arrangierte er die Steine in malerischen Vor- und Rücksprüngen, geschickt die Schönheiten der Volumen und Strukturen herausstellend. Dahinter speist ein System aus Wassertanks und -leitungen die Wand, die sich nach und nach bemoosen wird. Zusammen mit dem neu gepflanzten Besatz wird sich das mit einer melancholischen Färbung komponierte Bild des ausgehenden 19. Jahrhunderts wieder einstellen. Vollkommen neu musste der Steg zwischen dem Lustgarten und der Schlosskapelle formuliert werden. Hier fehlten jegliche Spuren. Nur der Plan von 1860 zeigte, dass hier einmal eine direkte Verbindung im steilen Gelände existierte.

Die Bepflanzung folgt den spärlichen Schilderungen von Zeitgenossen und den Befunden der Archäologie: Koelreuterien, Robinien und Pinien. Die im Plan verzeichneten Blumenbeete wurden mit Wechselflor bepflanzt. In die Rasenflächen sind einzelne kleinere Beete mit Stauden und Gehölzen integriert, so wie sie in der Aufnahme von Wucherer zu erkennen sind. Die Waldränder wurden mit Gehölzen und Stauden bepflanzt, sodass sich hier ein Waldsaum entwickeln wird. Den Blick Richtung See rahmen links die imposante Eiche, die noch aus der Zeit Hortenses stammt, und rechts die bis fast zu den Wipfeln astlosen Buchen, die bei den Rodungsarbeiten stehen gelassen wurden. Ihre seltsame Gestalt erinnert an Bäume auf den Darstellungen, die von Malmaison (siehe Artikel «Verschütteter Schatz» S. 30 ff.) erhalten sind.

Pittoreskes Palimpsest

Das verbindende Ziel aller Massnahmen war eine atmosphärisch stimmige Gesamtanlage, die es den Besuchern erlauben würde, sich in die Zeiten von Hortense und Eugénie zu versetzen. Das Ergebnis ist ein in der Gartendenkmalpflege häufiges Palimpsest verschiedener Zeitschichten am selben Ort. Neben den historischen Schichten steht der Beitrag unserer eigenen Zeit mit dem neuen Steg. Aber auch die Tatsache, dass diese Schichten wieder ans Licht geholt und in Wert gesetzt wurden, ist für unsere Zeit typisch. Das Ergebnis ist überraschend und überzeugend, nur die Neuheit des Ganzen stört noch. Es wird einige Zeit brauchen, bis das Holz der Eremitage vergraut sein, der Sandstein des Brunnenrands Flechten angesetzt haben und sich die Natur der Hangflanke bemächtigt haben wird. Für die Gesamtanlage des Arenenbergs ist der wieder auferstandene Lustgarten der Hortense eine grossartige Bereicherung. In der Projektskizze für die Wiederherstellung der Gesamtanlage war dieser Kraftakt jedoch erst das erste von fünf Interventionsfeldern. Der Stiftung Napoleon III und dem Kanton ist zu wünschen, dass sie sich vom Erfolg für die noch folgenden vier Felder inspirieren lassen und die Wirkung von Bau und Park als Gesamtkunstwerk durch weitere Rekonstruktionen und Korrekturen noch steigern. Das Beispiel Arenenberg wird Schule machen, weil es die herausragende Bedeutung eines historischen Gartens illustriert – selbst wenn er mit vergleichsweise bescheidenen Mitteln wiederhergestellt wird.

Anmerkungen
[1] Judith Rohrer-Amberg: Schlosspark Arenenberg. Gartendenkmalpflegerische Hinweise. Kurzbericht im Auftrag des Hochbauamtes des Kantons Thurgau. November 2000
[2] Regula Gubler Cornelissen: Archäologische Untersuchungen in der Gartenanlage von Schloss Arenenberg. Gutachten des Amts für Archäologie des Kantons Thurgau. Frauenfeld 2004

TEC21, Mo., 2008.08.18



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17. März 2008Hansjörg Gadient
TEC21

Naturbegegnung

Unsere Umwelt verstädtert. Der Nutzungsdruck auf die öffentlich zugänglichen Aussenräume steigt. Aber die neueren Schöpfungen der Landschaftsarchitektur zielen an den Bedürfnissen der Bevölkerung vorbei. Auf allen Ebenen sind Anstrengungen nötig, um wieder mehr Begegnung mit der Natur zu ermöglichen.

Unsere Umwelt verstädtert. Der Nutzungsdruck auf die öffentlich zugänglichen Aussenräume steigt. Aber die neueren Schöpfungen der Landschaftsarchitektur zielen an den Bedürfnissen der Bevölkerung vorbei. Auf allen Ebenen sind Anstrengungen nötig, um wieder mehr Begegnung mit der Natur zu ermöglichen.

Auf dem Ast eines Gummibaums sitzt ein Riesentukan und wirft sich Apfelwürfelchen in den Schnabel, eins nach dem anderen. Zwischen zwei Bissen äugt er auf den Schreibenden. Der hat sich mit dem Laptop auf eine ruhige Bank im Palmenhaus zurückgezogen und sinniert dort über das verlorene Paradies.

Designerparks

Die zeitgenössische Landschaftsarchitektur hat ein Problem. Sie baut zu oft Parks, die niemand will. «Designerparks» hat eine Zürcher Lokalzeitung diese Anlagen genannt und meint das als Schimpfwort. Kritisiert werden die «Kälte» und der «Beton». Das ist das normale Laienvokabular, wenn räumliche Leere, strenge Linienführung und eine reduzierte Pfl anzenpalette gemeint sind. Die Fachleute freuen sich an den strengen Entwürfen und halten sie für den Fortschritt; sie irren im Hinblick auf die Akzeptanz in der Bevölkerung. Die Anlagen stehen leer, werden verschmutzt und zerstört. Die Menschen fahren weit weg, um die Natur zu suchen. Es gibt bessere Ansätze, den Nutzern mehr zu bieten, aber noch sind sie vereinzelt. Die «Blumenberge» von Vogt Landschaftsarchitekten in St. Gallen oder der «MFO-Park» von Raderschall Landschaftsarchitekten sind sehr gute Beispiele.1 Parks und andere öffentliche Freiräume müssen zu wirklich genutzten Erholungsräumen werden. Dafür sind Anstrengungen aller Beteiligten nötig. Die Planenden müssen von überholten Vorstellungen betreffend entfl ochtene Funktionen abrücken und das Potenzial von überlagerten Nutzungen erkennen und planerisch ermöglichen. Die Verwaltungen müssen innovative Lösungen im Umgang mit bestehenden und neuen Anlagen fi nden, um deren Attraktivität langfristig zu erhalten. Die Landschaftsarchitektur muss von ihrer Fixiertheit auf modernistische Reduktion abrücken und sich wieder mehr ihrer Kernkompetenz, der Gestaltung mit Pfl anzen, zuwenden. Die Nutzer sollten zweierlei tun, erstens ihre Ansprüche lauthals geltend machen und zweitens die Anlagen respektvoll nutzen. Und die Politik muss einsehen, dass die Grenzen des Sparens dort erreicht sind, wo die neuen Anlagen ihre Funktion nicht mehr erfüllen. Attraktive Freiräume tragen wesentlich zur Lebensqualität bei, aber sie kosten Geld. Das Zentrum Urbaner Gartenbau in Wädenswil schafft Grundlagen, die unter den gegebenen – widrigen – Umständen zur Verbesserung der städtischen Freiräume beitragen. Dafür hat es den diesjährigen Schulthess-Gartenpreis erhalten (siehe Seite 20 ff). Sein Ansatz, trotz fehlenden Pfl egemitteln ansprechende Pfl anzungen für den öffentlichen Raum zu entwickeln, ist eine sehr gute Strategie. Im Folgenden werden zwei weitere Ansätze vorgestellt, wie Aussenräume attraktiver werden könnten: privatisierte Pärke und mehrfach genutzte Anlagen. Beide haben ihre Nachteile, können aber Denkanstösse liefern.

Privatistierte Pärke

Das Konzept ist einfach. Die Anlagen werden eingezäunt und privat oder von staatlich beauftragten Betreibergesellschaften unterhalten und vermarktet. Der Vorteil liegt in der Kostenkontrolle und der delegierten Verantwortung für die öffentliche Hand. Der Nachteil ist der, dass solche Anlagen nicht mehr als öffentliche Räume gelten können, weil in ihnen das Hausrecht des Betreibers gilt

Jardin Majorelle in Marrakesch
In der staubigen Stadt Marrakesch haben Yves Saint Laurent und Pierre Bergé den Garten des Malers Jacques Majorelle2 gekauft, saniert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Der Garten ist eine paradiesische Oase mit einer reichen Pfl anzenpalette, gegliedert in verschiedene Lebensbereiche wie Bambuswald oder Kakteenfeld. Die knapp fünf Hektaren grosse Anlage wird von 40 Gärtnern gepfl egt und sieht entsprechend kultiviert aus. Der Garten ist einer der wichtigsten touristischen Anziehungspunkte der Stadt; jährlich empfängt er etwa 600 000 Besucher! Selbstverständlich ist das nicht gratis. Der Eintritt beträgt 30 Dirham, was etwa Fr. 4.50 entspricht, eine unerschwinglich hohe Summe für die Einheimischen. Das ist denn auch der grosse Nachteil. Die Lehre, die sich daraus aber ziehen lässt: Wenn eine gärtnerische Anlage so anspruchsvoll und ansprechend ist, dass sie viele Besucher anzieht, lässt sie sich über Eintritte fi nanzieren. In einer Stadt könnte dieses Modell für besondere Höhepunkte der Gartenkunst durchaus geeignet sein.

Gärten der Welt in Berlin
Im äussersten Osten der Hauptstadt, zwischen den Grosssiedlungen Marzahn und Hellersdorf, wurde eine Fläche von 21 Hektaren eingezäunt und zu einem Park3 mit verschiedenen Ländergärten gemacht, dem Chinesischen, dem Japanischen, dem Orientalischen etc. Weitere sollen im Verlauf der Jahre dazukommen. Die nationalen Gärten wurden alle von renommierten Gartengestaltern des entsprechenden Landes entworfen. Die ganze Anlage wird minutiös gepfl egt. Auch dieser Garten kostet Eintritt. Dieser ist allerdings mit 2 Euro pro Eintritt erschwinglich. Mit einer Jahreskarte für 20 Euro wird er auch als Naherholungsraum für Anwohner bezahlbar. Der Nachteil ist, dass die Vorschriften in dem Park geradezu preussisch anmuten: Fast alles, ausser gemessenen Schrittes auf den Wegen spazieren, ist verboten. Und ein zweiter Nachteil sind die endlosen Warteschlangen, die sich an schönen Tagen vor der Kasse bilden. Aber das System funktioniert. Der Park ist ausgesprochen beliebt, selbst Einwohner, die ganz Berlin durchqueren müssen, frequentieren ihn häufi g dank seiner Grösse, den verschiedenen jahreszeitlichen Stimmungen und den Ländergärten, die traditionelle Gartenkultur auf hohem Niveau erlebbar machen.

Masoala-Halle des Zürcher Zoos
Die Anlage ist mehr Park als Zooteil. Die Pfl anzen dominieren und faszinieren. Wenn man einmal ein Tier zu Gesicht bekommt, ist das eher Zugabe. Als Erholungsraum funktioniert der Dschungel unter dem Plastikdach perfekt. Überwiegend endemische Pfl anzen der madagassischen Halbinsel Masoala sind zu einer dichten urwaldähnlichen Gemeinschaft gruppiert. Darin fi nden sich aber auch Hütten und Zäune, die an die im madagassischen Wald lebenden Menschen erinnern. Auch Nutzpfl anzen wie Zuckerrohr oder Vanille wachsen hier. Den Landschaftsarchitekten Kienast und Vogt4 ist es gelungen, in der 11 000 m² grossen Halle ein Gleichgewicht herzustellen zwischen der Illusion, sich im Urwald zu befi nden, und der Brechung dieses Wunschdenkens. Im imposanten Zoo-Shop, wo das Merchandising zur Gewinnsteigerung des Zoos überhand nimmt, bricht die Illusion dann aber in sich zusammen. Wie beim Jardin Majorelle ist der grösste Nachteil auch hier der sehr hohe Eintrittspreis von 22 Franken, der einen häufi gen Besuch der Anlage ausschliesst.

Doppelt genutzte Anlage

Der zweite Ansatz macht sich bestehende Anlagen zu Nutze, deren Pfl ege und Unterhalt schon gesichert sind. Sie sind in aller Regel öffentlich zugänglich oder sollten es sein. Ein gutes Beispiel sind die botanischen Gärten, sie könnten für andere Anlagen Vorbildcharakter haben. Die Chance liegt in der besonderen Atmosphäre, die nicht allein für eine Parknutzung bestimmte Anlagen meist bieten. Ein Hindernis ist oft die überholte Vorstellung einer monofunktionalen Nutzung. Die Verstädterung und Verdichtung wird uns immer mehr dazu zwingen, Aussenräume mehrfach zu nutzen und Nutzungsüberlagerungen nicht nur nachträglich zu ermöglichen, sondern aktiv zu planen.

Gartenquartiere
Der abendliche Spaziergang durch ein Gartenquartier ist oft lohnender als der Aufenthalt in einem öffentlichen Park. Die meisten Baugesetze lassen keine überhohen Einfriedungen auf der Grundstücksgrenze zu. So gewähren fast alle Gärten nolens volens Einblick in ihr Inneres; vom grausig gemischten Grundsortiment bis zum kunstvoll gestalteten Themengarten mit absolut exklusiven Raritäten fi ndet sich alles. Und alles umsonst. Voraussetzung ist, dass die Strassen in diesen Quartieren ruhig genug sind, um fl anierend den Gärten ent - lang gehen zu können. Auch aus Schrebergartenkolonien liessen sich durchquerbare Gartenquartiere machen, wenn sie planerisch anders behandelt würden und die Kleingärtner verpfl ichtet wären, öffentliche Wege durch ihre eifersüchtig gehüteten Kolonien zuzulassen.[5]

Friedhöfe
Einer der schönsten Friedhöfe ist der Waldfriedhof von Schaffhausen. Die Anlage ist mit 17 Hektaren so weiträumig, dass sich zwischen den Gräberfeldern grosse bewaldete Partien mit weit geschwungenen Spazierwegen fi nden. Die Gräberfelder selbst stammen aus verschiedenen Epochen und sind entsprechend abwechslungsreich und interessant. Das Feld mit den Urnenstelen von 1972 zum Beispiel oder die Plastik von Hans Josephson sind Attraktionen, denen man auf einem Spaziergang begegnet. Bei neueren Friedhofanlagen fehlt dagegen meist die räumliche Grosszügigkeit, die sie auch zum Park macht. In Zürich ist der 1966 angelegte Friedhof Eichbühl von Fred Eicher6 ein Beispiel, wie dies aussehen und funktionieren kann. Und er liegt im Gegensatz zu den meisten neuen Friedhöfen nicht am fernen Stadtrand, sondern mitten in einem an Grünfl ächen armen Quartier. Entsprechend gut ist er frequentiert.

Felder und Wälder
Langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass Felder und Wälder, die an die Stadt angrenzen, zu den beliebtesten Naherholungsräumen gehören. Entsprechend werden in Richtplänen die Belange der Erholungssuchenden höher gewichtet. So werden beispielsweise Spazierwege entlang von attraktiven Landschaftselementen geplant und quer über Felder zu Netzen verbunden, nicht immer zur Freude der Bauern. Hier muss das Zusammenleben noch geübt werden. Andere Bauern haben die Flucht nach vorn angetreten und informieren auf Tafeln am Wegrand über ihre Feldfrüchte und Wirtschaftsweisen, eine Art agronomischer Lehrpfad. Wer kann Gerste von Weizen und Raps von Kohl unterscheiden? In der Forstwirtschaft sind Nutzungskonfl ikte zwischen Holzproduktion, Jagd und Erholungssuche schon länger ein wichtiges Thema. Auch hier verstehen sich manche Stadtförstereien längst als Dienstleister am Erholung findenden Waldbesucher.

Naturbezug und Gartenkultur

Trotz diesen Möglichkeiten bleibt das Fazit: Öffentliche Parks sind in den Städten unentbehrlich. Sie ermöglichen Naturbezug und tragen zur Gartenkultur bei. Aber sie kosten Geld; und zwar nicht nur bei ihrer Anlage, sondern vor allem bei Pfl ege und Unterhalt. Das ist etwas, was sich Politik und Planung eingestehen müssen. Der Riesentukan, der so reizend mit seinem Essen spielt, lebt nicht im brasilianischen Regenwald, sondern im Palmenhaus der Stadtgärtnerei Zürich: geöffnet an 365 Tagen im Jahr, Eintritt frei.

TEC21, Mo., 2008.03.17



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21. Januar 2008Hansjörg Gadient
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Ausblick in Zürich

In einer städtebaulichen Laborsituation experimentieren verschiedene Teams mit dem verdichteten Bauen – mit beschämendem Ergebnis die einen, mit grossem Erfolg die anderen. Ganz am Anfang, in Artikel 2, Absatz 2, erwähnt die Bundesverfassung1 das Ziel, eine nachhaltige Entwicklung zu fördern. Dies geschehe, so die Präambel, «im Bewusstsein (...) der Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen».

In einer städtebaulichen Laborsituation experimentieren verschiedene Teams mit dem verdichteten Bauen – mit beschämendem Ergebnis die einen, mit grossem Erfolg die anderen. Ganz am Anfang, in Artikel 2, Absatz 2, erwähnt die Bundesverfassung1 das Ziel, eine nachhaltige Entwicklung zu fördern. Dies geschehe, so die Präambel, «im Bewusstsein (...) der Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen».

In Artikel 75, Absatz 1, fordert sie eine Raumplanung, die «der zweckmässigen und haushälterischen Nutzung des Bodens » dient. Das Raumplanungsgesetz2 übernimmt in seinem Artikel 1, Absatz 1, dieses Ziel: «Bund, Kantone und Gemeinden sogen dafür, dass der Boden haushälterisch genutzt wird.» In Absatz 2 nennt es weitere Ziele, darunter dieses: «(...) wohnliche Siedlungen (...) zu schaffen und zu erhalten». Was «wohnlich» heisst und was «haushälterisch», ist nicht defi niert. Diese zwei Ziele sind in jeder Planung in Einklang zu bringen und den Verhältnissen vor Ort anzupassen. Dabei spielt die Dichte eine Schlüsselrolle. Anders gesagt: Wie «haushälterisch» kann im Sinne der Verfassung geplant werden, ohne dass dabei das gesetzliche Ziel der Wohnlichkeit im Speziellen und die ganzheitliche Sicht der Nachhaltigkeit im Allgemeinen aufgegeben wird?

Das Planungsgebiet «Ruggächern» an Zürichs Nordrand ist in dieser Frage zum Pilotprojekt geworden, nicht absichtlich, aber zunehmend sichtbar. Fast 1300 Wohnungen könnten Platz fi nden. Es darf mit einer Dichte von 1.3 und mit bis zu acht Geschossengebaut werden, in einem Fall werden diese Werte noch erheblich übeschritten. Drei grosse Projekte sind unlängst fertig gestellt und bezogen worden. Sie lohnen einen Blick auf ihre städtebaulichen und architektonischen Strategien im Umgang mit hoher Dichte und Wohnlichkeit. Zwei haben die Aufgabe bravourös gelöst, eines ist hoffnungslos gescheitert.

Cerv & Wachtl: Zu viel und zu wenig

Die Siedlung auf dem CeCe-Areal des Investors Leopold Bachmann ist die erste, die fertig gestellt wurde. Sie liegt nicht im Bereich des Quartierplans Ruggächern, grenzt aber direkt daran an und unterlag ähnlichen Planungsprozessen. Im angelsächsischen Raum gibt es einen treffenden Ausdruck, wie diese Aufgabe gelöst wurde: «quick and dirty». Fünf neungeschossige Zeilen drängen sich in der Westhälfte des Grundstücks zusammen, zufällig und hilfl os in ihrer Anordnung. Auf der Ostseite forderte die Stadt den Erhalt der denkmalgeschützten Industriehalle. Sie prägt den Ort und dient als Einkaufszentrum mit einem multifunktionalen Hallenteil für Veranstaltungen aller Art. Der Investor liess sich Erhalt und Sanierung der Halle mit einem Ausnutzungsbonus abgelten: Die Ausnutzung wurde auf die gesamte Grundstücksfl äche berechnet, so als ob die Halle nicht existierte. Die Dichte der Wohnbebauung selbst stieg dadurch auf über 1.5. Die langjährigen Architekten des Investors, Cerv und Wachtl, sind an diesem Zuviel gescheitert – und am Zuwenig der fi nanziellen Mittel.

Das Zuviel der Ausnutzung lässt sich nicht mit einer vermeintlich offenen Bebauung lösen, deren Abstandsfl ächen für die neun Geschosse hohen Zeilen absolut unzureichend sind. Das Zuwenig der fi nanziellen Mittel führt zu einer so billigen Materialisierung, dass die Probleme des Städtebaus in der architektonischen Umsetzung noch betont werden. Das Ziel, möglichst günstigen Wohnungsbau zu realisieren, verbliebe besser bei den Genossenschaften, die das seit Jahrzehnten bravourös erreichen; oder man wende die holländische Strategie des bewohnbaren Rohbaus in einem anständigen Städtebau an, die schneller und würdiger zum Ziel führt!

Ausser dem zurückhaltenden Farbkonzept und den verglasten Loggien, die einige Aufenthaltsqualität bieten und die Südfassaden ansprechend prägen, ist an den Blöcken und ihren erbärmlichen Zwischenräumen nichts zu loben. Zu anspruchslos, zu schnell, zu billig ist das alles.3 Das Projekt erreicht ein einziges Ziel: massenhaft billige Wohnungen. Der Boden ist zwar «haushälterisch» genutzt, aber mit Wohnlichkeit hat das wenig, mit Nachhaltigkeit überhaupt nichts zu tun.

Programmiertes Scheitern

An diesem Problem und seiner Lösung zeigt sich, wes Geistes Kind ein Projekt ist. Beim CeCe-Areal sind in den Erdgeschossen durchgehend Wohnungen untergebracht. Keinerlei Vorkehrungen schützen sie vor unerwünschtem Einblick und Zugang. Die Erschliessungswege führen an den Zimmern vorbei. Die fehlende Privatheit führt dazu, dass blickdichte Vorhänge und geschlossene Jalousien Ein- und Ausblick verwehren. Bei den privaten Sitzfl ächen markiert einzig der Belagswechsel die Grenze zum gemeinschaftlichen Aussenraum. Notdürftig schützen sich einige Bewohner mit Topfpfl anzen, um wenigstens den Anschein von Geborgenheit aufrechtzuerhalten. Und die auf ihren Tiefgaragen-Hügelchen aufgesetzten Hainbuchengrüppchen betonen den Eindruck von Lieblosigkeit und Ärmlichkeit. Der Anblick beelendet. Wo mögen die Stadt und ihre gestalterischen Berater hingeschaut haben, als hier die Qualitäten diskutiert wurden?

Wer zu viel will, programmiert das Scheitern. Ausnutzungsziffern von über 1.5 überfordern primär am Preis interessierte Leute. Schon die Ausnutzung von 1.3 in den nachstehend geschilderten Siedlungen ist sehr hoch, aber nicht zu hoch, wenn Investoren und Planende umsichtig vorgehen.

POOL Architekten: Grossform

Im Raum Zürich hat sich in den letzten Jahren eine erfolgreiche Strategie etabliert, mit der sich Wohnungsbau in hoher Dichte realisieren lässt.4 pool Architekten haben mit ihrem Projekt in Leimbach den Erfolg dieses Ansatzes mitbegründet. Auch in Ruggächern haben sie sich damit gegen andere Bautypen des Studienauftrages durchgesetzt: mit grossen Baukörpern, die – meist am Rand des Grundstücks positioniert – zusammenhängende Freifl ächen schaffen und allen Wohnungen weite Blickbeziehungen ermöglichen. Die kompakten Baukörper mit ihrer geschlossenen Bauweise lassen sich wirtschaftlich realisieren. Das Vorbild dieser Strategie bietet der Schweizer Städtebau der 1960er-Jahre. Matthias Stocker, Partner bei pool Architekten, betont, dass das Büro an der Architektur dieser Zeit interessiert sei und versuche, deren Qualitäten wie Sparsamkeit und Weiträumigkeit in die Projekte einfl iessen zu lassen – ohne die Fehler eines funktionalistisch aufgefassten Städtebaus zu wiederholen. Aktuelle stadträumliche Überlegungen sollen dies vermeiden, unter anderem die Mischung von Wohnen und Arbeiten und die Schaffung von attraktiven Aussenräumen, die zu Begegnungen einladen. Weil sie im Quartierplan einen öffentlichen Stadtraum mit Platzqualitäten vermissten, wollten sie ein solches Angebot schaffen. Sie bildeten mit dem mäandrierenden Baukörper parallel zur Quartierstrasse eine dreiseitig gefasste Platzfi gur, die für das ganze Quartier zum Begegnungsort werden könnte.

Massstab und Dichte

Ein Kritikpunkt an den 1960er-Jahren ist, den grossen Massstab nicht immer bewältigt zu haben. Dem begegnen pool Architekten auf drei Ebenen. Erstens wird der Grossbaukörper penibel auf seine Proportionen und die der Aussenräume optimiert. Zweitens wird der Massstab der einzelnen Wohnung in der Fassade ablesbar gemacht, in dem der Wechsel von Zimmern und eingezogenen Loggien die Einheit der Wohnung aufzeigt. Horizontalität, stockwerksweiser Versatz der Loggien und Versprünge in den Brüstungsbändern ergeben ein ausbalanciertes Spiel von stehenden und liegenden Elementen. Drittens macht der den ganzen Bau regelnde Stützenraster im Abstand von 3.1 m den Massstab des Einzelnen,nämlich des Zimmers, in der Fassade sichtbar. Diese abgestuften Massstabsbezüge und die feine Tiefenschichtung der Fassade verdeutlichen die Abkehr vom Brutalismus der 1960er-Jahre und zeigen, wie mit Grossformen Wohnungsbau realisiert werden kann.

Lärm und Grundrisse

Die Grundrisse der Wohnungen sind stark von der Lärmproblematik der nahen Autobahn bestimmt. Aus dieser Not entstanden besondere Tugenden. Da in vielen Wohnungen nur die einseitige Lüftung von Wohn- und Schlafräumen zulässig war, entstand die Orientierung dieser Räume auf eine Seite und die Ausbildung eines Rückens aus Sanitärräumen auf der anderen. Die offene Küche mit ihrem dem Wohnraum zugeordneten Essplatz ist auf die offene Landschaft hin gerichtet und gibt einen fantastischen Weitblick frei. Auf der Gegenseite bietet sich die städtische Aussicht auf den Platz und die angrenzende Bebauung. Alle Wohnungen profi tieren von diesen Vorzügen, sodass sie trotz der hohen Dichte von 1.2 grosszügig und an keiner Stelle beengt wirken. Mit einem Kunstgriff lässt sich ein Zimmer auch auf die lärmexponierte Seite hin orientieren. Es wird auf der ruhigen Seite belüftet, wo ihm die raumtiefe Loggia zugeordnet ist. Die Lösung ist einfach und effi zient, ein Typ, der für vergleichbare Situationen Schule machen könnte.

Ursprünglich sollten im überhohen Erdgeschoss Läden, Dienstleistungs- und Gewerberäume entstehen – ein Beitrag zur Belebung des Platzes. Die wirtschaftliche Überprüfung zeigte, dass sie in den nächsten zehn Jahren nicht vermietbar sind. Daher mussten Wohnungen eingerichtet werden. Um eine spätere Umnutzung zu ermöglichen und die Proportionen des Baus zu erhalten, wurde die Raumhöhe beibehalten. Grundrissdisposition und Innenausbau machen eine spätere gewerbliche Nutzung leicht möglich. So besteht die Hoffnung, dass langfristig in dem Quartier ein urbaner Platz entsteht. Die Landschaftsarchitekten Kuhn Truninger reagieren auf die Wohnnutzung im Erdgeschoss. Sie legen leicht modulierte, mit Stauden und Sträuchern gestaltete Flächen vor den Wohnungen an, die einen attraktiven Ausblick erhalten und vor Einblicken geschützt sind. Sollte später eine gewerbliche Nutzung einziehen, lassen sich diese Flächen in städtischerer Art ausbilden.BAUMSCHLAGER EBERLE: TÜRME Seit Jahren erforscht das Büro Baumschlager Eberle zeitgemässen Wohnungsbau unter besonderer Berücksichtigung des nachhaltigen Handelns. Eine hohe Dichte gehört dabei oft zu dieser Herausforderung. Aufgrund seiner reichen Erfahrung wählte das Vaduzer Büro beim Projekt Ruggächern nicht wie pool Architekten die Strategie der Grossform. Die Aufgabe und die Situation waren hier zwar sehr ähnlich, aber Baumschlager Eberle zogen den Typus eines Stadtteils aus Punkt- und Zeilenbauten mit sechs bis sieben Geschossen in einem fl iessenden Aussenraum vor.

Gemäss den Vorgaben des Quartierplans war auch hier eine Ausnützung von bis zu 1.3 möglich. Obschon man in der Siedlung die hohe Dichte spürt, nimmt man sie nicht nachteilig wahr. Das Ensemble wirkt grosszügig und grossstädtisch. Es erinnert an die sechs- bis achtgeschossigen Wohnsiedlungen in Norditalien oder England und öffnet so den Horizont des Schweizer Wohnungsbaus weit über die Landesgrenzen hinaus. «Wir haben bei der Anordnung und der Gestaltung der Volumen im Ganzen äusserste Disziplin walten lassen und gleichzeitig versucht, durch Variieren Individualität herzustellen», so Sabrina Contratto, die Projektleiterin. Für die Siedlung sollte eine Form gefunden werden, die sowohl städtisch wirkt als auch zur Landschaft hin offen bleibt. Zur Bahn und zur Hauptstrasse schirmen fünf Längsbauten das Ensemble ab. Im Innern sind neun Punkthäuser in diagonal leicht verschobenen Reihen gruppiert, sodass aus jeder Wohnung weite Blicke in die Landschaft möglich sind.

Architektur und Dichte

Trotz der teilweise geringen Gebäudeabstände entsteht nirgends das Gefühl von Beengung. Woran liegt das? Ähnlich wie beim Projekt von pool Architekten sind die Proportionen der Bauten und ihrer Aussenräume ausschlaggebend. Sie sind präzis aufeinander abgestimmt. Die Volumen der Bauten, so Sabrina Contratto, seien absolut klar und wiesen keinerlei Vorsprünge auf. Ausserdem habe die Backsteinfassade eine grosse Tiefe. Die Fensterlaibungen bilden eine Raumschicht, die den Bewohnern ein Gefühl von Geborgenheitgebe. Das Gleiche gilt für die tiefen Loggien, in denen man sich draussen aufhalten kann, aber genauso vor Blicken geschützt ist wie im Inneren. Die Anordnung dieser Loggien an den Ecken der Bauten öffnet den Blick auf zwei Seiten und betont die diagonalen Sichtbeziehungen quer durch die ganze Siedlung. So entsteht trotz dichter Bebauung das Gefühl von grosszügiger Offenheit. Selbst die Wahl des Klinkerverbandes trägt zum Eindruck von klarer volumetrischer Begrenzung bei. Der wilde Verband lässt ihn fl ächig und hautartig erscheinen und betont die klare Defi nition der Zwischenräume und die Tiefenwirkung von Laibungen und Pilastern. Das Material selbst wirkt solide, edel und beständig. Die Projektleiterin spricht von einer burgartigen Anmutung, eine Metapher, die sowohl das Gefühl im Aussenraum als auch in der Wohnung treffend beschreibt: My home is my castle. Wenn immer möglich, vermeiden Baumschlager Eberle Wohnungen im Erdgeschoss. Beim Projekt Ruggächern war dies nicht durchgängig möglich, weil auch hier kein Bedarf für gewerbliche Nutzungen bestand. Das Problem wird auf zwei Arten angegangen. Zum einen stehen die Bauten teilweise auf der Tiefgarage und teilweise frei. Der frei stehende Teil ist grosszügigen Eingangsräumen und den gemeinschaftlichen Waschküchen vorbehalten. Beim anderen Teil sind die privaten Sitzplätze genau gleich wie die darüber liegenden Loggien gestaltet. Sie sind ganz in den Baukörper eingezogen; geschlossene Brüstungen schaffen eine klare Begrenzung. Nirgends grenzen diese Sitzplätze direkt an Durchgangszonen; so erhalten sie die grösstmögliche Privatheit.

Markus Weiss: Soziale Plastik

Wo endet der Städtebau? In diesem Projekt endet er in einer kleinen Kugel. In der Siedlung gibt es zwei Plätze. Der Zürcher Künstler Markus Weiss hat den Wettbewerb für eine Platzgestaltung mit einem künstlerisch und sozial überzeugenden Konzept gewonnen. Auf einem leicht angehobenen Sockel baut er unter dem Titel «Place de Gaulle 2» die Kopie des legendären Platzes von Saint-Paul de Vence in Südfrankreich, auf dem sich in den 1950erund 1960er-Jahren die Prominenz zum Spiel traf: Greta Garbo, Pablo Picasso und all die anderen. In denselben Ausmassen angelegt, mit Steinen aus dem gleichen Steinbruch inSüdfrankreich und mit den gleichen fünf Platanen wird das vergangene Idyll nachgebaut. Jeder Haushalt erhält beim Einzug einen Satz Boule-Kugeln. Die Bewohnerinnen und Bewohner sollen sich beim ungezwungenen Spiel treffen und sich kennen lernen. Auf den Seitenwänden des Podestes sind die Namen einiger der Berühmtheiten im Beton eingelassen: La Callas, Jean Cocteau, Simone de Beauvoir ... Ihr Klang beschwört die poetische Erinnerung an einen fernen Ort und eine vergangene Zeit. Mit dem Platz als möglichst getreuer Kopie seines Vorbildes und mit dem Zusammenführen der Bewohner hat der Künstler eine zeitgemässe Mischung von Installation und sozialer Plastik geschaffen – weit mehr als «Kunst am Bau».

Wohnlich!

Wenn am Anfang Verfassung und Gesetz stehen, stehen am Schluss Menschen, die mehr tun als Gewinn maximieren und Vorschriften erfüllen. Für sie hat das Verfassungsziel der nachhaltigen Entwicklung nicht nur mit Wirtschaft und Ökologie, sondern auch mit sozialen Aspekten zu tun. Sie denken weiter und verwandeln dünne Gesetzestexte in echte Bauten, gehen haushälterisch mit dem Boden um und schaffen wohnliche Stadtteile. Aber was heisst wohnlich? – Gern nach Hause gehen, sich auf die Wohnung freuen, auf ihre Ausblicke, die Nachbarn, das Kindergeschrei im Sommer, die Lichterketten im Dezember, die Kirschblüte im April – und die erste Partie Boules.

[ Hansjörg Gadient, Architekt, Publizist und Landschaftsarchitekt ]

TEC21, Mo., 2008.01.21



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tec21 2008|03-04 Vor Ort

02. April 2007Hansjörg Gadient
TEC21

Urbanes Implantat

In der Agglomeration des Zürcher Glattals entsteht ein Stück Innenstadt. Dieses Implantat ist das Projekt «IntegraSquare» von agps.architecture am Bahnhof Wallisellen. Im Gegensatz zu den grossflächig monofunktionalen Gebieten der Umgebung vereint es verschiedenste Zeitschichten, Nutzungen und Bautypologien auf einer Parzelle. Das Vorgehen zeigt eine neue und viel versprechende Strategie im Umgang mit der «Zwischenstadt».

In der Agglomeration des Zürcher Glattals entsteht ein Stück Innenstadt. Dieses Implantat ist das Projekt «IntegraSquare» von agps.architecture am Bahnhof Wallisellen. Im Gegensatz zu den grossflächig monofunktionalen Gebieten der Umgebung vereint es verschiedenste Zeitschichten, Nutzungen und Bautypologien auf einer Parzelle. Das Vorgehen zeigt eine neue und viel versprechende Strategie im Umgang mit der «Zwischenstadt».

Die zwei wichtigsten Bedingungen für die Entstehung von Urbanität sind eine hohe bauliche Dichte und eine stark gemischte Nutzungsstruktur. Idealerweise kommen eine städtische Verfeinerung oder die Eleganz der Bauten dazu; das suggeriert unter anderem die Herkunft des Wortes.
Bis ins 20. Jahrhundert hinein wurde «urban» im deutschen Sprachraum ausschliesslich in der Bedeutung von «gebildet, weltgewandt oder elegant» benutzt. Erst dann kam – vermutlich unter dem Einfluss von engl. «urban» und franz. «urbain» – die Bedeutung von «städtisch» dazu. Von grosser Bedeutung für unser Empfinden einer Situation als «urban» ist zudem die Qualität ihrer Aussenräume. Aber erst, wenn ein Stadtteil auch ein gewisses Alter und entsprechende Patina angesetzt hat, gestehen wir ihm nicht nur «Urbanität» zu, sondern schätzen ihn als Aufenthaltsort.
Das Glattal, die zwischen den Städten Zürich und Winterthur und dem Flughafen Kloten gelegene Agglomeration, ist zum grössten Teil im letzten Jahrhundert, mehrheitlich nach 1950, bebaut worden. Entsprechend beispielhaft folgt die Baustruktur den Maximen einer modernistischen Stadtplanung und der sturen Monofunktonalität der Zonenordnung. Entstanden ist ein Teppich von unvermittelt aneinander grenzenden grossflächigen Geländen unterschiedlicher, aber in sich homogener Nutzungen. Dass diese grossen monofunktionalen Areale keinen städtischen Reiz haben, hat das Gebiet des Glattals nicht zu Unrecht zum Inbegriff der pejorativ aufgefassten «Agglo» gemacht.

Glattalstadt

Das Glattal ist das verkehrstechnisch am besten erschlossene Gebiet der Schweiz, in dem die Nähe zu Zürich und dem Flughafen, grosse verfügbare Bauflächen und ideale Verkehrsanbindungen zu einem unvergleichlichen Bauboom geführt haben. Es wurde gebaut, was gerade gebraucht wurde: Industrieanlagen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, Autobahnen und Gewerbegebiete in den 1970er-Jahren und hochwertige Bürobauten in den 1990ern. Identität stiftend wirkten dabei bis heute die historischen Ortskerne und die Namen der ehemaligen Dörfer – und nicht die für das Gebiet geschaffenen Kunstnamen wie etwa «Glattalstadt». Was sich aber zu ändern beginnt, ist die Auffassung des Gebietes als Stadt. Die Gemeinden des Glattals haben gemerkt, dass sie gut daran tun, endlich eine höhere Qualität der städtebaulichen Entwicklung anzustreben.

IntegraSquare

Ein gutes Beispiel für diese erfreuliche Entwicklung ist das rund 4 ha grosse Gelände der «In­tegra» auf der Südseite des kleinen Bahnhofs von Wallisellen. Hier wirbt das Investorenplakat ganz schlicht: «IntegraSquare, Wohnen, Arbeiten, Einkaufen, Ausgehen». Das erstaunt, weil das Gelände zwar unmittelbar an den Geleisen, aber auf der «falschen» Seite des Bahnhofs liegt. Wohnen, Einkaufen und Ausgehen konzentrierten sich bisher auf dessen Nordseite; die Südseite war gewerblichen Nutzungen vorbehalten.
Schon im 19. Jahrhundert diente der Standort der Produktion von Eisenbahnzubehör. Die ältesten erhaltenen Bauten stammen aus der Zeit zwischen 1890 und 1920. Später kamen mit den Um- und Neubauten immer neue Schichten dazu.
«In diese Tradition stellt sich das Projekt von agps.architecture und führt sie weiter», so Manuel Scholl von agps.architecture. Die grosse Fertigungshalle – ein Raumtypus, der heute nicht mehr gebaut wird – im Zentrum des Areals wird als Zeitzeuge erhalten und mittelfristig weiterhin mit einer nicht störenden industriellen Nutzung belegt. Später soll der Flachbau mit seinem tradi­tionellen Sheddach zum Beispiel als Markthalle dienen. Auch die alte Schmiede wird erhalten und von Mitgliedern der Zürcher Zunft zur Schmiden hobbymässig weiter genutzt. Für einen kurzfristig auf Gewinnmaximierung ausgerichteten Investor wären diese Bauten hinderliche sentimentale Relikte. Die in Privatbesitz befindliche Integra dagegen hat sie als Besonderheit des Ortes und damit als Identität stiftende Elemente für das Ensemble erkannt. Langfristig werden sie mit ihrer historischen Patina massgeblich zum städtischen Charakter des kleinen Quartiers beitragen (Bild 2).
Das Gleiche gilt auch für den alten Baumbestand, der durch die Planung geschont wird. Die ur­alten Linden und Buchen mit ihrem Unterholz aus alten Buchsbäumen werden in das landschaftsarchitektonische Projekt von Daniel Ganz eingebunden und mit neuen Bäumen und einzelnen Pflanzflächen ergänzt. So entsteht mitten im ehemaligen Industriegelände ein Kern von historischen Bauten, parkartigem altem Baumbestand und Relikten aus der industriellen Geschichte des Ortes. Kein Neubauprojekt könnte eine ähnlich reizvolle Atmosphäre schaffen.

Masterplan

Noch vor wenigen Jahren waren für das gleiche Gebiet Konzepte erarbeitet worden, die auf einen totalen Abriss und Neubau zielten. Eines davon wollte zum Beispiel drei Hochhaustürme als Zeichen des Aufbruchs errichten. Man erkannte glücklicherweise, dass solche Ansätze obsolet sind und sich aus spektakulären baulichen Zeichen noch keine städtischen Qualitäten ergeben. Die Strategie von agps.architecture ist unspektakulär. Es ist nicht die Neuerfindung der Stadt, sondern das unaufgeregte Weiterbauen, Umformen und Entwickeln ihres Körpers.
In den teilweise erhaltenen Baubestand wird eine hoch verdichtete Mischung von Arbeiten, Wohnen, Einkaufen und Freizeitaktivitäten integriert. Dabei wird jeder ältere Bau auf seine Nützlichkeit und Attraktivität hin betrachtet und entsprechend behandelt. Das Vorgehen ist zwar aufwändig, aber lohnend – Plentern (s. Kasten S. 22) statt Kahlschlag.
Die Basis für den ersten Neubau und die ersten im kommenden Jahr fertig werdenden Wohnungen ist der Masterplan, den agps.architecture aufgrund einer Studie aus dem Jahr 2003 erstellt haben. Daraus entstand der Gestaltungsplan, der die erforderliche Rechtsgrundlage für die erwünschte Nutzungsmischung lieferte. Zwei hohe Zeilen entlang der Geleise und der gegenüber liegenden Industriestrasse rahmen das Areal und schirmen sein Inneres ab. Hier prägen zwei unterschiedlich geformte Aussenräume den Charakter. Zum einen ist dies die in Ost-West-Richtung verlaufende Achse von Hammerweg, Gasse und Platz, zum anderen der parkartige Aussenraum mit seinem alten Baumbestand. Zwischen diesen Aussenräumen liegen zwei neue Wohnbauten, die den Innenbereich nach Westen hin abschliessen und zusammen mit dem Neubau am Hammerweg einen städtischen Strassenraum bilden. Richtung Osten liegen die alte Markthalle und die alte Schmitte (Bild 1). Den Abschluss auf der Ostseite soll nach Aufgeben der industriellen Nutzung ein Platz bilden, der von einem Hochhaus dominiert wird.

Der erste Büro- und Gewerbebau

Der Neubau ist ein Anbau. Wie eine Illustration des Grundgedankens «Weiterbauen» führt er die Reihe älterer Bauten entlang der Geleise fort. Er schliesst sie als markanter zeitgemässer Baukörper ab, dessen Zeichenhaftigkeit auf der dem Dorfkern zugewandten Seite den Aufbruch signalisiert. Südlich bildet der Neubau eine klare Begrenzung des Strassenraumes für die künftige Hauptachse des Stadtteils (Bilder 3–5).
Wie kann so ein Büro- und Gewerbeneubau die künftige Urbanität des Ortes beeinflussen? Er muss günstige Mieten bieten, ein nutzungsneutrales Raumangebot und in einer städtisch eleganten Hülle verpackt sein, um eine breite Mischung potenzieller Mieter anzuziehen.
Die günstigen Mieten wurden durch tiefe Baukosten, einfache Technik und an vielen Stellen roh belassene Materialien erreicht. Das Raumangebot ist vielfältig und nutzungsneutral. Im Erdgeschoss liegen über fünf Meter hohe Räume, die sich unterschiedlich aufteilen und falls erforderlich auch zweigeschossig nutzen lassen. Vom eleganten Restaurant bis zur Lastwagengarage ist vieles möglich. Natürlich würde das Restaurant mehr zur Belebung des Quartiers beitragen. Deshalb ist auch die Fassade mit den quer gestellten Lamellen zum Aussenraum hin offen gestaltet. In Längsrichtung schliessen sich die Lamellen zur massiven Wand, die den Glaskörper mit seinem Sonnenschutzkleid trägt. Hinter diesen Glasfassaden liegen neutrale Geschosse mit einer lichten Höhe von 3.2 m, die sich in verschieden grosse Abschnitte teilen lassen. An den Stellen, wo Bauteile erkerartig aus der Fassade ragen und raumhohe Verglasungen für eine Unterbrechung des Fassadenrhythmus sorgen, sind auch Räume mit höheren Repräsentationsansprüchen möglich. Im Inneren ist der Baukörper mittels dreier Höfe gegliedert, um die kleinere Räume angeordnet sind. Insgesamt entsteht eine breite Palette unterschiedlicher Raumangebote für verschiedenste Nutzungen.

Die ersten Wohnungsbauten

Erst die Durchmischung mit Wohnungen kann ein Quartier wirklich beleben. Der Entscheid, im Gestaltungsplan auch Wohnungen vorzusehen, war daher für die künftigen städtischen Qualitäten entscheidend. Die Wohnungen, die Ende nächsten Jahres fertig gestellt sein sollen, entsprechen diesem Profil (Bilder 8–11). Sie werden günstig sein. Eine 4.5-Zi-Wohnung wird unter 2000 Franken kosten. Das liegt für Wallisellen zwar über dem durchschnittlichen Preis, aber für Zürich unter dem Mittel. Die besonderen Reize werden durch überhohe und zum Teil zweigeschossige Wohnräume, grosse Nasszellen und attraktive Aussenräume geboten.
Was sicher auch sehr zum städtischen Charakter beitragen wird, ist die Mischung mit Läden und Dienstleistungsräumen im selben Haus. Sie entspricht eigentlich der hoch geschätzten Mischung in innerstädtischen Bereichen des Historismus, wo im Erdgeschoss die Läden, darüber ein Geschoss Büros und die Wohnungen liegen.
Die Stadt der Moderne hat – mindestens formal – spätestens seit den ausgehenden 1960er-Jahren mit dem Untergang des CIAM und dem Erscheinen der Postmoderne ausgedient. Was aber die unstädtische Entmischung der Nutzungen angeht, ist die 1933 geschriebene Charte d’Athène in ihren Auswirkungen noch immer gegenwärtig, denn auf ihr basiert die Systematik der schweizerischen Bau- und Zonenordnungen, die nach wie vor zwischen Arbeiten und
Wohnen trennen.
Die Zeit für neue Zonen ist längst gekommen, denn die Agglomerationen verwandeln sich zusehends von Abstellflächen für Gewerbe und Industrie zu Lebensräumen. Nutzungsmischung und Verdichtung sowie die Schaffung von lebenswerten Freiräumen müssen dieser Tendenz Rechnung tragen. Das Beispiel in Wallisellen zeigt, wie dies geschehen kann.

TEC21, Mo., 2007.04.02



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tec21 2007|14 Implantate

25. September 2006Hansjörg Gadient
TEC21

Transformation einer Landschaft

In den nächsten Jahren wird sich die Allmend Brunau, eine Restfläche am Stadtrand von Zürich, grundlegend verändern. Neben einem bukolisch anmutenden Landschaftsbild wird die Essenz einer innerstädtischen Szenerie entstehen. Und beides zusammen spiegelt unsere veränderten Ansprüche an eine Landschaft.

In den nächsten Jahren wird sich die Allmend Brunau, eine Restfläche am Stadtrand von Zürich, grundlegend verändern. Neben einem bukolisch anmutenden Landschaftsbild wird die Essenz einer innerstädtischen Szenerie entstehen. Und beides zusammen spiegelt unsere veränderten Ansprüche an eine Landschaft.

Bis vor fünfzig Jahren war die Allmend ein landschaftlich geprägtes Gebiet ausserhalb der Stadt Zürich. Als Wald, Weide, Obsthain und militärisches Übungsgelände genutzt, unterlag seine Gestaltung nie ästhetischen Kriterien. Die Nutzung bestimmte die Form. Mitten durch das Gebiet zog die Sihl zwei geschwungene Schleifen, begleitet von einem Industriekanal, der eine Papiermühle antrieb. Auch der Vegetation schenkte man wenig Aufmerksamkeit. Einzig entlang der Militärstrasse waren noch vor 1900 Kastanien als Schatten spendende Reihe gepflanzt worden. Im Übrigen wuchs an den Flussufern, was nicht durch Beweidung und Mahd niedrig gehalten wurde. So entwickelte sich parallel zur Sihl eine Auengesellschaft. Die Nutzung entsprach lange Zeit dem Wort Allmend. Man verbindet mit ihm die Vorstellung einer einvernehmlich gemeinschaftlichen Nutzung. Das war aber kaum je der Fall. Nutzungskonflikte gab es in Allmenden immer. Aus solchen Konflikten entstanden Nutzungsvereinbarungen, wie sie auch heute notwendig sind.

Die Allmend kultivieren

Anlass für die Umgestaltung war die Fertigstellung der Autobahnbauten und damit die Aufhebung der grossen Baustelleninstallationen. 2008 sollen die Flächen wieder der Bevölkerung zur Verfügung stehen. Ausserdem genügt der Hochwasserschutz nicht mehr. Das Freibord ist zu niedrig, und das Retentionsvolumen reicht nicht aus. So beauftragten Kanton und Stadt 2003 nach einem eingeladenen Studienauftrag das Büro Raderschall Landschaftsarchitekten mit Dr. Lüchinger und Meier Bauingenieure mit der Neugestaltung. Dem Studienauftrag war eine breite Bürgerbeteiligung vorausgegangen, aus der ein Nutzungskonzept hervorging. Es sollte dazu beitragen, die Konflikte auf der Allmend zu entschärfen. Zurzeit überwiegt die Gruppe der Hundehalter; Familien mit Kindern und ältere Leute nutzen das Gebiet zu wenig. Um beiden Interessengruppen entgegenzukommen, ist die Sihl als Trennung vorgesehen. Der kleinere Teil östlich vom Fluss wird mit einem Hundeverbot belegt und der grössere westliche steht für Hundespaziergänge zur Verfügung.
Ziel der Umgestaltung ist auch die Renaturierung des Flussraumes und damit die ökologische Aufwertung des ganzen Bereiches. Bereits heute gibt es einen Tümpel, dessen Fauna und Flora schweizweit ein herausragendes Biotop darstellt. Die Renaturierung am Flusslauf soll zu Vernetzungen mit diesem Lebensraum führen und die Biodiversität auch am Fluss erhöhen.

In Schichten denken

Der Entwurf von Raderschall Landschaftsarchitekten könnte auf den ersten Blick als englischer Landschaftspark gelesen werden. Die Deutung griffe aber zu kurz. Vielmehr geht es um eine Schichtung verschiedener Bezugssysteme: funktionale Anforderungen, Überlegungen zur Interpretation des Flussraumes und zur räumlichen Neuordnung, Naturschutz und ökologische Aufwertung des Gebietes. In dieser Überlagerung spiegelt sich auch ein Charakteristikum von Freiflächen in der Stadt oder der Stadtnähe. Im Gegensatz zu Flächen auf dem Land, die meist einer Nutzung genügen müssen, sind städtische Freiflächen vielfältigen Anforderungen – sie sind Naherholungsraum, Biotop und Abstandsgrün – ausgesetzt und stellen höhere Anforderungen an Planung und Gestaltung.

Eine Landschaft malen und eine Fläche bestücken

Raderschall Landschaftsarchitekten haben als Leitgedanken einen ästhetischen Zugang gewählt. Sie gehen von einem Bild der Landschaft aus und stellen sich in die Tradition des Bezuges zwischen Landschaftsmalerei und Gartenarchitektur. Bemerkenswert ist im Fall der Allmend, dass der gestalterische Blick nicht aus der Stadt in Richtung Landschaft zielt, sondern umgekehrt aus der Landschaft in Richtung Stadt. Das Gebiet wird als vorstädtisch interpretiert und vor dem Hintergrund einer städtischen Silhouette gesehen und gestaltet.
Hauptziel der Massnahmen ist die Schaffung einer durchgehenden Fläche, die mit Baumgruppen und grossen Einzelbäumen strukturiert und akzentuiert wird. Dazu soll die Trennung aufgehoben werden, die der Fluss heute bildet. Den Blick über den Flusslauf hinaus behindern die Dämme und der Aufwuchs entlang der Ufer, der – wie es Sibylle Aubort vom Büro Raderschall schonungslos formuliert – als «grüne Wurst» durch die Landschaft läuft und alle Querblicke verunmöglicht. Dieser Baumsaum soll ausgelichtet werden, sodass nicht nur Blicke in die Tiefe möglich werden, sondern auch der Fluss selbst wieder sichtbar wird. Die zweite Massnahme ist die Aufhebung der Dämme, welche die Sicht behindern. Dafür müssen der Retentionsraum erweitert und die Flusssohle abgesenkt werden.
Die neu geschaffene durchgehende Fläche wird mit zwei Elementen bestückt. Zum einen sind dies grosse, allein stehende Stieleichen (Quercus robur). Sie sind der Inbegiff von «Baum». Gross und knorrig stehen sie frei auf der Wiesenfläche. In die Tiefe gestaffelt, betonen sie die räumliche Weite, und weil sie alle gleich gross gepflanzt werden, geben sie auch ein Gefühl für Massstab und Entfernung. Das zweite Element sind die verschiedenen Baumgruppen, die so platziert werden, dass sich Sichtachsen über die gesamte Dimension des Raumes ergeben. Dazu schaffen sie dem Beschauer Vorder-, Mittel- und Hintergrund und funktionieren so wie die Elemente eines klug gestalteten Landschaftsbildes. Diese Baumgruppen, «Clumps», sind in der englischen Landschaftsgärtnerei ein beliebtes Element. Als «Bosket» oder «Remise» haben sie den Weg auf den Kontinent geschafft. Meist bestehen sie aus mehreren Arten. Auf der Allmend sind sie jeweils aus einer einzigen Baumart zusammengesetzt, um die Künstlichkeit der Anordnung zu betonen. Verwendet werden die für diesen Standort typischen Auenarten wie Zitterpappel (Populus tremula) oder Silberweide (Salix alba) – leicht erkennbare Baumarten, die es erleichtern sollen, sich zu orientieren und die jedem «Clump» einen starken eigenen Charakter geben.

Am Fluss flanieren, in Baumkronen wandeln

In dieser grossen Fläche mit ihren Clumps und Solitäreichen soll sich der Fluss in einer recht naturähnlichen Weise ausbreiten können. Der Flussraum wird erweitert und die Flusssohle abgesenkt. Die bestehenden Wehre sollen wegfallen, um den Retentionsraum zu vergrössern. So wird auch in Zukunft verhindert, dass Saalsporthalle und Unterführung bei Hochwasser überflutet werden. Weil der Fluss auch nach dem Entfallen der Wehre die gleiche Höhendifferenz aufweisen muss und damit die Strömungsgeschwindigkeit nicht zu hoch wird, sind an zwei Stellen befestigte Sohlrampen vorgesehen. Das sind Stellen, an denen das Flussbett ein stärkeres Gefälle aufweist. Auch bei niedrigem Wasserstand sollen sie als schäumendes Wasserspiel die Menschen anziehen. Spazieren, Flanieren, Promenieren, Joggen, Trotten, Traben und Galoppieren sind die Tätigkeiten, die sich auf den Wegen der neuen Allmend nebeneinander entfalten sollen. Dafür wird ein neues Wegenetz angelegt, das aus einem Hauptsystem und verschiedenen Nebenwegen besteht. Zwei äussere Hauptwege folgen dem Waldrand und der unteren Kante des Lärmschutzwalls an der Autobahn und entsprechen damit dem klassischen «Belt-Walk» des englischen Landschaftsparks. Zwei innere Hauptwege folgen den Flussufern und schliessen an die äusseren an. So entsteht ein weitmaschiges Netz, das lange Spazierwege in Varianten ermöglicht.
Als besonderes Element kommt der «Tree-Top-Walk» dazu. Damit meinen die Verfasser einen aufgeständerten Steg, der vom benachbarten und höher gelegenen Quartier Wollishofen herkommend die Autobahn quert und bis zum westlichen Flussufer führt. Auf etwa 8 m Höhe wird der Weitblick über die Wiesenflächen mit dem Nahblick in die Baumkronen der «Clumps» abwechseln. Schon heute besteht ein Steg als Provisorium, das die Baustelleninstallation überbrückt. Dieser Steg soll erhalten und erst, wenn er baufällig wird, durch den neuen ersetzt werden. An den bestehenden wird eine Verlängerung angesetzt, die als Fussgängerbrücke auch die Sihl überspannen und die Funktion der maroden Militärbrücke übernehmen wird. Der elegante Entwurf von Dr. Lüchinger und Meier Bauingenieure stelzt als leichte und teilweise transparente Konstruktion – einem Insekt nicht unähnlich – über die Ebene. Der Fussweg darauf ist aus zweierlei Material gebildet. Der Mittelteil wird befestigt und die beiden äusseren Streifen werden aus Gitterrosten erstellt: eine Spur für die Menschen, eine für die Hunde.

Den Frontside Heelflip üben

Ein Frontside Heelflip ist kein Drink, sondern ein akrobatischer Sprung auf einem Rollbrett. Für Sprünge dieser Art und weitere sportliche Höchstleistungen von Jugendlichen wird an der Grenze der Allmend Brunau eine aussergewöhnliche Anlage geplant. Der Gegensatz zu den oben beschriebenen könnte nicht grösser sein. Zwischen dem Landschaftsteil und der Stadt wird ein völlig neues Element eingeführt – ein «Freestylepark». Dies ist nicht nur für die Schweiz eine Premiere, sondern ein an sich eigenartiges Ding. Hier werden Ausschnitte von innerstädtischen Situationen als Skaterpark neu addiert und verdichtet. Es werden gleichsam einzelne Elemente der Stadt explantiert und an einem zentralen Ort neu kombiniert. Daraus entsteht der Traum des begeisterten Rollbrettfahrers in Beton und Asphalt: eine Welt aus Rampen, Stufen Geländern und Blöcken, frei von Autos, Hauswarten, Polizisten und störenden Passanten und den akrobatischen Bedürfnissen einer europaweit erfolgreichen Skaterschaft angepasst, eine ideale urbane Landschaft, konsequent auf ihre skaterische Essenz kondensiert.
Noch müssen sich die Freestyler in Geduld üben, weil Einsprachen den Bau bis heute verzögert haben. Da die Stadt kein Risiko eingehen will, strebt sie eine Änderung des Zonenplans an. Denn heute liegt ein Teil der geplanten Anlage in einer Freihaltezone. Rechtlich bietet das eine Angriffsfläche für Einsprachen, die entschärft werden soll. Das bedeutet aber ein weiteres Verfahren, das verzögert werden kann. Wenn alles glatt liefe, könnte Ende 2007 mit dem Bau begonnen werden; bei seiner Fertigstellung wäre es Ende 2008. Kaum jemand rechnet mit diesem optimistischen Szenario, weil das Vorhaben zähe Gegner hat. Ein Verein und private Anwohner befürchten Immissionen und verfolgen einen Einsprachemarathon. Früher oder später wird die Anlage aber realisiert. Die Zürcher Skater sind nicht nur Schweizer Meister, sondern auch an Weltmeisterschaften erfolgreich. Sie haben sich in einem Verein organisiert und betreiben intensive Lobbyarbeit.

Ein städtisches Kondensat bauen

Bisher wurden hierzulande Skaterparks aus vorgefertigten Elementen zusammengestellt. Dass eine solche Anlage von Grund auf geplant und für rund 4.5 Millionen Franken gebaut wird, ist neu. Auch ihre Grösse ist mit 10000 m² aussergewöhnlich. Der Auftrag für die Planung ging nach einer Ausschreibung an das Zürcher Büro Planivers Landschaftsarchitekten. Die zu beplanende Fläche setzt sich aus drei spitzwinklig aneinander gereihten Dreiecken zusammen.
Planivers schlägt eine dreiteilige Anlage vor: Im ersten Dreieck befindet sich der Street-Bereich mit dem Hauptzugang, im mittleren der Pavillon (Architekt: Vital Streiff) mit dem zweiten Zugang und im letzten der Pool-Bereich. Der Street-Bereich ist eine Art simulierte Innenstadt, ein Parcours aus Stufen, Rampen, Geländern, Bänken und Hindernissen aller Art, auf denen die Radfahrer und Skater ihre akrobatischen Übungen absolvieren. Sie ist in drei Ebenen gegliedert, die absteigend die Höhendifferenz zum zweiten Zugang überwinden. Dort stösst die Unterführung von der Sihlcity her in den Freestylepark und befindet sich auch der Pavillon mit dem Betreuungsteam. Rampen und Stufen werden in Beton ausgeführt, die Flächen in Asphalt. Beschattet wird die Anlage von kleinen Baumgruppen am Rand, die das Konzept der Clumps weiterführen. Der Pool-Bereich ist eine Landschaft aus Halfpipes, Senken, in denen die Fahrer ihre Geschicklichkeit üben können. Während der Street-Bereich von Dreiecken und linearen Formen geprägt ist, dominieren im Pool-Bereich Rundungen. Im Plan gleichen sie den Darmschlingen eines Monsters, in der Ansicht Kratern einer Mondlandschaft. Eine befahrbare Brücke verbindet die beiden Bereiche. Darunter verläuft der Weg von der Unterführung in die Allmend. So werden Fussgänger-und Skaterströme entflochten und Konflikte vermieden.

Die Landschaft transformieren

Das Nebeneinander der geplanten neuen Teile der Allmend scheint auf den ersten Blick unvereinbar. Ein fast gänzlich versiegeltes Stück Beton und Asphalt, das als Essenz der versteinerten Stadt gelesen werden kann, stösst auf ein grünes naturnahes Landschaftsbild, das an Idyllen einer bukolischen Szenerie erinnnert. Schärfer kann der Schnitt nicht sein. Aber beide Teile spiegeln im Grunde die gleiche Entwicklung. Es sind die differierenden Vorstellungen von Freizeit und Erholung, die so unterschiedliche Formen hervorbringen. Aus einer stadtnahen Restfläche wird in den nächsten Jahren eine exakt den gewandelten Ansprüchen an die Freizeitgestaltung angepasste Landschaft.

TEC21, Mo., 2006.09.25



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09. Juli 2006Hansjörg Gadient
TEC21

Schirm

Bei der Ergänzung eines Denkmals mit Neubauteilen drohen zwei Gefahren. Die eine besteht in einem überrissenen Programm neuer Nutzungsanforderungen, die andere in der Eitelkeit der planenden Architekten. Astrid Staufer und Thomas Hasler haben in Frauenfeld gezeigt, wie sie beide Gefahren meisterten, erstere durch Reduktion und letztere durch Bescheidenheit.

Bei der Ergänzung eines Denkmals mit Neubauteilen drohen zwei Gefahren. Die eine besteht in einem überrissenen Programm neuer Nutzungsanforderungen, die andere in der Eitelkeit der planenden Architekten. Astrid Staufer und Thomas Hasler haben in Frauenfeld gezeigt, wie sie beide Gefahren meisterten, erstere durch Reduktion und letztere durch Bescheidenheit.

Uneitel ist das angemessene Wort; uneitel ist die Haltung, mit der die Architekten die anspruchsvolle Aufgabe gelöst haben, und um „Angemessenheit“ haben sie während des ganzen Prozesses gekämpft. Es ist immer schwierig, ein denkmalgeschütztes Ensemble mit einem Neubau zu ergänzen, besonders wenn die Eitelkeit der Architekten zu viel will. So setzt sich manch einer neben das vorhandene Denkmal ein eigenes, eine Art architektonische Duftmarke.

Ganz anders dagegen die Lösung, die Staufer und Hasler in Frauenfeld gefunden haben. Farblich und formal sehr reduziert, fügen sich ihre Schirme in ein Ensemble ein, das auf den ersten Blick überhaupt keinen Eingriff zu ertragen schien. Denn zu klein und zu kompakt war die Anlage mit Schulhaus und kleinem Pausenhof. Ein in sich stimmiges und daher empfindliches Ganzes, um die Jahrhundertwende von einem Schinkel-Schüler errichtet.
Der dreigeschossige Bau des „Spannerschulhauses“ weist eine bemerkenswerte Zweiseitigkeit auf: vorne eine eher biedere, verputzte Lochfensterfassade, die nicht ahnen lässt, dass sich hinten eine klassizistisch anmutende, zweifarbige Backsteinfassade präsentiert, von unerwarteter urbaner Grosszügigkeit und Eleganz. Die Aussenräume sind von eher kleinen Abmessungen, ein von Ahornen gesäumter Vorhof zur Eingangseite hin und ein grösserer, von uralten Platanen umstandener Pausenraum auf der Rückseite, bestückt mit einem so grossen wie unansehnlichen Klettergerüst. Für diese Aussenräume sollte nun eine Pausenhalle projektiert werden.

Überfordertes Ensemble

Die Selbstverliebtheit des Eingriffs kann ein Denkmal zwar am Ende des Prozesses schädigen; häufiger und früher schädigen es überrissene Nutzungsvorstellungen. Schon bevor die Planung beginnt, wird durch die Forderung nach unangemessenen Neubauteilen das Ensemble oder der Bau in seinem Wert gefährdet. Auch bei diesem Schulhaus stand am Anfang der Wunsch nach einer Pausenhalle. Die vom Gesetz dafür vorgeschriebene Grösse allerdings drohte das Ensemble hoffnungslos zu überfordern. Eine im Wortsinn angemessene Lösung schien nicht möglich. Die ersten Studien zeigten diese Problematik überdeutlich. Auch die leichtesten Konstruktionen und elegantesten Tragwerke konnten nicht verbergen, dass diese Pausenhalle immer ein überdimensionierter Fremdkörper bleiben würde. Und die einzige Stelle, an der die Freifläche einen Bau dieser Grösse vielleicht ertragen hätte, war durch das Kletter- und Spielgerüst besetzt, das nicht zur Disposition stand.

Das Schulhaus würde konkurriert, die vorhandenen alten Platanen arg bedrängt, und der Raum drohte zu ersticken. Die ersten Lösungsversuche zeigten vor allem eins: dass die Aufgabe in der vorgesehenen Art nicht zu lösen sein würde. Das Problem musste grundlegender definiert werden.

Neue Frage, neue Antwort

Wenn die Antworten auf eine Frage nicht befriedigen, muss manchmal die Frage anders gestellt werden. Was ist eine „Pausenhalle“? Was muss sie leisten? Sie soll bei Regen Schutz bieten und im Hochsommer Schatten spenden. Sie soll den Kindern die Möglichkeit bieten, bei jedem Wetter die Pausen im Freien zu verbringen. Also nichts als ein Dach. - Ein Dach?

Die Lösung zeichnete sich in dem Augenblick ab, als die Architekten vom Gedanken eines einzigen grossen Daches Abstand nahmen und stattdessen die geforderte überdachte Gesamtfläche aufteilten. Statt hinter dem Schulhaus eine grosse Pausenhalle zu projektieren, sollten vor und hinter dem Schulhaus einzelne kleinere Unterstände entstehen. Diese würden sich viel leichter in die Gesamtanlage integrieren lassen. Um nun diese Flächen weniger präsent erscheinen zu lassen, wurden sie weiter in Teilflächen aufgetrennt.
Entwurfsprozesse folgen verschlungenen Wegen. Geduldige Versuche, die auf dieser ersten Erkenntnis beruhten, führten endlich zur Idee, die Dachflächen kreisförmig auszubilden, auf eine mittige Stütze zu setzen und sie in die Reihe der alten Bäume zu integrieren. So entstand das Bild der Schirme, unter denen die Kinder Schutz finden.

Verwandt ohne Anbiederung

Die Idee, eine runde Form zu wählen, entstand allerdings nicht aus dem Gedanken Schutz gleich Schirm, sondern aus dem Wunsch, der statischen Fassade des Baus etwas Bewegtes gegenüberzustellen, das mit den Bogen der Fenster einen entfernten formalen Bezug eingehen würde, ohne sich anzubiedern. Aus diesem Gedanken der Bewegung entstand auch die Form der Rippen, die sich als Kreissegmente um die Stütze drehen und so wie Propeller die Schirme anzutreiben scheinen.

Mit der Idee einer eingespannten Mittelstütze mit auskragendem Schirm entstand auch eine statische und gestalterische Verwandtschaft zu den Bäumen, in deren Reihe die Schirme stehen. Aber auch hier sollte nicht die Ähnlichkeit gesucht werden, sondern die Verwandtschaft. So reduzierten die Architekten die Stütze auf ein Minimum, sodass fast ein Missverhältnis zu den Proportionen des Daches entstand. Diese dünne Stütze dient also nicht nur dazu, sich klar von den dicken Baumstämmen abzusetzen, sondern auch zur Stärkung der Metapher Schirm. Darüber hinaus trägt ihre Schlankheit wesentlich zum Eindruck der Reduktion und des Zurücktretens bei.

Wie die Form und die Konstruktion folgt auch die Farbigkeit dem Prinzip einer entfernten verwandtschaftlichen Ähnlichkeit. So wurden die Farbtöne aus der Backsteinfassade übernommen, vergraut und verdunkelt, aber auch intensiviert. Zusammen mit dem Kupferton ergibt sich ein recht dunkles Gesamtbild, das die Schirme besonders gut ins Ensemble eingliedert. Zusammen mit den Schattenwürfen auf dem Asphalt entsteht unter den Schirmen eine starke Raumwirkung, die ihren Schutzcharakter hervorhebt.

Angemessen

Der mit alten Platanen und Ahornen bestandene Pausenhof ist auf zwei Seiten von hohen Hecken und Sträuchern umstanden und gegen die Strasse nur durch ein niedriges Mäuerchen abgegrenzt. Das führte dazu, dass der schmalere, vordere Teil des Hofes von den Kindern nur ungern genutzt wurde. Mit der Errichtung der Schirme nahmen sie den Raum sofort in Besitz. Die in diesem Teil aufgestellten drei Schirme machten aus einer gemiedenen Ecke an der Strasse einen beliebten Aufenthaltsort. Dies kommt vor allem den kleinsten Schülern und Schülerinnen entgegen, weil sie hier unter sich sein können, in sicherer Entfernung von den nicht immer rücksichtsvollen älteren. Die Proportionen dieser drei Schirme sind denn auch auf die kleineren Menschen darunter abgestimmt. Sie sind niedriger und haben kleinere Durchmesser. So entsprechen sie aber nicht nur ihren Schützlingen, sondern auch den kleineren Abmessungen dieses Teils des Pausenplatzes. Im grösseren Teil stehen zwei grössere und höhere Schirme, die eher einen Bezug zu den benachbarten ausgewachsenen Platanen haben. Hier sind die Dachflächen so gross, dass sie Lichtöffnungen erhalten haben, um den beschirmten Raum bei trübem Wetter aufzuhellen.

Essenz

Zu guten architektonischen Lösungen gehört immer eine verständige Bauherrschaft. In diesem Fall folgte sie Schritt für Schritt den Argumenten der Architekten und trug den Prozess der Reduktion mit, von einer einzigen massstabssprengenden Pausenhalle bis zu den fünf fast verschwindenden Schirmen. Sie sah ein, dass und warum in diesem Fall weniger mehr war. Für die Architekten war es ein langer und arbeitsintensiver Umweg, der zu einem unerwarteten Ziel geführt hat. Als Resultat wirkt das denkmalgeschützte Ensemble nun wie die Fassung für fünf wertvolle Steine. Sein Wert und seine Wirkung sind vollauf erhalten geblieben. Staufer und Hasler haben keine „Duftmarke“ hinterlassen. Sie haben sich beschieden, aber mit dem Besten. Ihre Lösung gleicht vielmehr der Arbeit des Parfumeurs, der aus vielerlei Zutaten durch Mazerieren, Einkochen, Destillieren und Kondensieren ihre Essenz gewinnt und sie zu einem künstlerischen Werk fügt, dessen materielle Substanz im Verhältnis zu seiner Wirkung verschwindend gering ist.

TEC21, So., 2006.07.09



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09. Juli 2006Hansjörg Gadient
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Schale

Es ist eine der traurigsten Arbeiten der zeitgenössischen Landschaftsarchitektur und gleichzeitig ein von Hoffnung getragener Kommentar zu unserem Naturverständnis. Es ist eine Reverenz an eine der ältesten und grössten Gartenkulturen der Welt, und es ist nichts als eine Pflanzschale.

Es ist eine der traurigsten Arbeiten der zeitgenössischen Landschaftsarchitektur und gleichzeitig ein von Hoffnung getragener Kommentar zu unserem Naturverständnis. Es ist eine Reverenz an eine der ältesten und grössten Gartenkulturen der Welt, und es ist nichts als eine Pflanzschale.

Der Auftrag war banal: eine Bürobegrünung für den Hauptsitz der Swiss-Re in London, Lord Fosters „Gherkin“. Die Lösung ist alles andere als banal, aber schnell geschildert: Das Pflanzgefäss ist eine abgeflachte Kugelkalotte aus Stahl, auf deren Rand ein hoher Zaun mit einem Handlauf steht. Bepflanzt ist sie mit einer Mischung grösserer Zimmerpflanzen unterschiedlicher Art. Wenn man sich am Handlauf festhält und zieht, gerät das Ganze aus dem Gleichgewicht und kippt leicht zur Seite. Nach dem Loslassen schwingt sich die Schale wieder in die Ausgangsposition zurück. Was aber hat diese Begrünung von Büros in einem Neubau inmitten von London mit der Wildnis zu tun? Günther Vogt hat das Pflanzgefäss, das er für diesen Zweck entworfen hat, als "Wilderness"1 bezeichnet. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass er sich damit nicht nur auf die lange englische Tradition der „Wilderness“ beruft, sondern sie bis in die Gegenwart weiterführt und damit in der kleinstmöglichen Form eines Gartens einen kritisch-philosophischen Kommentar zu unserem Naturverständnis gibt.

Wilderness

In einem der akkurat gepflegten englischen Parks oder Gärten kann es geschehen, dass man plötzlich vor einem Zaun steht, hinter dem das Gras aufgeschossen ist und Büsche und Bäume in einem freien Durcheinander wachsen. Der Eindruck kontrastiert stark mit den gepflegten Gartenteilen, die völlig der menschlichen Kontrolle unterworfen sind. Was dem ungeübten Auge als ein aus unbekanntem Grund vernachlässigtes Gartenstück erscheint, ist für den Sachkundigen eine „Wildnis“, „a wilderness“. Seit dem frühen achtzehnten Jahrhundert gibt es in vielen englischen Gärten solche Partien, aber der Begriff bezeichnete im Verlauf der Jahrhunderte sehr unterschiedliche Arten ihrer Gestaltung und Pflege. Trotz des Wandels gemeinsam ist ihnen eines: Die Wilderness unterscheidet sich immer vom Rest des Gartens, in dem sie einen naturnäheren Eindruck hinterlässt als der Rest des Gartens. Was allerdings als naturnah betrachtet wurde, hing immer stark vom Zeitgeschmack ab.

Waldstück und Heckenlabyrinth

Die ersten Belege für eine Wilderness2 finden sich in einem Bild und in einem Manuskript. Ein 1702 gemaltes Bild von Leonard Knyff zeigt kein ungeordnetes Gebüsch, sondern ein aus Buchsbaum, Eibe und Stechpalme geschaffenes Heckenlabyrinth in einem von Wiesen unterpflanzten Obstgarten. Noch heute findet sich so ein Labyrinth im Park von Hampton Court Palace, in dem auch Knyffs Bild hängt. In einem zwischen 1732 und 1735 verfassten, aber erst 1953 erschienenen Manuskript beschreibt Thomas Hamilton, der sechste Earl of Haddington, einen Gartenteil, den er als „a little of a wilderness“ bezeichnet. Das ist allerdings keine Wildnis nach heutigem Verständnis, sondern vermutlich eher ein kleines Waldstück, in das formale Elemente wie beschnittene Hecken eingesetzt sind. Statt gerader Wege winden sich schlangenförmige Pfade durchs Gebüsch und enden in „Aussichten, so fein wie nur irgend möglich“. Betitelt ist der Text mit „Einige Anweisungen über die Anzucht von Waldbäumen“.3 Es handelt sich also nicht um ein Stück verwilderten Garten, sondern um einen waldigen Teil, der ausdrücklich anders angelegt und gepflegt wird als der Rest.

Frühe Reflexionen zum Naturbezug

Es drängt sich die Frage auf, warum diese Gartenteile als „Wildnis“ bezeichnet wurden. Neben den damals modischen, streng geometrisch gestalteten Parterres nach italienischem und französischem Vorbild gab es offenbar waldähnliche Partien mit verwirrenden Wegformen und labyrinthischen Hecken, deren Eindruck vergleichsweise wild erschien, weil er mit den
formalen Partien so stark kontrastierte. Was bis anhin selbstverständlich war, nämlich dass der Mensch sich die Natur unterwirft und dies auch in Form strenger Geometrien ablesbar wird, wird damit erstmals in Frage gestellt. Die „Wildnis“ könnte einfach als Abwechslung von einer zunehmend als langweilig oder altmodisch empfundenen Gestaltungsweise gesehen werden. Aber sie könnte auch eine frühe Form der Reflexion über den Umgang mit Natur sein, ein kritischer Kommentar oder Gegenentwurf zur absoluten Herrschaft des Menschen über die Natur. Möglicherweise deutet sich hier auch bereits der englische Landschaftsgarten an, der geometrische und formale Elemente weitestgehend vermeidet und insgesamt zur Kritik der barocken Geometrie und Kontrolle wird. Die erste bedeutende Anlage dieser Art erscheint allerdings erst 1764 mit Capability Browns Umgestaltung von Blenheim in Oxfordshire.
Natürlicher als natürlich. Auch der englische Landschaftsgarten ist keineswegs Natur. Er sieht zwar naturnäher aus als sein Vorgänger, der barocke Garten französischer Prägung, ist aber auch völlig der menschlichen Kontrolle unterworfen. Er ist sorgfältig komponiert und minuziös gepflegt.
Oft werden ganze Hügel abgetragen oder aufgeschüttet, Flüsse umgeleitet und ganze Waldpartien gepflanzt, um die gewünschten Bilder und Blickbezüge zu schaffen.
Als 1779 der Deutsche Christian Cay Lorenz Hirschfeld sein fünfbändiges Traktat „Theorie der Gartenkunst“ veröffentlichte, widmete er darin einen Abschnitt eigens der „Wildnis“: "Von Gebüschen unterscheiden sich noch Wildnisse, ob diese gleich wie jene aus Sträuchern zusammengesetzt sind. Jene stellen zerstreute Gruppen dar, sind mit einer gewissen Auswahl angelegt und geordnet; diese machen unordentliche Haufen von mancherley Gebüsch und niedrigem Strauchwerk aus, zuweilen mit einigen Bäumen untermischt, alles ohne Cultur, der natürlichen Verwilderung und der freyen Unordnung ganz überlassen."4 Hirschfeld gilt als erster deutschsprachiger Verfechter und damit „Importeur“ des englischen Landschaftsgartens auf dem Kontinent.
Um 1780 ist der Begriff der „Wilderness“ also schon so gewandelt, dass er nicht mehr nur ein naturnah gepflegtes Stück Garten meint, sondern geradezu eines „ohne alle Cultur, der natürlichen Verwilderung ganz überlassenes“. Dafür gibt es einen einfachen Grund: Um die zwar naturähnliche, aber doch ganz künstliche Unterwerfung der Natur unter den menschlichen Willen durch Kontrast sichtbar zu machen, bleibt nur die völlige Verwilderung, also die Abwesenheit jeglicher Kontrolle. Im Wesentlichen ist es bis heute bei dieser Auffassung geblieben.

Pflanzgefässe

Diese Tradition nimmt Günther Vogt für sein Pflanzgefäss wieder auf, indem er es als „Wilderness“ bezeichnet. Das Umfeld, in dem das Wort verwendet wird, hat sich allerdings stark gewandelt. Es gibt rund um diese Wildnis keinerlei Natur mehr. Die Umwelt ist vollkommen artifiziell, ein Innenraum mit gehobenem Büromobiliar, der Blick fällt durch die Fensterscheiben auf das Geschäftszentrum Londons. Die Pflanzen wirken hier extrem exotisch, und es scheint wenig bedeutend zu sein, um welche Pflanzen es sich handelt. Es sind die bekannten „Zimmerpflanzen“, die sich aus botanischen Gründen für die gleichmässig warmen Innenräume eignen. Charakteristisch ist ihr Ursprung aus Urwäldern, deren Bild oft als Paradiesmetapher dient. So verweisen ihre Strukturen und Blattformen nicht nur auf eine Wildnis, sondern sogar auf das Paradies selbst, auf den Ort, wo der Mensch mit der Natur verschmolzen und eins war, wo er selbst noch Teil des Paradieses war.

Paradeiza

Das Wort „Paradies“ ist persischer Herkunft und bedeutet dort „ummauert“. Das Paradies ist also ein ummauerter Teil Land, ein Garten; das Paradies ist der Garten Eden. Es gibt ein bedeutendes Detail an diesen Pflanzschalen: Ihren Rand umläuft ein von Stahlstäben getragener Handlauf. Das Ganze erinnert an eine Einfriedung. Es gibt keinen wirklich funktionalen Grund für diesen Gartenzaun. Seine semiotische Funktion dagegen ist klar: Er macht aus der Pflanzschale einen Garten. Was aber wird eingezäunt und was ausgegrenzt? Es ist nicht mehr die wilde Natur, gegen die der kultivierte Garten geschützt wird, und es ist keine Abgrenzung gegen wilde Tiere. Das Verhältnis hat sich umgekehrt: Eingezäunt ist jetzt die Natur, wie wild auch immer. Und ausgegrenzt aus diesen Relikten von Natur ist der Mensch, endgültig aus dem Paradies vertrieben. Er ist nicht mehr arkadischer Bewohner der Natur, sondern ausgeschlossener Betrachter und Pfleger. Die Wildnis ist nur noch als Anschauungsobjekt präsent, eingehegt wie ein vom Aussterben bedrohtes Tier im Zoo. Diese Restnatur ist völlig von der Pflege durch die Menschen abhängig und dadurch auch gefährdet.5

Diffiziles Gleichgewicht

Es ist eine im Wortsinn labile Natur. Die Pflanzschalen stehen nicht fest. Statt eines ebenen Bodens weisen die Gefässe die Form einer Kugelkalotte auf. Sie stehen also einzig auf einem Punkt und können leicht ins Kippen gebracht werden. Dieses Kippen wird zum starken Symbol für ihr Ausgeliefertsein und die Empfindlichkeit der Natur gegenüber menschlicher Manipulation. Man kann das als zutiefst pessimistisch lesen und sich von Trauer überwältigen lassen. Aber die Gefässe richten sich dank dem tiefen Schwerpunkt immer wieder selbst auf. Und das lässt sich als Metapher für etwas anderes lesen, nämlich für die Regenerationsfähigkeit der Natur. So wird ein einfaches Pflanzgefäss nicht nur zur Reverenz an die grosse Gartenkultur eines Landes, sondern auch zum Symbol und Kommentar für das Naturverständnis einer Zeit.

TEC21, So., 2006.07.09



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10. März 2006Hansjörg Gadient
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Städtische Gärten

Seit den 1960er-Jahren dominieren minimalistische Ansätze die Aussenraumgestaltungen. Sind sie wirklich noch aktuell, und befriedigen sie die Bedürfnisse einer zunehmend städtischen Bevölkerung? Zwei grosse öffentliche Anlagen lassen auf eine zeitgemässere Entwicklung hoffen.

Seit den 1960er-Jahren dominieren minimalistische Ansätze die Aussenraumgestaltungen. Sind sie wirklich noch aktuell, und befriedigen sie die Bedürfnisse einer zunehmend städtischen Bevölkerung? Zwei grosse öffentliche Anlagen lassen auf eine zeitgemässere Entwicklung hoffen.

Fast 75% der Schweizer Bevölkerung leben heute in Agglomerationen oder Städten.[1] Damit geht ein Naturverlust einher, der schmerzlich spürbar wird. Die Landschaftsarchitektur hätte eine Chance, mit zeitgemässen Gestaltungen einen Teil dieses Verlustes zu kompensieren. Aber ihre Haupttendenz, ein oft ausgemagerter Minimalismus, wird dieser Herausforderung nicht gerecht.

Es gibt besondere Orte, wo reduzierte Konzepte Sinn machen. Vogt Landschaftsarchitekten haben in zwei Innenhöfen des neuen «Hyatt Park»-Hotels in Zürich[2] zwei so genannte Wettergärten geschaffen. Das sind zwei Dachterrassen im zweiten Obergeschoss, je dreiseitig von Wänden mit Hotelzimmern dahinter umgeben. Im ersten Hof blicken die Gäste auf eine Fläche von bemoosten Tuffsteinquadern. Im zweiten blicken andere auf leicht konkav und konvex geschliffene Steinplatten, auf denen trocknendes Wasser immer neue Bilder schafft. Auf dem dünnen Wasserfilm spiegelt sich der Himmel. Beide Gestaltungen reagieren auf die Situation, eine «Dachbegrünung» zu sein, und funktionieren als poetischer Gegenpol zur disziplinierten Architektur. Warum sind hier Reduktion und Minimalismus nicht enttäuschend und langweilig? Sie sind auf die Nutzer abgestimmt: Gäste verweilen kurz und nehmen den Hof nur als Bild wahr. Sie brauchen weder einen jahreszeitlichen Wechsel noch den Kontakt zu Pflanzen und Natur, denn beides suchen sie an diesem Ort nicht.

Benutzerbedürfnisse

Bei einem Stadtpark inmitten eines Wohnquartiers ist das anders: Die Bewohner leben ständig dort. Der Park könnte ihr Naherholungsraum sein, ihre tägliche Begegnung mit den Jahreszeiten, mit den Phänomenen der Natur, mit Pflanzen und Tieren. In Japan ersehnt und feiert das Volk die Kirschblüte. In Berlin gibt es Parks, in denen Nachtigallen brüten, und die Anwohner warten jedes Jahr geduldig, bis sie zu schlagen beginnen. Dann kann man Kinder sehen, die abends um elf von ihren Eltern in den Park geführt werden, um zu lernen, wie eine Nachtigall schlägt! Welches Kind bei uns (von den Erwachsenen ganz zu schweigen) könnte eine Nachtigall am Gesang erkennen?

Formaler Minimalismus gepaart mit einer auf wenige Arten reduzierten Pflanzenpalette und entleerten Räumen verhindert solche Erlebnisse. Parks müssten heute weit mehr sein als spartanische Exerzitien formaler Reduktion. Die Sehnsucht der städtischen Bevölkerung nach Natur ist stärker denn je.

Die zeitgenössische Schweizer Landschaftsarchitektur nimmt hier eine Aufgabe nicht wahr, die seit einigen Jahrzehnten[3] immer drängender wird: Natur in einer gestalterisch gekonnten Form in die Städte und Agglomerationen zu integrieren und Kompensation zu schaffen für verlorene Landschaft. Stattdessen vollzieht sie einen Minimalismus nach, den sie in der Architektur zu erkennen glaubt. Sie vernachlässigt eine ihrer wichtigsten Kernkompetenzen und ihr wichtigstes Material: die Pflanzen. Es gibt selbstverständlich – wie bei jeder Vereinfachung – Ausnahmen; die zwei wichtigsten und schönsten Beispiele dafür zeigt der Beitrag am Schluss. Im Folgenden sollen die Ursachen dieser Entwicklung aufgezeigt werden.

Aktuelle Ursachen

Es gibt viele praktische Gründe und einige historische Ursachen für die Tendenz zu reduzierten Anlagen. Da ist zuerst der gefürchtete Pflegeaufwand – ein nur bedingt stichhaltiges Argument, denn hohe Pflegekosten hängen eher mit falscher Planung zusammen als mit zu grossen Pflanzenpaletten. Ein echtes Problem sind die fehlenden Pflegefachleute. In öffentlichen Anlagen sind heute oft angelernte Arbeitskräfte beschäftigt, die kaum gärtnerische Kenntnisse haben. Ein grosses Hindernis ist der Mangel an Kenntnissen über Pflanzen und Pflanzenverwendung, an Erfahrung mit komplexeren Pflanzengesellschaften und generell an Interesse der Planenden für ihren Hauptwerkstoff. Den Ausbildungsstätten kann hier ein grosser Vorwurf nicht erspart werden. Aber die Studierenden sind auch Kinder ihrer Zeit, oft schon in Agglomerationen oder Städten ohne Kontakt zur Natur aufgewachsen und an Landschaftsarchitektur vor allem als Design-Disziplin interessiert. Als Folge enthalten minimalistische Anlagen vielleicht noch drei bis zehn Pflanzenarten, meist aus einem robusten, bekannten und bewährten Sortiment, während anspruchsvolle Anlagen es dagegen auf über hundert Pflanzenarten und -sorten bringen.

Der historische Grund für eine reduzierte Pflanzenwahl fusst auf einer Art Standesdünkel. Viele Landschaftsarchitekten fürchten, in die «Gärtnerecke» gestellt zu werden. Die leichte Verachtung gegenüber allem «Gärtnerischen» hat innerhalb der Profession tiefe Wurzeln.

Historische Gründe

Noch zu Beginn des Jahrhunderts waren die wichtigeren Landschaftsarchitekten gleichzeitig Gartenbau-Unternehmer.[4] Sie hatten eine enge Verbindung zu Zucht und Produktion von Pflanzen. Ihre Gestaltungen waren von den selbstverständlichen Kenntnissen des Materials geleitet und inspiriert; ihre Anlagen basierten auf den Errungenschaften des 19. Jahrhunderts und deren Obsession für Pflanzensammlung und -zucht. In den 1930er-Jahren begannen sich Gartenbau und -planung in verschiedene Berufe aufzuspalten. Seither bemühen sich viele Gestalter um künstlerische oder akademische Distanz.

Bis um die Jahrhundertwende dominierte der Landschaftsgarten englischen Stils, ziemlich unabhängig von Aufgabe oder Grundstücksgrösse. Dem folgte als kurze formale Gegenbewegung der Architekturgarten, eine von der Arts-and-Crafts-Bewegung in England inspirierte Tendenz. Ihre formalen, kontrollierten und oft auf wenige Pflanzenarten beschränkten Schöpfungen bildeten geometrische Räume aus beschnittenen Gehölzen. Die Bewegung hielt sich in der Schweiz nur kurze Zeit; es gibt kaum erhaltene Beispiele.

Im Gefolge der modernen Architektur der 1920er-Jahre wird der Architekturgarten vehement abgelehnt, und es erscheint eine Gegenbewegung in Richtung freierer Formgebung. 1927 bemerkt Le Corbusier: «Die Zeit der Garten-Architektur ist vorbei. Der Garten ist Natur ums Haus. (…) Die kristallinen Formen konkreten Denkens gehen nicht über den Architekturkörper hinaus, sondern treffen hier auf gegensätzliche, Spannung bereitende Formen: die der Natur.» [5] In dieser Zeit setzt sich der «Wohngarten» durch, der weitgehend Le Corbusiers Forderung entspricht: Pflanzen und gärtnerisches Konzept sind die konstituierenden Elemente; allfällige Bauten folgen freieren Formen, vermeiden harte Geometrien. Bis in die späten fünfziger Jahre ist der Wohngarten in der Schweiz der vorherrschende Stil.

Ikone der Entleerung

1959 legt Ernst Cramer mit dem «Garten des Poeten» den Grundstein für eine bis heute anhaltende minimalistische Entwicklung. Inmitten der als «Blumen-Landi» apostrophierten ersten Schweizer Gartenbau-Ausstellung, der «G59», legt er ein Wasserbecken an, um das er vier Rasenpyramiden und einen gestuften asymmetrischen Kegelstumpf gruppiert. Die Pflanzliste enthält zwei Positionen: Rasen für die Erderhebungen und – wie ein ironischer Kommentar zu den Blumenrabatten der restlichen Gartenschau – rote Geranien in einem runden Betonkübel. Alle Beläge und selbst die Sitzgelegenheiten sind aus Beton, einem bis dahin im Garten undenkbaren Material.

Der Garten machte Furore und gilt bis heute als die früheste und konsequenteste Anlage ihrer Art. Ab 1960 setzen sich in der Gartenarchitektur geometrische Formensprache und gestalterische Reduktion durch, die in der Architektur seit der klassischen Moderne Gültigkeit haben. Als Vorbilder beziehen sich die Landschaftsarchitekten auf Architekten und auf die Land-Art.
Es mutet anachronistisch an, dass zu einer Zeit, in der sich in der Architekturtheorie bereits die Postmoderne ankündigt,[6] in der Landschaftsarchitektur der Moderne erst zum Durchbruch verholfen wird.

Der «Garten des Poeten» wirkte auch als erstes Vorbild für die rigorose Reduktion der Pflanzenpalette. Seit den 1960er-Jahren kamen neue Anlagen mit ganz wenigen Pflanzenarten aus, diese aber meist auf grossen Flächen massiert. Mit solchen strengen Freiräumen wollten sich die Gartenarchitekten nicht nur von den veralteten Wohngärten, sondern vor allem auch vom ungezügelten Wildwuchs der Privatgärten abgrenzen.

Naturgarten als Gegenbewegung

Im Siedlungsbau der sechziger und siebziger Jahre wurde die gestalterische Reduktion in Form von Rasen-, Koniferen- und Cotoneaster-Wüsten erbarmungslos durchexerziert. Eine Gegenbewegung wurde überfällig. Die Naturgartenbewegung bildete einen kurz auflebenden Gegenpol zur gestalterischen Radikalität der modernistischen Gärten und des sterilen Abstandsgrüns. Sie wurde zur Zivilisationskritik hochstilisiert und als Glaubensfrage behandelt. In der Landschaftsarchitektur war sie bis in die Anfänge der 1980er-Jahre von einigem Einfluss; ganz durchsetzen konnte sie sich nie, nicht zuletzt weil ihre Anlagen gestalterisch meist hilflos waren und ebenso langweilten wie sterile Rasenflächen. Der Verzicht auf eingeführte Pflanzen und gezüchtete Formen war sicher einer der Gründe dafür.[7]

Aufbau-Arbeit

Nach Entleerung und Naturgarten-Mode war in Sachen Landschaftsarchitektur viel Wiederaufbau-Arbeit zu leisten. Den wesentlichsten Beitrag dazu leistete in der Schweiz das Büro Kienast Vogt Partner. Die beiden sahen sich nie als Teile einer Tendenz oder Gegentendenz, obschon die früheren Arbeiten teilweise noch als formale Gegenreaktion auf die informelle Naturgartenbewegung oder als Fortführung cramerschen Gedankengutes gelesen werden können. Später prägen Übergänge zwischen formalen und informellen Tendenzen, zwischen Reduktion und Kultivierung von Pflanzenpaletten die Entwürfe. Es geht nicht um Rezepte, sondern um Lösungen für Orte. In einigen Fällen ist auch schon eine vorsichtige Hinwendung zu gärtnerischeren Themen zu erkennen. Günther Vogt führt heute diese Zweige – sowohl die Reduktion als auch das üppige Schwelgen und alle möglichen Zwischenstufen – fort, als je vom Ort abhängige Interventionsmöglichkeiten.

Versteinerung der Entwürfe

Cramers «Garten des Poeten» und die daraus folgende
Reduktion der Pflanzenlisten und Gestaltungsmittel führten zu einer ersten, lang andauernden Minimalisierung. Die Naturgartenbewegung brachte alles Eingeführte und alle Zuchtformen in Verruf. Als dann in den 1980er-Jahren die neuen spanischen Stadtplätze weltweit für Aufsehen sorgten, erhielt die Minimalisierungswelle einen neuen Schub. Der Landschaftsarchitekt Roland Raderschall spricht in diesem Zusammenhang von einer «Versteinerung der Entwürfe»[8]. Weltweit wurden die kargen Konzepte nachgeahmt. In der Schweiz kam ein landestypischer Hang zu Understatement und Minimalismus hinzu. Aber wie schon in den 1960er-Jahren beschleicht einen auch hier ein Gefühl des Anachronismus. Hierzulande setzt sich in der Landschaftsarchitektur der Minimalismus in einer Zeit breit durch, in der die Architektur mit Dekonstruktivismus und Blobs ihre wildesten Blüten seit dem Jugendstil treibt.

Die neue Tendenz

Aber es gibt zunehmend Gegenbeispiele, die zeigen, dass einige Landschaftsarchitekten von der zelebrierten Reduktion genug haben und üppigere, fast barocke Konzepte mit reichhaltigen Pflanzungen vorschlagen. Im Privatgarten ist das vor allem bei einigen Blumenliebhabern und Pflanzenspezialisten möglich, entfaltet aber keine Wirkung in der Öffentlichkeit. Im öffentlichen Raum ist es noch die seltene Ausnahme.

Nach vier Jahren, so sagt man, fängt ein neuer Garten an, sein Gesicht zu zeigen. Im Frühling und im Herbst des Jahres 2002 wurden zwei grosse öffentliche Anlagen fertig gestellt, die vor allem in Sachen Pflanzenverwendung neue Wege beschritten. Beide gingen erhebliche Risiken ein, vor allem was die Pflege und die Entwicklung der Pflanzen betrifft. Heute liegen bei beiden gesicherte Erfahrungen vor, und sie sind bei beiden Anlagen so positiv, dass sich eine Präsentation als erste gelungene Beispiele einer höchst wünschenswerten neuen Tendenz aufdrängt: öffentliche Gärten.

Pflanzenhalle

Beim Gang durch Neu-Oerlikon stösst man auf ein stählernes Gerüst mit unterschiedlichsten Pflanzen[9]. Beim Nähertreten zeigt sich, dass alle Pflanzen auf Stahltäfelchen doppelt beschriftet sind. Dem Neugierigen erschliessen sich so die korrekte botanische Bezeichnung auf Lateinisch und der gängige Name auf Deutsch: Rose, Geissblatt, Waldrebe, Glyzinie, Baumwürger, Wilder Wein und auf der Nordseite Efeu in verschiedensten Spielarten. Aufmerksame Besucher werden erkennen, dass es die Rosen nur bis ins erste oder zweite Obergeschoss schaffen, die Glyzinien aber schon beim Dach angekommen sind. Und sie werden sich vielleicht erinnern, dass sich das gleiche Kraut an den Turm des Landesmuseums klammert und dort spielend rund 40 m Höhe erreicht. Wer spät im Oktober noch einmal vorbeikommt, wird sich am Feuer der Herbstfarben freuen: Wein und Baumwürger glühen in Rot, Orange und Gelb. Das riesige Rankgerüst der Planergemeinschaft Burckhardtpartner Architekten und Raderschall Landschaftsarchitekten ist typologisch eine auf den städtischen Massstab übersetzte Gartenlaube. Solche Lauben sind in der Regel mit nur einer Pflanzenart bestückt, seien es Kletterrosen oder Weinstöcke. Dass bei diesem Beispiel über hundert Arten und Sorten von verschiedenen Kletterpflanzen verwendet wurden, ist die gärtnerische Besonderheit der Anlage und trägt viel zum reizvollen Gegensatz zwischen strenger Gitterstruktur und barocker Üppigkeit der Bepflanzung bei. Die Idee dazu entstand aus den unterschiedlichen Standortqualitäten der zu begrünenden Fassaden. So fiel die Wahl auf der Südseite auf Sonnenliebhaber wie Wein und Passionsblume, in absonnigen Partien auf Schattenspezialisten wie Efeu und Clematis.

Die Anlage ist auch ein Experiment. Es gibt keine Erfahrungen mit solchen Dimensionen. So sind die Fusspunkte, an denen die Pflanzen dicht gedrängt gesetzt sind, wegen der Wurzelkonkurrenz kritisch. Ein anderer Schwachpunkt ist (noch) die Gruppe der Waldreben, die sich nicht so ganz mit der Besonnung und dem heissen Boden anfreunden will. Abgängige Pflanzen werden nur zwei Mal durch dieselbe Art ersetzt. Wenn das nicht funktioniert, wird für den Standort eine andere gesucht. Das wird mit der Zeit zu einer Reduktion auf die am besten angepassten Arten und Sorten führen. Auch die langfristige Entwicklung wird eine Wandlung der Pflanzengesellschaft nach sich ziehen. Je dichter das Gerüst bewachsen wird, desto leichter werden sich die Schatten liebenden Kletterer behaupten. Und die Waldreben werden aufblühen.
Das Pflanzenkonzept des Büros Raderschall war völlig neu und barg einige Risiken. Seit der Fertigstellung der Anlage zeigt sich aber, dass es tragfähig ist und nach ein paar weiteren Jahren Wandlung und Erfahrung eine zwar etwas reduzierte, aber eingespielte und stabile Pflanzengesellschaft mit vielfältigsten Reizen ergeben wird. Die Pflege der Anlage ist im Vergleich mit den anderen Pärken in Oerlikon teurer. Die Stadt Zürich schätzt den Aufwand auf etwa eine Stelle pro Jahr. Zu berücksichtigen ist dabei, dass die Ursache dieses Aufwandes weniger in der Pflanzenvielfalt als in der Höhenentwicklung des Bauwerkes zu suchen ist. Schneiden und Aufbinden der Pflanzen ist in weiten Teilen nur mit einem Skylift möglich. In absoluten Zahlen allerdings erscheint der Aufwand gerechtfertigt, zieht die Anlage doch gerade wegen ihrer Pflanzenvielfalt die Menschen an.

Blumenberge

Die Pflegekosten waren auch beim zweiten gärtnerischen Grossprojekt eine Hauptsorge. Würde sich das über 5000 m² grosse Blumenbeet mit vernünftigem Aufwand unterhalten lassen? Nach vier Jahren Erfahrung mit der Pflanzung kann sich Rita Illien, die Projektleiterin im Büro Vogt Landschaftsarchitekten, beruhigt zurücklehnen. Ihre Nachkalkulationen haben ergeben, dass die Pflegemassnahmen nur unwesentlich über den Kosten für einen gepflegten Rasen liegen, nämlich bei rund 15 Franken pro Quadratmeter und Jahr. Eine wüchsige und robuste Pflanzung einerseits und qualifiziertes Pflegepersonal andererseits machen dies möglich.

Die Anlage, von der die Rede ist, liegt in St. Gallen. Es sind die so genannten Blumenberge beim Neubau der Helvetia Patria von Herzog und de Meuron[10]. Vor den Fassaden liegt ein riesiger Blumenteppich, der über sanft geschwungene Hügel gelegt ist. Zerschnitten und gespiegelt wird er von den Gebäudefassaden vervielfacht und verfremdet. Der Eindruck von Bau und Garten ist höchst barock. Die Anlage mutet trotzdem oder gerade deswegen sehr zeitgemäss an und lässt jeglichen Minimalismus als obsolet erscheinen. 193 Arten und Sorten (121 Stauden, 52 Gehölze, 20 Zwiebeln) sind darin enthalten. Schon im Februar zeigt der Blumenteppich mit den Krokussen die ersten Blüten. Ihnen folgen Narzissen und Tulpen; im Mai blühen die ersten Stauden. Während des ganzen Sommers wechseln sich über dem Blättermeer unterschiedliche Blüten in gezielt programmierten Farbabläufen ab. Bis zu den ersten Frösten im Spätherbst blühen die Astern, die Silberkerzen noch darüber hinaus. In einem sich ständig wandelnden Spiel erscheinen während der ganzen Vegetationsperiode neue Farben, Formen und Strukturen. Selbst im Winter bilden die Gehölzstreifen und die Samenstände der Stauden abwechslungsreiche Strukturen und Bilder.

Auch langfristig wird sich der Garten verändern. Noch sind die neu gepflanzten Bäume relativ klein. Sie werden den Boden im Lauf der Jahre zunehmend beschatten, und es wird sich eine andere Pflanzengemeinschaft etablieren. Die Kunst der Pflege wird dann darin bestehen, auch in den Schattenzonen abwechslungsreiche Bilder zu erhalten. Und der Garten wird von Angestellten geliebt und von Fremden respektiert. Als gestalterischer Einzelfall, aber auch als gärtnerisch gelungenes Experiment sind die Blumenberge beispielhaft für das, was möglich wird, wenn Planende die ewig gleichen festgetretenen Pfade verlassen und Neues wagen.

TEC21, Fr., 2006.03.10



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24. März 2004Hansjörg Gadient
Neue Zürcher Zeitung

Das Enfant terrible der Gartenkunst

Sie ist eine der umstrittensten Landschaftsarchitektinnen der Gegenwart und bezeichnet ihre Arbeit selbst als «funky minimalism». Backwaren oder goldene Frösche prägen ihre amerikanischen Gärten. In ihrer ersten grossen Anlage in Europa aber, dem Garten für den Hauptsitz der Swiss Re in München, zeigt sie sich gereift und gemässigt.

Sie ist eine der umstrittensten Landschaftsarchitektinnen der Gegenwart und bezeichnet ihre Arbeit selbst als «funky minimalism». Backwaren oder goldene Frösche prägen ihre amerikanischen Gärten. In ihrer ersten grossen Anlage in Europa aber, dem Garten für den Hauptsitz der Swiss Re in München, zeigt sie sich gereift und gemässigt.

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